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II.
Frühlingswogen

Das Leben auf dem elterlichen Landsitze endete im Jahre 1830. Iwan Turgenjew ging nach Moskau, um sich für das Universitätsstudium vorzubereiten. Nach der Gepflogenheit russischer Junker geschah das auf einer Privatunterrichtsanstalt. Halbwilde, gärende Tage, da der Jüngling aus den Knabenkleidern wächst, da die lauschende junge Seele von einer Überfülle von Ahnungen und Vorstellungen schwillt. Unklar und verschwommen sind noch die Umrisse all der unbekannten süßen Dinge, die hinter der Schwelle des neuen Lebens lockend stehen. Vorgefühle und Erwartungen durchzucken die Sinne, beleben jeden Blutstropfen in den Adern. »Mein Herz,« so prägt einmal Turgenjew die Seelenstimmung aus, die einen sechzehnjährigen Jüngling berauscht, »mein Herz war damals voll süßer und zugleich froher Traurigkeit. Immer erwartete und fürchtete ich irgend etwas; über alles wunderte ich mich; auf alles war ich gefaßt. Meine Phantasie war in unaufhörlicher, schneller Tätigkeit, sie umflatterte mich gleichsam beständig mit denselben Vorstellungen, wie um die Zeit der Morgenröte die Schwalben den Kirchturm umkreisen; ich wurde nachdenklich und betrübt, ja, ich weinte sogar. Allein auch durch die Tränen und die Trauer, welche bald durch ein Lied, bald durch die Schönheit des Abends hervorgerufen wurden, drang gleich dem Frühlingsgrün das freudige Gefühl des jungen, schäumenden Lebens. Ich hatte ein Reitpferd, ich sattelte es mir selbst und ritt allein nach irgend einem fernen Punkt und ließ mir den Wind um die Ohren wehen und wähnte im Galoppieren, ich sei ein Ritter im Turnier. Wie ich mich erinnere, drängte sich in jener Zeit fast niemals das Bild einer Frau oder die Vorstellung von Frauenliebe mit bestimmten Zügen meinem Geiste auf; aber in allem, was ich dachte, in allem, was ich empfand, barg sich das halb unbewußte, schamhafte Vorgefühl von etwas Neuem, unsäglich Süßem, Weiblichem …«

Damals in der Weidenhammerschen Pension geriet Turgenjew abermals in den Bann einer Dichtung, die ihn mit allen seinen Gedanken und Empfindungen gefangen nahm. Es war ein Roman nach Walter Scotts Weise, die unserer aller Jugendtage einst so süß durchklungen hat, – Sagoskins »Juri Miloslawsky«. In den Unterrichtspausen machte der Lehrer seine Schüler mit dieser historischen Erzählung vertraut, daß die jungen Herzen mit glühendem Eifer an den Lippen hingen, die von den wunderbaren Abenteuern Kirschas, Alexeis und des Räubers Omlat sprachen. Der Verfasser war mit dem Turgenjewschen Hause eng befreundet und oft ein lieber Gast des Vaters. Als er ihn sah, ging es dem Jüngling, wie es der enthusiastischen Jugend zumeist zu gehen pflegt, – der angeschwärmte Dichter, den der Duft seiner Poesieen zu einer Idealgestalt in unserer Phantasie verklärt, enttäuscht mit verblüffender Nüchternheit, wenn er uns greifbar nahe rückt. Sagoskins plumper, breitgedrückter, viereckiger Kopf, seine weit vorstehenden Augen hinter der großen Brille, das Zucken seiner Nase, sein kurzes Kinn, die ungeschickten Gesten seiner verwachsenen Figur, – alles das mußte von komischer Wirkung sein, wo man auf eine erhabene Erscheinung gespannt war. Von seinen literarischen Arbeiten sprach er nie ein Wort; desto mehr von seiner physischen Kraft und von seiner Beliebtheit bei den Frauen. Das goldene Herz, das in dem Manne wohnte, hat Turgenjew erst später gefunden, als er dem alten Dichter 1852 auf seinem letzten Krankenbette tröstend die Hand drückte.

Im Jahre 1834 wurde Iwan Turgenjew mit sechzehn Jahren Student der philosophischen Fakultät an der Universität zu Moskau. Der Tod seines Vaters veranlaßte ihn, noch in demselben Jahre mit seiner Mutter nach St. Petersburg überzusiedeln, um dort seine Studien fortzusetzen.

»Glücklich ist, wer in seiner Jugend auch wirklich jung gewesen ist,« sagt Alexander Puschkin, und ein russisches Sprichwort lautet: »Die Jugend nährt sich mit vergoldeten Honigkuchen und glaubt in ihrer Harmlosigkeit, daß dies das tägliche Brot sei.« Die Jugend, welche bald auf Adlers Flügeln durch den Äther kreist, bald im träumerischen Sinnen gefangen liegt, war auch Turgenjews Jugend, Jahre voll Unruhe und Drang, voll Selbstgefühl, ungeregelter Tätigkeit und emsiger Nichtstuerei, voll kühner Pläne, voll Irrungen und Wirrungen. Was will da werden?

Erinnerungen aus seiner Universitätszeit hat Turgenjew gern um seine Geschichten und Gestalten gewoben; aber es ist immer das wärmere Moskauer Kolorit, das er vor dem kalten Petersburger bevorzugt. In »Punin und Baburin« werden wir im zweiten Teil nach Moskau geführt, wo wir den Knaben, der einst mit dem Alten die russischen Klassiker las, als Studenten wiederfinden. Das Antlitz des Jünglings, hinter dem sich Turgenjew selbst verbirgt, trägt hier zwei neue Züge: er ist Romantiker und Republikaner geworden! Die Byronsche Muse, die alle Köpfe damals regiert (1837), entflammt auch ihn zur Schwärmerei, und über seinem Schreibtisch hängen die Lithographieen von Mirabeau und Robespierre. Ein ganzer Kranz von Studentenerinnerungen blüht in »Dimitri Rudin«. Da erzählt Michael Leschnew von jenem Freundschaftsbunde, der sich bei dem rührend guten, stillen, sanften, reinen Pokorsky zusammenfindet, auf dem armseligen, kleinen Kämmerlein mit dem abgenützten, eingesessenen Sofa. Es sind fünf bis sechs junge, ganz junge Leute. Sie trinken abscheulichen Thee und essen steinharten Zwieback dazu. Aber in dem Lichtkreis der einzigen Kerze – wie glänzen die Augen, glühen die Wangen, klopfen die Herzen! Und die Zungen sind gelöst. Sie sprechen von Gott, von der Wahrheit, von der Zukunft des Menschengeschlechts, von der Poesie. Zuweilen ist's unsinniges Zeug, wenn die Begeisterung sie gar zu sehr hinreißt, – aber was will das heißen! Die Nacht zieht wie auf Fittichen in stillem, schnellem Flug dahin. Der junge Morgen graut, und die Schwärmer trennen sich; bewegt und gerührt ziehen sie durch die verödeten Straßen und betrachten die Sterne mit vertrauten Blicken, als wären sie ihnen selbst näher gerückt, als wäre auch ihr Wesen ihnen vertrauter geworden. »Es war eine herrliche Zeit,« so schließt der Erzähler, »und ich mag und will nicht glauben, daß sie an uns vorübergegangen ist, ohne eine dauernde Spur zu hinterlassen. Nein, diese Zeit ist auch nicht verloren, selbst für diejenigen nicht, die später vom Leben hart mitgenommen wurden und in seinem Strudel untergingen. Mehr als einmal bin ich alten Kommilitonen begegnet. Man hätte von dem einen oder anderen meinen können, jedes edle Gefühl wäre in ihm erstickt, – da genügte es, den Namen Pokorsky zu nennen, und alles Gute, was noch in jenem wohnte, wurde im tiefsten Grunde der Seele lebendig. Es war gerade, als ob man in einem finsteren, unsauberen Gemach ein Fläschchen mit Parfüm, das seit langer Zeit unbeachtet liegt, öffnet und nun den Wohlgeruch ausströmen läßt.«

Jugend und Freundschaft und Liebe – wie ein Gefilde der Seligen stiegen diese Tage dem alternden Dichter später herauf, wenn seine einsamen Gedanken ihn der umgebenden Gegenwart entrückten.

So entstand im Juni 1878 eine Phantasie, die in der Sammlung Senilia enthalten ist, ein Gedicht in Prosa: »O Gefilde der Seligen! O azurblaues Reich des Lichts, der Jugend und des Glücks! Ich habe dich geschaut … im Traume. Ich saß mit einer Anzahl Gefährten auf einem stattlichen, schöngeschmückten Nachen. Wie eine Schwanenbrust rundete sich das gebauschte weiße Segel unter den lustigen Wimpeln … Hellklingendes, fröhliches Lachen erscholl von Zeit zu Zeit in unsrer Mitte, wie das Lachen der Götter.

»Dann plötzlich ertönten von jemandes Munde Worte – Verse voll wunderbarer Schönheit und begeisterter Kraft. Der Himmel selbst schien ihnen Antwort zu tönen, und gleichsam mitempfindend erzitterte rings das Meer … Und wiederum trat selige Ruhe ein.

»… Inseln, zauberhafte, halb durchsichtige, von kostbaren Edelsteinen, Smaragden und Rubinen schimmernde Inseln schwebten an uns vorüber. Berauschende Düfte stiegen von den sich rundenden Ufern auf; hier wurden wir mit einem Regen von weißen Rosen und Maiglöckchen überschüttet; dort schwebten plötzlich auf langen Fittichen irisfarbene Vögel zum Himmel empor.

»… Zugleich mit den Blumen und Vögeln schwebten süße, süße Töne zu uns herüber; Frauenstimmen klangen hindurch. Und alles rings umher, der Himmel, das Meer, die schwankenden Segel in der Höhe, das Murmeln der Flut am Hinterteil des Nachens – alles sprach von Liebe, von seliger Liebe!

»Und die Geliebte, die jeder sich erkoren, war in der Nähe, wenn auch unsichtbar. Noch einen Augenblick – und ihr Auge glänzt; ihre Wange lächelt; ihre Hand ergreift die deine und zieht dich mit sich in ein ewiges Paradies. O Gefilde der Seligen, ich habe euch geschaut – im Traume.« (Übers, von Wilhelm Lange.)

Eine ehrliche Abneigung hielt den Studenten Turgenjew von den Salons der Petersburger Aristokratie fern, und liberale, republikanische Ansichten durchschwirrten nach Jünglingsart seinen Kopf. Seine geschichtlichen Studien führten ihn 1835 in ein Kolleg zu Gogol, das allerdings mehr originell als wissenschaftlich war. Er mochte es kaum begreifen, daß der Mann, der für den Lehrberuf nicht einmal mittelmäßig vorbereitet war, derselbe sein sollte, dessen »Abende auf dem Meierhofe bei Dikanjka« ihn mit ihrer lyrischen Stimmung so sehr entzückten. Im Jahre 1836 kam Gogols »Revisor« zum ersten Male auf die Bühne und 1837 Glinkas Oper »Das Leben für den Zaren«. Turgenjew wohnte den Premièren bei, aber er gesteht offen, daß er die Bedeutung dessen, was vor seinen Augen vorging, nicht erkannte. Auch als er damals Gribojedows Komödie »Wehe dem Gescheiten!« sah, waren es nicht mehr als Äußerlichkeiten, die von der Aufführung des genialsten, leidenschaftlichsten Lustspiels in seiner jugendlichen Seele haften blieben.

Die russische Jugend der dreißiger Jahre schwärmte für Puschkin. Jungherziger Enthusiasmus entzündet sich nicht an abstrakten Ideen; er verlangt sie in einem greifbaren Vorbild verkörpert. Das Idol Turgenjews und seiner Zeitgenossen war der Dichter des Eugen Onegin. Aber auch Göttern von geringerem Rang flocht die Begeisterung Kränze. Wie in vergangenen Tagen deutsche Jünglinge Matthissons Sentimentalitäten im Herzen hegten, so berauschte sich Turgenjew mit seinen Freunden an dem gedankenarmen Klingklang des Modedichters Benedictow. Der Rausch dauerte bis zu dem Tage, da er in der Bérangerschen Konditorei ein Heft des Moskauer »Teleskop« fand, in dem der Kritiker Belinsky mit diesen Gedichten unbarmherzig ins Gericht ging.

Die ersten persönlichen Beziehungen zu einer der Größen der zeitgenössischen russischen Literatur fand Turgenjew im Jahre 1834. Als er damals mit seiner Mutter nach Petersburg übergesiedelt war, erinnerte sich diese ihrer alten Freundschaft mit Shukowsky. Der namentlich von der Damenwelt verehrte Poet war zu jener Zeit der Erzieher des Thronfolgers Alexander Nicolajewitsch. Frau Turgenjew stickte ihm zu seinem Namenstage ein schönes Sammetkissen, auf dem eine mittelalterlich kostümierte Dame mit einem Papagei prangte. Iwan Turgenjew trug das zarte Präsent eigenhändig ins kaiserliche Winterpalais, wo der Dichter wohnte. Schon als er das ungeheure Gebäude betrat und die langen Korridore durchschritt, an den unbeweglichen Schildwachen vorbei, bemeisterten ihn Angst und Schüchternheit. Als ihn aber gar erst ein langer Lakai in rotem Rock in das Kabinett des Dichters führte und dieser ihn von seinem Schreibtisch aus nachdenklich freundlich anschaute, da war er vollends befangen. Die Zunge klebte ihm am Gaumen; er stand festgebannt auf der Schwelle und brachte keine Silbe heraus, während seine beiden Hände das unselige Kissen wie einen Täufling präsentierten. Die humane, liebenswürdige Art Shukowskys half dem Armen aus der Verlegenheit, und der Strahl von Wohlwollen und Güte, der aus den dunklen, tiefen Augen des Dichters leuchtete, beglückte in der Erinnerung den schüchternen Jüngling noch lange.

Die Ahnung seines eigenen dichterischen Genius hatte Iwan Turgenjews Schritte sicherlich nicht zu Shukowsky gelenkt. Erst 1836 erwachte in ihm die Lust zum Reimen. In St. Petersburg war damals die gelobte Zeit der Romantik. Byrons Muse beherrschte alle jugendlichen Gemüter, und diese Muse mußte unbedingt schwarzes Haar und blasse Wangen haben und dazu einen verächtlich stolzen Gesichtsausdruck, ein ironisch-bitteres Lächeln, einen hinreißenden Blick und ein geheimnisvolles, dämonisches, fatalistisches Etwas – wie es in »Punin und Baburin« heißt. In solcher Atmosphäre kam auch über Turgenjew die Begeisterung, und er dichtete in der Manier des Byronschen Manfred ein anfängerhaft unselbständiges Drama in fünffüßigen Jamben. Es hieß »Stenio«. Mit frischem Selbstvertrauen übersandte er es dem Professor der russischen Literaturgeschichte, Peter Alexandrowitsch Pletnew. Dieser Mann war ein Enthusiast, aber ohne hervorragende Gelehrsamkeit und ohne schöpferisches Talent. Seine zartfühlende, reine Natur war nicht zum Kritisieren, wohl aber zu herzlicher Teilnahme geschaffen. Die milde Klarheit seiner Sprache, seine angenehmen, ruhigen Umgangsformen, die Fähigkeit, seine eigenen Empfindungen suggestiv auf seine Zuhörer zu übertragen – das alles machte ihn zu einer ungemein anziehenden Persönlichkeit. Und dann kam noch eins hinzu, was ihn in den Augen der leicht erregten jungen Welt mit einem Strahlenkranz umgab: er war der beste Freund und innigste Vertraute des großen Puschkin, der ihm sogar sein berühmtestes Werk, den Eugen Onegin, gewidmet hatte.

Nun, Pletnew kritisierte in einer seiner Vorlesungen Turgenjews »Stenio« mit dem ihm eigenen Wohlwollen. Auf der Straße draußen rief er darauf den Verfasser zu sich heran und sprach mit freundlichem Vertrauen von seinem dichterischen Talent. Bald darauf lud er ihn zu einem seiner berühmten literarischen Abende ein.

Welch ein Ereignis für den jungen Dichterling! Turgenjew traf in Pletnews Salon – es war im Januar 1837 – etwa acht Herren um die schweigsame Dame des Hauses versammelt, dichtende Schöngeister, unter ihnen auch einige literarisch angehauchte Offiziere der Garnison; im allgemeinen Männer ohne auffallende künstlerische Begabung. Die fesselndste Erscheinung war noch der Fürst W. F. Odojewsky, der geistvolle, in Schellingschen Ideen wandelnde Romantiker, dessen phantastisch-poetische Werke den deutschen Leser an E. T. A. Hoffmann und Jean Paul erinnern. Ganz außerhalb des Lichtkreises aber saß in einer dunklen Ecke eine eigentümliche Gestalt in langschößigem Rock und kurzer Weste, mit einer Uhrkette von blauen Glasperlen und mit geknotetem Halstuch. Dieser Unbeachtete war doch allen Anwesenden an poetischer Kraft bei weitem überlegen. Er hieß Alexei Kolzow, und der Fürst Odojewsky hatte ihn gerade entdeckt und in die ästhetischen Salons eingeführt. Seine Jugend hatte er, der Sohn eines Viehhändlers, hinter den Herden zugebracht, und unter der Ungunst der Verhältnisse waren ihm kaum die Elemente der allgemeinen Bildung zu teil geworden. Um so verblüffender wirkten seine volkstümlichen Gedichte voll wahren und tiefen Gefühls, als sie 1831 erschienen; sie machten ihn rasch berühmt und führten ihn mit den vornehmen Trägern einer höheren Bildung zusammen. Selbst der Zar Nikolaus ließ sich den merkwürdigen Mann vorstellen. Heute hockte der Plebejer linkisch und blöde abseits der Gesellschaft, von der er sich durch eine tiefe Kluft alter Standesvorurteile geschieden fühlte. Er bewegte leise die Füße und war von öfteren Hustenanfällen geplagt, bei denen er eilig die Hand gegen die Lippen drückte. Ein ungewöhnlicher Verstand glänzte aus seinen Augen, aber sein Gesicht war einfach und echt russisch, eine Art von Gesicht, wie man es oft auf Porträts bäuerlicher und bürgerlicher Autodidakten findet; nicht Energie, sondern schüchterne Weichheit und trübe Versunkenheit brüteten auf den Zügen. Pletnew trat mit seiner ungezwungenen Höflichkeit zu dem stillen Gaste und bat ihn, eines seiner letzten lyrischen Gedichte vorzutragen; aber da geriet Kolzow in eine so peinliche Verlegenheit, daß jener von einer Wiederholung seiner Bitte sofort abstand. Die Stimmung im Pletnewschen Salon war, wie damals überall, eine beklommene. Die geistreichen Menschen bewegten sich unter dem Druck, den die Regierung auf jede freiere Regung ausübte, mit dem fröstelnden Gefühl der Unbehaglichkeit. Noch war die Literatur keine selbständige Macht, und sie konnte es nicht sein, so lange es keine freie Presse und keine persönliche Freiheit gab. »Der Literat, wer er auch sein mochte, fühlte sich als eine Art Kontrebandist.« Pletnew führte das Wort; er sprach von Shukowsky und von dieser oder jener Erscheinung der zeitgenössischen Poesie; aber die Konversation am Theetisch auf einen lebhaften Ton zu stimmen, wollte ihm nicht gelingen.

Wäre Turgenjew etwas frühzeitiger im Salon erschienen, so hätte er seinen Heros Puschkin dort bewundern dürfen. So hatte er nur im Vorzimmer einen flüchtigen Anblick des Olympiers erhaschen können. Als Turgenjew eintrat, tat er gerade den Mantel um, setzte den Hut auf und rief abschiednehmend dem Hausherrn mit tönender Stimme, indem seine weißen Zähne blinkten und die lebhaften Augen funkelten, ironisch zu: »Ja, ja, unsere Minister sind vortreffliche Leute; es läßt sich nicht leugnen!«

Als Turgenjew an dem für ihn so denkwürdigen Abend Pletnews Haus verließ, um Mitternacht, bot er dem schüchternen Kolzow einen Platz in seinem Schlitten an. Der wickelte sich fest in seinen armseligen Pelz und hustete beständig in einer beängstigenden Weise. Als Turgenjew ihn fragte, warum er keines seiner Gedichte habe vortragen wollen, erwiderte er: »Was hätte ich wohl lesen sollen, nachdem Alexander Sergejewitsch Puschkin eben fortgegangen war! Ich bitte Sie, mein Herr.« Noch also sprach die Bescheidenheit aus dem unscheinbaren, verlegenen Dichter, der bald, von dem gefährlichen Weihrauch des Ruhmes berauscht, mit beleidigendem Plebejerhochmut seine früheren Freunde von sich stieß. – An der Ecke eines Seitengäßchen verließ er den Schlitten und verschwand eiligst im Nebel der St. Petersburger Januarnacht. Turgenjew sah ihn nie wieder; durch Widerwärtigkeiten aller Art verbittert, starb Kolzow nach schwerer Krankheit in trübseliger Umgebung fünf Jahre darauf.

Früher noch welkte Puschkin dahin. Turgenjew traf ihn einige Tage nach der ersten flüchtigen Begegnung bei einer Matinee im Engelhardtschen Saale. Da lehnte der Gefeierte in theatralischer Pose an einer Säule, die Arme über der breiten Brust gekreuzt, mit unzufriedenem Blick im Kreise herumsehend. Das düstere, nicht allzugroße Gesicht, die breiten, aufgeworfenen Lippen, die an das afrikanische Blut seiner mütterlichen Vorfahren gemahnten, die großen, vorstehenden Zähne, der krause Backenbart, das gelockte Haar, die hohe, von Augenbrauen entblößte Stirn – das alles prägte sich für ewige Zeit dem Jüngling ein, der seinen Abgott voll Verehrung anstarrte. Diesem aber mochten die zudringlichen Augen Mißbehagen verursachen; er zuckte übellaunig und verdrießlich mit den Schultern und trat beiseite. Kurz darauf, am 29. Januar, riß der kalte Tod den Dichter mitten heraus aus dem blühenden Leben. Turgenjew sah ihn auf der Bahre liegen, ehe er im Swjatogorschen Kloster beigesetzt wurde.

Die humane Nachsicht, mit der Turgenjews erstes Drama von Pletnew beurteilt war, veranlaßte den kühner gewordenen Jüngling, ihm sofort noch eine Anzahl von Gedichten vorzulegen. Der Kritiker veröffentlichte davon zwei Stücke anonym im Jahre 1838 in dem von Puschkin begründeten Journal »Sowremennik«. Es war das erste Erzeugnis Turgenjews, das der Druck bekannt machte. Eines dieser Gedichte hieß »Die alte Eiche«, auf die Überschrift des anderen konnte sich der Dichter später selbst nicht mehr besinnen.

Iwan Turgenjew – in schwärmerischer Pose sinnend und den Besuch der Muse erwartend – das wäre ein falsches Bild. Die paar Reimereien, die ihm gelungen, schätzte er selbst nicht allzuhoch; sie waren nicht mit seinem Herzblut geschrieben. Er, der niemals der Poesie nachgejagt hat, dachte mit keinem Gedanken daran, daß sie ihm zum Leitstern seines Lebens werden sollte. Der Drang nach der schönen Fremde überwog zunächst alle anderen Leidenschaften. Er war neunzehn Jahre alt, als er 1838 zum ersten Male den Boden Rußlands verließ und nach dem Westen ging. Es war ein Schritt, der ihn aus engem Tal ins Reich der Erkenntnis führte, zu einer Höhe, die weite Umschau bot. Die Reise war keinem Ausflug gleich, der nach kurzer Frist wieder heimwärts zum Neste lenkt: Turgenjew hat seine Heimat nie wiedergefunden.

Die Summe der Bildung, die er auf Rußlands hohen Schulen eingeheimst hatte, wog ihm zu leicht; er war überzeugt, daß die Quelle echten Wissens im Auslande flösse. Von seinen Professoren in Petersburg hatte auch nicht einer diese Meinung erschüttert.

Turgenjew mußte, als er das Schiff bestieg, daran denken, daß er nur dem alten Impulse folgte, der schon den Uranfängen der russischen Geschichte ihren Entwickelungsgang vorgezeichnet hatte. Die slavischen Volksstämme am Dniepr entschlossen sich 862, müde der inneren Kämpfe und äußeren Gefahren, Boten übers Meer nach Norwegen zu senden, um sich dort aus dem Stamm der Waräger einen Herrscher zu holen. »Unser Land ist groß und fruchtbar, aber es ist keine Ordnung darin; kommt und regiert uns!« – so redeten damals die Abgesandten vor dem Normannenfürsten Rurik – so beugte jetzt auch die moderne russische Jugend ihr Knie vor der Überlegenheit des germanischen Geistes.

In jungen Seelen ist die Sehnsucht nach der reizvollen Ferne und dem Glück der Fremde größer als der Überdruß an den sozialen Mißständen der Heimat. Aber Turgenjew ahnte doch bereits, daß ihm das Leben eines Junkers auf der Steppe, wie es sein Vater, sein Großvater, alle seine Ahnen geführt hatten, nicht wert des Lebens scheinen möchte. Aufgeklärten Geistes, wie er war, und erregt vom Sturm und Drang der Jugend, trug er ein Gefühl des Widerwillens, ja der Empörung gegen die heimische Ständewirtschaft. Sie dünkte ihm unerträglicher denn je, seit Nikolaus I. die ersten Ansätze zur Bauernemancipation unter dem Einfluß des reaktionären Adels fruchtlos wieder erstarren ließ. Unversöhnliche Feindschaft gegen die Leibeigenschaft – das war sein Hannibalsschwur, als er sich von der Heimaterde wandte. Um seinen Feind aus der Entfernung kaltblütiger beobachten, um gegen ihn feine Attacke sorgfältiger vorbereiten zu können, ging er ins Ausland. »Und so machte ich es,« – sagt er selbst in seinen Erinnerungen – »ich stürzte mich in die deutsche Flut, denn ich hielt es für meine Pflicht, mich zu reinigen und umzuschaffen.«

Turgenjew ging nach Berlin, das die Stadt Rankes, Savignys, Humboldts, Rauchs, Schinkels – vor allem aber die Stadt der Hegelianer war. Hegels Lehre, von Stankewitsch nach Moskau importiert, berauschte am Ende der dreißiger Jahre die wissensdurstige russische Jugend; sie mußte mit der gewaltigen Selbstgewißheit ihres Systems gerade solche Leute anziehen, deren Halbbildung nach einer festen Autorität verlangte. Jede Broschüre, die sich mit der Hegelschen Philosophie beschäftigte, wurde in den Moskauer und Petersburger Studentenkreisen gierig verschlungen. Da gab es keinen einzigen Paragraphen, der nicht verzweifelte Disputationen hervorgerufen hätte. Man stritt die Nacht hindurch bis zum frühen Morgen. Freunde mieden sich wochenlang, weil sie sich bei der Definition des Begriffes vom transcendentalen Geiste nicht einigen konnten, oder weil einer den anderen durch seine Ansicht über das »absolute Ich« und dessen »Sein an sich« beleidigte. Ging damals jemand – so sagt ein russischer Schriftsteller – im Sokolnikipark bei Moskau spazieren, so tat er es, um sich dem pantheistischen Gefühl seiner Einheit mit dem Kosmos hinzugeben; und begegnete ihm unterwegs ein angetrunkener Soldat oder ein Weib, so sprach der Philosoph nicht einfach mit ihnen, sondern bestimmte die Substanz des Volkstümlichen in ihren unmittelbaren und zufälligen Erscheinungen. Einer so angeregten Generation mußte die philosophische Fakultät der Berliner Universität, wo nach Hegels Tode die Diadochen des Meisters Lehrgebäude ausbauten, als ein Mekka erscheinen.

Im Mai fuhr Turgenjew auf dem Dampfer »Nikolaus I.« von Petersburg nach Lübeck. Er reiste zum ersten Male allein und hatte daher seiner Mutter versprechen müssen, niemals eine Spielkarte anzurühren. An einem Abend, als der Dampfer an der mecklenburgischen Küste entlang fuhr, erlag er trotzdem der Versuchung. Er nahm an einem Hazardspiel in der Kajüte teil, und das Glück, das allen Neulingen lächelt, baute Haufen Goldes vor ihm auf. Da wird die Tür aufgerissen, der Ruf Feuer! erschallt; die Kajüte ist im Augenblick voll von Rauch; Gold Silber, Bankbillets poltern durcheinander, und alles stürzt auf Deck, wo schon mächtige Feuersäulen emporsteigen. In dem lauten Getümmel, der heillosen Verwirrung packt der verzweifelte Trieb der Selbsterhaltung alle die jammernden Menschenwesen und nicht zum mindesten den jungen Turgenjew. Er faßt einen eilenden Matrosen bei der Hand und verheißt ihm zehntausend Rubel, wenn er ihn retten würde; der aber reißt sich unwillig los. Die windentfachte Feuersbrunst wird von Minute zu Minute gewaltiger. Endlich gelingt es dem Kapitän, den Kurs auf die rettende Küste zuzulenken. Auf einer der äußeren Treppen hat Turgenjew neben einer alten betenden Köchin Schutz gesucht. Er starrt auf den roten Schaum, welcher unter ihm brodelt und ihm seine Spritzflocken ins Gesicht schlägt; und über ihm züngelt die Lohe, heult der Sturm. Er will lieber ertrinken als verbrennen … Ein Matrose gewahrte dort die zwei Unglücksgestalten noch im letzten Augenblick und brachte sie zum Vorderteil des Schiffes, wo die Passagiere von dem entschlossenen Kapitän auf zwei Booten zum Strande geschafft wurden. Bald glühte vom Meere zu den Geretteten herüber der breite, unbewegliche Flammenstoß, den gleichgültige Seemöven in schwerfälligem Fluge umkreisten …

In Berlin studierte Turgenjew die alten Sprachen; er hörte Böckhs Vorlesung über griechische Literaturgeschichte und Zumpts Vorlesung über römische Altertümer. Aber seine linguistische Vorbildung war so mangelhaft, daß er zu Hause einsam und schülerhaft seine griechische und lateinische Grammatik stümpern mußte. Geschichtliche Vorlesungen hörte er bei Ranke und bei Gans. Mit besonderem Eifer aber drang er unter der Leitung Karl Werders, der damals gerade außerordentlicher Professor geworden war, in die Hegelsche Philosophie ein.

Wie die Mehrzahl der Russen, war Turgenjew kein philosophischer Kopf; er besaß nicht die Fähigkeit, in deutscher Weise abstrakt zu denken – zudem war er trotz seiner zwanzig Jahre noch ein halber Knabe! »Bald las ich,« so erzählte er einmal, »Hegel und studierte Philosophie, bald amüsierte ich mich mit meinem Mentor, einen Hund zu dressieren und gegen Ratten abzurichten. Sobald ich erfuhr, daß es irgendwo Ratten gab, warf ich Hegel und die ganze Philosophie beiseite und begab mich auf die Rattenjagd.«

Die Befriedigung, die ihm die philosophischen Studien einige Jahre lang gewährten, wich später einem starken Unbehagen. Aus seinen Schriften blickt wohl zuweilen eine höhnische Grimasse, die der »nebligen Speise germanischer Seelen« gilt. Wassili Wassiljewitsch, der Hamlet von Schtschitgrow (»Memoiren eines Jägers«), ist so eine unglückliche Natur, die an unverdauter Hegelscher Philosophie krankt. Er ist drei Jahre im Auslande gewesen, hat in Berlin philosophiert, hat Hegel gehört, kennt Goethe auswendig, ist in die Tochter eines deutschen Professors verliebt gewesen und hat dann nachher ein kahlköpfiges, schwindsüchtiges Steppenfräulein geheiratet. In seiner Heimat weiß er nun nichts mit der mühsam erworbenen Bildung anzufangen. Inmitten ungeschliffener Nachbarn fühlt er sich auf seinem väterlichen Gute wie ein Verbannter und langweilt sich wie ein eingesperrter junger Hund. Die holden Träume einer idealen Lebensführung zerflattern vor den dürren Gespenstern des russischen Alltagstreibens, vor den Viehseuchen, rückständigen Steuern und Subhastationen. Die Hegelsche Encyklopädie hat ihn vom realen Leben abgelenkt und hat ihn um das bißchen selbständige Denken gebracht, das jedem unbefangenen Wesen gegeben ist. Er ist eine Hamletsnatur. »Ich bin,« sagt er, »kein Steppentölpel; ich bin durch Reflexionen wurmstichig geworden, und nichts in mir ist unmittelbar geblieben.«

Von der Philosophie übertrugen Turgenjews Landsleute am Ende der dreißiger Jahre ihre Schwärmerei auf die deutsche Dichtkunst. Nicht die Poesie des jungen Deutschlands zog sie an, der Name des großen Goethe war ihnen der berauschende Klang. In Goethe, besonders im zweiten Teile des Faust, zu Hause zu sein – heißt es bei einem russischen Zeitgenossen – galt für ebenso wichtig und selbstverständlich als der Besitz eines Rockes. Auch Turgenjew hatte sich schon in jungen Jahren den Genius der Goetheschen Dichtkunst zum Führer erkoren, und er blieb ihm treu sein Leben lang. Ihn liebte er vor allen, und es war ihm stets ein angenehmer Zeitvertreib, im trauten Freundeskreise Goethesche Verse ins Russische oder Französische zu übertragen. Citate aus Goethes Schriften finden wir überall in seinen Novellen und Briefen. »Goethe ist der Lehrer unserer aller,« rief er 1869 den jungen russischen Schriftstellern zu, und in dem kleinsten Gedichte des deutschen Meisters erkannte er dessen unendliche Überlegenheit zu einer Zeit, da ihm selbst schon die Anerkennung der ganzen Welt schmeichelte. Nicht inniger konnte er seine Verehrung für den größten deutschen Dichter ausdrücken, als wenn er in seiner Novelle »Faust« zeigte, wie die Lektüre der Goetheschen Dichtung eine russische Frauenseele zu erschüttern vermag. Daß er auch durch das übrige weite Gebiet der deutschen Poesie auf vertrauten Pfaden wandelte, bedarf bei seinem umfassenden und so reich gestalteten Geistesleben keiner Betonung. Bis zu den Gedichten Albrechts von Haller war seine Literaturkenntnis ausgedehnt. In der Sammlung seiner Aufsätze findet sich eine Vorrede zu einer russischen Übersetzung des Auerbachschen Romans »Das Landhaus am Rhein« (1868) und eine größere Abhandlung über Goethes »Faust« (1845). In dieser ist eine charakteristische Würdigung des deutschen Geistes beachtenswert: »Faust ist eine erhabene Dichtung. Sie tritt als vollständigster Ausdruck einer Epoche vor uns hin, welche sich in Europa nicht wiederholt, – jener Epoche, in der die Gesellschaft bis zur eigenen Negation ging, in der jeder Bürger sich in einen Menschen verwandelte, in der der Kampf zwischen der alten und der neuen Zeit begann und in der die Menschen nichts Unerschütterliches anerkannten außer menschlicher Vernunft und Natur. Die Franzosen verwirklichten diese Selbstherrschaft der Vernunft in der Tat, die Deutschen in der Theorie, in der Philosophie und Dichtung. Der Deutsche ist überhaupt nicht so sehr Bürger, als er Mensch ist; bei ihm gehen die rein menschlichen Fragen den sozialen vor. Die Epoche entsprach vollkommen der Grundrichtung des deutschen Volkes, und da erschien ein Dichter, dem man nicht ohne Grund vollständigen Mangel jeglicher bürgerlichen Überzeugung vorwarf und einen Heiden nannte, – ein Dichter, der nur deshalb ein Deutscher war, weil es nur den Deutschen gegeben ist, einfach Mensch zu sein, und der nun aus der Tiefe seiner allumfassenden, aber tief-egoistischen Natur den »Faust« emporförderte.«

Eine Begeisterung für die deutschen Dichter ist bei Turgenjewschen Gestalten stets ein Merkmal idealer Gesinnung. Der liebenswürdige, blonde, schwärmerische, bescheidene Fähnrich Küster im »Raufbold« hat auf seinem Bücherbrett die Büsten Schillers und Goethes stehen, und er liebt die Idyllen von Christian Ewald von Kleist. Dimitri Rudin liest auf der Gartenbank unter dem leicht durchbrochenen Schatten des Eschenbaumes seiner angebeteten Natalie Goethes Faust vor und die Briefe Bettinas und Novalis'. Er versinkt ganz im Strom deutscher Romantik und deutscher Philosophie und zieht Natalie mit sich fort. Eine bisher unbekannte Welt tut sich da vor den Augen des jungen Mädchens auf; von jeder Seite des Buches strömen entzückende Vorstellungen, großartige und rührende Bilder, neue leuchtende Gedanken in ihre Seele, und in ihrem Herzen erglimmt langsam der Funke heiliger Begeisterung. In der Novelle »Faust« findet Paul Alexandrowitsch in einem Bücherschranke seine alte Faustausgabe vom Jahre 1828 wieder, und als er darin blättert, steigen die Erinnerungen in ihm auf; er denkt an Berlin, an die Studentenzeit, an die Schauspielerin Klara Stich (spätere Crelinger), die das Gretchen gab, an den berühmten Seidelmann in der Rolle des Mephistopheles und an die Faustmusik von Radziwill … Ein ganzes Stück von Turgenjews eigenen Berliner Jugendtagen wird mit diesen paar Worten lebendig.

In der Verehrung Hegels und Goethes traf der junge Turgenjew mit einem Freunde zusammen, der einen Winter lang in Berlin sein Stubengefährte war – mit dem bekannten Michael Bakunin. Der gewann den um vier Jahre jüngeren Landsmann herzlich lieb, nahm aber ihm gegenüber oft eine erzieherhafte Miene an und suchte ihn namentlich von kleinen galanten Abenteuern zurückzuhalten, denn er selbst hatte die Idee, daß ein Mensch, der mit solchem Firlefanz seine Zeit vertrödelt, töricht und unehrenhaft handelt. Turgenjew teilte nur in der Theorie die Meinung seines Mentors, in der Praxis erlaubte er sich manchmal eine kleine Fahnenflucht. Er hatte eine Liebschaft mit einem jungen Gretchen, einer kleinen Schneiderin, zu der er bisweilen entschlüpfte. Zu seinem Erstaunen und seiner Schande ahnte Bakunin immer, wenn er von einem Stelldichein heimkehrte. Trat dann Iwan über die Schwelle, so grüßte ihn Michael mit einem Blick tiefster Verachtung: »Nun, du Verworfener, warst du schon wieder bei deiner Deutschen?« Der Ertappte wurde stets puterrot und schwieg. Wenn Turgenjew in späteren Jahren, als längst die Bande zwischen ihm und dem radikalen Anarchisten zerschnitten waren, diese Anekdote erzählte, fügte er hinzu: »Wie er es wissen konnte, ist mir heute noch unbegreiflich.« Nach dem Modell seines Kameraden Bakunin hat er bekanntlich die Figur des Schönredners Rudin entworfen und die Ähnlichkeit bis in die kleinsten Züge, sein ewiges Rauchen, Räsonnieren und Schuldenmachen, durchgeführt.

Turgenjews Wißbegierde haftete nicht an Berlin. So machte er einen Ausflug nach der Schweiz. Den russischen Mentor, der sein Interesse auf die Magenfrage beschränkte, schüttelte er ab; dann kaufte er sich Bluse, Ranzen, Stock und Karte und machte sich auf eigene Faust ohne Führer auf den Weg. – Sein erster Aufenthalt in der Fremde dauerte zwei Jahre. Wenn seine große Vorliebe später der Stadt Paris und dem französischen Volke galt, so hat er doch auch oft genug noch auf kürzere oder längere Zeit Deutschland aufgesucht. Er hat auf seinem Schlößchen in der schönen Bäderstadt an der Oos in den sechziger Jahren eine wonnige Zeit arkadischen Glücks verlebt und hat zu deutschen Künstlern und Schriftstellern manche dauernde Beziehung angeknüpft. Unangebrachte nationale Empfindlichkeit machte es ihm zum Vorwurf, daß er hier und da einmal einen Deutschen in seinen Erzählungen auftreten läßt, wenn er Erhabenes parodieren will und einen geizigen, plumpen, pedantischen Gesellen als Kontrastfigur braucht. Es fehlt dem Dichter dabei jede beleidigende Absicht; er malt unwillkürlich den Deutschen dann mit denselben Zügen, die seinem Typus in dem eifersüchtigen Vorurteil des russischen Volkes unlöslich anhaften. Übrigens ist das eine wertlose Nebensächlichkeit, die überreich aufgewogen wird durch Turgenjews ebenso ehrlichen wie schönen Ausspruch: »Ich verdanke Deutschland zu viel, um es nicht als mein zweites Vaterland zu lieben und zu verehren.«

So wandten sich auch im Jahre 1870 seine Sympathieen Deutschland zu. In der Nacht nach der Kriegserklärung fuhr er im Eisenbahnzuge auf einer Heimreise aus seinem Vaterlande durch Deutschland. Diese Nacht – äußerte er später – wird mir unvergeßlich bleiben; alle Bahnhöfe waren von Menschen dicht erfüllt, aber nirgends vernahm man Lärm oder laute Ausbrüche, überall zeigte sich ernste Entschlossenheit; man sah, es war eine gewaltige Kraft, die da aufstand. Und bald darauf, am 29. August, schrieb er an L. Friedländer aus Baden-Baden: »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie ich mit ganzer Seele auf der Seite der Deutschen stehe. Das ist wahrlich ein Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei – aber nicht so, wie die Herren Franzosen es meinen. Dem Bonapartismus muß der Garaus gemacht werden, was es auch koste, wenn die öffentliche Moralität, die Freiheit und Selbständigkeit Europas überhaupt eine Zukunft haben soll. – Wie häßlich, wie lügenhaft und durch und durch faul und kleinlich zeigt sich doch die »große Nation«! Sie muß auch ihr Jena, ihr Sewastopol, ihr Königgrätz haben – und wenn sie von der Lektion nicht zu profitieren versteht, so ist es eben aus mit ihr!«

Es hat für uns einen Reiz, zu beobachten, wie dem unübertrefflichen Schilderer der russischen Natur die Charakteristik einer deutschen Landschaft mit ihrer intimen Schönheit gelungen ist. In den »Visionen« trägt Ellis den Dichter über Raum und Zeit; jetzt fliegen sie über den Park von Schwetzingen dahin, jetzt über den Schwarzwald. »… Berge und immer wieder Berge und Wald, prächtiger, alter Wald. Die Nacht ist hell; ich kann jede einzelne Baumgattung unterscheiden. Besonders schön heben sich die Silbertannen mit ihren weißen, geraden Stämmen ab. Hin und wieder am Waldessaume zeigen sich Rehe; schlank und aufmerksam stehen sie da auf ihren dünnen Beinen und lauschen und wenden, die röhrenförmigen Ohren spitzend, lieblich die Köpfe nach allen Seiten. Auf dem Gipfel eines nackten Felsens streckt die Ruine eines Turmes traurig und stumm ihre halbzerfallenen Zacken empor; über dem alten, öden Gemäuer flimmert ruhig ein goldener Stern. Aus einem kleinen schwarzen Teiche steigt wie eine geheimnisvolle Klage der Ruf kleiner Unken herauf. Auch andere Töne, langgezogene, schwermütige, wie von einer Äolsharfe herrührend, glaube ich zu vernehmen. Wir sind im Lande der Sagen und der Märchen! Derselbe feine, mondlichtähnliche Dunst, der mir in Schwetzingen aufgefallen war, ist auch hier überallhin verbreitet, und je weiter sich die Berge verlaufen, desto dichter wird dieser Dunst. Ich kann fünf, sechs, ja zehn verschiedene Schattenabstufungen, verschiedene Schattenschichten an den Abhängen der Berge zählen, und über all diese lautlose Mannigfaltigkeit herrscht in gleichmäßigem, ruhigem, fast eintönigem Scheine der Mond. Ein sanfter, leichter Wind hat sich erhoben und streicht vorüber. Ich selbst fühle mich leicht und von einer erhabenen Ruhe beseelt. Ellis, sagte ich, dies Land mußt du doch lieben! …«

Die deutsche grüne Rheinlandschaft am Siebengebirge und am Hunsrück tritt uns in der Novelle »Annuschka« mit einer Fülle ganz prächtiger kleiner Bilder entgegen, über denen unendliche Anmut, Duft und Frische ausgegossen liegen. Turgenjew geleitet uns da in ein linksrheinisches Städtchen, das noch mit mittelalterlichen Mauer- und Wachttürmen bewehrt ist. Die Bogenbrücke überwölbt das klare Bächlein, das rheinwärts eilt, und die hundertjährigen Linden rauschen. Auf der Gasse stehen die hübschen, blonden Mädchen und rufen dem Fremden freundlich »Guten Abend« zu. Der Mond lugt hinter den spitzen Giebeldächern und beleuchtet scharf die kleinen Steine des Pflasters, daß die Umrisse der alten Häuser sich deutlich abheben. Und es ist, als ob die Stadt den Blick des Mondes empfindet und nun friedlich und wie in süßen Schlummer versunken daliegt, ganz umflossen von diesem milden und die Seele doch in so eigener Weise anregenden Lichte. Im matten Goldschimmer blinkt der Hahn oben auf der Spitze des gotischen Kirchturms, und in demselben Glanze leuchten hier und da die Wellen des Baches aus der dunklen Fläche. Hinter schmalen Fenstern brennt ein vereinzeltes Licht, Weinstöcke ranken sich um die Mauern. Es raunt und flüstert im Schatten des alten Brunnens auf dem Marktplatz; das langgezogene Pfeifen des Nachtwächters ertönt, und ein gutmütiger Hund regt sich und knurrt halblaut. Ein leiser Windhauch fächelt unser Gesicht, die Linden hauchen einen wohligen Duft aus, daß die Brust sich unwillkürlich hebt, daß man tiefer aufatmet, und das Wort »Gretchen« entschlüpft – halb ein Ausruf, halb eine Frage – den Lippen.

Auch in das Treiben des Bonner Burschentums führt uns der Dichter hinein, und wir merken, wie ihm das unaufhaltsame Drängen nach vorwärts ohne eigentliches Ziel, dies frische, harmlose, ungebundene Leben voll von Hoffen und Glauben zu Herzen dringt. Überall weht hier der kräftige Hauch einer gesunden Natur, und die Empfängnisfreudigkeit unverdorbener Jugend saugt ihn ein … Wir stehen oben auf dem Weingelände und blicken nach dem Abendhimmel, wo eben die Sonne sank. Ein purpurner Schimmer von außerordentlicher Zartheit breitet sich über die Weinstöcke, über den trockenen Boden, der mit glatten Schieferstücken, mit Steinen und Geröll wie besät ist, und über die weißen Mauern des kleinen Weinberghäuschens. Unten liegt der Rhein; wie ein Silberstreif zieht er sich zwischen grünen Ufern dahin. Dort, wo die Sonne zur Rüste gegangen ist, flammt er in purpurrotem Schein, und seine Wogen haben dort einen goldenen Schimmer. Am Ufer breitet sich das Städtchen aus; deutlich sind alle seine Straßen, Gassen und Häuser zu unterscheiden, und ringsum bis in ferne Weiten dehnen sich die Felder, ziehen sich die Hügelketten dahin. Und über dem allen der Himmel so tief und rein und die Luft so glänzend und klar und frisch …

Jetzt weicht das rotglühende Licht im Westen einem matteren Rosa. Dann nimmt der Himmel eine bleichere Farbe an, und das Grau, das darauf folgt, macht endlich einer vollkommenen Dunkelheit Platz. Aus dem Tale kommen die Töne eines Walzers; die Ferne läßt sie lieblicher und milder klingen. In der Stadt unten und auf dem Flusse werden die Lichter angezündet. Dann geht der Mond am Horizont auf, und seine Strahlen erglänzen im prächtigen Wiederschein auf der leichtbewegten Fläche des Rheins. Jetzt fährt ein Boot gerade in den Mondstreifen hinein und zerteilt ihn. Wie mit einem Schlage hat alles ringsum sein Aussehen geändert. Was hell war, scheint in tiefe Schatten zu tauchen; dunkle Partieen treten in scharfer Beleuchtung und wie in neuer Gestaltung hervor. Auch der leise Windhauch schwindet und zieht dem Vogel gleich seine Flügel ein …

An einem anderen Tage streifen wir mit dem Dichter durch den Hunsrück. Scharfer Harzgeruch entströmt dem Walde, die Spechte klopfen, und auf dem sandigen, steinigen Grunde der murmelnden Bäche spielen die Forellen. Wir ziehen vorüber an grauem Felsgestein und Hügelketten, an freundlichen, kleinen Dörfern mit alten, ehrwürdigen Kirchen und Storchnestern, an umgrünten Mühlen. Landleute mit biederem Gesicht, in blaue Kittel und graue Strümpfe gekleidet, kommen uns entgegen; mit lautem Räderknarren ziehen wohlgenährte Pferde den schweren Lastwagen; jugendliche Wanderer mit langen, lockigen Haaren pilgern auf den mit Äpfel- und Birnbäumen gesäumten Landstraßen dahin … »Sei mir gegrüßt, du bescheidener Winkel deutschen Landes, in deiner liebenswürdigen Anspruchslosigkeit; auf Schritt und Tritt wird man dort die Spuren fleißig schaffender und ordnender Hände gewahr; überall erkennt man die Anzeichen einer zwar langsamen, aber ausdauernden und unermüdlichen Arbeit. Gruß dir und Friede, du schönes Land!«

Im Jahre 1840 rüstete sich Turgenjew zur Heimfahrt. In den »Frühlingswogen« befindet sich in demselben Jahre auch ein junger zweiundzwanzigjähriger Russe auf der Rückreise nach seinem Vaterlande. »Dieser ganze Roman ist wahr,« hat der Dichter geäußert, »ich habe ihn selbst erlebt und gefühlt; er ist meine Geschichte.« Wir dürfen also in dem Helden Dimitri Pawlowitsch Sanin das Porträt Turgenjews erkennen. Und das ist ein Jüngling von liebenswürdigster Harmlosigkeit. Hinter dem Ladentisch des angebeteten Mädchens möchte er in seiner heiteren und glücklichen Stimmung sein Leben lang Konfekt und Mandelmilch verkaufen, während aus dem Hinterzimmer seine Gemma ihm zusieht mit den freundlich spottenden Augen, während die Sommersonne durch das dichte Laubwerk der Kastanien ins Fenster dringt, das ganze Zimmer mit dem goldgrünen Glanze der Mittagsstrahlen und Mittagsschatten erfüllt und sein Herz sich in süßer, träumerischer Untätigkeit wiegt, in der Sorglosigkeit der Jugend – der ersten Jugend! … Und dann schlendert er mit seinem Kameraden Emil durch den Taunus, rollt Steine von der Höhe herunter und klatscht vergnügt in die Hände, wenn sie in komischen, seltsamen Sprüngen den Kaninchen gleich hinunterhüpfen, bis irgend ein unsichtbarer, am Fuße des Berges vorüberschreitender Mann mit kräftiger Stimme zu schimpfen anfängt. Die beiden strecken sich wonnig ins Gras; sie entdecken ein Echo und rufen ihm zu; sie ringen miteinander, sie brechen Zweige von den Bäumen, schmücken ihre Hüte mit Farnkräutern; sie tanzen, sie ziehen die Röcke aus, und einer springt mit gespreizten Beinen über den gebogenen Rücken des andern dahin … »Er war,« so heißt es von dem Helden, »ein recht hübscher junger Mann, schlank und wohl proportioniert. Er hatte angenehme, wenn auch etwas unregelmäßige Gesichtszüge, freundliche, blaue Augen, hellblondes Haar und einen frischen, rötlich-weißen Teint. Was aber am meisten an ihm gefiel, das war seine kindlich-gutmütige Heiterkeit, sein aufrichtiger, vertrauensvoller, auf den ersten Blick sogar etwas einfältiger Gesichtsausdruck … ein etwas schleppender Gang, eine leicht lispelnde Stimme, ein kindliches Lächeln, sobald man ihn ansah … endlich Frische, Gesundheit und eine große, sein ganzes Wesen durchdringende Weichheit …

»Sollen wir ihn mit etwas vergleichen, so wäre wohl das passendste Bild ein junger, krauser, soeben gepfropfter Apfelbaum – oder noch besser, ein wohlgenährtes, glattes, dickbeiniges, zartes dreijähriges Pferd aus einem herrschaftlichen Gestüt, das vor kurzem angefangen hat, an der Leine zu traben.«


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