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Erstes Kapitel.

»Es wird also nach dem Harze gereist und zwar nach Wildemann – damit Punktum! Oder hat das Fräulein Tochter vielleicht etwas dagegen einzuwenden?« Der alte Herr, der diese Frage stellte, schob behaglich eine Prise aus der vergoldeten Schnupftabakdose in die Nase und sah das vor ihm stehende Mädchen mit gutmütigem Spott an.

»Was nützte es mir, es hört ja doch kein Mensch darauf,« antwortete dasselbe schmollend.

»Im Gegenteil, ich bin ganz Ohr,« versicherte der alte Herr ernsthaft, »bitte sich ungeniert auszusprechen.«

Statt wie sonst über die drollige Weise des Onkels zu lachen, rief das junge Mädchen verdrossen: »Wenn ich nur wüßte, Onkel, weshalb du die Mama in solchen von aller Welt verlassenen Winkel schickst –«

»Bitte sehr, da muß ich Einspruch erheben, Kleine. Erstens ist Wildemann durchaus nicht unbekannt. Es ist ein Ort im Oberharz, Bahnstation, und hat 1381 Einwohner, liegt reizend im Innerstethal, ist von hohen Bergen, schönen Wiesen und herrlichen Tannenwaldungen umgeben, hat ein Kurhaus aufzuweisen, das selbst einer so verwöhnten, anspruchsvollen jungen Dame, wie Fräulein Elise Kirchner ist, wohl imponieren könnte. Zweitens ist das Städtchen durchaus nicht von aller Welt verlassen, sondern hat eine Kirche, einen Pastor und eine durchaus christliche Gemeinde, außerdem eine überaus schöne Umgebung, die jedes nur einigermaßen empfängliche Herz an Gottes Nähe mahnen kann.«

»Sei doch vernünftig, Kind,« fügte die Mutter hinzu, eine blasse, leidend aussehende Dame, die trotz der warmen Sommerluft mit Decken umhüllt im Lehnstuhl ruhte. »Du weißt, daß Onkel mich in ein stilles, ruhiges Bad senden will, da gehe ich am liebsten noch Wildemann, weil es Tante Marie dort vorigen Sommer so sehr gut gefallen hat.«

Else zuckte geringschätzig die Achseln, als wäre der Tante Meinung durchaus nicht maßgebend, und sagte verdrossen: »Wenn es wenigstens noch Harzburg wäre, dorthin reist auch Grete von Langen.«

Der Doktor lachte leise. »Glaub's wohl, daß es dir dort besser gepaßt hätte, Kleine, aber solch ein Modebad ist für deine Mutter Gift. Da hören die Partien, die Konzerte, die Reunions, wie der Krimskrams alles heißt, nicht auf, und anstatt mit gekräftigten Nerven heimzukehren, wären sie dann noch schlaffer als vorher.«

»Wenn wir wenigstens nur im Kurhause essen könnten,« sagte Else mit halber Bitte.

»Wird auch nichts daraus; die alte Dore geht mit und sorgt dafür, daß ihre Herrin nicht aus ihrer Gewohnheit kommt, denn völlige Ruhe ist die Hauptsache – hören Sie wohl, Fräulein Else, völlige Ruhe!«

»Das wird ja sehr interessant werden,« entgegnete diese spöttisch.

»Aber Else!« mahnte die Mutter seufzend.

Doktor Bauer aber nickte bedächtig. »Das wollte ich meinen! Wenn man mit fünfzehn Jahren in den prächtigen Harz reisen und sechs Wochen Freiheit genießen darf, so ist das allerdings ein Vergnügen, um das dich manches Mädchen deines Alters beneiden kann. Und was deine kranke Mutter anbetrifft, so ist sie mit ihrer alten Dore ja gut versorgt, und gegen etwaige Langeweile hat sie ihr Töchterchen, denn es soll ja nichts Lustigeres unter Gottes Sonne geben, als ein Backfischchen. Und damit Gott befohlen – vor eurer Abreise sehe ich euch noch, vielleicht überrasche ich euch sogar eines Tages in den Bergen, habe große Sehnsucht, auch einmal wieder aus dem Straßenlärm und Staub herauszukommen«. Er schüttelte seiner Cousine und Else die Hand und ging.

Kaum war er fort, brach letztere in zornige Thränen aus. »Onkel ist abscheulich,« rief sie, »er neckt und ärgert mich, wo und wann er mich sieht.«

»Es wäre besser, du gingest etwas mehr auf seine Scherze ein, Kind,« entgegnete die Mutter sanft.

»Ach, Mama, du weißt doch, daß ich seine Art und Weise zu necken nicht vertragen kann,« rief Else unartig.

Die Mutter seufzte. »Er ist aber doch dein Onkel und Vormund, mein Herz, du bist ihm immerhin Rücksicht schuldig.«

Else antwortete nicht, sie trommelte ärgerlich gegen die Fensterscheiben und sagte nach einer Weile: »Onkel hat es nur, um mich zu ärgern, verboten, daß du in einen vernünftigen Badeort gehst, das ist ganz gewiß! Wie werden mich meine Freundinnen auslachen, wenn ich ihnen erzähle, wohin wir reisen, man muß sich ja wirklich schämen, es zu sagen. Schmidts gehen nach Ems, Giselers nach der Schweiz, Paschens nach Norderney und Amsels nach Wiesbaden, und ich – und ich –« ihre Stimme ging in helles Schluchzen über, sie stürmte aus dem Zimmer und warf die Thüre, ohne Rücksicht auf die kranken Nerven der Mutter, dröhnend hinter sich ins Schloß. –

Frau Geheimrat Kirchner war seit zehn Jahren Witwe. Es war ein harter Schlag, der die junge Frau traf, als ihr geliebter Gatte nach siebenjähriger, glücklicher Ehe starb und sie mit ihrem einzigen Kinde, der kleinen fünfjährigen Else, zurückließ. Glücklicherweise war die Geheimrätin vermögend, so lernte sie wenigstens nicht die Sorgen um das tägliche Brot kennen. Sie hatte aber eine sehr zarte Gesundheit, die durch den fortwährenden Gram bedenklich litt und auch ihre Willenskraft untergrub. So kam es, daß die Kleine in allen Dingen grenzenlos verzogen und verwöhnt ward. Dr. Bauer that zwar sein möglichstes, dies zu verhindern, konnte jedoch nichts gegen die schwache Mutter und das trotzige Töchterchen ausrichten, als hin und wieder einen energischen Machtspruch äußern, wie z. B. heute, dem sich Mutter und Tochter wohl oder übel fügen mußten. –

Acht Tage später treffen wir beide in dem lieblich gelegenen Wildemann wieder. Sie hatten eine hübsche Wohnung bei einfachen, aber herzensguten Leuten gefunden, und unter Dores fleißigen, geschickten Händen gewann der kleine Hausstand bald ein trautes, heimisches Ansehen.

Das kleine Bergstädtchen wurde zu damaliger Zeit noch nicht sehr viel von Sommergästen besucht und in diesem Jahre reisten überhaupt nur sehr reiche Leute oder solche, die dringend einer Kur bedurften. Der im letzten Jahre stattgefundene Krieg zwischen Preußen und Oesterreich hatte manches Opfer gefordert, nicht allein an Menschenleben, sondern auch an Geld und Gut, da viele Geschäfte darunter gelitten hatten.

Nachdem sich die Geheimrätin einige Tage von der Reise ausgeruht, fing sie an, sich für die liebliche Gegend zu interessieren und sich derselben zu erfreuen. Nicht so Else. Diese hatte sich vorgenommen, alles grenzenlos langweilig und kleinlich zu finden – wer konnte überhaupt den Harz bewundern, der schon in der Schweiz gewesen war! Sie ärgerte sich über die alte Dore, die nie in ihrem Leben Berge gesehen hatte, und nun von einem Ausbruch des Entzückens in den andern geriet; am liebsten hätte sie freilich mit ihr gelacht und gejubelt, da sie sich aber nun einmal vorgenommen hatte, verdrießlich zu sein, mußte sie dabei bleiben.

Dore sah ihr Fräulein freilich die ersten Tage verwundert an, als sich ihr Benehmen aber nicht änderte, meinte sie etwas unwirsch: »Na, Else, du hast wohl vor Staunen ganz die Sprache verloren?«

Das junge Mädchen entgegnete geringschätzig: »Du vergißt, Dore, daß ich die Schweizerberge schon gesehen habe, dagegen sind dies die reinen Maulwurfshügel.«

Dore riß die Augen weit auf vor Verwunderung. »Ach, was du sagst, Elsechen, die reinen Maulwurfshügel?« Sie sah zu den Bergen empor, die im letzten Glühen des Sonnenunterganges schimmerten, und sagte kopfschüttelnd: »Weißt du, Kind, wenn ich solche Herrlichkeit nicht bewundern sollt', wollt' ich lieber nicht so superklug sein wie du.« Damit schob sie ihre etwas schwerfällige Gestalt ins Haus und ließ das junge Mädchen in verdrießlicher Stimmung zurück.

Es war wirklich zu arg, wie sie sich ärgern mußte, aber Dores ausfällige Bemerkungen wollte sie sich in Zukunft verbitten; wie sollte sie es nur anfangen, der Alten, die so lange sie denken konnte bei der Mama gewesen, zu imponieren? Durch Klugheit ging es nicht, das sah Else ein, und ärgerlich trat sie in die kleine Laube, die von blau blühendem Clematis umrankt war; bequeme Gartenstühle luden zum Ruhen ein und auf dem Tische lag eine zierliche Stickerei, die für das junge Mädchen bestimmt schien. Sie schob dieselbe jedoch mißmutig beiseite und setzte sich, den hübschen Kopf in beide Hände stützend. Was sollte sie nur beginnen? Die Mutter lag mit Kopfschmerzen im verdunkelten Zimmer, Dore war schlechter Laune – und sie? Eine Thräne rann plötzlich über ihre blühende Wange: sie war doch ein recht beklagenswertes Geschöpf. Wie gut hatten es nur alle ihre Freundinnen, sie konnten sich von Herzen amüsieren, während sie in diesem elenden Nest sicher noch krank vor Langeweile wurde.

Da tönte helles, fröhliches Lachen an ihr Ohr und frische Stimmen schallten durcheinander. Neugierig lugte sie durch das dichte Blättergeranke, sah aber nichts. Sie wußte, es kam aus dem Nebengarten, in Wildemann bisher der einzige Gegenstand, der ihr Interesse gefesselt hatte. Sie hätte gar zu gern gewußt, wer in dem allerliebsten Häuschen mit dem blumenumrankten Balkon wohnte, das in einem ziemlich großen, gutgepflegten Garten lag. Drei junge Mädchen und zwei Knaben trieben ihr heiteres Spiel in demselben. Wie fröhlich sie wieder waren; Else beneidete sie um ihr frisches, herzliches Lachen, verließ leise die Laube und schlich sich an die Schlehdornhecke, welche die beiden Gärten trennte. Ja, wenn sie dort das lustige Croquetspiel hätte teilen dürfen, würde sie sich nicht so entsetzlich langweilen; wie aber sollte sie mit der jungen Gesellschaft bekannt werden?

Da knarrte die Gartenthür, und sich umsehend gewahrte sie einen armen, schlecht gekleideten Knaben, der mit einer Kiepe auf dem Rücken in den Garten trat. Als er sie erblickte, kam er auf sie zu. »Kaufen S' nicht Schwämme?« fragte er mit leiser Stimme.

»Was soll ich kaufen?«

Statt aller Antwort löste der Knabe die Kiepe von seinem Rücken, entfernte ein Tuch von derselben und Else sah eine Menge Pfifferlinge, goldgelbe Pilze.

»Nein, so etwas essen wir nicht,« sagte sie, die Nase rümpfend, »hast du keine Champignons?«

Der Knabe schüttelte den blonden Kopf und sagte bittend: »O kaufen Sie doch ein paar, Fräulein, es geht uns so schlecht.«

Else machte eine ungeduldige Bewegung, drüben erscholl wieder heiteres Lachen; der armselige Junge hielt sie von ihren Beobachtungen nur ab. »Laß mich in Ruhe,« sagte sie ärgerlich und wandte sich um, sah aber doch noch den kummervollen Blick der blauen Augen, die so unnatürlich groß aus dem blassen, mageren Gesicht leuchteten. Sie kümmerte sich indessen nicht weiter um den schmächtigen Jungen, der langsam aus dem Garten schlich; sie war bald wieder in ihre Beobachtung vertieft, bis Dore sie zum Essen rief.

Sie fand die Mutter wohler, teilte ihr von der heiteren Nachbarschaft mit und äußerte den Wunsch, dort bekannt zu werden. Die Mutter, froh, daß ihr verwöhntes Töchterchen überhaupt Interesse an etwas zeigte, versprach ihr, sich nach den Leuten zu erkundigen, ob ein Umgang mit ihnen schicklich sei.

»Die jungen Mädchen machen einen ganz anständigen Eindruck,« meinte Else herablassend, »und, weißt du Mama, hier kommt es ja auch nicht so genau darauf an.«

Die Gelegenheit, Erkundigungen einzuziehen, bot sich schon an demselben Nachmittage, als Mutter und Tochter in der Laube saßen und die Wirtin auf einen Augenblick plaudernd zu ihnen trat.

»Sagen Sie doch, Frau Brandt, wer wohnt hier nebenan in dem netten Häuschen?«

»Zur rechten Hand? O, das ist eine liebe, feine Dame, Fräulein Reuter, ei ja, die ist so klug wie unser Herr Pastor.«

»Und die jungen Mädchen?« fragte Else schnell.

»Zwei davon sind ihre Nichten, Töchter ihres Bruders, der Lehrer in Hamburg ist. Sie hat dieselben ganz bei sich und unterrichtet sie, und die andre –«

»Wir möchten nur gern wissen, was es für Leute sind, ob es wohl ein passender Verkehr für meine Tochter wäre,« fiel ihr die Geheimrätin ins Wort.

Frau Brandt zog die Augenbrauen hoch. »Ei ja, das wollt' ich meinen; wenn das Fräuleinchen mit ihnen bekannt würde, könnte es sich nur freuen.«

Else verzog den hübschen Mund zu einem spöttischen Lächeln. »So vornehm werden die Mädchen doch nicht sein, daß ich nicht gut genug für sie bin,« sagte sie dann hochmütig.

Frau Brandt lachte leise.

»Je nun, Fräuleinchen,« antwortete die Wirtin, »das dritte kleine Fräulein drüben ist eine Gräfin.«

»Was ist sie?« rief Else aufspringend.

»Eine Gräfin,« nickte die alte Frau wichtig. »Sie ist schon seit dem Frühjahr hier, und der Graf und die Gräfin, ihre Eltern, haben sie selbst hergebracht zu Fräulein Reuter. Ach, der Graf soll unmenschlich reich und vornehm sein.«

Elses Augen leuchteten vor Entzücken; wie interessant, eine junge Gräfin zur Nachbarin zu haben und vielleicht sogar Freundschaft mit ihr schließen zu können. »Bitte, Mutter Brandt, erzählen Sie mir alles, was Sie von der Komteß wissen,« bat sie und zog die alte Frau schmeichelnd auf einen Stuhl nieder.

»Ja, du lieber Gott, Fräuleinchen, ich weiß nicht viel. Im Winter soll die kleine Komteß sterbenskrank gewesen sein, so daß kein Mensch geglaubt hat, daß sie je besser werden könnt', und nachher sagten die Ärzte, sie müsse in die Berge, sonst würde sie nicht gesund, und da brachten sie die Eltern hierher. Lieber Gott, war das Komteßchen blaß und elend, als es ankam, und nun blüht es mit den Rosen um die Wette.«

»Wie kamen die Herrschaften denn zu Fräulein Reuter?« fragte die Geheimrätin.

»Ja, sehen Sie, Frau Geheimrat, sie ist früher Erzieherin bei der Gräfin gewesen, ich meine bei der Mutter von der kleinen Komteß, und da hat sich das eben so gemacht.«

»Ach,« sagte Else mit tiefem Atemzuge, »wenn ich doch mit ihr bekannt werden könnte; denke nur, Mama, wie die Freundinnen staunen werden, wenn ich eine Komteß zur Freundin habe.«

»Sehen Sie nur zu, Fräulein, es wird sich schon machen,« sagte Frau Brandt und erhob sich. »Sie haben wohl nicht zufällig einen Jungen mit einer Kiepe vorübergehen sehen? Weiß gar nicht, wo er heute bleibt, ist doch heut sein Tag, wo er mit seinen gelben Schwämmen zu kommen pflegt.«.

»Einen Pilzjungen meinen Sie?« fragte Else. »Ja, vorhin war einer hier, ich habe ihn aber fortgeschickt, weil wir Pilze nicht essen.«

»Ach, Fräulein, hätten Sie das doch nicht gethan, nun bekommt der arme Junge seine Schwämme nicht los und erhält obendrein nichts zu essen.«

»Wieso?« fragte Else verwundert.

»Ach, das ist eine traurige Geschichte,« begann Mutter Brandt kopfschüttelnd. »Sehen Sie, der Vater des Jungen war Fuhrmann; das ist ein saures Brot, Fräulein, besonders im Winter, wenn sie die schweren Baumstämme hoch oben von den Bergen herunterholen müssen, oft unter Schnee und Eis hervor. Dabei ist dem armen Mann das Unglück passiert, auszugleiten, und der Baumstamm, den er hat aufheben wollen, ist ihm auf das Bein gefallen und hat es arg zerschmettert; er hat viele Stunden gelegen, ehe Hilfe kam. Ach ja, es war ein rechtes Elend dazumal; diesen kommenden Winter werden es zwei Jahre.«

»Ist der Mann wieder gesund geworden?« fragte die Geheimrätin.

»Ach nein, das ist ja das Unglück, das Bein will nicht wieder besser werden; der Doktor meint, er habe damals zu lange in der Kälte gelegen. Vergangenen Sommer sind sie von hier aufs Land zu ihrer Mutter gezogen, die ein kleines Häuschen hat. Ein Dach haben sie nun freilich über sich, aber eine Not soll's sein, daß Gott erbarm. Im Sommer geht's ja, da sammeln die Kinder Schwämme, Erdbeeren und Himbeeren, und der Friedel bringt sie zur Stadt, wenn die reichen Herrschaften hier sind, und verdient doch manchen Groschen damit, aber der Winter ist der Feind der Armen. Will aber nun Umschau halten, ob der Friedel nicht doch noch zu sehen ist, vielleicht hat er sich in den Nachbarhäusern verweilt; ich heb' dem Jungen immer etwas Warmes vom Mittagbrot auf.«

Sie erhob sich und ging zur Gartenthür, nach einer Weile folgte ihr Else. »Ist er nicht mehr da?« fragte sie.

»Nein, Fräulein, er wird sich wohl nicht wieder hereingetrauen, da Sie ihn fortgeschickt haben.«

»Ich wußte ja nicht, daß er so arm ist,« entschuldigte sich Else.

»Das konnten Sie freilich nicht, Fräulein, was wissen Sie überhaupt von der Armut.«

»O, Mama gibt sehr viel an Vereine,« rief das junge Mädchen eifrig.

Mutter Brandt nickte. »Glaub's wohl, Fräulein; aber Wohlthun und Wohlthun ist ein Unterschied; die einen geben's mit vollen Händen und wissen doch nicht, wie so einem armen Wurm zu Mute ist, und die andern geben wenig, aber mit freundlichem Wort, und das ist die rechte Art, Fräulein. Aber der Junge kommt nicht, da will ich nur an meine Arbeit gehen.«

Else war sehr nachdenklich geworden, die Worte der einfachen Frau waren ihr zu Herzen gegangen, und sie machte sich heimlich bittere Vorwürfe, daß sie den armen Jungen fortgeschickt hatte. Wie schrecklich, hungern zu müssen! Konnte es denn solch Elend in der schönen, sonnigen Welt geben? Schön – sonnig – Else sah sich scheu um, hatte sie es nicht noch vor einer Stunde entsetzlich langweilig und trostlos hier gefunden und sich für das beklagenswerteste Geschöpf der Welt gehalten? Eine helle Röte flog über ihr Antlitz, als schäme sie sich eines Unrechts; sie eilte zur Mutter und war an diesem Nachmittag freundlich und liebenswürdig.


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