Sagen aus Schlesien
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Die Sibylla im Turm

Die Sibylla oder Sibylle ist eine große Prophetin gewesen, die in einem alten Turm ihre Sünden abbüßt. In diesem Turm sind die greulichsten Ungeheuer, Schlangen, Eidechsen, Molche, Schildkröten (die man sich als geflügelte Ungetüme denkt) und allerlei Ungeziefer. Sibylla sitzt nun in diesem Turme und näht ihr Sterbehemd. Sie ist bis zum jüngsten Tage hierher verbannt. Alle hundert Jahre macht sie einen Stich, und meine Mutter, erzählt Philo vom Walde, wollte wissen, daß sie jetzt nur noch den »Spätlich« zu nähen habe. Sobald das Hemd erst fertig ist, geschieht der jüngste Tag. Es waren schon viele Ritter im Turme, um die Prophetin verschiedentlich zu befragen. jedem gab sie ausführliche Auskunft – aber kein einziger kam zurück, alle fanden durch jene Ungeheuer den Tod. Nur dem Fürst Lichtenstein glückte es. Er ließ sich nachts an einem Seile vom obersten Turmfenster, während die Ungetüme schliefen, herab. Auf windschnellem Rosse jagte er fort – und alle zehn Meilen hatte er schon ein anderes stehen; das frühere fiel tot nieder. Auf diese Weise kam er bis über die Grenze ihres Gebietes. Da ist noch eine Schildkröte ihm nachgeflogen, ihn zu zerreißen; doch hatte sie keine Macht mehr über ihn, weil ja die Grenze schon überschritten war. Müde setzte sie sich auf seine Schulter, als Wahrzeichen brachte er sie nach Hause. – Links von der Straße Leobschütz – Wernersdorf ist ein alter Trümmerhaufen, auf dem ein einsamer Baumstumpf stand. Das ist der Rest des Schlosses, wo die Sibylle mit ihren Schwestern, von denen eine die Melusine war, wohnte.

Die polnischen Oberschlesier behaupten, daß die Sibylla jede Nacht einen Stich an ihrem Totenhemde nähe, daß aber die Dienerinnen am Tage alles wieder auftrennen. Ist das Gewand erst fertig, dann ist der jüngste Tag auch da. – Die Jungfrau in der Heuscheuer arbeitet nun schon am letzten Ärmel; das hat ein junger Mensch aus dem Leierdörfel gesehen, der in der Christnacht, in der sie jedes Jahr einen Stich tut, in die Heuscheuersäle drang. Auch in der Barzdorfer Ringelkoppe näht eine verzauberte Jungfrau den letzten Ärmel ihres Erlösungshemdes.

 


 


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