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Sechsundvierzigstes Kapitel.

Als Barnaby mit dem Brode hereinkam, schien sogar ihn der Anblick des frommen alten Pilgers, der ganz that, als ob er zu Hause wäre, und seine Pfeife rauchte, zu überraschen – um so mehr, da dieser Ehrenmann seinen Brodlaib, statt ihn als einen seltenen und kostbaren Artikel in seine Reisetasche zu stecken, nachlässig auf den Tisch warf, seine Flasche hervorzog und Barnaby aufforderte, sich niederzusetzen und zu trinken.

»Denn ich führe einen Tröster bei mir, wie Ihr seht,« sagte er. »Versucht dieß. Ist es gut?«

Barnaby antwortete mit Ja, obgleich ihm das Wasser in den Augen stand und die Stärke des Getränks ihn zum Husten reizte.

»Trinkt noch ein wenig,« fuhr der blinde Mann fort; »Ihr braucht Euch nicht davor zu fürchten. Ihr kriegt wohl nicht oft etwas der Art, he?«

»Oft?« rief Barnaby. »Nie!«

»Zu arm?« entgegnete der Blinde mit einem Seufzer. »Ja. Das ist schlimm. Eure Mutter, die gute Seele, würde viel glücklicher seyn, wenn sie reicher wäre.«

»Ei, das ist eben, was ich ihr auch sage. Wir haben kaum vor Eurer Ankunft davon gesprochen, als der Himmel voll Gold war,« sagte Barnaby, seinen Stuhl näher rückend und dem Andern begierig in's Gesicht blickend. »Sagt mir, gibt es wohl einen Weg, reich zu werden, den ich auffinden könnte?«

»Einen Weg? Hundert Wege!«

»Das wäre!« entgegnete er. »Ist's Euch wirklich Ernst? Was sind das für Wege? – Nein, Mutter, ich frage nur um Eurer, nicht um meinetwillen, wahrhaftig, wegen Euch. Was sind das für Wege?«

Der blinde Mann wandte sein Gesicht, auf welchem ein triumphirendes Lächeln lag, nach der Stelle, wo die trostlose Wittwe stand, und antwortete:

»Je nun, ein Ofenhocker kann sie freilich nicht auffinden, mein guter Freund.«

»Ein Ofenhocker?« rief Barnaby, ihn am Aermel zupfend. »Wenn Ihr meint, daß ich ein Ofenhocker sey, so befindet Ihr Euch im Irrthum. Ich bin oft draußen, ehe noch die Sonne am Himmel steht, und komme wieder heim, wenn sie längst untergegangen ist. Ich war schon in den Wäldern, ehe der Tag die schattigen Orte erreichte, und bin oft noch dort, wenn der glänzende Mond durch die Zweige guckt und nach dem andern Mond sieht, der in dem Wasser wohnt. Und auf meinen Spaziergängen suche ich unter dem Gras und dem Moose etwas von dem kleinen Gelde zu finden, um das die Mutter so hart arbeitet und so viele Thränen vergießt. Wenn ich im Schatten daliege und schlafe, so träume ich davon – es träumt mir, daß ich es in Haufen ausgrabe, daß ich es unter den verstecktesten Büschen auffinde, und daß ich es funkeln sehe, wie die Thautropfen auf den Blättern. Aber ich finde es nie. Sagt mir, wo es ist. Ich gehe hin, und wenn ich ein ganzes Jahr lang reisen müßte; denn ich weiß, sie würde glücklicher seyn, wenn ich heimkäme und etwas davon mitbrächte. So sprecht doch. Ich will auf Euch hören, und wenn Ihr die ganze Nacht durch redetet.«

Der Blinde fuhr mit der Hand leicht über das Gesicht des armen Burschen, und als er fand, daß seine Ellenbogen auf den Tisch gepflanzt, sein Kinn auf die beiden Hände gestützt, er selbst begierig vorgeneigt und in seinem ganzen Benehmen das größte Verlangen und Interesse ausgedrückt war, so hielt er eine Weile inne, als wünschte er, daß die Wittwe alles dieß bemerke, und antwortete sodann:

»Es ist in der Welt, kühner Barnaby, in der lustigen Welt. Man findet's nicht an einsamen Orten, wie der, wo Ihr Eure Zeit verbringt, sondern im Gedränge, wo Lärm und Getümmel ist.«

»Gut! gut!« rief Barnaby, seine Hände reibend. »Ja! Das gefällt mir. Auch Greif hat es gerne. Es sagt uns beiden zu. Das ist schön.«

»Dieß sind die Orte,« sagte der Blinde, »wo es einem jungen Burschen gefallen und er in einem Monat seiner Mutter und sich selbst obendrein mehr Gutes thun kann, als hier in seinem ganzen Leben – das heißt, wenn er einen Freund hat, einen Menschen, der ihm mit seinem Rath an die Hand geht, müßt Ihr wissen.«

»Hört Ihr dieß, Mutter?« rief Barnaby, indem er sich entzückt an sie wandte. »Redet mir nicht mehr davon, es zu verschmähen, wenn es schimmernd vor unsern Füßen liege. Warum seyd Ihr denn jetzt so darum bekümmert? Warum arbeitet Ihr vom Morgen bis zur Nacht?«

»Allerdings,« sagte der Blinde; »allerdings habt Ihr keine Antwort, Wittwe? Seyd Ihr noch nicht mit Euch in's Reine gekommen?« fügte er langsam bei.

»Laßt uns bei Seite mit einander sprechen,« entgegnete die Frau.

»Legt Eure Hand auf meinen Aermel,« sagte Stagg, indem er von seinem Tische aufstand, »und führt mich, wohin Ihr wollt. Muth, kühner Barnaby. Wir werden noch mehr davon reden, wenn Ihr Gefallen daran habt. Wartet da, bis ich wieder zurückkomme. Nun, Wittwe?«

Sie führte ihn zur Thüre hinaus in den kleinen Garten, wo sie Halt machten.

»Ihr seyd ein geschickter Unterhändler,« sagte sie mit verhaltenem Athem, »und ein würdiger Repräsentant des Mannes, der Euch hergeschickt hat.«

»Ich will ihm das ausrichten,« versetzte Stagg. »Er hat Achtung vor Euch und wird mich um dieses Eures Lobes willen wo möglich noch mehr respektiren. Aber wir müssen unsere Rechte haben, Wittwe.«

»Rechte? Wißt Ihr auch,« sagte sie,« daß ein Wort von mir –«

»Warum haltet Ihr inne?« entgegnete der Blinde nach einer langen Pause mit Ruhe. »Ob ich weiß, daß ein Wort von Euch meinen Freund in die letzte Position des Lebenstanzes bringen kann? Allerdings. Aber was wollt Ihr damit? Es wird nie gesprochen werden, Wittwe.«

»Seyd Ihr da so ganz sicher?«

»Ganz; – so sicher, daß ich nicht hergekommen bin, um mit Euch diese Frage zu traktiren. Ich sage, wir müssen unsere Rechte haben, oder man muß sich mit uns abfinden. Verliert dieß nicht aus den Augen, oder laßt mich lieber zu meinem jungen Freunde zurückkehren; denn ich nehme ein Interesse an dem Bürschlein und wünsche, ihn in eine Lage zu versetzen, worin er sein Glück machen kann. Pah! Ihr braucht nicht zu sprechen,« fügte er hastig bei, »ich weiß, was Ihr sagen wollt. Habt Ihr doch schon einmal darauf hingedeutet. Ob ich um meiner Blindheit willen kein Erbarmen mit Euch habe. Nein, ich habe keines. Warum erwartet Ihr von mir, der ich im Dunkeln wandern muß, daß ich besser seyn soll, als Menschen, die mit dem Augenlicht gesegnet sind? Wie könnt Ihr auf einen solchen Gedanken kommen? Spricht sich denn die Hand Gottes deutlicher in mir aus, weil ich der Augen entbehre, als bei Euch, die Ihr deren zwei habt? Entsetzen sich da die Leute nicht, wenn ein blinder Mann raubt, lügt oder stiehlt! Natürlich ist es an einem Menschen, der von den paar Halbpencen, welche man ihm in den gedrängt vollen Straßen zuwirft, ein weit schlimmeres Vergehen, als an denen, die sehen, arbeiten können und nicht von der Barmherzigkeit der Welt abhängig sind. Fluch über sie! Ihr, mit Euren sieben Sinnen, könnt so verrucht seyn, als Ihr wollt; wir aber, die wir nur unsere sechs haben und des wichtigsten entbehren, sollen leben und, trotz unseres Elendes, noch tugendhaft seyn. Das ist die ganze Gerechtigkeit und Menschenliebe des Reichen gegen den Armen, mag man hinkommen, wo man will!«

Nach diesen Worten hielt er einen Augenblick inne und horchte auf den Ton des Geldes, das in ihrer Hand klimperte.

»Nun?« rief er, rasch wieder in seine frühere Weise verfallend. »Das könnte zu etwas führen. Wie stehen wir, Wittwe?«

»Zuerst beantwortet mir eine Frage,« versetzte sie. »Ihr sagt, er sey dicht zur Hand. So hat er also London verlassen?«

»Es muß wohl so seyn, wenn ich sage, daß er dicht zur Hand sey,« erwiederte der Blinde.

»Ich meine, ob auf die Dauer? Ihr müßt das wissen.«

»Ja, auf die Dauer. Die Sache ist nemlich so, Wittwe, daß ein längerer Aufenthalt daselbst unangenehme Folgen für ihn hätte haben können. Aus diesem Grunde hat er sich davon gemacht.«

»So hört,« sagte die Wittwe, indem sie einiges Geld auf die nebenstehende Bank legte. »Zählt«

»Sechs,« sagte der Blinde, aufmerksam horchend. »Nicht weiter?«

»Es ist die Ersparniß von fünf Jahren,« antwortete sie. »Sechs Guineen.«

Er streckte die Hand nach einem der Goldstücke aus, betastete es sorgfältig, probirte er an den Zähnen und ließ es auf der Bank klingen; dann winkte er ihr zu, fortzufahren.

»Ich habe sie zusammengescharrt und zurückgelegt für den Fall, daß Krankheit oder Tod mich von meinem Sohne trennen sollte. Sie wurden zu einem theuren Preise erkauft – haben mir viel Hunger, schwere Arbeit und viele schlaflose Nächte gekostet. Wenn Ihr sie nehmen könnt – so thut es – unter der Bedingung, daß Ihr augenblicklich diesen Ort verlaßt und nie mehr nach dem Zimmer zurückkehrt, wo er jetzt sitzt und Euer Wiederkommen erwartet.«

»Sechs Guineen?« sagte der blinde Mann, den Kopf schüttelnd. »Sie sind zwar so vollwichtig, als nur je eine geprägt wurde – aber noch bei Weitem keine zwanzig Pfund, Wittwe.«

»Um eine solche Summe müßte ich, wie Ihr wohl wißt, nach einem fernen Theile des Landes schreiben. Um dieß thun und eine Antwort erhalten zu können, brauche ich Zeit.«

»Zwei Tage?« fragte Stagg.

»Mehr«

»Vier Tage?«

»Eine Woche. Kommt heute über acht Tage um dieselbe Stunde wieder, aber nicht in's Haus. Wartet an der Ecke der Gasse.«

»Natürlich werde ich aber Euch hier finden?« entgegnete der Blinde mit einer verschmitzten Miene.

»Wo anders hin könnte ich meine Zuflucht nehmen? Ist es nicht hinreichend, daß Ihr mich zu einer Bettlerin gemacht, und daß ich meine ganze sauer erworbene Habe hingeopfert habe, um mir diese Herberge zu bewahren?«

»Hum!« sagte der blinde Mann nach einiger Erwägung. »Bringt mich in die Mitte des Weges und richtet mein Gesicht nach der Stelle, von der Ihr sprecht. – Ist dieß der Ort?«

»Ja.«

»Also heute über acht Tage um Sonnenuntergang. Und denket an den d'rinnen. – Vor der Hand gute Nacht.«

Sie antwortete nicht. Auch wartete er nicht darauf, sondern ging langsam weiter, von Zeit zu Zeit den Kopf umwendend und horchend stehen bleibend, als sey er neugierig, ob ihm nicht Jemand nachschaue. Die Schatten der Nacht hatten sich mehr und mehr gesammelt, und er verlor sich bald in der Dunkelheit. Aber erst, als er ganz aus dem Wege war und kein Zweifel mehr obwalten konnte, daß er sich wirklich entfernt hatte,« kehrte die Wittwe nach der Hütte zurück und verriegelte hastig Thüre und Fenster.

»Mutter!« sagte Barnaby, »was gibt's? Wo ist der blinde Mann?«

»Er ist fort.«

»Fort?« rief er aufspringend. »Ich muß noch mehr mit ihm reden. Welchen Weg hat er genommen?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie, ihn mit ihren Armen umschlingend. »Aber du mußt diesen Abend nicht mehr ausgehen. Es sind Geister und Träume draußen.«

»Ja?« entgegnete Barnaby in furchtsamem Flüstern.

»Es ist nicht geheuer, heute das Haus zu verlassen. Aber morgen müssen wir fort von hier.«

»Von hier? Von dieser Hütte – und von dem kleinen Garten, Mutter?«

»Ja! Morgen mit Sonnenaufgang. Wir müssen nach London. Dort verlieren wir uns unter der Masse – nach jeder andern Stadt würde man unsere Spur verfolgen können. Dann reisen wir wieder und suchen uns einen neuen Wohnort.«

Es gehörte wenig Ueberredungsgabe dazu, Barnaby mit Allem zu versöhnen, was einen Wechsel versprach. In der nächsten Minute war er ganz außer sich vor Entzücken, dann wieder voll Schmerz über die Nothwendigkeit, sich von seinen Freunden, den Hunden, trennen zu müssen; dann wieder freudig, und dann furchtsam und voll Schreckhaftigkeit, indem er die wunderlichsten Fragen wegen der ängstigenden Worte stellte, deren sich seine Mutter bedient hatte, um ihn abzuhalten, heute aus dem Hause zu gehen. Seine Leichtherzigkeit gewann indeß die Oberhand über alle andern Gefühle. Er legte sich in den Kleidern nieder, um am Morgen zeitig bereit zu seyn, und verfiel bald vor dem ärmlichen Torffeuer in einen festen Schlaf.

Seine Mutter schloß kein Auge, sondern blieb wachend an seiner Seite sitzen. Jeder Windhauch tönte in ihren Ohren, wie jener gefürchtete Fußtritt an der Thüre, oder wie eine auf die Klinke gelegte Hand, und machte die ruhige Sommernacht für sie zu einer Nacht des Entsetzens. Endlich erschien der willkommene Tag. Sobald sie die kleinen Vorbereitungen, die sie für die Reise nöthig hielt, getroffen und unter vielen Thränen auf den Knieen gebetet hatte, weckte sie Barnaby, der auf ihren Ruf heiter aufsprang.

Sein Kleidervorrath war gering, und Greif zu tragen war ein Lieblingsgeschäft. Mit dem ersten Strahle der Sonne schlossen sie die Thüre der Hütte, welche nun verlassen bleiben sollte, und traten ihre Wanderung an. Der Himmel war hell und blau, die Luft frisch und mit tausend Wohlgerüchen erfüllt. Barnaby blickte in die Höhe und lachte aus vollem Herzen.

Doch es war ein Tag, den er sonst irgend einem langen Streifzuge zu widmen pflegte, und einer der Hunde – der häßlichste von allen – kam herangesprungen und hüpfte in der Ueberfülle seiner Freude um ihn her. Er mußte ihn mit strengen Worten zurückweisen, und das Herz blutete ihm, als er es that. Der Hund wich zurück und schaute mit halb ungläubigem, halb flehentlichem Blicke nach ihm auf; dann kam er wieder ein wenig näher und machte Halt.

Es war die letzte Bitte eines alten Gefährten und eines treuen – eines verstoßenen Freundes. Dieß war zu viel für Barnaby; er schüttelte den Kopf, winkte seinem Spielgefährten nach Hause und brach in Thränen aus.

»O Mutter, Mutter, wie traurig wird er seyn, wenn er an der Thüre kratzt und sie immer verschlossen findet!«

Es lag so viel Sinn für eine Heimath in dem Gedanken, daß sie ihn nicht um alle Reichthümer der Welt, obgleich ihr die Augen dabei überströmten, hätte vergessen mögen; und auch auf Barnaby machte er einen bleibenden Eindruck.



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