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VII.
Turgenjews Liebesnovellen

Musa gehört einer späteren Schaffensperiode des Dichters an. In seinen jungen Jahren ging seine Kunst scheu an den Frauengestalten vorüber. Er übte die derbe, eindringliche Art des Holzschnitts, die den Männern gerechter wird als den Frauen.

Als er dann aber die Frau in den Mittelpunkt seiner Schilderung zu rücken begann, gab ihm die Änderung der Technik Gelegenheit, die Feinheit und Zartheit seiner Psychologie mit all ihrem Farbenreichtum und ihrer ganzen Linienschönheit zu zeigen. Die Grundzeichnung seiner Liebesnovellen erscheint künstlerischer angelegt und abgerundeter ausgeführt. Trotzdem wird ihm die Komposition nirgends zum Zweck; er zerbricht sie oft gerade, wenn wir uns an ihr freuen, mit launischer Härte. Mit seiner Herzensgüte erwärmt er die Gestalten, daß keine völlig des Odems der Liebenswürdigkeit entbehrt und in jeder ein Stück vom Leben ihres Schöpfers steckt. Sie wollen mit dem Herzen angesehen werden, dann rücken sie uns nahe wie liebe Freunde. Nicht schwarze und weiße Typen sind kontrastierend nebeneinander gestellt, nicht wunderbar prunkende Helden, Märtyrer im Strahlenkranz und schleichende Intriganten, sondern überall nur Menschen.

Eigenartig behandelt Turgenjew in diesen Novellen sowohl wie in seinen sozialen Romanen das Problem der Liebe.

Es ist die Liebe, die dem Menschen das Glück aus der Ferne verlockend zeigt und es ihn nie erringen läßt. Aber wen die Leidenschaft greift, den packt sie wie der Geier das Küchlein. Glücklich derjenige, der dann nicht mit leichter Hand die Sitte zerbricht, sondern still in den Hafen der Entsagung steuert. Die Liebe erhebt den Menschen nicht, sie wird zum tödlichen Gift, gegen das wir widerstandslos sind. Es ist ein Kampf, der den einen zum Sklaven des andern macht und alle Lebensenergie erschlaffen läßt. Dieser Standpunkt verleitet den Dichter, mehr Heldinnen als Helden zu wählen und in der Schilderung der komplizierten Frauenschönheit und ihres bewegten Temperaments alle Kraft seiner Künstlerschaft aufzubieten. Er liebt nicht die Frauen, die im Mondduft schwärmen, sondern die Geschöpfe, in denen das Vollblut kreist, die mit klugem Blick und gesundem Verstand und festem Wollen den Mann aus seiner Bahn ziehen. Die Männer sind von slavischer, weicher, fließender Charakterstimmung, schwache Naturen, durch tausend unsichere Bedenken in ihrem Tun gehemmt und nicht fähig, das Glück der Stunde zu ergreifen.

Daß seine Erinnerung in den Liebesnovellen die Quelle der poetischen Gestaltung ist, beweist die Bevorzugung der Ich-Erzählung, die die Fabel in die Form eines persönlichen Erlebnisses der Jugendzeit kleidet.

Unter den bedeutenderen Erzählungen, die sich über dem Thema der Liebe aufbauen, reicht »Das Tagebuch eines Überflüssigen« am weitesten in der Entstehungszeit zurück (1850).

Der Frühling kommt wieder, süß und schmerzhaft für den Armen, der weiß, daß sein krankes Leben nur noch nach Tagen zählt. Der sterbende Grübler Tschulkaturin zergliedert seinen Charakter in einer Beichte vor seinem Tagebuch. In seinem ganzen jungen Leben ist überall sein Platz schon besetzt gewesen; er war stets das fünfte Postpferd, das unglücklich nebenher trabt und an der Deichsel sich Schenkel und Schweif zerreibt, – ein Überflüssiger! Ein einziges Mal hat er sich verliebt. Das war ein harmloses, frisches, jugendliches Ding, diese Elisabeth Kirillowna in dem armseligen, kleinen Philisternest. Der überflüssige empfand damals den Zauber eines angenehmen Verkehrs mit lieben Menschen; da blühte seine Seele auf, und in das dunkle Stübchen seines einsamen Herzens strahlte verklärendes Licht. Als er an Gegenliebe zu glauben begann, trat ein glänzender Kavalier, der Fürst N., in seine Kreise, und diesem heiteren, liebenswürdigen, siegenden Menschen flog auch das Herz des Mädchens zu. Es bäumte sich das quälende Gefühl seiner Nichtigkeit in Tschulkaturin zu ohnmächtiger Wut; der bis zur kindischen Verrücktheit eifersüchtige Othello forderte mit heroischem Anflug den Fürsten. Im Rencontre wurde der Fürst durch Zufall unbedeutend verletzt, doch er begrub in tadelloser Ritterlichkeit den kleinen Gegner mit seiner Großmut wie unter einem Sargdeckel. Beschämt mußte der Überflüssige empfinden, wie gerade seine Provokation das Mädchen in die Arme des Gegners warf. Er ist sein Leben lang der Überflüssige geblieben, und erst der Tod entbindet den Bedauernswerten von der traurigen Rolle.

Das Lebenslos der Überflüssigkeit ist auch dem Mädchen zugefallen, das die Heldin der Novelle »Eine Unglückliche« ist. Susanna Iwanowna, die uneheliche Tochter eines russischen Edelmannes und einer Jüdin, verkümmert nach dem Tode der Mutter unbeschützt in dem Hause eines brutalen Stiefvaters. Einmal lacht in ihr sonnenarmes Leben die Liebe hinein, aber der plötzliche Tod des Geliebten macht das Dunkel dunkler denn zuvor. Noch einmal schenkt ihr das Geschick einen Freund, den sie lieben lernt, und an den sie sich klammert wie eine Versinkende. Doch der Unwürdige verläßt sie in einer Stunde feigen Bedenkens, und da geht sie in den Tod, nicht im versöhnenden Frieden, sondern mit dem Schrei der Verzweiflung über die herzlose Gewalt, die den Unschuldigen zerschellen läßt.

Wie hat der Dichter die Gestalt der Unglücklichen durch den Gegensatz zu ihrer Umgebung herausgearbeitet! Eine weiße Taube im Schwarm schwarzer Raben. Ihr schönes, allerdings schon dem Verblühen nahes Gesicht zeigt aristokratischen Stolz und eine gramvolle Unruhe. Dicht, schwarz und glanzlos ist das Haar, schwarz und glanzlos sind auch die eingefallenen, aber schönen Augen; die Stirn ist niedrig und gewölbt, die Nase gebogen; die Haut hat eine weiche, grünliche Blässe, der feine Mund einen schwermütigen, tragischen Zug; alle ihre Bewegungen zeigen eine gewisse Hast und etwas Linkisches, doch zugleich Schönheit und Anmut, und ein gelinder Strom physischer Kälte geht von ihr wie von einer marmornen Bildsäule aus. Eine Kämpfernatur ist sie, nicht zum Dulden geschaffen. Fordert sie ihren Stiefvater heraus, so macht die Kühnheit sie schön, und ihre Augen strahlen den erbarmungslosen Glanz des Stahls. Doch die Stärke, die aus dem Streit selbst verjüngende Kraft schöpft, die fehlt ihr. Wozu der Kampf, wenn kein Ziel winkt, und wozu der Kampf gegen Feinde, vor denen sie Ekel und Verachtung empfindet! Da läßt sie den Kampfplatz dem Stiefvater, dem durchtriebenen, widerlichen, stämmigen, aufdringlichen Plebejer Ratsch mit seinem lauten Lachen, seinen milchweißen Augen, seinem hochroten Gesicht und seinem Wulst gesprenkelter Haare. Der Gegensatz der Figuren markiert sich selbst in der Musik, – wenn Susanna auf den edlen, leidenschaftlichen Tönen Beethovenscher Sonaten ihre Seele schwingen läßt, und wenn Ratsch im Duett mit einer wimmernden Zither aus seinem Fagott die gequetschten, heiseren Töne hervorwürgt. Das Gefühl des Widerlichen steigert der Dichter unbarmherzig bis zur Höhe, wenn er mit dem grotesken Leichenzug, mit der geschäftsmäßigen und heuchlerischen Totenfeier inmitten des bittersten Winterwetters und mit dem wüstesten aller Gedächtnismäler die Novelle verklingen läßt. Die Menschen, die die Tote mit Champagner feiern, haben die Unglückliche mit ihren breiten, rohen Füßen zertreten.

»Das Leben ist kein Scherz und Spiel und kein Genuß, sein geheimer Sinn ist Entsagung, immer und ewig Entsagung« – so résumiert seine Lebenserfahrung der Schreiber jener neun Briefe, in denen die Novelle »Faust« erzählt ist (1855). Es ist Paul Alexandrowitsch. Nach langer Abwesenheit kehrt er auf sein Gut zurück und verliert sich in die Einsamkeit des einschläfernden ländlichen Lebens. Einst hat er einmal ein Mädchen zu lieben geglaubt, da er jung war; die Mutter hatte ihn abgewiesen, und er hatte den Traum vergessen. Nun trifft er nach zwölf Jahren die Wera Nicolajewna als Frau seines Freundes und Nachbarn Prijimkow wieder, eines liebenswerten aber durchaus nüchternen Menschen. Wera hat eine ganz eigene Erziehung genossen. Ihre Mutter hatte alles vermieden, was des Kindes Phantasie hätte anregen können, als schlafe in dem Romantischen eine geheime Macht. Nie hatte sie dem Mädchen einen Roman oder ein Gedicht in die Hand gegeben. Diese Hüterin ist nun zwar tot, aber ihr Bild hängt über dem Diwan, und die Tote hat noch Gewalt über ihre Tochter. »Du bist wie Eis«, – hatte sie einst gesagt – »aber wenn du auftaust, so bleibt auch keine Spur.« Wera hat sich eine klare, ruhige, offene, unverdorbene Natur gewahrt. Als Paul bei einem seiner Besuche eine alte Faustausgabe mitbringt, schlägt die erste Welle von Poesie und Romantik an ihr Herz. Sie rührt sich nicht. Ihre Augen haften an dem Vorleser; mit gefalteten Händen sitzt sie, unbeweglich. Dann geht sie auf ihr Zimmer und weint. »In diesem Buche sind Sachen,« sagt sie am nächsten Morgen zu Paul, »von denen ich nicht loskommen kann; es ist, als ob sie mir den Kopf versengen.« Die Dichtkunst hat mit einem Zauberwort ihr verschlossenes Wesen gesprengt und eine Fülle ungeahnter weiblicher Reize in ihr enthüllt. Das ist die Stunde, die die Mutter gefürchtet, die Stunde, da das Eis schmilzt. Als Paul ihr die Scene zwischen Faust und Gretchen liest, steigt es glühend in ihr auf: »Was haben Sie aus mir gemacht! Ich liebe Sie; das ist es, was Sie aus mir gemacht haben!« Am Abend im stillen Gartenhäuschen wirft sie sich mit der Seligkeit der Selbstvergessenheit in seine Arme – nur einen Moment, dann reißt sie sich voll Entsetzens los. Sie sieht eine Vision – ihre Mutter. »Leben Sie wohl!« ruft sie, von dannen stürmend, »kommen Sie morgen Abend zu dem Gartenpförtchen am See!« Er wartet am nächsten Abend vergebens bis zur Mitternacht. Als er sich dann schlaflos auf seinem Lager wälzt, ist's ihm, als ob eine hilfeflehende Stimme seinen Namen ruft; wie ein Klageschrei kommt es aus weiter Ferne und schmiegt sich an die schwarzen Fensterscheiben wie der Klang eines zerbrochenen Gefäßes. Am Morgen erfährt Paul, daß Wera schwer erkrankt ist. Scheu war sie abends aus dem Garten geflüchtet; sie hatte ihre Mutter gesehen, die mit ausgebreiteten Armen auf sie zugekommen war. Und diese Mutter, sorgsam und schirmend nimmt sie das Kind zu sich ins Grab, das beim ersten unvorsichtigen Schritt auf Erden straucheln wollte.

Und die Melodie von Liebe und Entsagung klingt weiter durch alles, was der Dichter singt. Die Ich-Novelle »Assja« (1857) führt in eine kleine deutsche Stadt am Rhein, deren romantischer Zauber den Dichter umfängt. Der Erzähler trifft hier die Geschwister Gagin und Assja. Das Mädchen ist einem Liebesverhältnis des Vaters entsprossen, und das Gefühl dieser absonderlichen Abstammung macht sie empfindlich, eigensinnig und mißtrauisch. Ein ungebändigtes und ungeberdiges Geschöpf, aber das Wesen ist rein, der Verstand tapfer und klar. Ein eigener, pikanter Zug liegt auf dem runden, leicht gebräunten Gesicht, die Nase ist klein und zierlich geformt, die Wangen sind voll wie die eines Kindes, und dunkle Augen schauen unter dichten, schwarzen Locken groß und klar hervor. In graziösen Bewegungen zeigt sich der zart gebaute Körper. Bisher ist ihr Bruder der einzige Mensch gewesen, der sie lenken konnte, nun faßt sie zu dem Landsmann Vertrauen, und sie erschließt sich ihm mit einfachem, natürlichem Impuls. Und ein Schimmer frauenhaften Ernstes, den ihr die Liebe gibt, macht ihre Anmut reizender. Eine heiße Begierde nach Glück steigt dem Manne auf; aber er kann nur schwärmen, ihm fehlt die Muskelkraft, die über kleinliche, philisterhafte Bedenken hinweg das Ziel packt. Als das Mädchen sich in hilfloser Zutraulichkeit an seine Brust legt, stößt er es täppisch von sich. Der nächste Augenblick bringt ihm zu spät das Bewußtsein seiner Schwächlichkeit und seiner Torheit, die das Glück dahingab. Selbstquälerei und die Empfindung zärtlichster Liebe rufen die Verlorene nicht zurück. Nur die Reue sitzt am Herde des Einsamen.

Den Dämon, der dort den Mann um sein Glück betrog, gebar die eigene Brust. Im »adligen Nest« (1858) bricht des Mannes fester Wille an der Klippe, die ihm das Geschick in den Weg wirft. Einsamkeit ist auch hier das Los des Gescheiterten. Dort ein Held voll ängstlicher Rücksichtnahme, hier voll strenger Gewissenhaftigkeit.

In seinem adligen Nest sitzt Fedor Iwanowitsch Lawretzky. Seinen Erziehungsroman entwickelt der Dichter mit behaglicher Ausführlichkeit. Drei alte Jungfrauen haben das Kind behütet und gelangweilt, dann suchte der Vater, der selbst im Geiste Diderots und Voltaires aufgewachsen war, den Knaben zu einem Spartaner abzuhärten. Als Student lernte Lawretzky die verführerische Warwara Pawlowna in Moskau kennen; er machte sie zu seiner Frau und brachte sie in sein altes Nest. Aber das Leben auf dem Lande wurde der verwöhnten jungen Frau langweilig, und so wirbelte sie bald in Petersburg und Paris im aufgeregten Strudel der Genüsse. Als ein Billet dem Manne ihre Untreue verriet, tötete er weder sie noch den Liebhaber. Sie schieden von einander. La belle madame de Lawretzky gehörte bald in Baden-Baden zu den vielbesprochenen Persönlichkeiten, und der Mann, der seine besten Jahre einer Unwürdigen geopfert hatte, lebte freudlos seinen Studien in Italien. Dann kehrte er in die Heimat zurück.

Auf der väterlichen Scholle wächst nun dem Vereinsamten junges Selbstvertrauen und frische Lebenshoffnung. Leise erwacht eine neue Liebe. »Noch wollen wir leben,« ruft er vom Zauber der Sommernacht und vom Hauche der schmeichlerischen Luft umfangen, »noch bin ich nicht gescheitert!« Am nächsten Morgen liest er in der Zeitung die Nachricht vom Tode seiner Frau. Und da, im Jubel der Erlösung gewinnt er sich das Herz der Lisa Michailowna. Auch ihre Erziehung verfolgt der Dichter. Die Kindheit hat ihr einen pietistischen Fond gegeben, der den Schlüssel zu dem eigenartigen Frauencharakter bildet. Ihre Bewegungen sind von unbewußter Grazie, in die sich etwas Verlegenheit mischt. Die geringste Freude lockt ein entzückendes Lächeln auf ihre Züge; stets ist sie darauf bedacht, niemandem wehe zu tun und alle mit gleicher Liebe zu umfassen.

Am Tage nach seiner Verlobung erscheint Lawretzkys totgesagte Frau. Lisa empfindet den natürlichen Abscheu vor der Kokette, doch sie fühlt, daß ihre eigene unschuldige Liebe zu Lawretzky nicht die Billigung des Himmels fand, und sie entsagt ohne Klage ihrem Glück. »Das Glück ist nun einmal nicht für mich … es ist nicht von uns abhängig, es kommt von Gott.« Sie meidet die Welt und findet in einem entlegenen Kloster Zuflucht, wo sie für den Geliebten betet.

Lawretzky hat sich auf Lisas Verlangen mit seiner Frau ausgesöhnt. Sie taucht bald in ihr Vagabundenleben zurück. Er aber bleibt ewig an sie geschmiedet. Der Konflikt ist hoffnungslos. Dem Einsamen erfüllt jenes Gefühl die Seele, dem nichts weder in der Freude noch im Leid gleichkommt, das Gefühl tiefer Trauer um die entschwundene Jugend und ein einst besessenes Glück. Er streift den Egoismus ab in tüchtiger Landwirtsarbeit und in der Fürsorge für seine Bauern. »Bis ins hohe Alter sich ein jugendliches Herz zu bewahren ist schwer und beinahe auch lächerlich. Glücklich zu preisen ist schon derjenige, der den Glauben an das Gute, die Willensstärke und die Lust zur Arbeit sich bewahrt hat.«

Die Novelle streift auch an das soziale und politische Gebiet in den Debatten Lawretzkys mit dem kalten, schlauen Panschin. Der Mann, dem das Ausland den Blick für die Leiden der Heimat geschärft hatte, fühlt ein herbes Unbehagen inmitten der unfertigen, unerquicklichen Zustände der russischen Gesellschaft, unter denen zu leben er gezwungen ist. Aber ein Hoffnungsschimmer färbt doch den Ausgang der Erzählung: »Freue dich, junge Generation, du hast es leichter, als wir es gehabt haben!«

Ein Hauch von Wehmut und stiller Klage um entschwundenes Jugendglück dämpft in der Novelle »Erste Liebe« (1860) die Worte des Erzählers. Er hat sich mit knabenhafter Überschwänglichkeit in Sinaide, die Tochter einer verarmten, verkommenen Fürstin, verliebt. Ein farbenfroher Reiz umspielt das junge, hohe, kraftvolle, schlanke Mädchen mit dem leichtgelösten langen, blonden Haar, mit den halbgeschlossenen, großen grauen Augen, mit den geöffneten, glühenden Lippen. Wie der Sonnenschein ist sie frohsinnig und lieblich, und wie die Prinzessin des Märchens wieder kalt und gebieterisch und launenhaft. Eine bezaubernde Mischung widersprechender Eigenschaften und wechselnder Gefühle jagt schnell und leicht wie die Wolkenschatten über ihre Züge dahin. »Ich bedarf eines Mannes, der mich bändigt,« sagte sie, »aber einen solchen werde ich nie finden.« Sie findet doch diese Herrennatur, und da beginnen die Leiden des Knaben.

Einst beim Spiele schaut sie zu den roten Abendwolken auf; sie denkt an die purpurnen Segel, mit denen Kleopatra dem Antonius entgegenfuhr. »Wie alt war damals Antonius?« fragt sie. Und man erwidert: »Er war bereits mehr als vierzig Jahre alt.« Als der Knabe tags darauf Sinaide mit seinem eigenen Vater ausreiten sieht, weiß er, wer der Antonius ist, an den sie dachte. Sinaide liebt den Vater und spielt mit dem Knaben. Unendliche Traurigkeit füllt das Herz des kleinen Pagen, wenn sie ihn zärtlich liebkost. Und er läßt sich von seinem eigenen Feuer verbrennen, – es ist so süß.

Der eigene Vater, der Nebenbuhler, ist des Knaben Ideal, – eine vornehme Mannesschönheit, selbstbewußt und kühl. Sie reiten eines Tages zusammen. In einer kleinen Gasse läßt er den Sohn mit den Pferden warten und entfernt sich. Dann sieht der Knabe, wie der Vater vor dem offenen Fenster eines Häuschens steht im erregten Zwiegespräch mit Sinaide. Und er sieht, wie jener, von leidenschaftlicher Ungeduld hingerissen, seine Reitgerte mit einem Male im scharfen Schlage auf den entblößten Arm des Mädchens fallen läßt, – wie sie das Brandmal an ihre Lippen führt – und wie er dann die Stufen hinanstürmt in die Arme, die ihn empfangen und ihm nichts versagen. »Das ist Liebe,« denkt das Knabenherz, »das ist Leidenschaft! Wie ist es möglich, sich nicht zu empören, wenn wir von irgend einer Hand – und wäre es des geliebtesten Wesens – einen Schlag erhalten! Und dennoch ist dies offenbar möglich, wenn man liebt!« Ja, die Liebe kennt keinen Widerstand, sie will Gläubige, die keine anderen Götter haben neben ihr.

Turgenjew hat von all seinen Dichtungen diese am meisten geliebt. Sie war ein Stück seines Lebens. Und immer weht auch von neuem der frische Duft des reizvollen Mädchens den Leser an, und ihn bestrickt der Märchenglanz, den ein Meister um die Wonnen und Leiden des verliebten kleinen Pagen wob.

Wie »Erste Liebe« ist auch die Novelle »Frühlingswogen« (1872) aus Wahrheit und Dichtung gewirkt, ein Klang aus längst verklungenen Tagen, den der Erzählende heraufbeschwört. Wie »Assja« spielt sie auf deutschem Boden.

Im Jahre 1840 hält auf seiner Heimreise in das Vaterland ein junger Russe, Sanin, in Frankfurt am Main Rast. Der Zufall führt ihn in eine kleine italienische Konditorei, und hier gestaltet sich nun in dem Wohnstübchen der Familie Roselli der allerliebste kleine Roman mit einer traumhaft zarten Melodie. Ein warmer Dämmerschein umfließt die Figuren so weich und lind und rückt sie alle in die heitere, milde Goldglanzstimmung des Feiertages. Wie liebenswürdig und glücklich diese kleinen Leute sind, die um die Wachslichter und um die große Chokoladenkanne sitzen mitsamt dem Kater und dem Pudel Tartaglia! Die gute, müde, friedliche Frau Roselli und der drollige, groteske Pantaleone, ein renommistischer, harmloser, verkümmerter, altmodischer Heldentenor mit zerbrochener Stimme und theatralischer Ritterlichkeit, und der enthusiasmierte, idealistische, junge Jüngling Emil. Und dann die schlanke Gemma. Sanin, den noch italienische Erinnerungen umflattern, vergleicht ihr schillerndes Haar mit dem von Alloris Judith im Palazzo Pitti. Die Nase ist gebogen, das Gesicht schimmert wie milchfarbiger Bernstein; und ihre dunkelgrauen, vom schwarzen Rande umsäumten Augensterne sind leuchtend heiter wie der Tag oder verschleiert von den langen Wimpern wie die Nacht; immer triumphieren sie, ob ein stilles Lachen aus ihnen strahlt, oder ob Schrecken und Schmerz auf ihrem Grunde ruhen. Gemmas Charakter ist von südlicher Lebendigkeit und neckischem Humor; sie gibt sich einfach und natürlich mit dem gesunden Takt einer unverdorbenen und unbeengten Seele.

Zwischen Sanin und Gemma geht die Liebe hin und her. Leise bewegen sich ihre Herzen, wie die Schwingen des Schmetterlings, der an der betauten Blume hängt und sich im Sonnenscheine badet. Die Sorglosigkeit der Jugend spinnt ihre Träume voll buntester Romantik. Wie kostbare, reine Freuden birgt der einförmige, glatte Strom des Lebens, und welche Seligkeit, sich ihrem Genusse hinzugeben mit ganzer Seele, ohne etwas Bestimmtes von dem Heute zu erwarten, ohne an das Morgen zu denken, ohne sich an das Gestern zu erinnern! Es ist Sanin, »als ob ein Schleier, ein feiner, dünner Schleier vor seinem geistigen Auge schwebte, und hinter diesem Schleier fühlte, – ja, fühlte er die Gegenwart eines jungen, unbeweglichen Gesichtes mit freundlichem Lächeln auf den Lippen und streng, scheinbar streng gesenkten Augenlidern. Dieses Gesicht war nicht Gemmas Gesicht, sondern das des Glücks selbst.« »Die erste Liebe gleicht einer Revolution: das einförmig regelmäßige Leben ist in einem Augenblicke zerrissen und zerstört; die Jugend steigt auf die Barrikade; hoch weht ihr leuchtendes Banner, und was die Zukunft auch bringen mag – ob Tod, ob neues Leben – alles begrüßt sie mit einem begeisterten Willkommen.«

Die Mauern, die das stille Glück im Winkel bergen, stürzen zusammen. Sanin ist ein Mensch, kühn und freimütig, von frischem, gesundem Wesen, aber auch mit jener unseligen, entnervenden Weichheit angetan, die sich nicht gegen das Schicksal stemmt. Er lernt die Frau seines Studienfreundes, Maria Nicolajewna, in Wiesbaden gelegentlich einer geschäftlichen Reise kennen. Eine russische Aristokratin von Plebejergeblüt. Ihr kraftvoller Wuchs, ihre geschmeidige, sinnliche Schönheit mit den kecken Augen, den schlangenartigen Haarflechten, den Grübchen auf den Wangen berücken ihn, sie saugt ihm die Vernunft aus, und sie unterwirft ihn mit ihrer brennenden, ermattenden, verführerischen Macht.

Es ist eine Scene voll glühender Pracht, da Sanin mit der schönen Verführerin im wilden Ritt durch den rauschenden Bergwald galoppiert, eine drückende Schwüle das Blut zu klopfender Leidenschaft hetzt und zu verzehrendem Verlangen peitscht, – und wie dann der Donner über die Wipfel braust und die Zauberin im verschwiegenen Dickicht den Willenlosen zum Sklaven macht.

Schwache Naturen machen nie einer Sache ein Ende, sie warten, daß das Ende von selbst komme. Sanin führt in Paris das Leben eines Gefesselten mit allen Demütigungen und Qualen, bis Maria Nicolajewna ihn wegwirft wie ein abgetragenes Kleid. Als er zum Bewußtsein kommt, bleibt nur die Reue; sie verläßt ihn nicht mehr. »Und dann die Rückkehr ins Vaterland, das einsame, vergiftete Leben, die nichtssagende Tätigkeit, die kleinlichen Sorgen, ein bitteres, unfruchtbares Vergessen, eine unbestimmte, aber ununterbrochene, ewige Strafe, – eine Strafe, vergleichbar einer unbedeutenden, aber unheilbaren Krankheit, einer Schuld, die Pfennig für Pfennig bezahlt wird, deren Größe aber nicht zu berechnen ist …«

Turgenjew hat nichts geschaffen, was sich an poetischem Hauch dieser Erzählung gleichstellen könnte. Es ist überflüssig zu zergliedern, mit welchen Mitteln er das erreichte, ob durch die feine, scharfe Kontrastierung der Scenen und Personen, durch die dramatische Spannung, durch die innige Schilderung des Milieus und der Landschaft, oder endlich durch die eindringende Beobachtung des Seelenlebens und die liebenswürdige Auffassung der Charaktere. Genug, es fing ein begnadetes Sonntagskind einen Sonnenstrahl und schuf daraus ein Stück warmherziger Poesie.


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