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Helen kam am selben Abend nach Kalkutta und kehrte im Grand-Hotel ein. Am nächsten Vormittag fuhr sie, wie sie es Dasturan Dastur versprochen hatte, mit den kleinen Mädchen zum Orphanat der Parsen. Es lag in der Gegend, wo sich die großen Krankenhäuser befanden – ein zweistöckiges Gebäude mit einer Säulenhalle, in einem alten Garten, der von der Welt durch eine hohe, verfallene Mauer abgeschlossen war.

Ein alter Pförtner, in dem langen, weißen Mantel der Parsen, deren Helen sich noch aus Bombay erinnerte, trat an ihren Wagen. Als er ihren Auftrag erfahren hatte, führte er sie und die kleinen Mädchen durch eine kleine Tür im Tor. Sie warteten in der schattigen Halle, während der Pförtner sie der Vorsteherin meldete.

Helen setzte sich und blickte über den gutgehaltenen Rasen mit dem dichten, dunklen Gras, das ihr auch in dem Garten der Toten in Bombay aufgefallen war; auch die kleinen Blumenbeete erkannte sie wieder, die in geometrischen Mustern geordnet und von schmalen, kiesbelegten Wegen getrennt waren.

Ein wundersamer Friede lag auf diesem Plätzchen, das an allen Seiten von dem Getümmel der großen Stadt umgeben war. Hier werden die Kinder es gut haben, dachte Helen. Der Abschied machte sie beklommen. Sie erinnerte sich, was sie an jenem Tage, als Dasturan Dastur ihr die Kinder übergab, gefühlt hatte: wenn ich mich von ihnen trennen muß, wird es von neuem ein Herzweh für mich sein. Sie zog die beiden Kleinen so plötzlich und heftig an sich, daß sie sie erstaunt anblickten.

Bei dem Laut von gleitenden Schritten blickte Helen sich um. Vor ihr stand eine große, etwas behäbige Frau mittleren Alters mit dem langen, faltenreichen Florschal der Parsen um den Kopf. Ihr Blick begegnete Helens mit einem herzlich forschenden Ausdruck. Von Helen glitt ihr Blick über die beiden kleinen Mädchen; sie redete sie in ihrer eigenen Sprache an, und die Kleinen blickten verwundert und froh zu ihr auf. Da verzogen sich ihre Lippen zu einem ungewöhnlich schönen Lächeln und jetzt erst neigte sie den Kopf und reichte Helen die Hand zum Gruß.

Helen überreichte ihr Dasturan Dasturs Brief. Nachdem sie ihn gelesen hatte, faltete sie ihn zusammen, neigte den Kopf mit einer eigenen ehrerbietigen Bewegung – Helen begriff, daß es eine Huldigung für den Priester bedeutete, bat Helen, in einem großen Korbstuhl Platz zu nehmen und setzte sich selbst ihr gegenüber.

Sie fragte, und Helen erzählte von ihrem Aufenthalt in Bombay, von Schehanna und ihrer Begegnung mit dem Obersten der Parsen.

Viele Minuten waren noch nicht vergangen, als die natürliche Mütterlichkeit der Vorsteherin die beiden Kleinen gewonnen hatte.

Helen sah, wie sie sich an ihren Schoß schmiegten, während die Finger der Vorsteherin mit ihren schwarzen Locken spielten. Sie werden mich schnell vergessen, dachte sie und erhob sich, um den Abschied kurz zu machen.

Die Vorsteherin lud sie zum Frühstück ein, Helen aber entschuldigte sich damit, daß sie zum Augenarzt müsse und erzählte von ihrer Krankheit. Die Vorsteherin sah ihr prüfend in die Augen und empfahl ihr das große Eden-Hospital, das in der Nähe lag. Sie nannte ihr den Namen des Arztes, nach dem sie fragen sollte, riet ihr, es nicht aufzuschieben und lud sie ein, so oft sie Lust hatte, ihre Schützlinge zu besuchen.

Helen stand einen Augenblick zögernd, den Blick auf die Kleinen geheftet, deren Aufmerksamkeit sich von der Vorsteherin zu einer rotierenden Gartenspritze gewandt hatte, die ein Gärtner gerade auf dem Rasen in Gang setzte. Sie kniete nieder, zog sie an ihre Brust und küßte sie. Darauf erhob sie sich, indem sie mit ihrer Bewegung kämpfte; die Vorsteherin nahm ihre beiden Hände und dankte ihr im Namen der Parsen.

Helen war nicht imstande, etwas zu sagen; sie eilte hinaus, wo der Pförtner wartete. Die Vorsteherin wollte sie mit den Kindern zum Wagen begleiten, Helen aber forderte sie mit einer Handbewegung auf, davon abzulassen. Ohne sich noch einmal umzublicken, ging sie mit schnellen Schritten durch den Garten, von dem Pförtner gefolgt. Als die Bäume sie vor den Kindern verbargen, hörte sie sie weinen und nach ihr rufen. Sie war drauf und dran, umzukehren, da aber hörte sie die sanfte Stimme der Vorsteherin und das Weinen verstummte.

Als Helen im Automobil saß, wunderte sie sich, daß sie so leicht über den Abschiedsaugenblick hinweggekommen war, vor dem sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Sie prüfte ihr Herz und fühlte, daß es nicht Mangel an Liebe war, das ihren Sinn so leicht, ja, fast heiter stimmte. Im Gegenteil. Seit jener Nacht in Benares war eine seltsame leuchtende Gewißheit in ihrem Herzen, eine Hoffnung, die sich durch nichts verdunkeln ließ. Selbst die Schmerzen in ihren Augen, die jetzt wieder häufiger und heftiger geworden waren, seit die Bäder der Rani aufgehört hatten, vermochten ihr Gemüt nicht zu verdüstern.

Helen fuhr geradeswegs zum Eden-Hospital – ein großes, modernes Krankenhaus, in der Nähe des medizinischen Kollegiums. Es war ein Hospital für Frauen und Kinder, wo die Schwestern von St. Johannis als Pflegerinnen wirkten.

Der Arzt, ein junger Schotte, mit scharfen, kalten Augen in einem gelblichen Gesicht, untersuchte sie sorgfältig. Er fragte sie nach dem Verlauf der Krankheit und was sie bisher dagegen getan habe. Als sie von der Kur der Rani erzählte, horchte er interessiert auf; er wollte wissen, was die Rani in das Badewasser gemischt hatte. Da sie es nicht wußte, sagte er nach kurzer Ueberlegung:

»Es war ein großer Fehler, daß Sie nicht gleich in Bombay zum Arzt gegangen sind. Unzweifelhaft hat die Behandlung der Rani die Krankheit zum Stillstand gebracht, was es auch für eine Wunderkur gewesen sein mag. Die Sache aber ist sehr ernst, und ich rate Ihnen dringlichst, hier in der Klinik zu bleiben.«

»Welcher Gefahr setze ich mich aus, wenn ich nicht hierbleibe?« fragte Helen.

Der Arzt sah ihr noch einmal in die Augen, zögerte, als überlege er, ob er sprechen oder schweigen sollte, zuckte die Achseln und sagte, indem er sich erhob, mit einem kleinen diplomatischen Lächeln: »Nun, der Gefahr, nicht geheilt zu werden.«

Helen betrachtete ihn eine Weile. Dann sagte sie entschlossen und lächelnd:

»Gut, ich bleibe.«

Bei ihrem Lächeln blickte er sie etwas erstaunt an, nickte dann und sagte ermunternd wie zu einem Kind, das sich beugt:

»So ist's recht.«

Während Helen zum Hotel zurückfuhr, um ihre Sachen zu ordnen, wunderte sie sich wieder über sich selbst.

Sie würde in dieser großen fremden Stadt krank im Hospital liegen – in der furchtbaren Hitze – ohne die Gesellschaft der Kinder – fern von allen, die ihr teuer waren – und dennoch war sie weder bitter noch betrübt. Die unbegreiflich leuchtende Gewißheit, die unauslöschliche Hoffnung in ihrem Herzen hob sie über alles hinweg.

 

Von Kalkutta bekam Helen nichts zu sehen.

Sie lag in einem hohen, luftigen Zimmer mit Kompressen auf den Augen. Vor den großen Fensterbögen waren dunkle Vorhänge, aber die Atemzüge der großen Stadt tönten Tag und Nacht zu ihr hinein.

Der Arzt kam jeden Vormittag zu ihr, und Schwester Mary erneuerte die Kompressen viermal täglich mit ihren sanften Händen. Wenn sie nicht sehr beschäftigt war, setzte sie sich nach dem Mittagessen an ihr Bett und las ihr vor.

Stundenlang war Helen mit ihren Gedanken allein, und diese Zeit dünkte sie die schönste. Sie dachte an Ralph, ihr ganzes Wesen war von ihm erfüllt. Auch in der Wüste hatte sie mit Liebe an ihn gedacht, damals aber war es ein Gefühl, das das Licht verdunkelte und ihr Gemüt verschloß – sie erinnerte sich, wie sie in der weißen Villa gedacht hatte: Ich, die ich auszog, um Gott und mich selbst zu suchen, gebe mich bereits damit zufrieden, daß ich einen Mann gefunden habe. – Damals ahnte sie nicht, daß gerade das der richtige Weg war.

Bisweilen, wenn sie dem Leben draußen lauschte, stieg ein übermächtiges Liebesverlangen in ihr auf, so daß sie die Arme ausbreitete und wünschte, daß sie alles Lebende an ihre Brust drücken könnte. Es war ihr, als hörte sie ihren eigenen Herzschlag in allem, was sich um sie her rührte. Sie fühlte, daß der Zusammenhang des Lebens einst strahlend in ihrem Gemüt offenbart werden würde. Sie kannte undeutlich den Weg, den sie geführt worden war und dachte: Darum mußte ich Ralph in der Wüste entsagen, darum mußte ich Schehanna verlieren, darum liege ich hier und leide Schmerzen – das alles ist der Weg – und der Preis.

Auf diese Weise waren zwei Wochen vergangen, nur von den Besuchen unterbrochen, die die Vorsteherin des Orphanats ihr mit den Kindern machte. Darauf durfte sie das Bett verlassen und ohne Kompressen sein, das Zimmer aber mußte halbdunkel bleiben, und sie durfte ihre Augen nicht zu Handarbeiten gebrauchen und nur wenig lesen.

Helen merkte an der Wortkargheit des Arztes, daß er nicht mit ihr zufrieden war. Sie fragte Schwester Mary, und die Krankenpflegerin räumte ein, daß die Besserung sehr langsam vorwärts gehe, es wäre ein großer Fehler gewesen, daß Helen versäumt hätte, beizeiten zum Arzt zu gehen.

Nachdem sie eine Woche außer Bett gewesen war, durfte sie in dem kleinen schattigen Garten sitzen, mit einem Schirm vor den Augen. Eines Tages erlaubte der Arzt ihr, den Schirm abzulegen. Nachdem einige Tage vergangen waren, ohne daß die Schmerzen zurückkehrten, sagte er, daß die Natur jetzt das übrige tun müsse. In der staubigen, sonnigen Stadt aber durfte sie nicht bleiben. Bereits vor einigen Wochen hatten alle Europäer sich zu den Badeplätzen auf dem Vorgebirge des Himalaja begeben. Und er riet ihr, nach der Villenstadt Darjeeling zu reisen, die siebentausend Fuß überm Meeresspiegel lag. Dort hatte das Eden-Hospital ein Sanatorium für Rekonvaleszenten; die Luft war staubfrei, stark ozonhaltig, echte Bergluft; dort war jetzt Frühling mit keimenden Kräutern und grünenden Büschen.

 

Es war strömender Regen, als Helen mit Schwester Mary die Sealdah-Station verließ.

Vom Abteil aus, das mit freistehenden Sesseln wie ein Salon möbliert war, sah Helen, wie die Erde durch Spalten und Risse die Feuchtigkeit einsog. Die Felder waren von der Hitze rissig geworden, das Gras verwelkt; Büsche und Blätter hingen schlaff und verquält, bei dem erquickenden Bad aber richteten sie sich auf, Helen konnte sehen, wie Leben sie von neuem durchströmte. Die Reisfelder dampften im Regen, ein Bach nach dem anderen wurde geboren und suchte sich einen Weg zu dem heiligen Fluß.

Auf der Dampffähre, die Passagiere und Gepäck über den Ganges setzte, wurde das Mittagessen an zwei langen Tischen auf Deck eingenommen. In zwanzig Minuten hatte man das andere Ufer erreicht, wo der Eilzug wartete.

Es regnete nicht mehr, die Luft war abgekühlt. Auf dem Bahnsteig gingen Helen und Schwester Mary von Abteil zu Abteil und lasen die Namen auf den Schildern, bis sie die Plätze fanden, die für sie reserviert waren.

Bevor der Zug abfuhr, war es Nacht geworden. Der Reisediener, den Schwester Mary aus dem Krankenhaus mitgenommen hatte, kam herein und machte die Betten zurecht; Helen war müde und ging gleich zur Ruhe.

Bei Tagesgrauen wurden sie vom Zugführer geweckt, der ihnen mitteilte, daß der Zug in einer halben Stunde in Silliguri sein würde, wo sie in die schmalspurige Bergbahn umsteigen mußten.

Auf dem Bahnhof war reges Leben, dunkle Bengalen und hellere Bergbewohner, die nach dem Süden reisen wollten, mit Bündeln auf dem Rücken, drängten sich durcheinander. Das Signal ertönte und die kleine Bahn mit der außerordentlich starken Maschine setzte sich in Bewegung.

Nach einer halbstündigen Fahrt durch eine fruchtbare Ebene mit indischen Bauernhöfen und europäischen Plantagen, fing das Terrain an zu steigen. Die schmale Bahnlinie lief auf den äußersten Abhängen des Himalaja in Schlangenlinien durch den Urwald.

Palmen und Pisang wechselten mit tausendjährigen Feigenbäumen. Armdicke Lianen breiteten sich zwischen den Aesten und Stämmen, indem sie die Bäume zu einem Staat zusammenbanden, der sowohl niederdrückte, wie aufrichtete. Durch das üppige, dunkelgrüne Laub schimmerte ein grauweißer Stamm nackt und hohl, das Skelett eines Baumes, der sich noch aufrecht hielt, weil das kräftige Schlingwerk ihn vorm Umfallen bewahrte.

Der Weg wurde steiler und steiler, die Kurven der Geleise kühner und kühner, bald lag ein waldbewachsener Abgrund zur rechten, bald zur linken Seite.

Sie stiegen und stiegen in Kurven und Schleifen. Sie sahen die Eisenbahnschienen, die sie vor einer halben Stunde befahren halten, tief unter sich in einem Abgrund leuchten. Sie erreichten die Zone, wo Palmen nicht mehr gedeihen; noch ein Stück, und die Pisangs wurden klein und verkrüppelt und winkten so seltsam unterdrückt mit ihren breiten Flossen. Unter ihnen lagen die waldbekleideten Täler in bläulichem Dunst ineinander verschlungen.

Es wurde kälter und kälter, sie mußten die Fenster schließen. Mächtige Teeplantagen bekleideten die südlichen Abhänge mit ihrem Dunkelgrün, woraus die Bungalows der Angestellten wie weiße Punkte hervorleuchteten. Die Stationsgebäude wurden kleiner und kleiner, die Bergwände grau und kahl. Die tropische Welt lag jetzt tief auf dem Grunde des blauen Dunstes, darüber erstreckten sich die hellen Haine der Laubbäume, bis auch sie den dunklen Eichen, Tannen und Fichten Platz machten.

Helen blickte in einen Abgrund hinab, der so tief war, daß sie seinen Boden nicht mehr sehen konnte; die in der Felswand eingehauene Bahnlinie, woran der Zug sich klammerte, war ganz schmal. Von Schwindel erfaßt, schloß sie die Augen und griff nach dem Fensterrahmen.

Plötzlich wurde der Weg breiter, Haus folgte auf Haus, freundliche kleine Gärten schimmerten mit Veilchen, Schlüsselblumen und blühenden Büschen. Dazwischen lief ein Fahrweg, wo tibetanische Tagelöhner mit ihrem Bündel auf dem Rücken standen und dem Zug mit schiefen Augen in dem flachen Gesicht zulachten.

Der Zug hielt. Man war in Darjeeling.

Helen stieg aus und befand sich in einer Villenstadt mit gut gehaltenen Wegen und Gärten in strahlendem Frühlingsgewand. Ihr war, als wäre sie im Laufe von achtzehn Stunden von dem erstickenden Sommer des Aequators zu einem Frühlingstag in einem norwegischen Gebirgsdorf gereist. Sie atmete die kühle Luft in tiefen Zügen und wickelte sich fester in ihre Reisedecke ein. Rings am Horizont reckte der Himalaja seinen Riesenkörper wie einen Midgardswurm zum Himmel. Lächelnde Tibetanerinnen mit munteren Augen, in langen Arbeitskitteln, Gürtel um die Taille, sprangen herzu und ergriffen das Gepäck; das waren die Gepäckträger der Stadt.

Während sie zum Hotel fuhren, bekam Helen bei einer Biegung des Weges einen Ausblick über das mächtige Talgebiet, das sie eben durchfahren hatte, ein weißer Nebel aber verdeckte den Abgrund.

Schwester Mary folgte der Richtung ihres Blickes und sagte:

»Können Sie sehen, daß die Wolken unter uns sind?«

Helen antwortete nicht, sie wiederholte im stillen: »Jetzt sind die Wolken unter mir.«

Und es war ihr, als ob die Worte eine doppelte Bedeutung hätten.

* * *


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