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Zwölftes Kapitel.

Die köstlichen Weihnachtsferien waren vergangen, Eva und Maria weilten seit zwei Tagen bereits wieder in Wildemann und sahen voller Sehnsucht nach den Freundinnen aus. In Ostpreußen aber war ein so heftiger Schneefall eingetreten, daß Graf Thalenhorst seine Abreise um mehrere Tage verschob. Endlich klärte sich das Wetter auf, und zur allgemeinen Freude trafen die Reisenden ein.

Nun ging es an ein Fragen und Erzählen, jede wollte wissen, wie die andre das Fest und die Ferien verlebt und was für Geschenke sie erhalten habe. Da der nächste Tag ein Sonntag war, hatte der Graf seinem Töchterchen versprochen, denselben noch mit ihr zu verleben und seine Rückreise Montag in aller Frühe anzutreten.

Die jungen Mädchen freuten sich darüber, denn für Wallys ritterlichen Vater schwärmten sie sämtlich.

Sonntag morgens gingen sie alle zur Kirche und machten dann einen kurzen Besuch in der Pfarre, wo sie zu ihrer Freude alles unverändert fanden. Gerd war wieder abgereist, Alfred sah zwar blaß und leidend aus, behauptete jedoch, sich viel wohler zu fühlen, als im Herbste. Graf Thalenhorst hatte zur Freude der jungen Mädchen Fräulein Reuters Einladung zum Mittagessen angenommen und unterhielt die Jugend mit heiteren Erzählungen. Nach demselben bat er die alte Dame, ihn auf ein Stündchen zu beurlauben, da er wichtige Briefe zu schreiben habe. Wally aber raunte den Freundinnen zu: »Der Papa will nur ein Mittagschläfchen halten und hier geniert er sich, ich kenne ihn, verlaßt euch darauf.«

Der Graf ging und die jungen Mädchen eilten in Wallys Stübchen und plauderten lebhaft mit einander. »Komm schnell einmal her,« rief Eva plötzlich, die am Fenster saß, »kennt eine von euch den starken Herrn, der direkt auf unser Haus lossteuert?«

Die andern Mädchen waren schnell herbeigeeilt und sahen neugierig aus dem Fenster. »Das ist ja mein dicker Freund vom Konzert her, der die erste große Spende in meinen Teller legte,« rief Wally lebhaft, »was kann er bei unsrem Tantchen wollen?«


Verlassen wir die jungen Mädchen und folgen wir dem Herrn zu Fräulein Reuter. Diese las etwas verwundert die Karte, die Pohl ihr überbrachte, der Name war ihr vollständig unbekannt: »Hans Ehrhard, Mühlenbesitzer.« Sie gebot Pohl, den Herrn hereinzuführen und sah ihm erwartungsvoll entgegen.

Dieser war etwas verlegen, als er eintrat und sagte unter vielen Verbeugungen: »Entschuldigen Sie, Fräulein Reuter, ich störe Sie gewiß in der Mittagsruhe, ich muß jedoch heute nachmittag mit dem Zuge wieder fort und – –«

»Bitte sehr, Herr Ehrhard, ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung. Womit kann ich dienen?« Fräulein Reuter nötigte ihren Gast neben sich nieder und sah ihn fragend an.

Er blickte einen Augenblick in hilfloser Verlegenheit vor sich nieder, dann hob er schnell entschlossen den Kopf und sagte treuherzig: »Sehen Sie, Fräulein, ich bin nicht, was man einen fein gebildeten Mann nennt, sondern nur ein einfacher Müller und will auch gar nichts weiter sein als das. Viele Umstände und Worte versteh' ich nicht zu machen; nicht wahr, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich frisch von der Leber weg rede?«

»Gewiß nicht, lieber Herr Ehrhard, und wenn ich Ihnen einen Gefallen erweisen kann, bin ich gerne dazu bereit.«

»Gott geb's, Fräulein, daß Sie wahr sprächen; Sie würden mir eine große Sorge vom Herzen nehmen, wenn Sie meinen Wunsch erfüllten. Sehen Sie, ich habe eine einzige Tochter, die ich lieber habe als ich zeigen darf, denn ich habe die zweite Frau, und diese würde es mir nie vergeben, wenn ich zeigte, daß mir das Kind lieber ist als sie. Ihnen muß ich die volle Wahrheit sagen, Fräulein, damit Sie mich ganz verstehen. Die Mathilde ist eine rechtschaffene, tüchtige Frau, hält die Wirtschaft im Stand und die Mägde in Ordnung wie keine zweite, aber meine Lisi ist es nicht, die war so sanft und lieblich und dabei so frisch und so froh, wie ein Sommermorgen, und das Kind, das Liesel, glich ihr aufs Haar, bis – nun ja, bis ich ihr die Stiefmutter gab. Ich konnte in dem großen Getriebe nicht ohne Hausfrau fertig werden, Fräulein, sonst hätte ich das Andenken meiner Lisi heiliger gehalten.« Er seufzte tief und fuhr nach einer Pause fort: »Meine Frau hatte von Anfang an kein Herz für das Kind, und es ward nicht besser, als unsre beiden kleinen Jungen geboren wurden; sie versteht Liesels Art nicht und die Kleine ist scheu und still geworden, auch gegen mich, und das, Fräulein, bekümmert mich am meisten. Vor vier Jahren nahm ich eine Erzieherin, in der Hoffnung, wenn eine Dame ins Haus käme, die das Kind liebte, möchte alles anders werden. Ich wählte ein ganz junges Mädchen, weil ich dachte, so ein frisches, junges Blut müsse auch frisch und fröhlich sein, da hatte ich mich aber gewaltig geirrt. Das Fräulein war gar zu gesetzt für ihre Jahre und kümmerte sich außer den Unterrichtsstunden gar nicht um die Kleine; da saß sie bei ihren Büchern und lernte und studierte, daß sie trotz der guten Kost und der gesunden Luft ganz blaß und schmal ward. Sie bereitete sich, wie sie sagte, zum Examen vor; ihr Vater war nicht reich genug, sie auf das Seminar zu schicken. Das war ja nun sehr lobenswert, und ich hatte nicht das Herz, sie darin zu stören, aber was glauben Sie wohl, was für meine kleine Lisa dabei herauskam? Das Kind faßte ebensolche Vorliebe für die Bücher und erklärte mir bestimmt, auch einmal Examen machen zu wollen.«

»Das ist so schlimm, nicht,« entgegnete Fräulein Reuter lächelnd, »wenn sie Lust und Gaben dazu hat, ist es ein schöner Beruf, Lehrerin zu sein.«

Der Müller wiegte nachdenklich sein schon leicht ergrautes Haupt.

»Ja, ja,« sagte er dann, »es mag das Beste sein, denn zu Hause bei der Mutter kann ich sie später doch nicht lassen. Nun will ich aber Ihre Geduld nicht länger mißbrauchen, Fräulein Reuter, sondern schnell zu meiner Bitte kommen. Unsre kleine Erzieherin reiste Weihnachten nach Hause, schrieb aber vor acht Tagen, sie könne noch nicht kommen, da ihre Mutter schwer erkrankt sei, und gestern erhalten wir die Todesanzeige mit der Nachricht, daß sie nun vorläufig zu Hause bleiben müsse bei Vater und Geschwistern. Das arme Ding, es mag ihr schwer genug werden, die Gelehrsamkeit an den Nagel zu hängen und dafür den Kochlöffel in die Hand zu nehmen. Was soll ich nun aber anfangen, woher soll ich so schnell eine andre Erzieherin nehmen? Ich wollte schon die nötigen Schritte thun, da erklärte mir plötzlich Elisabeth kurz und bündig, sie ginge lieber von Hause in ein Pensionat, wo sie was Tüchtiges lerne. Vielleicht hat das Mädel recht, aber mich kommt es hart an, mich von meiner Einzigen zu trennen, und da ich sie doch gerne in der Nähe behalten möchte, um sie hin und wieder einmal zu sehen, komme ich zu Ihnen, Fräulein Reuter, und frage Sie, ob Sie mein Herzblatt aufnehmen wollen?«

»Aber bester Herr Ehrhard, ich habe gar kein regelrechtes Pensionat,« rief Fräulein Reuter bestürzt. »Ich habe nur meine beiden Nichten bei mir aufgenommen, außerdem die kleine Gräfin Thalenhorst, die hauptsächlich ihrer Gesundheit wegen bei mir weilt, dann noch ein junges Mädchen aus Berlin.«

»Ich weiß, Fräulein Reuter, ich weiß, ich habe die jungen Mädchen damals beim Konzert gesehen, und wenn ich je einen großen Wunsch gehabt habe, so ist es der, meine Lisi unter ihnen zu wissen; vielleicht würde das Kind solcherweise auch noch frisch und froh.«

Fräulein Reuter schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich bin nicht jung mehr,« sagte sie, »und ich leite den Unterricht allein mit Pastor Winter, nur Rechnen und Gesangstunde giebt ein Lehrer des Ortes. Die Tochter Pastor Winters nimmt ebenfalls teil an dem Unterricht, und eine sechste Schülerin würde mir wirklich zu viel werden.«

Der Müller sah sie traurig an. »Weisen Sie meine Kleine nur zurück, weil sie ein einfaches Müllerkind ist?«

Fräulein Reuter reichte ihm die Hand. »Nein, Herr Ehrhard, gewiß nicht, denn ich bin sicher, daß Graf Thalenhorst nichts gegen die Aufnahme Ihres Töchterchens haben würde; er ist sogar heute hier.«

»O, dann sprechen Sie, bitte, mit ihm,« fiel der Müller ihr ins Wort, »ich würde so glücklich sein, wenn mein Kind zu Ihnen käme. Ich habe so viel Liebes und Gutes von Ihnen und Ihren Zöglingen gehört, Fräulein Reuter, daß ich meine Kleine keinem Menschen lieber anvertrauen möchte, als Ihnen.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Herr Ehrhard, wenn ich mich aber auch bereit erklären wollte, Ihre Tochter aufzunehmen, so muß ich immer erst wissen, wie Pastor Winter darüber denkt, ob ihm die sechste Schülerin nicht zu viel wird. Wie alt ist Ihr Töchterchen?«

»Sie wird Anfang Juli sechzehn Jahre.«

»Da würde sie ja sehr gut zu meinen jungen Mädchen passen. Wann reisen Sie wieder fort von hier, mein Herr?«

»Mit dem Sechsuhrzuge nach Lautenthal; von dort liegt meine Mühle ungefähr noch eine Stunde weit bei dem Dorfe Wallnitz.«

»Wollen Sie mir zwei Stunden Zeit lassen, Herr Ehrhard, um mich mit Pastor Winter zu beraten?« bat Fräulein Reuter.

»Ich bin Ihnen von Herzen dankbar dafür, geehrtes Fräulein, und hoffe zu Gott, daß Ihr Entschluß günstig für mein armes Kind ausfallen möge. Ich glaube, bei Ihnen würde Liesel finden, was sie im Vaterhause entbehren muß: die Geduld und Liebe einer Mutter.« Er beugte sich nieder und führte in etwas unbeholfener Galanterie Fräulein Reuters Hand an die Lippen.

Bewegt und sinnend sah sie ihm nach, als er durch den Garten ging. Vater und Kind jammerten sie, und ihr gutes Herz riet ihr, das letztere aufzunehmen. That sie aber damit das Rechte?

Da ward die Thür ungestüm geöffnet, und voran Wally, stürmten die jungen Mädchen ins Zimmer.

»Tantchen, was war das für ein merkwürdiger Besuch?«

»Was wollte der dicke Herr von dir? Denke nur, Tantchen, er ist ein guter Bekannter vom Konzert.«

»Er hat sich unerlaubt lange aufgehalten und dich in deiner Mittagsruhe gestört.« So schwirrte es durcheinander und Fräulein Reuter drückte lachend die Hände auf die Ohren. »Ich hätte nicht geglaubt, Kinder, daß ihr so grenzenlos neugierig wäret,« sagte sie, als sie zu Worte kommen konnte. »Leider ist es mir aber unmöglich, eure Neugierde zu befriedigen, sondern ich muß euch bitten, mich allein zu lassen und mir Pohl zu schicken.«

Die jungen Mädchen sahen sie verwundert an, merkten aber, daß es diesesmal Ernst war und zogen sich, neugieriger noch, als sie gekommen waren, in Wallys Zimmer zurück.

Nachdem sie hier fast eine Stunde gewartet hatten, erschien Pohl, sie zum Kaffee zu rufen.

»Man erinnert sich unsrer wirklich,« murrte Else leise und setzte eine beleidigte Miene auf, als sie ins Zimmer traten.

»Nun Kinder, lebt ihr noch, oder seid ihr umgekommen vor Neugierde?« rief Fräulein Reuter ihnen lächelnd entgegen.

»Beinahe ist es so, du böses Tantchen,« entgegnete Wally, »sollte dies eigentlich ein Extra-Sonntagsvergnügen sein?«

»Natürlich, Wildfang,« sagte der Graf und zog sein Töchterchen an sich, »weißt du noch nicht, Kind, daß der Sonntag eigens dazu da ist, damit wir an ihm unsre Tugenden besonders üben?«

»O weh, da haben wir schlecht bestanden,« rief Eva lachend, »denn wir haben uns nicht die geringste Mühe gegeben, unsre Neugierde zu unterdrücken.«

»Dann verdientet ihr gar nicht, das große Geheimnis überhaupt zu erfahren,« sagte Pastor Winter neckend.

»O Herr Pastor, Sie haben uns oft genug gesagt, daß nicht nach unsrem Verdienste mit uns verfahren wird,« rief Wally, »Sie kommen damit nicht durch.«

Pastor Winter nickte dem Grafen zu. »Eine gelehrige Schülerin, nicht wahr, Herr Graf? Nun denn, wir wollen eure Neugierde nicht länger auf die Folter spannen, sondern ich will euch mitteilen, daß sich euer lustiger Kreis noch um eine Gefährtin vergrößern wird.« Achs und Ohs der Verwunderung wurden laut.

»Die Tochter von dem dicken Herrn, Tante?« fragte Maria.

»Was weißt du von ihm, Kind?«

»Ich dachte mir, daß ihn nur eine solche Bitte zu dir führen könnte, Tante Helene.«

»Da hast du ganz recht, mein gutes Kind, und ich hoffe, daß ihr alle das junge Mädchen mit Freundlichkeit aufnehmen werdet.«

»Gewiß, Tante,« versicherte Eva schnell, »wie heißt sie aber und woher kommt sie?«

»Sie heißt Elisabeth Ehrhard, und ihr Vater ist Mühlenbesitzer in Wallnitz bei Lautenthal.«

Else verzog den Mund spöttisch und raunte Wally zu: »Das ist ein hübscher Verkehr für dich, Komteßchen.«

»Freilich,« entgegnete die Kleine lachend, »das Müllerkind ist mir außerordentlich interessant, schon ihres Vaters wegen, der sich so großmütig gegen unsre armen Weber gezeigt hat. Erlaubst du, Papa, daß ich mir die Mühle einmal ansehe?«

»Weshalb nicht, Töchterchen, wenn sich dir die Gelegenheit einmal bietet. Im übrigen brauche ich dir wohl nicht anzuempfehlen, Kind, recht liebevoll gegen das arme Mädchen zu sein?«

»Weshalb arm, Papa? Hat ihr Vater kein Geld?«

»Im Gegenteil, ich glaube, er ist ein ganz vermögender Mann. Die Kleine hat aber eine Stiefmutter, die sie nicht liebt.«

»Ich will sie lieben,« erklärte Wally, und Fräulein Reuter teilte nun den jungen Mädchen mit, was sie ihnen mitteilen konnte, ohne das Vertrauen des biederen Müllers zu mißbrauchen.

»Der Entschluß, das junge Mädchen aufzunehmen, ist mir nicht leicht geworden,« sagte sie, »denn ich fürchtete, es möchte meine Kräfte übersteigen, noch eine sechste Schülerin zu unterrichten und zu erziehen, und dann glaubte ich, Graf Thalenhorst die Frage schuldig zu sein, ob es ihm lieb sein würde, wenn ich seine Tochter zusammen mit diesem jungen Mädchen erzöge. Ich war nicht im Zweifel über Ihre Antwort,« sagte sie lächelnd, zu dem Grafen gewandt, »ich wußte, wie Sie darüber denken.«

»Gottlob, verehrtes Fräulein, daß Sie mich soviel kennen; ich würde es für ein Unrecht ansehen, diesem jungen Mädchen vorzuenthalten, was ich so hoch für meine eigene Tochter schätze, nämlich die Erziehung und den Aufenthalt in Ihrem Hause. Daß die Kleine zufällig die Tochter eines biederen Müllers ist, thut ihr in meinen Augen keinen Schaden, denn ich stelle den Adel der Gesinnung und der Bildung ebenso hoch wie den der Geburt, und daß mein Töchterchen ebenso denkt und ihre junge Gefährtin nicht hochmütig behandeln wird, weil sie zufällig ein Grafenkind ist, weiß ich; nicht wahr, Wildfang, ich habe recht?«

»Vollkommen, Papachen, ich glaube, ich habe zu nichts weniger Anlage als zum Hochmut.«

Dem stimmten alle eifrig bei, und Eva rief: »Du bist das leutseligste Komteßchen, das es nur auf der Welt geben kann, Wally, denke nur an das Konzert; ehe man deiner großartigen Kunstfertigkeit applaudierte, wurde deiner Leutseligkeit zugejubelt.«

»Ja wahrlich,« bestätigte Wally leuchtenden Auges, während alle lachten, »es war der herrlichste Augenblick meines Lebens, ewig schade, daß du ihn nicht mit erlebt hast, Papa.«

»Ich wäre sicher stolz auf meine Tochter gewesen, wenn ich bei ihren künstlerischen Leistungen nicht ein leises Gruseln empfunden hätte, denn da sind mir Dinge zu Ohren gekommen, meine Kleine, die ich lieber nicht wiederholen möchte.«

»Daran thust du sehr recht, Papa, aber glaube das nur ja nicht, du weißt ja, der unsterbliche Goethe sagt schon: Die Welt liebt es, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen.«

»Wenn du nichts dagegen hast, Wally, so war es Schiller, der diesen Ausspruch gethan,« bemerkte Else.

»Danke, Prinzeßchen, es ist mir übrigens gleichgültig, welcher berühmte Geist dies oder jenes gesagt hat, das kann man unmöglich alles behalten. Um aber wieder auf das interessante Müllerkind zu kommen, Tantchen, wann rückt es denn ein?«

»Darüber muß ich erst mit dem Vater Rücksprache nehmen.«

»So schnell wie möglich wäre am wünschenswertesten, damit sie den Unterricht nicht lange versäumt,« sagte Pastor Winter, »es ist ja überhaupt fraglich, wie weit sie ist.«

»Ich sehe Herrn Ehrhard kommen,« bemerkte Fräulein Reuter, sich erhebend, »ich werde ihn drüben in meinem Zimmer empfangen und darf Sie wohl nachher rufen lassen, Herr Pastor?«

»Bitte sehr, liebes Fräulein, es würde mir angenehm sein, den Herrn kennen zu lernen.«

Sie ging, die beiden Herren setzten sich zu einander, und die jungen Mädchen begannen ein halblautes Gespräch, das sich natürlich um die »Neue« drehte. Nach einer Viertelstunde ließ Fräulein Reuter Pastor Winter bitten, und als beide bald darauf wieder in das Zimmer traten, waren sie sehr befriedigt. Der biedere Müller hatte eine unbegrenzte Freude und Dankbarkeit bezeigt, und er hatte das Haus in der festen Ueberzeugung verlassen, daß sein Liesel dort wohl geborgen sein würde.

»Und wann kommt sie, Tantchen?«

»Sie selbst kommt Mittwoch, ihre Sachen schon Dienstag,« lautete die Antwort.

»Was Suse wohl sagt?« rief Maria.

Ja, Suse, und nun fiel es allen Mädchen ein, daß diese es unbedingt sofort erfahren müsse, und sie bestürmten Fräulein Reuter mit Bitten, sie holen zu lassen.

»Ich werde sie euch schicken,« sagte Pastor Winter lächelnd, indem er sich erhob, »meine Zeit ist ohnehin abgelaufen.«

»Aber, Herr Pastor, Sie dürfen kein Wort von dieser hochwichtigen Angelegenheit verraten.«

»I bewahre, Wally, ich werde ihre Neugierde nur etwas reizen, das erhöht den Effekt bedeutend,« entgegnete Pastor Winter scherzend, verabschiedete sich und ging.

Die jungen Mädchen warteten mit großer Spannung, und als Suse endlich erschien, überboten sie sich an mystischen Andeutungen, um Suses Neugierde aufs höchste zu spannen. Diese blieb jedoch ziemlich gleichmütig, und als sie endlich erfuhr, um was es sich handelte, nickte sie höchst befriedigt und sagte: »Es freut mich besonders, daß Elisabeth Ehrhard vom Lande ist, da kann sie mir sicher gute und billige Rezepte für mein Kochbuch mitbringen.«

Einen Augenblick sahen die jungen Mädchen sich schweigend an, dann aber brachen sie in helles Lachen aus. »Siehst du, Papa, so ist Suse,« rief Wally aus, »und das ist nun Mamas Veilchen. Nicht ein bißchen Poesie besitzt das Mädchen.«

»Nein, Wally, die geht mir vollständig ab,« gab Suse lachend zu, »und es ist wirklich schade um den hübschen Vergleich; deine Mama hätte lieber den Thymian wählen sollen, der wird nur zu praktischen Zwecken verwendet.«

»Stopft man davon nicht Wurst?« fragte Else, die ihre Weisheit doch gerne leuchten lassen wollte.

»Nein, einzige Else, davon nicht, man nimmt ihn aber als Gewürz zur Wurst,« belehrte sie Suse.

Else errötete ärgerlich, besonders als Wally lachend ausrief: »Ich glaube, Schatz, solch Würstchen würde selbst Papa zu scharf sein.«

»Ich habe es natürlich auch nicht wörtlich gemeint,« rief sie gereizt.

»Wir wissen es, Elslein,« sagte Maria, ihr begütigend die glühende Wange streichend, »es klang nur so komisch.«

Der Abend verlief unter heiterem Plaudern; später musizierten die jungen Mädchen auf Wunsch des Grafen noch etwas und alle waren erstaunt, als die Uhr neun schlug. Der Graf erhob sich, verabschiedete sich von Fräulein Reuter, den jungen Mädchen und schloß sein Töchterchen aufs zärtlichste in die Arme. »Gott schütze dich, mein Liebling,« flüsterte er und strich über die dunklen Löckchen.

»Lieber, einziger Papa, besuche mich bald einmal, bitte, bitte.«

»Wir wollen sehen, meine Kleine, vielleicht bin ich eines Tages da, ehe du es ahnst. Und nun leb wohl, meine Wally,« er drückte noch einen Kuß auf den kleinen zuckenden Mund und ging.

Wally flog ans Fenster, riß den Vorhang in die Höhe und verfolgte die geliebte Gestalt so lange mit den Augen wie möglich. Maria war ihr gefolgt und schlang die Arme um sie. Wally warf sich ihr schluchzend an die Brust und rief: »Ach Mieze, ich habe Papa so furchtbar lieb, es reißt jedesmal etwas in mir entzwei, wenn wir Abschied von einander nehmen.«

»Ein Glück, Wally, daß es bei dir schnell wieder zusammenheilt,« rief Eva scherzend.

Das Komteßchen richtete sich auf und lachte unter Thränen. »Da hast du recht, Evchen, ich wäre sonst ganz gewiß nicht mehr lebendig.« Sie sprang zu Fräulein Reuter und schmiegte sich innig an sie. »Du mußt mich jetzt sehr verziehen, liebes süßes Tantchen,« bat sie, »ich bedarf sehr vieler Liebe, um mich wirklich glücklich zu fühlen.«

»Ich glaube, du kannst nicht über zu wenig Liebe klagen, mein Kind,« entgegnete die alte Dame, sie zärtlich in die Arme schließend.

»Nein, Engelstantchen, du hast recht, es ist wunderbar, wie lieb und gut alle Menschen gegen mich sind.«

»Es muß schön sein, das von sich sagen zu können,« meinte Else nachdenklich, »wie kann man es wohl anfangen, recht viel Liebe zu gewinnen?«

»Wer Liebe säet, wird auch Liebe ernten,« entgegnete Fräulein Reuter, »vergeßt das alle nicht, meine lieben Mädchen. Und nun gute Nacht, morgen sollt ihr mit hellen Augen und frischem Sinn den Unterricht beginnen.«

Mit großer Spannung sahen die jungen Mädchen der Ankunft der »Neuen« entgegen. Der Montag verging ihnen trotz ihrer Ungeduld ziemlich schnell und am Dienstag trafen schon gegen Mittag die Sachen ein. Die jungen Mädchen sahen neugierig nach dem Wagen hinüber, der vor dem Garten hielt; sie mußten aber ihre Ungeduld zügeln, denn es sollte erst nach dem Essen abgeladen werden.

»Welches Zimmer willst du Elisabeth geben, liebe Tante?« fragte Eva während desselben.

»Ich habe viel darüber nachgedacht,« lautete die Antwort, »und bin zu dem Entschlusse gekommen, daß es das Beste sein wird, da Elisabeth sehr scheu und still ist, sie mit einer von euch das Zimmer teilen zu lassen.«

»Ach, Tantchen, mit mir,« bat Wally.

»Das wäre sehr unpraktisch,« entgegnete Fräulein Reuter lächelnd, »denn du, meine liebe Wally, bist viel zu lebhaft, und würdest abends schwatzen, statt zu schlafen, und euch, Eva und Maria, möchte ich nicht gern trennen. Somit bleibt mir also nur Else, und ich habe aus verschiedenen Gründen beschlossen, liebes Kind, daß du dein Zimmer, das groß und geräumig genug für zwei ist, mit Elisabeth teilst.«

Else ließ vor Schreck fast Messer und Gabel fallen, und starrte Fräulein Reuter an. Die übrigen jungen Mädchen konnten kaum ein Lächeln unterdrücken, denn sie wußten ganz genau, was Else in diesem Augenblick empfand.

»Ich hoffe,« fuhr Fräulein Reuter ruhig fort, ohne ihr stummes Entsetzen zu beachten, »daß du dich besonders freundlich deiner Zimmergenossin annimmst und ihr das Uebersiedeln in fremde Verhältnisse so leicht wie möglich machst, ja, es würde mir eine große Freude sein, wenn du dich ernstlich um ihre Freundschaft bemühen wolltest.«

Auch das noch – wirklich eine reizende Zumutung! Mit vor Aufregung bebender Stimme entgegnete Else: »Es thut mir leid, Fräulein Reuter, Ihnen diese Freude nicht bereiten zu können, aber um die Freundschaft einer Müllerstochter werde ich mich niemals bewerben.«

Jetzt war die Reihe zu erschrecken an den übrigen jungen Mädchen.

»Else!« rief Eva in ehrlicher Entrüstung, Fräulein Reuter winkte ihr jedoch zu schweigen und sagte gelassen: »Ich glaube, du vergißt dich, Else.« Diese aber sah in trotzigem Schweigen auf ihren Teller, und die alte Dame wandte sich, ohne sie zu beachten, den andern Mädchen zu.

Nachdem das Essen vorüber, und Fräulein Reuter in das obere Stockwerk gegangen war, das Einräumen der Sachen zu beaufsichtigen, stürmten die jungen Mädchen auf Else ein.

»Du mußt Tante um Verzeihung bitten,« rief Eva, »du mußt selbst zugeben, daß du dich unerhört betragen hast.«

»Das ist meine Sache, nicht deine,« rief Else mit blitzenden Augen. »Verschone mich, bitte, mit deinen Bemerkungen.«

»Sei doch nicht so heftig, Else,« bat Maria, »du kennst Elisabeth ja noch gar nicht.«

»Mich verlangt auch nicht darnach. Ich habe nun einmal einen Widerwillen gegen alles Gemeine und will ihn auch haben.«

»Else, überlege deine Worte, etwas Gemeines würde Tante nie ins Haus bringen,« sagte Eva ernst.

»Sei doch vernünftig, Else,« bat Maria, »unser Zusammenleben war so hübsch, soll das mit einemmal aufhören?«

»Ist das meine Schuld? Wozu kommt das Müllerkind ins Haus?«

»Soll ich dir es sagen, Prinzeßchen?« fragte Wally schelmisch. »Der liebe Gott will sie gewiß als Zuchtrute gegen das Hochmutsteufelchen benützen, das dir innewohnt.«

Else errötete und warf dem Komteßchen einen bitterbösen Blick zu, die Kleine aber lachte und fuhr fort: »Ich glaube, Kinder, wir gehen einer hochinteressanten Zeit entgegen, ihr sollt sehen, es wird das reine Theaterspiel, ach, und die Komödien mag ich für mein Leben gern. Aber nun kommt, damit wir uns die Sachen der ›Neuen‹ ansehen, sie sind gewiß sehr dauerhaft gearbeitet.«

Lachend zog sie die Freundinnen aus dem Zimmer, nur Else blieb trotzig zurück, obgleich sie es doch am meisten anging; da steckte Wally den Lockenkopf noch einmal in die Thür, und alle Schalkhaftigkeit war aus ihrem Gesichtchen geschwunden, als sie sagte: »Höre Prinzeßchen, wenn du nicht aufhörst, unser engelgutes Tantchen zu ärgern, habe ich dich gar nicht mehr lieb, nicht ein bißchen.« Damit schlug sie die Thüre zu und eilte den andern nach.

Als Else später auf ihr Zimmer kam, warf sie einen zornigen Blick auf die Sachen des »Eindringlings«, der ihr das Letzte nahm, was sie ihr eigen nannte: nämlich ihr Stübchen, in das sie sich nun nicht mehr ungestört zurückziehen konnte.

Gegen Abend ließ Fräulein Reuter das junge Mädchen zu sich bescheiden und behielt sie fast eine Stunde bei sich.

»Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein,« sagte Maria seufzend.

»Ach, Tantchen kann gar nicht wirklich böse werden,« bemerkte Wally.

»Deshalb gerade wäre es mir so schrecklich, wenn ich sie betrübt hätte,« sagte Maria, und alle sahen Else gespannt entgegen, als sie jetzt in die gemeinsame Arbeitsstube trat, welche zugleich das Schulzimmer war. Sie sah sehr rot aus, da sie jedoch kein Wort von der Unterredung verriet, fragte sie auch keine, und so herrschte ein beklommenes Schweigen in dem Raume, der sonst so oft von ihren frohen Stimmen wiederhallte.

Am andern Morgen konnten die jungen Mädchen kaum das Ende der Unterrichtsstunden erwarten; früh am Nachmittage sollte Elisabeth eintreffen, und mit Neugierde sahen die jungen Mädchen ihr entgegen. Da Fräulein Reuter sie erst allein empfangen wollte, hatten sie sich in Wallys Zimmer zurückgezogen. Auch Suse war gekommen, damit die »Neue« den kleinen Kreis gleich vollzählig vorfände.

Nach kurzer Zeit ließ Fräulein Reuter die jungen Mädchen zu sich rufen.

»Endlich,« rief Wally aufspringend, »so kommt doch, weshalb zögert ihr noch?«

Else warf noch einen letzten Blick in ihr Buch, als könne sie sich nicht von demselben trennen und folgte den übrigen. Bei der Thür blieben sie stehen, die Nachzüglerin zu erwarten. »Dir gebührt der Vortritt, Prinzeßchen, du bist die Vornehmste unter uns,« sagte Wally mit mutwillig blitzenden Augen, riß die Thür weit auf und trat mit tiefer Verbeugung zurück.

Else errötete vor Unwillen und die Verlegenheit stand ihr sehr vorteilhaft, als sie nun als erste ins Zimmer trat. Die übrigen folgten ihr mit lachenden Mienen, und der Anblick der frischen, fröhlichen Mädchengesichter war so allerliebst, daß man dem Müller die helle Freude nicht verdenken konnte, die aus seinen Augen leuchtete.

»Ich möchte Sie mit meinen Zöglingen bekannt machen, Herr Ehrhard,« nahm Fräulein Reuter das Wort und ergriff Elses Hand. »Dies ist Else Kirchner, deine zukünftige Stubengenossin, liebe Elisabeth, hier Susanne Winter, dies meine Nichten Eva und Maria Reuter und Wally von Thalenhorst.«

Der Müller verbeugte sich und sah die jungen Mädchen freundlich an. »Ich habe die jungen Damen damals im Konzert gesehen und aufrichtig bewundert.«

»Mich auch, Herr Ehrhard?« fragte Wally.

»Sie erst recht, Komteßchen, Sie erst recht,« rief er eifrig.

Sie streckte ihm mit strahlendem Lächeln die kleine Hand hin. »Ich habe Sie auch in guter Erinnerung behalten, denn Sie waren der Erste, der mir eine reiche Spende zu teil werden ließ. Und das ist also Elisabeth? Wir sind furchtbar neugierig auf dich gewesen, du aber gewiß nicht minder auf uns?«

Ein scheues Lächeln flog über das blasse Gesicht, in hilfloser Verlegenheit sah sie den Vater an. Dieser nickte ihr ermutigend zu und strich leise über ihr dunkles Haar. »Sie ist noch etwas schüchtern, Komteßchen,« sagte er wie entschuldigend, »das wird sich aber geben, wenn sie erst einige Zeit hier gewesen ist.«

»Bitte, Herr Ehrhard, nehmen Sie Platz, und ihr auch, Kinder,« sagte Fräulein Reuter, »und du, Else, bist wohl so gut, für den Kaffee zu sorgen.«

Else biß sich auf die Lippe; wie fatal, daß sie gerade die Woche hatte: nun mußte sie noch zu allem Ueberfluß den dicken Müller und seine dumme Tochter bedienen, denn daß Elisabeth dumm war, stand fest bei Else, ehe sie dieselbe gesehen hatte. Sie klingelte, hieß Sophie den Kaffee bringen, schenkte ihn auf dem Nebentische ein und präsentierte ihn herum.

Fräulein Reuter unterhielt sich während des Trinkens mit Herrn Ehrhard, und die jungen Mädchen hatten Muße, die »Neue« unauffällig zu mustern. Nein, hübsch konnte keine Elisabeth Ehrhard finden. Die Gestalt war zwar groß und geschmeidig, doch überschlank und eckig; es machte den Eindruck, als wisse sie durchaus nicht ihre Glieder zu beherrschen. Aus dem blassen Gesicht sahen ein paar dunkle, unnatürlich große Augen, die einen scheuen, ängstlichen Blick hatten; das braune, lange Haar war in einen festen Zopf geflochten und wie ein Kranz um den Kopf geschlungen. Und wie ungeschickt und unbeholfen sie war! Statt die Untertasse beim Trinken in der Hand zu behalten, ließ Elisabeth sie auf dem Tische stehen, nahm die Tasse in die linke, den Kuchen in die rechte Hand und tauchte ihn in den Kaffee.

Wally sah ihr mit übermütig blitzenden Augen zu und nun – sie preßte das Taschentuch vor den Mund, um nicht in Lachen auszubrechen – fiel ihr ein Stück Kuchen auf die Erde. Errötend setzte sie die Tasse hin, nahm es hastig auf und – steckte es in den Mund. Wahrscheinlich wäre es jetzt um den Ernst der sämtlichen jungen Mädchen geschehen gewesen, wenn Fräulein Reuter sie nicht mit einem vielsagenden Blick angesehen hätte; dann sagte sie freundlich zu Elisabeth, die sich bemühte, die Krumen vom Teppich aufzulesen: »Laß nur, liebes Kind, das besorgt nachher Sophie. Wenn ihr mit eurem Kaffee fertig seid, könntet ihr Elisabeth eure Zimmer und die Klasse zeigen.«

Die jungen Mädchen sprangen bereitwillig auf, Maria faßte mitleidig Liesels Hand, Suse gesellte sich zu ihnen und sie führten sie die Treppe hinan.

Wally war nicht imstande, ihre Lachlust länger zu bezwingen, sie eilte über den Flur in die Klasse, wohin ihr Eva und Else folgten.

»Kinder, ich sterbe, wenn ich jetzt nicht lachen kann,« rief sie, »sie ist aber wundervoll.«

»Ich glaube, sie ist ein halber Idiot,« sagte Else halb lachend, halb entrüstet, »ihr könnt es mir nicht verdenken, wenn ich mein Zimmer nicht mit ihr teilen mag.«

»Nun Prinzeßchen, du lebst ja mit ihr auf keiner Insel,« tröstete Eva, »wir sind ja auch noch da; aber nun kommt, was muß sie von uns denken! Wally, hast du dich soweit erholt, daß du uns begleiten kannst? Maria und Suse sind wirklich viel besser als wir.«

»Maria wohl, aber Suse fahndet nur nach Kochrezepten,« rief das Komteßchen und trocknete die Thränen, welche die Heiterkeit ihr ausgepreßt hatte.

Sie gingen die Treppe hinan und fanden die drei Mädchen in Evas und Marias Zimmer. »Zeige Elisabeth jetzt eure Stube, Else,« rief Maria letzterer entgegen, »in Wallys Zimmer sind wir schon gewesen.«

»In das meine hättet ihr auch ohne mich gehen können,« entgegnete diese kurz und schritt voran.

Elisabeth blickte sich scheu in dem hübschen Raume um, nur als ihr Blick auf ihr Eigentum fiel, lächelte sie. »Papa hat alles erst neu für mich gekauft,« sagte sie schüchtern.

»Und alles ist wunderhübsch,« entgegnete Maria freundlich.

»Ja, Elisabeth, besonders dein Bücherschrank,« rief Eva, »um den könnte ich dich fast beneiden.«

»Willst du deinen Koffer auspacken, Liesel,« schlug Suse vor, »wir wollen dir gerne helfen.«

Wally stieß Eva an. »Sagte ich es dir nicht? die Kochrezepte.«

Elisabeth schüttelte den Kopf. »Papa hat nicht lange Zeit mehr, da er hier noch manches besorgen muß, ich möchte gerne so lange bei ihm bleiben.« Sie sah die Mädchen mit schüchterner Bitte an, und Maria sagte: »Natürlich, der Wunsch ist nur gerechtfertigt. Komm, ich bringe dich hinunter, und sobald dein Papa fort ist, helfen wir dir auspacken.«

Nach einer halben Stunde kehrte das junge Mädchen zurück, sie weinte nicht, sah aber blaß und traurig aus; schweigend rückte sie den Koffer aus der Ecke und schloß ihn auf.

»Magst du es auch, Elisabeth, wenn wir dir helfen?« fragte Maria sanft.

»O ja, ihr seid ja so sehr freundlich,« war die leise Antwort, und sie reichte den Zunächststehenden die Kleider. Suse hatte das Ordnen der Kommodenfächer übernommen und legte die weiße, hübsche Wäsche hinein. Die jungen Mädchen hatten ihre Unbefangenheit vollständig wiedergefunden und plauderten fröhlich; nur Else setzte sich ans Fenster und warf nur hin und wieder eine Bemerkung dazwischen.

»Willst du nicht helfen, Else?« fragte Suse.

»Nein, ich finde, daß genug Hände thätig sind.«

»Es schickt sich auch gar nicht für dich, Prinzeßchen,« sagte Wally und setzte auf Elisabeths verwunderten Blick hinzu: »Du mußt nämlich wissen, Liesel, daß wir Else wegen ihrer besonders vornehmen Airs also getauft haben.«

Elisabeth warf einen scheuen Blick zu Else hinüber, entgegnete jedoch nichts. Nun kamen die Bücher, und mit ihrem Erscheinen erwachte Evas ganzer Eifer. »Ich bin neugierig, wie weit du bist, aber du wirst ganz andre Bücher haben als wir, darf ich sie besehen? Auch deine Schreibhefte?

»Gerne, ganz nach Belieben.«

Neugierig betrachteten die Mädchen nun die Bücher und warfen sich verwunderte Blicke zu. Elisabeth war reichlich so weit wie sie, in einigen Fächern sogar fast weiter.

»Was hast du für schwere Aufsätze gemacht,« rief Eva bewundernd aus.

»Ja, Fräulein gab darauf am meisten.«

»Und wie schreibst du schön, Lisi,« lobte Maria und Wally setzte hinzu: »Was hast du für unerlaubt gute Zensuren, solche habe ich nicht aufzuweisen.«

Elisabeth errötete vor Freude und Else vor Aerger. Das fehlte auch gerade noch, daß das von ihr verachtete Müllerkind klug und begabt war, es war wirklich zum Totärgern.

»Was ist dies für ein Buch?« fragte Eva. »Ein Schreibheft ist es nicht,« sie hielt ein in gepreßtes Leder gebundenes Buch in die Höhe.

»Laß sehen!« rief Suse und griff eifrig danach, doch Elisabeth sprang hastig dazwischen und nahm es aus Suses Hand. »Entschuldige,« sagte sie, glühend rot, »es ist – es ist – ich kann es dir nicht geben, es ist eine Art Tagebuch.«

»So,« entgegnete Suse trocken, »das interessiert mich nicht weiter.«

Wally lachte heiter. »Weißt du, Liesel, Suse wittert Kochrezepte bei dir.«

Elisabeth sah verwundert von einer zur andern. »Wie soll ich dazu kommen?«

»Das frage ich mit dir, Liese,« rief Eva lachend, »aber unsre praktische Suse hat es sich nun mal in den Kopf gesetzt, daß du als Landkind damit versehen sein müßtest.«

»Ich kann dir vielleicht einige von Mama verschaffen, wenn du dich dafür interessierst.«

»Danke, Elisabeth, wenn du nach Hause fährst und bringst mir gelegentlich einige mit, würde ich dir sehr dankbar sein. Ich habe nämlich von Eva zu Weihnachten ein sehr hübsches Kochbuch bekommen und möchte auch gerne etwas Neues und Gutes hineinschreiben, denn ich interessiere mich nun einmal mehr für die Wirtschaft, als für die Wissenschaften.«

Elisabeth schüttelte den dunklen Kopf: »Mama sagt, ich sei gar nicht für den Haushalt zu gebrauchen, und da ich die Bücher über alles liebe, will ich auch Lehrerin werden.«

»Ich auch,« rief Eva, »ich will ebenfalls mein Examen machen.«

»O,« sagte Liesel und zum erstenmal verklärte ein helles Lächeln das ernste Antlitz und machte es überaus anziehend, »da finden wir vielleicht einige gemeinsame Interessen.«

»Natürlich,« rief Eva eifrig, »wir verfolgen ja das gleiche Ziel; das soll ein lustiges Schaffen und Streben werden, Lisa.«

»Um Himmelswillen, Kinder, werdet nur nicht zu gelehrt,« bat Wally kläglich, »sonst hört ja unsre ganze Lustigkeit auf.«

»Dafür wirst du schon sorgen, daß das nicht geschieht, Wildfang,« rief Eva lachend.

Else hörte verdrossen zu, und ihre schlechte Laune stieg, je mehr gute Eigenschaften die Freundinnen an dem Müllerkinde entdeckten. Wie konnte dieses sich aber auch erdreisten klug zu sein, vielleicht wußte es gar mehr als sie. Unmutig folgte sie den jungen Mädchen, als sie zum Thee gerufen wurden, und schweigsam waltete sie ihres Amtes am Theetische.

Keine lachte jetzt über Elisabeths Unbeholfenheit, und als sie die Zuckerdose mit dem Ellenbogen umstieß, sprang Eva schnell hinzu, ihr behilflich zu sein, den Schaden wieder gut zu machen. Wally lachte zwar, rief aber fröhlich, »laß gut sein, Liesel, solch kleines Unglück kann jedem passieren.«

.

Fräulein Reuter nickte ihren jungen Mädchen freundlich zu, nur Else traf ein ernster Blick, weil sie mit spöttischem Lächeln daneben stand und sich nicht rührte, Elisabeth zu helfen.

Der Abend verlief nun ohne weiteren Mißklang; die jungen Mädchen holten ihre Handarbeiten und plauderten fröhlich. Fräulein Reuter erkundigte sich nach Elisabeths musikalischen Leistungen, und diese gestand errötend, daß sie es damit nicht weit gebracht hatte, da sie erst vor zwei Jahren angefangen und nicht rechte Lust gehabt habe.

»Das müssen wir nachholen,« sagte Fräulein Reuter freundlich, »von einer tüchtigen Erzieherin verlangt man auch Musikkenntnisse.«

Um neun Uhr hielt Fräulein Reuter eine kurze Andacht, zu der auch die Dienerschaft erschien, dann sagte man sich »gute Nacht!«

Es war doch ein eigenes Gefühl für Else, als sie sich beim Zubettgehen nun zum erstenmal allein mit Elisabeth befand. Sie traf in größter Eile ihre Vorbereitungen, packte ihre Bücher zum morgigen Unterrichte zusammen und begann sich schnell zu entkleiden.

Sie konnte sich nicht entschließen, das erste Wort an Elisabeth zu richten, und diese stand schweigend vor ihrer Kommode und blätterte in einem Buche. Mochte sie ihretwegen thun, was sie wollte, was kümmerte es sie? Eilig sprang sie ins Bett und drehte das Gesicht nach der Wand; niemand konnte verlangen, daß sie nun noch eine Unterhaltung begann.

Elisabeth schien es auch gar nicht zu erwarten. Als Else lag, ging sie nach dem Fenster, zog den Vorhang in die Höhe und blickte in die mondhelle Nacht hinaus.

Else lag in stiller Verwunderung, endlich aber bewog sie doch die Neugierde, sich umzuwenden; heimlich blinzelte sie durch die halb geschlossenen Augenlider nach dem Fenster hinüber, aber Elisabeth schenkte ihr keine Beachtung, sie starrte mit weit geöffneten Augen zum Himmel auf, und in dem blassen Gesicht, das ihr halb zugewendet war, spiegelte sich so viel Trauer und Qual, daß Else unwillkürlich erschrak. Was mochte ihr fehlen? Konnte es das Heimweh sein? Else selbst hatte es fast gar nicht kennen gelernt, doch immer gehört, daß es eine schreckliche Krankheit sein solle, an der gar Menschen zu Grunde gehen. Litt Elisabeth daran? Else beobachtete sie gespannt, sie regte sich jedoch nicht, sondern fuhr fort in die sternhelle Nacht hinauszustarren.

Ein unheimlicher Gedanke durchzuckte Else plötzlich: sollte Elisabeth mondsüchtig sein? Sie hatte gehört, daß der Mond eine besondere Anziehungskraft auf gewisse Menschen ausübe. War das aber der Fall, so würde sie – Else – keineswegs ihr Zimmer länger mit dem unheimlichen Mädchen teilen, und Fräulein Reuter konnte es nicht von ihr verlangen. Eine Weile ließ sie die Gefährtin noch gewähren, dann sagte sie: »Es ist hier Sitte im Hause, daß jede von uns sofort zu Bette geht, wenn Fräulein Reuter uns entlassen hat: sie würde gewiß nicht damit einverstanden sein, daß du in den Mond starrst, statt zu schlafen, außerdem mußt du einsehen, daß du mich störst.«

Bei den ersten Worten hatte sich Elisabeth herumgedreht und sie erschrocken angeblickt, dann ließ sie den Vorhang niedergleiten, entschuldigte sich mit leiser Stimme und ging schnell zu Bette.

Else konnte sobald nicht schlafen, sie lauschte nach dem andern Bett hinüber und glaubte ein leises Schluchzen zu vernehmen. Statt aber Mitleid mit dem armen Fremdling zu empfinden, ärgerte sie sich, daß ihr eine Genossin aufgedrungen war, durch die sie nichts weiter hatte als Störungen. Sie nahm sich vor, Elisabeth während der Nacht zu beobachten, denn was konnte sie nicht alles anstellen, wenn sie mondsüchtig war, sie hatte davon schauerliche Dinge gehört. Von diesem Gedanken beseelt schlief sie nicht so fest wie gewöhnlich, und ein leises Geräusch erweckte sie. Wie erschrak sie aber, als sie die Augen öffnete. Da stand Elisabeth im langen weißen Nachtkleide vor dem Spiegel und kämmte ihr dunkles Haar. Ihr zur Seite stand ein brennendes Licht, dessen Schein ihr bleiches Gesicht Else fast geisterhaft erscheinen ließ. Ihr Herz klopfte heftig, der Angstschweiß brach ihr fast aus, und sie konnte nur den einen klaren Gedanken fassen, daß keine Macht der Welt sie bewegen könnte, noch eine zweite Nacht mit dem entsetzlichen Mädchen zu verbringen.

Da wandte sich Elisabeth und sie begegnete Elses Blick. »Guten Morgen,« sagte sie leise.

Else sah sie verblüfft an und richtete sich hastig auf. »Sind wir denn schon geweckt?« fragte sie.

»Nein, ich bin aber gewohnt, um sechs Uhr aufzustehen.«

»Das ist aber wirklich zu arg, Elisabeth,« brach es nun zornig über Elses Lippen, »erst störst du mich gestern abend, daß ich die halbe Nacht nicht schlafen kann, und heute morgen spielst du die Fortsetzung zu einer Stunde, wo noch kein Mensch daran denkt, aufzustehen. Ich muß dich doch bitten, dir in Zukunft in meinem Zimmer derartige Störungen nicht wieder zu erlauben.«

Elisabeth wandte ihr die stillen Augen einen Augenblick voll zu, dann sagte sie gedrückt: »Es thut mir herzlich leid, daß ich dich gestört habe, ich glaubte jedoch, ich hätte dieselben Rechte in diesem Zimmer wie du.«

Else war sprachlos vor Entrüstung über solche Keckheit, dann sagte sie kurz: »Du hast jedenfalls nicht das Recht, mich in meiner Nachtruhe zu stören.«

Elisabeth entgegnete nichts und Else versuchte wieder einzuschlafen, es gelang ihr jedoch nicht mit dem Aerger im Herzen, und als Sophie kam, um zu wecken, sprang sie schnell aus dem Bette. Was sollte dies für ein Tag werden, an dem ihr schon früh am Morgen die Laune verdorben war?

Ohne auf Elisabeth zu achten, die lesend auf dem kleinen Diwan saß, ging sie aus der Thür. Als sie die Treppe fast erreicht hatte, kam Wally aus ihrem Zimmer und flog auf sie zu. »Guten Morgen, Prinzeßchen,« rief sie fröhlich und fügte leiser hinzu: »Was macht deine Zimmergenossin, hat sie gut geschlafen?«

»Frage sie selbst,« lautete die verdrießliche Antwort, »sie hat es sich bequem genug auf meinem Sopha gemacht.«

Damit lief sie die Treppe hinunter; Wally blickte ihr verdutzt nach und eilte dann in das Zimmer der beiden Mädchen. Nach leisem Klopfen steckte sie ihr Lockenköpfchen durch die Thürspalte. »Guten Morgen, Liesel, darf ich näher kommen?«

Das junge Mädchen sprang auf. »Bitte, Komteßchen, wenn es Ihnen gefällig ist?«

Wally sah sie mit großen Augen an. »Weshalb so förmlich, oder soll ich auch ›Fräulein Ehrhard‹ sagen?«

»Nein, nein,« wehrte Elisabeth errötend ab, »ich kann ja aber nicht wissen, ob es Ihnen lieb ist, wenn ich ›du‹ sage.«

»Freilich ist es mir lieb, du wunderliches Mädchen, das mußt du doch schon gemerkt haben? Was treibst du denn da? Ach, ich glaube gar, du liest in früher Morgenstunde schon Gedichte?«

»Ich liebe sie so sehr,« entgegnete Lisa wie entschuldigend.

»Ich auch, sie müssen aber sehr lustig sein. Nun komm aber mit hinunter, es wird gleich zum Kaffee klingeln.«

Mit besonderer Spannung gingen die jungen Mädchen heute dem Unterricht entgegen; ob Elisabeths Wissen dem ihren wohl gleich kam?

Diese selbst war am ruhigsten, still legte sie ihre Bücher auf den Tisch, und als alle Platz genommen hatten, schob sie sachte einen Stuhl neben Else und setzte sich.

Pastor Winter, der die erste Stunde, eine Religionsstunde, zu geben hatte, sah sie freundlich an. »Wie alt bist du, liebes Kind?« fragte er.

»Fünfzehn Jahre, Herr Pastor.«

»Und wann wirst du sechzehn?«

»Den dreizehnten Juli.«

Der Pastor blickte die jungen Mädchen lächelnd an. »Ich sehe ja, welche die älteste und die jüngste von euch ist, Kinder,« sagte er, »aber wann ihr Geburtstag habt, kann ich unmöglich behalten. Fräulein Reuter pflegt nämlich ihre Zöglinge nach dem Alter zu setzen,« fügte er zu Elisabeth hinzu, »und da will ich dir doch sofort deinen Platz anweisen. Eva, wohin gehört Elisabeth?«

»Ueber Else, Herr Pastor, sie ist zwei Tage älter.«

»So tauscht denn die Plätze, Kinder, es scheint, als solle unsre Else den bevorzugten Platz einer Jüngsten behalten.«

Elisabeth erhob sich und sah ihre Nachbarin mit scheuer Bitte an, diese aber sprang so heftig auf, daß der Stuhl zurückflog, warf ihre Bücher mit vielem Geräusch auf Elisabeths Platz und ließ diese vorüber. Hochrot vor Zorn zog sie dann ihren Stuhl ein ganzes Stück von ihrer Nachbarin fort und setzte sich.

Lautlos vor Schreck sahen die jungen Mädchen von Else zum Pastor Winter, ein solches Betragen war noch nie vorgekommen.

Pastor Winter sah Else mit durchdringenden Blicken an. »Es scheint mir, als ob du nicht recht ausgeschlafen hast,« sagte er dann ruhig, »da ist es wohl am besten, du ziehst dich eine Weile in dein Zimmer zurück und holst das Versäumte nach. Zu der zweiten Stunde um neun Uhr erwarte ich dich wieder.«

Er wandte sich den andern Mädchen zu und achtete nicht weiter auf Else, die glühend rot geworden, auf ihre Bücher sah, sich aber nicht rührte. Nach einigen Minuten fragte er: »Hast du nicht verstanden, was ich dir sagte, Else?«

Sie erblaßte tief, wie sollte sie die Schande ertragen, aus der Klasse gewiesen zu werden? Flehend sah sie zu Pastor Winter auf, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Er schien Mitleid mit ihr zu haben. »Du bist nicht wohl, man sieht es dir an, lege dich nieder, und sobald du dich besser fühlst, komm wieder.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin vollkommen wohl.«

Er runzelte leicht die Stirn. »Kannst du mir dann den Grund deines höchst sonderbaren Betragens nennen?«

Sie schwieg trotzig, nicht um die Welt hätte sie ihm ihre geheimsten Gedanken und Gefühle offenbaren können.

Da erhob sich Elisabeth blaß und ängstlich, und zaghaft begann sie: »Lassen Sie mich auf den letzten Platz zurückgehen, Herr Pastor, bitte, Else sitzt doch lieber bei ihrer Freundin, ich möchte sie nicht verdrängen.«

»Von Verdrängen ist durchaus keine Rede, mein gutes Kind, es handelt sich nur um einen Gebrauch, um weiter nichts; will sich dem eine nicht gutwillig fügen, so muß sie auch die Folgen tragen. Hast du mir wirklich nichts zu sagen, Else? Sonst muß ich meinen Befehl wiederholen.«

Sie hob die Augen zu ihm auf, er sah sie ernst, doch gütig an; es war unmöglich, diesen Augen zu widerstehen, halb unbewußt stammelte sie: »Entschuldigen Sie, Herr Pastor, ich – ich vergaß mich vorhin.«

Er neigte leicht das Haupt. »Es ist gut, Else, ich möchte dich aber in deinem Interesse bitten, dich in Zukunft mehr zu beherrschen.« Er setzte den Unterricht fort, als sei nichts geschehen.

Die jungen Mädchen konnten indessen ihre Gedanken nicht so schnell sammeln und es bedurfte seiner ganzen Nachsicht bei den vielen falschen Antworten, die ihm an diesem Morgen zu teil wurden.

Zwischen den einzelnen Stunden waren kleine Pausen, die Pastor Winter in Fräulein Reuters Zimmer verbrachte; gewöhnlich ging es während dieser Zeit sehr heiter in der Klasse her, heute aber war es, als könne keine das erste Wort finden, ja selbst Wallys Plaudermund war verstummt. Alle blickten scheu nach Else, die den Kopf gestützt hielt und eifrig für die Geschichtsstunde zu repetieren schien. Die Mädchen ließen sie still gewähren und unterhielten sich miteinander.

Die folgenden Stunden verliefen ohne weitere Störung.

Else nahm sich sichtlich zusammen und gab keinen Anlaß mehr zum Tadel. Was es sie aber kostete, ahnte keine, besonders da Elisabeth viel Lob wegen ihrer guten und verständigen Antworten erhielt. Sie hatte einen sehr gründlichen Unterricht gehabt und konnte reichlich Schritt mit ihren Genossinnen halten. Ihr blasses Gesicht strahlte vor Freude, als Fräulein Reuter ihr dies nach dem Schlusse der letzten Stunde aussprach; auch die andern jungen Mädchen freuten sich, namentlich Eva, die fern von jedem kleinlichen Neide war, und als es zur Arbeitsstunde ging, setzten sich beide neben einander, und jede freute sich zu erfahren, daß die andre die Bücher ebenso liebte wie sie.

Mit bitteren Gefühlen beobachtete Else diese Vorgänge: »Es lohnt gar nicht, daß ich fleißig bin,« sagte sie zu sich selbst, »niemand bewundert meine Leistungen oder interessiert sich für dieselben. Diese unausstehliche Elisabeth scheint mich überhaupt ganz in den Hintergrund zu drängen, es ist wohl am besten, ich bitte Mama, mich ganz fortzunehmen, hier kann ich doch nicht mehr glücklich sein.« So dachte das thörichte Mädchen und verharrte in ihrer trotzigen Laune; natürlich scheuchte sie damit nicht allein Elisabeth, sondern auch die Freundinnen von sich, und es war nur zu erklärlich, daß sie sich in dieser Gemütsverfassung höchst unglücklich fühlte.

»Du hast uns noch gar nichts von deiner Heimat erzählt, Lisa,« sagte Maria am zweiten Nachmittage, als sie nach der Arbeitsstunde ihre Bücher zusammenpackten. »Hast du eigentlich noch Geschwister?«

Ein Schatten flog über Elisabeths Gesicht. »Ja, drei Brüder,« entgegnete sie.

»Sie sind wohl noch alle sehr klein?« fragte Eva teilnehmend.

»Der Aelteste ist schon erwachsen.«

»O, ich glaubte, du seist das einzige Kind deiner Mutter!« rief Wally erstaunt.

»Nein, Hans ist mein rechter Bruder, er ist sieben Jahre älter als ich.«

»O, da ist er sogar älter als Suses Gerd. Was wird er denn, Liesel – auch Müller?«

»Nein, er studiert Theologie in Halle.«

»Ach, einen so gelehrten Bruder hast du?«

»Da ist wohl die Gelehrsamkeit bei euch zu Hause?«

»Und die Kleinen, Lisi, wie alt sind die?«

»Karlchen ist sechs und Ernst vier Jahre alt,« lautete die leise Antwort, darauf nahm Elisabeth hastig ihre Bücher und lief aus dem Zimmer.

Die jungen Mädchen sahen sich verwundert an. »Was hat sie nur?« rief Wally.

»Vielleicht mag sie nicht ausgefragt werden,« meinte Marie.

»O, sie kann doch darin nur unsre Teilnahme sehen,« erwiderte Eva, »wer weiß aber, ob sie über die häuslichen Verhältnisse reden mag.«

»Sie besitzt keinen Takt,« meinte Else wegwerfend, »wie könnt ihr euch darüber noch weiter wundern.«

»Der geht manchem Menschen ab, von dem man ihn mit Recht erwarten könnte,« war Evas schnelle Antwort.

»Meinst du mich?« rief Else mit blitzenden Augen.

»Ja, freilich meine ich dich, ich finde, du beträgst dich unverantwortlich gegen Elisabeth, die dir doch wahrlich nichts gethan hat.«

»Ja, Prinzeßchen,« bestätigte Wally, »für eine Schwester des silbernen Kreuzbundes ist ein solches Benehmen doppelt unerlaubt.«

»Was hat das mit der Müllerliese zu thun? Sie gehört nicht zu den Armen, die wir beschenken.«

»Ach Kinder,« rief Wally kläglich, »bei all ihrer Klugheit ist es Prinzeßchen doch nicht klar geworden, daß die christliche Nächstenliebe sich nicht allein auf die Gaben erstreckt, die wir mit der Hand austeilen, sondern – ach, Präsidentin, kannst du nicht recht hübsch ausdrücken, was ich gern sagen möchte?«

»Sondern, daß die Freundlichkeit des Herzens gegen alle Menschen die Hauptsache ist,« vollendete diese.

»Wunderschön, Evchen,« sagte Wally befriedigt; »was meint ihr aber, Kinder, wir müssen Elisabeth doch auffordern, in unsern Bund zu treten?«

»Auf keinen Fall,« rief Else aufspringend, »wenn ihr das thut, trete ich sofort aus.«

Wally lachte. »Ich habe als Kind die Fabel vom Frosch gelesen, der sich vor Hochmut so heftig blähte, daß er platzte. Sie hat mir gewaltig imponiert und ich las sie immer wieder, du kennst sie wohl nicht, Prinzeßchen? Ich werde sie dir sauber geschrieben feierlich zum Geburtstage überreichen.«

Else wandte ihr beleidigt den Rücken, und Eva sagte: »Weißt du, Wally, fordere Elisabeth noch nicht auf, wir kennen sie doch noch gar zu wenig, und um jemand in unsern Bund aufzunehmen, müssen wir doch erst wissen –«

»Ob er der Ehre auch wert ist,« fiel ihr Wally ins Wort; »natürlich, du hast recht wie immer. Warten wir also.«


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