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28. Die rote Mütze

Er hatte es sich so schön gedacht, der Karl Siebrecht, daß der Opa mit Kalli zusammen die Koffer in die Wohnung hinaufschaffen würde, so daß er dem Rittmeister gar nicht vor die Augen kam. Das war nun wieder einmal anders geworden als erwartet. Er würde zu tun haben, die Koffer allein hinaufzuschaffen. Ein paar Stücke waren ganz hübsch schwer, und kein Mensch, der sie ihm auf den Buckel half ...

Und warum das alles? Wegen einem reinen Quatsch! Wegen Empfindlichkeit! Wegen Einschnappen! Nun schön, richtiger wäre es vielleicht gewesen, die beiden vorher zu fragen, schließlich war ihr Geld dabei, das stimmte. Aber er hatte den Kalli ja auch überraschen wollen! Heute mittag hatte der Maler das Schild für den Rollwagen fertig: »Berliner Gepäck-Beförderung Siebrecht & Flau.« Vor dieses Schild hatte er den Kalli führen wollen: Da sieh, was ich mir ausgedacht habe! – Damit war es nun Essig. So ein alberner Affe! Ja, dachte Karl Siebrecht, und die weitreichenden Folgen dieses Streites wurden ihm plötzlich klar, ja, nun war es wohl mit dem ganzen so herrlich geplanten Transportunternehmen Essig –? Er fuhr immer langsamer. Jetzt sah sein Gesicht finster aus vor lauter Grübeln. Mit den Dienstmännern war es schiefgegangen, darüber war kein Zweifel. Und auf Kalli Flau als Hilfe konnte er auch nicht rechnen. Die hundert Mark muß ich nun wohl schandenhalber zurückgeben? grübelte er weiter. Wenigstens Kallis Anteil, das werden etwa fünfunddreißig Mark sein. Und wie steht es mit Riekes Anteil? Dreißig Mark – dann bleiben mir nur fünfunddreißig Mark, damit kann ich nichts anfangen, da bin ich gleich aufgeschmissen. Und er fing wieder an zu rechnen, was er in den letzten Wochen schon hundertmal berechnet hatte: der Fuhrwerksbesitzer verlangte zehn Mark am Tag für die Stellung des Wagens und der Pferde, dazu fünfundzwanzig Prozent von der Siebrechtschen Tageseinnahme. Das war nicht teuer, aber für Karl Siebrecht war es, auch wenn alles glatt ging, fast zu teuer. Er rechnete sechs, sieben Tage, bis sich die Sache einlief, bis sich die Dienstmänner daran gewohnt hatten und ihm wirklich ihr Gepäck brachten. Aber nun ging nichts glatt. Kalli Flau hatte Kutscher werden sollen – der fiel schon aus. So mußte Karl Auflader und Kutscher spielen, das war schon schwer genug. Und mit den Dienstmännern war er ganz ernstlich verkracht – würden die sich in sechs, sieben Tagen so weit besonnen haben, daß sie ihm das Gepäck brachten? Dabei konnte er gar nicht mehr so lange warten, genaugenommen besaß er nur fünfunddreißig Mark, und von denen sollte er auch noch den Maler bezahlen. Und all die Tage durch würde er von Riekes Verdienst leben müssen und sollte ihr auch noch erzählen, was er vorgehabt hatte und wie es schiefgegangen war?! Oh, verdammt, verdammt, verdammt – dieser elende Kalli Flau! Das waren gerade die richtigen Freunde, die einen im ersten Moment, wo es wirklich darauf ankam, im Stich ließen! Hornochsen waren das! Also nicht Hornochsen – Esel! Nein, gerade Hornochsen, nicht Esel! Nun hatte sich seine anfängliche Bestürzung doch noch in Wut verwandelt. Er biß die Zähne zusammen und zerrte stürmisch am Karren. Eines Tages würden sie es schon einsehen, wie gut er es mit ihnen gemeint hatte, die Sache würde florieren und viel Geld einbringen! Dies war die Gelegenheit, keinen Schritt wich er zurück! Wenn er sich dies entgehen ließ – zehn Jahre konnte es dauern, bis ihm wieder etwas so Gutes einfiel! Überall saßen schon die anderen und verdienten ihr Geld. Dies war seine Lücke, in die er schlüpfen konnte. Sie mochten sich auf den Kopf stellen, sollten sie ihn einen schlechten Freund schimpfen, er schlüpfte hinein. Und er nahm sie mit, er brachte sie mit in die Höhe – sie sollten es schon einsehen, wer ihr wahrer Freund war.

Kurfürstenstraße 86! Hol es der und jener, da war er wirklich vierzehn Häuser zu weit gefahren! Nun, immer noch besser zu weit als nicht weit genug, immer noch besser über das Ziel hinaus, als vor dem Ziel liegengeblieben! Morgen früh Punkt zehn Uhr hielt sein Rollwagen vor dem Stettiner, mit zwei erstklassigen Pferden und mit dem Schild »Berliner Gepäck-Beförderung Siebrecht & Flau«! Er dachte nicht daran, den Namen Flau übermalen zu lassen – die Übelnehmerei von solchen Genossen ging ihn einen Dreck an! Und nun gleich den schwersten Koffer auf den Rücken gewuchtet und über die Dienstbotentreppe in die rittmeisterlichen Bezirke! Das Schwerste immer zuerst, dann wußte man doch, daß es hinterher leichter kam. Als er sich den zweiten Koffer auf den Rücken lud, fühlte er einen Blick auf sich. Da stand der Herr Rittmeister in einem vielfach verschnürten Rauchjakett auf dem Balkon und sah ihm nachdenklich zu. »Wo sind denn deine Freunde geblieben?« fragte er von oben.

»Haben was anderes zu tun!« rief er zurück und ärgerte sich, daß ihn der Rittmeister schon wieder erwischt hatte. Gottlob konnte der aber nicht wissen, wieso die Freunde was anderes zu tun hatten.

»Soll ich dir jemand zur Hilfe runterschicken?« fragte der Rittmeister nun.

»Nein, danke, es geht schon so!«

»Wie du willst«, sagte der Rittmeister ganz freundlich und sah weiter zu, wie Karl sich mit dem Koffer plagte. Zu seinem Ärger ärgerte sich der Junge wieder, daß der Rittmeister tatenlos zusah, ihm Hilfe nicht geradezu aufdrängte, obwohl er diese Hilfe abgelehnt hatte und immer weiter ablehnen würde – da kenne sich einer aus!

Als er diesen zweiten Koffer im Schlafzimmer bei der gnädigen Frau absetzte, kam der Herr von Senden auf seinen langen Beinen hereinstolziert, beide Hände in den Taschen, wobei er die Hosen etwas hochzog, so daß man taubengraue seidene Söckchen sah über maisfarbenen Halbschuhen aus Wildleder mit Knöpfen. »Nun, mein Sohn«, sagte er, »Reichlich viel für einen jungen Mann, diese Kofferschlepperei ganz allein, was?«

»Ich schaffe es schon«, sagte Karl Siebrecht und wollte gehen.

Der Rittmeister winkte ihm ab. »Laß nur, Karl«, sagte er. »Der Portier bringt eben den Rest herauf.« Und zu seiner Frau: »Das ist der junge Mann, Ella, über den dein Bruder so böse war.«

Die Frau schloß einen Augenblick fest den Mund. Dann sagte sie: »Ich habe es mir schon gedacht, Bodo.«

Der Rittmeister lächelte. Aber ehe die Frau noch etwas Weiteres hätte sagen können, fragte er schon: »Der Zwischenfall am Neuen Tor befriedigend verlaufen, Karl? Ihr habt ein bißchen Karambolage gespielt, kommt mir vor.«

»Doch, alles in Ordnung!« antwortete Karl Siebrecht kurz.

Der Rittmeister nickte nur. Nähere Auskünfte schien er nicht erwartet zu haben. Er zog eine aus grünen Perlchen geflochtene Geldbörse aus der Tasche. »Und wie ist die Taxe, mein Sohn!« fragte er.

»Zwei Mark fünfundzwanzig«, sagte der Junge eilig.

»Schade«, meinte der Rittmeister, indem er das Geld abzählte, »daß nicht doch einer von deinen Freunden mitgekommen ist. Ihnen würde ich ein Trinkgeld geben, dir wage ich keines anzubieten.«

»Ich nehme auch Trinkgeld«, sagte der Junge trotzig, »aber nicht von Ihnen!«

Herr von Senden nickte nur. »Genau wie ich gedacht habe«, sagte er ganz ungerührt. »Hier ist dein Geld, Karl, zähle es bitte nach – ich habe keinen Groschen dazugemogelt, um deine Gefühle für mich zu bestechen.« Seine Ironie war einfach ekelhaft. »Auf Wiedersehen, Karl – unter glücklicheren Umständen!« Der Junge hätte ihn schlagen mögen vor Wut ...

»Auf Wiedersehen«, sagte er nur.

Diesmal wurde Karl keine lange Aristokratenhand gereicht, sei es nun, weil die Frau mit den dunklen Augen beobachtend dabei stand, sei es aus reinem Zufall. Karl Siebrecht ging. –

Unterdes war Kalli Flau seiner Spuckerei in den Landwehrkanal bald überdrüssig geworden. Sein erster Zorn war verraucht. Der Karl hatte eine Abreibung verdient, er hatte sich schon lange nicht mehr so benommen, wie sich ein richtiger Freund zu benehmen hat, vor allem zu Rieke nicht. Rieke schuftete von früh bis abends, der Karl aber tat, als sei das alles ganz selbstverständlich. Er konnte groß angeben, wenn ein Teller nicht ordentlich abgewaschen war! Gott, der gute Karl hätte auf der »Emma« sein sollen, Käpten Rickmers' Trawler, da wäre ihm das Angeben schon vergangen! Ein Kochgeschirr ohne Fischschuppen hatte man da nie zu sehen gekriegt. Aber Karl war fein, und wahrscheinlich blieb er auch fein, trotz aller Abreibungen. Es hatte seine Vorteile, einen so feinen Kerl zum Freund zu haben. Er wurde nie gewöhnlich; was er tat, war sauber, er riß nie unanständige Witze, er besoff sich nicht. Er wusch sich morgens und abends, und er konnte sehr unangenehme Bemerkungen machen, wenn man es mit dem Zähneputzen einmal nicht so genau nahm oder wenn sich plötzlich beim Hochschieben eines Jackenärmels eine graue Schmutzkante zeigte! Kalli Flau, der jetzt in der Richtung auf den Lehrter Bahnhof durch den Tiergarten schaukelte und dabei gedankenvoll vor sich hinpfiff, war sich also ganz klar darüber, daß das feine Getue von Siebrecht seine guten Seiten hatte. Fein – nun gut, er sollte so fein sein, wie er wollte, dieser komische Knopp, der in der Woche drei frische Hemden anzog und dann zur Nacht noch ein Nachthemd verlangte, trotzdem er sich eben gerade vom Kopf bis zu den Füßen abgewaschen hatte! Bei dem wurde ein Hemd ja nie richtig dreckig alles ganz unnötige Wascharbeit für die Rieke! Und dann diese Anstellerei mit den Fingernägeln, dieses ewige Gerede von den Trauerrändern! Er ging doch wahrhaftig sogar der kleinen Tilda mit einem Taschenmesser auf den Leib und pulte ihr an den Nägeln herum. Es war doch egal, wie die Nägel bei einem Kind aussahen! Tilda rutschte ewig auf der Erde herum, gleich sahen die Nägel aus wie zuvor. Karl Siebrecht aber behauptete, wichtig ist, daß sie überhaupt rein gemacht worden seien, daß sie gleich hinterher wieder dreckig würden, sei nicht so wichtig. So was war doch einfach albern! Kalli Flau spuckte in großen Bogen nach einem freundlichen gelben Krokus im Rasen und traf ihn auch. Übrigens: spucken durfte er auch nicht mehr, wenigstens in der Wohnung nicht. Karl duldete nicht einmal einen Spucknapf! Und dann dieses höllische Theater, wenn jemand mal das Messer zum Munde führte. Sie hatten zuerst gar nicht verstanden, was er eigentlich wollte, sie alle vier, wie sie da waren, der alte Busch, Rieke, er, der Kalli Flau und auch die kleine Tilda schon hatten in aller Selbstverständlichkeit mit dem Messer gegessen. Viere gegen einen! Messer mußte sein, Gabel konnte sein, brauchte aber nicht. Aber Karl hatte wahrhaftig seinen Kopf gegen die vier durchgesetzt. Rieke aß nun schon ganz wie der Karl, sie führte die Gabel, als schriebe sie auf dem Teller mit einem Federhalter ... Überhaupt die Rieke! Sie hatte es am schwersten, an ihr hatte er immer am meisten zu mäkeln. Wenn sie zur Mittagsstunde mal noch ihre Pantoffeln an den Füßen hatte, gleich ging die Stänkerei los: eine schöne Schlamperei das! Sie würde sich hübsch die Füße verderben mit ihren ewigen Filzpantoffeln! Sie wollte wohl durchaus einen Plattfuß kriegen! Gott, dieser Trottel! Sah er denn wirklich nicht, wie die kleine Rieke sich alle Mühe gab, sauber und nett auszusehen, wie sie sich ein Schleifchen ansteckte, die Haare glatt machte, die Hände vor dem Essen wusch – alles bloß, um ihm zu gefallen! Sie riß sich doch wahrhaftig schon alle Beine für ihren Karl Siebrecht aus. War der denn völlig blind? Nun würde er heute mittag oder am Abend heimkommen und der Rieke brühwarm all diesen Quatsch von ihrem Streit und seinem großartigen Fuhrunternehmen vorbeten, ausgerechnet der kleinen Rieke, die wahrhaftig schon genug auf dem Buckel hatte. Das durfte nicht sein. Kalli Flau runzelte die Stirne, er dachte scharf nach. Er mußte die Sache vorher mit Karl in Ordnung bringen, dieser Streit mußte begraben werden. Nun, das war nicht so schwierig, man zankte sich, sagte sich die Meinung, und dann vertrug man sich wieder.

Ganz aufgemuntert und ohne Zorn auf den feinen Freund langte Kalli Flau beim Lehrter Fernbahnhof an. Er suchte den Alten vor und in der Halle, schließlich fand er ihn auf einer Bank in dem schmalen Grünstreifen seitlich des Bahnhofs. Küraß hatte sich da schön in die warme Aprilsonne gesetzt und war friedlich eingedrusselt, erschöpft von den Aufregungen dieses Morgens. Auf seiner runzligen hohen Greisenstirn stand in kleinen Tröpfen ein sanfter Schweiß, seine rote Mütze lag neben ihm. Das blankgeputzte Messingschild »Dienstmann 77« schimmerte hell im Sonnenschein. Kalli setzte sich auf die Bank neben den Alten, auch er nahm die Mütze ab und ließ sich von der Mittagssonne bescheinen. Nach einer Weile fing er an, sich zu langweilen, und in der Langeweile griff er nach der roten Mütze des Alten. Es war eigentlich eine sehr hübsche Mütze. Kalli hätte gern eine solche getragen. Sie hätte das ganze Leben sicherer gemacht und einen festen Verdienst garantiert! Er setzte sich die Mütze auf den Kopf. Sie saß überraschend gut. Sie saß so fest auf seinem mit dicken schwarzen Haaren bedeckten Schädel, als sei sie für ihn gemacht, nicht für den haarlosen mageren alten Schädel dort. Kalli Flau stand auf und ging ein wenig mit der roten Mütze hin und her. Er hätte sich gerne damit gesehen, es war gar nicht ausgeschlossen, daß er eines Tages eine solche rote Mütze tragen durfte. Er konnte schnell zum Kronprinzenufer laufen und sich in der Spree spiegeln. Aber meistens war das Wasser dreckig und voller Ölflecken, das gab einen schlechten Spiegel für eine so schöne Mütze ab. Dann fiel ihm ein, daß im Wartesaal Spiegel hingen. Er würde dort so tun, als habe er Gepäck zu holen, auf dem Lehrter Bahnhof war er kaum bekannt.

So schob er denn über den Bahnhofsplatz auf den Bahnhof zu. Er hatte den Bahnhof aber noch nicht erreicht, als ihn ein unglaublich dicker Mann anhielt. »Dienstmann, das ist aber ein Glück, daß ich Sie erwische! Hier, nehmen Sie mein Gepäck! In den D-Zug nach Hamburg. Geht in vier Minuten! Ich hole mir schnell die Fahrkarte! – Zweiter! Raucher! Eckplatz!«

»Aber –« fing Kalli Flau an. Doch der Dicke war schon entwetzt. Unglaublich schnell lief er, seinen Bauch in der lockeren Hose schaukelnd, über den Platz und verschwand im Bahnhof. »Aber –« hatte Kalli gesagt. Er hatte dem Mann erzählen wollen, daß er gar kein Dienstmann war, daß aber auch ein Dienstmann Gepäck nicht auf den Bahnsteig bringt, sondern nur ein grünjackiger, schwarzmütziger Gepäckträger. Zu alldem war er nicht mehr gekommen, der Dicke war zu schnell gewesen, er hatte es eilig zu seinem Zug ... Dies war eben ein verkehrter Tag! Seufzend belud sich Kalli mit beiden Koffern, fest entschlossen, sie in der Halle dem nächsten Gepäckträger zu übergeben.

Aber in der Halle war kein Gepäckträger zu sehen. Dafür herrschte dort das übliche Hasten und Rennen vor Abfahrt eines großen Fernzuges. Während Kalli sich noch suchend umsah – er dachte kaum noch an die rote Mütze auf seinem Kopfe, sondern nur an die Koffer in seinen Händen, die er gerne losgewesen wäre –, da kam der Dicke schon wieder angeprescht. »Los, los, Dienstmann!« rief er. »Höchste Eisenbahn! Ich denke, Sie haben mir schon längst einen Platz besorgt! Und er stürzte ihm voran durch die Sperre. Wohl oder übel mußte ihm Kalli folgen. Der Billettmann sah ihn kaum an, warf nur einen flüchtigen Blick auf die rote Mütze. Kalli Flau war auf dem Bahnsteig und lief hinter dem Dicken drein, der hurtig am Zuge entlanglief. Der Dicke stürzte in einen Wagen. »Bleiben Sie draußen, Mann, reichen Sie mir die Koffer zum Fenster herein.« Und schon fuhr sein Kopf aus einem Abteilfenster. »Sehen Sie«, strahlte er, »habe ich doch noch einen Eckplatz gekriegt. Das ganze Abteil ist noch leer. Na langen Sie mir mal die Koffer rauf.« Er hob sie mit Ächzen in die Netze, dann warf er einen Blick auf die Bahnhofsuhr. »Gott, was ist das?!« rief er. »Es sind ja noch acht Minuten bis zur Abfahrt! Warum haben Sie mir das nicht gesagt, Mann?! Hätte ich mir die ganze Lauferei erspart!«

Nun war es zu allen Aufklärungen doch zu spät. »Ich bin bloß ein Dienstmann, Herr«, sagte Kalli Flau. »Ich bin kein Gepäckträger hier vom Bahnhof. Ich weiß nicht, wie die Züge hier gehen!«

»Natürlich!« lachte der Dicke. »Hätte ich ja auch sehen können, daß Sie Dienstmann und nicht Gepäckträger sind. Na, darum keine Feindschaft nicht. Gelaufen sind Sie großartig mit den beiden schweren Koffern! Sind zwei Mark genug?«

»Viel zuviel!« lachte Kalli Flau. »Eine Mark ist schon zuviel! Sechzig Pfennig wäre der Satz ...«

»Nehmen Sie schon die zwei Mark! Ich fahre nämlich zu meiner Braut.« Kalli Flau wunderte sich, daß so dicke Leute sich noch verlobten, vor allem, daß sie Bräute fanden. »Ach Gott, ja, der Mann mit den Blumen ist noch nicht da! Ich habe einen Mann mit Blumen an den Zug bestellt.« Er sah sich suchend um: »Gottlob, da kommt er!«

Kalli Flau sagte nicht gottlob, er verfluchte den Dicken, seine Hast, die Koffer, die Hamburger Braut, vor allem aber die Blumen! Warum kaufte der Dicke seine Blumen nicht in Hamburg, warum schleppte er sie von Berlin mit, bloß damit sie welk wurden während der Fahrt? Natürlich, gleich bei der Ankunft in Hamburg, auf dem Bahnsteig noch mußte er ihr die Blumen in die Hand stecken, weil er eben so ein Dicker war! Dicke müssen es mit Blumen machen. Und mit Süßigkeiten, sicher hatte er auch Süßigkeiten in den Koffern ... Das alles schoß durch Kallis Kopf, und dabei dachte er doch an ganz, ganz andere Dinge! Das geht schief, dachte er, das geht verdammt schief. Das ist schon schiefgegangen! Was wird Karl Siebrecht sagen? Der Kerl hat mich schon gesehen! Und laut sagte er: »Also, ich danke schön, mein Herr. Wünsche glückliche Reise!« Und zog dabei tief, tief seine rote Mütze, setzte sie nicht wieder auf ...

Während doch schon neben ihm der elende Kiesow sagte: »Hier sind die Blumen, mein Herr, bitte, eins zwanzig. Wenn Sie es vielleicht passend haben? Ich muß noch was erledigen!«

Fort! dachte Kalli Flau, nur fort! Und dachte schon wieder: Es ist schon viel zu spät! Er hat mich gesehen. Besser, ich mache es jetzt mit ihm aus, als daß er es nachher an die große Glocke hängt. Oh, was wird Karl nur sagen? Ich denke, er hat Mist gemacht, und nun habe ich selbst den allergrößten Mist gemacht ...

»Na?!« sagte der Dienstmann 13 herausfordernd zu dem falschen Dienstmann 77. »Jetzt haben wir euch aber geschnappt, was?« Und als der andere schwieg. »Na, denn komm man, denn wollen wir uns mal beide beim Stationsvorsteher melden, was?«

»Was geht denn das den Vorsteher an, Kiesow?« fragte Kalli. »Das können wir doch beide untereinander ausmachen, meinst du nicht?«

»Meinst du?« fragte der Dienstmann und betrachtete den Kalli Flau nachdenklich. Dann: »Setz nur ruhig die Mütze wieder auf, du Nummer siebenundsiebzig! Wo hast du denn den andern?«

»Den Opa Küraß? Der sitzt auf der Bank vorm Bahnhof und pennt. Daher habe ich doch bloß die Mütze. Ich habe sie ihm weggenommen, als er schlief.«

»Ach, Scheiße!« sagte Herr Kiesow und spuckte aus. »Ich meine doch den anderen, das Aas!«

»Der ist gar nicht hier! Der weiß von alledem gar nichts!«

»Du kannst deiner Großmutter viel erzählen! Wie lange reist ihr denn schon auf die Tour?«

»Auf welche Tour wohl?«

»Auf die Tour mit der Mütze doch! Daß ihr uns mit der Mütze von dem alten Küraß die Kundschaft wegschnappt!«

»Aber ich sage dir doch, es war der reine Zufall! Bloß, weil der Opa eingeschlafen war, habe ich mir die Mütze aufgesetzt. Und dann wollte ich mich im Wartesaal im Spiegel besehen, wie mir die Mütze stand, weil ich denke, ich werde vielleicht auch einmal Dienstmann ...«

»Denkste!«

»Und da kam der Herr gerannt und hatte es so eilig mit seinem Gepäck, weil er dachte, sein Zug fuhr schon. Aber seine Uhr ging falsch ...«

»Na, nun hör schon auf!«

»Es ist aber wahr, Kiesow!«

»Ich versteh immer wahr!«

»Wirklich! Du kannst es mir glauben, Kiesow!

»Kann ich, tu's aber nicht.« Kiesow stand in düsterer Überlegung. »Wenn ich den anderen schnappen könnte, ließe ich dich laufen. An dir liegt mir nichts, du bist soweit ganz ordentlich ...«

»Aber der andere ist wirklich nicht hier! Der hat damit gar nichts zu tun! Du hast ihn doch selbst mit den Koffern am Neuen Tor gesehen, Kiesow. Der bringt die Koffer in die Kurfürstenstraße.«

»Und warum du nicht? Du warst doch auch dabei!«

Einen Augenblick überlegte Kalli Flau. Die Hauptsache war, daß Karl nichts mit der Sache zu tun bekam. Er würde sich schon durchhelfen, auf ihn hatten sie keine solche Wut. »Ich habe mich mit ihm verkracht, Kiesow!«

»Hast du? Das lügst du schon wieder! Du willst ihn bloß rausreißen!«

»Warum glaubst du mir nichts, Kiesow? Ich habe dich doch noch nie angeschwindelt!«

»Eben hast du mir 'ne ganze Latte aufgehuckt!«

»Es ist aber alles wahr! Wirklich, Kiesow! Frag den Küraß! Wenn er nicht noch schläft, sucht er schon verzweifelt nach seiner Mütze, und meine Mütze liegt neben ihm auf der Bank!«

»Und der andere? Wo steckt der?«

»Ich sage dir doch, in der Kurfürstenstraße!«

Wieder dachte Kiesow nach. Dann sagte er: »Na, denn komm. Setze die Mütze auf, und dreh das Gesicht weg, wenn du durch die Sperre gehst!«

Während ihres Gespräches war der Zug abgefahren, mit den letzten gingen sie durch die Sperre. Als sie hindurch waren, wandte sich Kiesow flüsternd an den Jungen: »Wenn sie dich eben geschnappt hätten, wäre es nicht unter Kittchen zu machen gewesen! Hast einen Dienstmann gespielt und die Bahn um die Bahnsteigkarte betrogen. Die sind mächtig scharf auf so was!«

»Es war nett von dir, daß du mir durchgeholfen hast, Kiesow!«

»Ich habe dir nicht durchgeholfen, bilde dir doch so was nicht ein! Du bist noch nicht durch; wenn du mich angeschwindelt hast, beeide ich es, daß du die Bahn beschissen hast!«

»Ich habe dich nicht angeschwindelt, Kiesow ...«

»Na, wollen mal sehen ...«

Sie traten aus dem Bahnhofsportal. Und da, gerade gegenüber, an dem Grünstreifen, stand Karl Siebrecht mit der Karre des alten Küraß, und der Opa stand vor ihm, hielt die Mütze des Kalli in den Händen und redete kläglich auf den Jungen ein. »Gottes Donner!« fluchte Kiesow. »Ich hätte nicht gedacht, daß du so gemein lügen kannst. Kalli!«

In demselben Augenblick war es Kalli Flau klar, daß er sich nun richtig mit Karl Siebrecht verkrachen mußte, so daß der Dienstmann 13, Kiesow, es glaubte. Sonst waren sie für ewige Zeiten auf allen Bahnhöfen erledigt, und er kam auch noch ins Kittchen, womit keinem genützt war. Er stürzte auf den Opa Küraß zu, riß ihn von Karl Siebrecht zurück und schrie: »Willst du wohl mal nicht mehr mit dem Kerl reden, Opa? Der macht mit deinem Karren die Fuhren, und dann steckt er das Geld ein! Und er ist mit seinem verdammten hochnäsigen Maulwerk überhaupt schuld, daß wir dir nicht mehr helfen dürfen, Opa! Gegen mich haben sie nichts, der Kiesow hat es eben erst gesagt. Von seinetwegen kann ich überhaupt Dienstmann werden, aber du verdirbst uns alles, Karl, mit deinem hochnäsigen Getue! Mit dir bin ich fertig! Ich habe es dir schon in der Hofjägerallee gesagt, was du mir kannst! Ja, das kannst du mir! Kreuzweis kannst du's mir!« Und je bleicher er den Freund unter seinen Schimpfreden werden sah, um so stärker schrie er, denn er mußte den Kiesow überzeugen, sonst war alles verloren. Und dabei dachte er doch immer: Um Gottes willen, er sieht so unglücklich aus, das kommt nie wieder in Ordnung, das verzeiht mir der Karl nie –

»Bist du das, Kalli?« fragte Karl Siebrecht ganz leise, als Kalli endlich nicht mehr schreien konnte. »Und schon die rote Mütze auf? Dienstmann von Herrn Kiesows Gnade –?«

»Jawohl«, nickte Kalli. »Ich werde Dienstmann!« Und um es ganz gut zu machen: »Das ist besser als deine alberne Fahrerei!«

»Schwein!« sagte Karl Siebrecht, spuckte aus vor ihm und ging.


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