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Die Frau schlief noch fest mit runden starken Atemzügen. Ihr Mund, halb aufgetan, schien ein Lächeln beginnen zu wollen oder ein Wort, und weich hob unter der Decke Beruhigung die jung gewölbte Brust. Von den Fenstern dämmerte erste Helligkeit. Aber der winterliche Morgen hatte nur armes Licht. Zwitterschein von Dunkel und Tag wogte unsicher über dem Schlaf der Dinge und hüllte ihre Gestalt.
Ferdinand war leise aufgestanden, er wußte selbst nicht warum. Das geschah ihm jetzt oft, daß er mitten in der Arbeit plötzlich zum Hut griff und rasch aus dem Hause ging, in die Felder hinein, rascher und immer rascher forteilend, bis er sich mattgelaufen und plötzlich irgendwo weitab in fremder Gegend stand, ein Zittern in den Knien und mit springendem Puls an den Schläfen. Oder daß er jählings in belebtem Gespräch aufstarrte, die Worte nicht mehr verstand, an Fragen vorüberhörte und sich gewaltsam zurechtschütteln mußte. Oder daß er sich abends im Auskleiden vergaß und, den abgestreiften Schuh starr in Händen, auf dem Bettrand sitzen blieb, bis ein Rufwort seiner Frau ihn aufschreckte oder plötzlich der Stiefel polternd zu Boden fiel.
Wie er jetzt aus dem leicht durchschwülten Gemach auf den Balkon trat, fröstelte ihn. Unwillkürlich drückte er die Ellbogen wärmer an den Leib. Die tiefe Landschaft unter ihm war noch ganz nebelverfangen. Über dem Zürichsee, den er sonst von seinem hochgelegenen Häuschen wie einen geschliffenen Spiegel sah, in dem jede Himmelswolke weiß eilend widerglitt, wogte ein dicker milchiger Schaum. Alles war feucht, dunkel, glitschig und grau, wo seine Blicke, seine Hände hintasteten, Wasser troff von den Bäumen, Feuchte rieselte von den Balken. Wie ein Mensch, der eben sich der Flut entwunden und von dem in Strähnen das Wasser abtropft, war die aufsteigende Welt. Menschenstimmen kamen durch die Nebelnacht, aber gurgelnd und dumpf wie das Röcheln von Ertrunkenen, manchmal auch Hammerschlag und ferner Kirchturmruf, doch feucht und rostig der sonst so klare Ton. Ein nasses Dunkel stand zwischen ihm und seiner Welt.
Ihn fröstelte. Und doch, er blieb und stand, die Hände tiefer in die Taschen geschmiegt, den ersten freien Ausblick zu erwarten. Wie graues Papier begannen die Nebel sich langsam von unten aufzurollen, und unendliche Sehnsucht überkam ihn nach der geliebten Landschaft, die er unten in geordnetem Bestand und nur vom morgendlichen Rauche verborgen wußte und deren klare Linien sein eigenes Wesen sonst ordnend erhellten. Wie oft, aus der Wirrnis seiner selbst an dies Fenster tretend, hatte er am gefriedeten Ausblick hier Beruhigung gefunden; die Häuser drüben am andern Ufer, freundlich eines zum andern gestellt, ein Dampfboot zierlich sicher das blaue Wasser zerteilend, die Möven, heiter das Ufer überschwärmend, der Rauch in silberner Schraube aus rotem Schorne aufsteigend ins Mittagsgeläut, alles das sagte ihm so sichtlich: Friede! Friede! daß er, gegen sein eigenes Wissen um den Wahnsinn der Welt, diesen schönen Zeichen glaubte und für Stunden der eigenen Heimat über dieser neugewählten vergaß. Vor Monaten war er, ein Flüchtling vor der Zeit und den Menschen, aus Kriegsland in die Schweiz gekommen und spürte, wie sein zerknittertes, zerfurchtes, von Grauen und Entsetzen aufgepflügtes Wesen hier sich glättete und narbte, wie die Landschaft ihn weich in sich aufnahm und die reinen Linien und Farben seine Kunst in die Arbeit riefen. Darum fühlte er immer sich entfremdet und wieder fortgestoßen, wenn dieser Blick ihm verdunkelt war, und so in dieser Morgenstunde, da der Nebel ihm alles hüllte. Unendliches Mitleid kam ihn an mit all denen, die da unten im Dunkel verschlossen waren, mit den Menschen seiner heimatlichen Welt, die auch so in eine Ferne versunken waren, unendliches Mitleid und unendliche Sehnsucht nach Verbundenheit mit ihnen und ihrem Geschick.
Irgendwo aus dem Rauche schlug die Kirchturmglocke viermal und dann, sich selber die Stunde erklärend, helleren Tones achtmal in den Märzmorgen. Und selbst wie auf einer Turmspitze fühlte er sich unsäglich klein, die Welt vor sich und seine Frau hinter sich im Dunkel ihres Schlafs. Sein innerster Wille spannte sich an, diese weiche Wand von Nebel zu zerreißen und irgendwo Botschaft des Wachens, Gewißheit des Lebens zu spüren. Und wie er die Blicke gleichsam aus sich forttrieb, war ihm, als ob dort unten im Grau, wo das Dorf endete und der Weg in kurzatmigen Serpentinen hier herauf zum Hügel stieg, etwas sich langsam regte, Mensch oder Tier. Weich verhüllt, klein kam es heran, eine Freude zuerst, daß noch etwas wach war außer ihm, und doch eine Neugier zugleich, brennend und ungesund. Dort, wo sich die graue Gestalt jetzt hinschob, war ein Kreuzweg, zum Nachbarort führend oder hier empor: einen Augenblick schien das Fremde dort aufatmend zu zögern. Dann klomm es langsam den Saumpfad hinauf.
Unruhe überkam Ferdinand. Wer ist dieser fremde Mensch, fragte er sich, welcher Zwang treibt ihn aus der Wärme seines dunkeln Gemaches wie mich in den Morgen hinaus? Will er zu mir und was will er von mir? Jetzt, durch den lockeren Nebel der Nähe erkannte er ihn: es war der Postbote. Jeden Morgen, von den acht Glockenschlägen getrieben, klomm er hier empor, und Ferdinand wußte und sah in sich sein hölzernes Gesicht mit dem roten Seemannsbart, der an den Enden weiß wurde, und den blauen Brillen. Nußbaum hieß er, und er nannte ihn Nußknacker wegen seiner harten Bewegungen und der Würde, mit der er die Tasche, die große, schwarzlederne Tasche, immer rechtsherum warf, ehe er gewichtig seine Briefschaften abgab. Ferdinand mußte lächeln, wie er ihn da stapfen sah, Schritt für Schritt, die Tasche links übergeworfen und bemüht, mit seinen kurzbeinigen Schritten recht würdevoll zu gehen.
Aber plötzlich spürte er seine Knie zittern. Seine Hand, über die Augen gehoben, fiel ab wie lahm. Die Unruhe von heute, von gestern, von all diesen Wochen, die war mit einemmal wieder da. Er meinte zu spüren, daß dieser Mensch auf ihn zukäme, Schritt um Schritt, und zu ihm allein. Ohne selbst um sich zu wissen, klinkte er die Türe auf, schlich an seiner schlafenden Frau vorbei und hastete die Treppen hinab, den Zaunweg hinunter, dem Kommenden entgegen. An der Gartentür stieß er mit ihm zusammen. »Haben Sie ... haben Sie ...« dreimal mußte er ansetzen. »Haben Sie etwas für mich?«
Der Briefträger schob die feuchten Brillen hoch, ihn anzusehen. »Woll, woll.« Er warf mit einem Ruck die schwarze Tasche rechtsherum, tappte mit den Fingern – wie große Regenwürmer waren sie, feucht und rot vom Nebelfrost – in den Briefen herum. Ferdinand zitterte. Endlich griff er einen heraus. Es war ein großes braunes Kuvert, »amtlich« stand breit gedruckt darauf und darunter sein Name. »Zu unterschriebe«, sagte er, feuchtete den Tintenstift und hielt ihm das Buch hin. Mit einem Riß, unleserlich vor Erregung, schrieb Ferdinand seinen Namen.
Dann griff er nach dem Brief, den die dicke rote Hand ihm bot. Aber seine Finger waren so starr, daß das Blatt ihnen entglitt und zu Boden fiel, in nasse Erde und feuchtes Laub. Und wie er sich bückte, es aufzuheben, drang in seinen Atem ein bitterer Geruch von Fäulnis und Verwesung ein.
Das war es gewesen, nun wußte er es klar, was seit Wochen unterirdisch eine Ruhe verstörte, dieser Brief, den er wider Willen erwartet hatte, der aus einer sinnlosen, formlosen Ferne auf ihn zuging, nach ihm tastete, mit seinen starren maschinengeschriebenen Worten nach seinem warmen Leben, seiner Freiheit griff. Er hatte ihn kommen gefühlt von irgendwoher, wie ein Reiter auf Patrouille zwischen dem grünen Walddickicht ein kaltes Stahlrohr unsichtbar auf sich gerichtet fühlt und das kleine Stück Blei darin, das hinein will in das Dunkel unter seiner Haut. Vergebens war also die Gegenwehr gewesen, die kleinen Schliche, mit denen er nächtelang sein Denken erfüllt: nun hatten sie ihn erreicht. Acht Monate kaum waren es, daß er nackt, vor Kälte und Ekel zitternd, drüben vor einem Militärarzt gestanden, der nach den Muskeln an seinen Armen griff wie ein Pferdehändler, daß er an dieser Erniedrigung die Menschenunwürde der Zeit erkannt und die Sklaverei, in die Europa verfallen. Zwei Monate lang ertrug er es noch, in dieser Stickluft der patriotischen Phrase zu leben, aber allmählich ward ihm der Atem zu eng, und wenn die Menschen um ihn die Lippen auftaten zur Rede, meinte er das Gelbe der Lüge auf ihrer Zunge zu sehen. Was sie sprachen, widerte ihn an. Der Anblick der frierenden Frauen, die mit ihren leeren Kartoffelsäcken im Morgendämmer auf den Stufen des Marktes saßen, preßte ihm die Seele entzwei: mit geballten Fäusten schlich er umher und fühlte, wie er böse und gehässig wurde, sich selbst widerwärtig in seiner ohnmächtigen Wut. Endlich war es ihm dank einer Fürsprache gelungen, mit seiner Frau in die Schweiz hinüberzukommen: als er die Grenze überschritt, sprang ihm plötzlich das Blut in die Wangen. Er mußte sich an den Pfosten festhalten, so taumelte er. Mensch, Leben, Tat, Wille, Kraft fühlte er sich zum erstenmal wieder. Und seine Lungen taten sich auf, Freiheit aus der Luft zu spüren. Vaterland, das hieß ihm jetzt nur mehr Gefängnis und Zwang. Fremde, sie war ihm Weltheimat, Europa die Menschheit.
Aber das dauerte nicht lange, dies frohe leichte Gefühl; dann kam wieder die Angst. Er spürte, daß er rückwärts mit seinem Namen noch irgendwie in diesem blutigen Dickicht verhakt war. Daß etwas, das er nicht wußte, nicht kannte, und das doch um ihn wußte, ihn nicht freigab. Daß ein schlafloses kaltes Auge irgendwo aus dem Unsichtbaren lauernd auf ihn gerichtet war. Er duckte sich tief in sich hinein, las keine Zeitungen, um die Stellungsbefehle nicht zu finden, wechselte die Wohnung, um seine Spuren zu verwischen, ließ sich Briefe nur an seine Frau postlagernd senden, mied die Menschen, um nicht gefragt zu sein. Nie betrat er die Stadt, sandte seine Frau um Leinwand und Farben. Ganz ins Namenlose hinein verkroch sich seine Existenz, in dies kleine Dörfchen am Zürichsee, wo er bei Bauern ein Häuschen gemietet hatte. Aber immer doch wußte er: in irgendeiner Lade lag zwischen Hunderttausenden von Blättern ein Blatt. Und er wußte: eines Tages würden sie, irgendwo, irgendwann diese Lade aufziehen – er hörte, wie man schob, hörte das Hämmern einer Schreibmaschine, die seinen Namen schrieb, und wußte, daß dieser Brief dann wandern und wandern würde, bis er ihn endlich fand.
Und nun knisterte er, kalt und körperlich, zwischen seinen Fingern. Ferdinand mühte sich, ruhig zu bleiben. »Was ist mir dieses Blatt hier?« sagte er sich. »Morgen, übermorgen blühen hier tausend, zehntausend, hunderttausend Blätter an den Sträuchern, und jedes ist mir fremd wie dieses. Was heißt dies ›amtlich‹? Daß ich es lesen muß? Ich habe kein Amt unter den Menschen, und keines ist über mir. Was ist dies mein Name da – bin das Ich schon? Wer kann mich zwingen, zu sagen, ich bin es, wer mich zwingen, zu lesen, was darin geschrieben steht? Wenn ich es ungelesen durchreiße, flattern die Fetzen bis an den See, und ich weiß nichts, und nichts weiß die Welt, kein Tropfen fällt rascher vom Baume zu Boden, kein Atemzug geht anders von meiner Lippe! Wie konnte dies mich unruhig machen, dies Blatt, von dem ich nur weiß, wenn ich will? Und ich will nicht. Ich will nichts als meine Freiheit.«
Die Finger spannten sich, das harte Kuvert durchzureißen und in Fetzen zu zerpflücken. Aber seltsam: die Muskeln gehorchten ihm nicht. Irgend etwas war wider seinen eigenen Willen in seinen eigenen Händen, denn sie gehorchten nicht. Und indes er mit seiner ganzen Seele wollte, daß sie die Hülle zerfetzten, taten sie ganz behutsam das Kuvert auf, falteten zitternd das weiße Blatt auseinander. Und darauf stand, was er schon wußte: »Zahl 34.729 F. Auf Veranlassung des Bezirkskommandos zu M. werden Euer Hochwohlgeboren hiemit diensthöflichst ersucht, sich zur erneuten Untersuchung über Ihre militärische Tauglichkeit spätestens 22. März zu M. im Bezirkskommando, Zimmer Nr. 8, zu gestellten. Die Militärpapiere folgt Ihnen das Konsulat Zürich aus, zu dem Sie sich dieszwecks zu begeben haben.«
Als er wieder in das Zimmer trat, eine Stunde später, kam seine Frau ihm lächelnd entgegen, in der Hand ein loses Bündel Frühlingsblumen. Ihr Antlitz strahlte Sorglosigkeit. »Sieh,« sagte sie, »was ich gefunden habe! Dort auf der Wiese hinter dem Hause blühen sie schon, und im Schatten zwischen den Bäumen liegt noch der Schnee.« Ihr gefällig zu sein, nahm er die Blumen, beugte sich in sie hinein, um nicht die unbesorgten Augen der Geliebten sehen zu müssen, und flüchtete eilig hinauf in den kleinen Dachraum, den er sich als Atelier eingerichtet hatte.
Aber es ging nicht mit der Arbeit. Kaum daß er seine leere Leinwand vor sich nahm, standen plötzlich darauf maschinengehämmert die Worte des Briefes. Die Farben auf der Palette schienen ihm Schlamm und Blut. Er mußte an Eiter und Wunden denken. Sein Selbstporträt, im Halbschatten stehend, zeigte ihm einen Militärkragen unter dem Kinn. »Wahnsinn! Wahnsinn!« sagte er ganz laut und stampfte mit dem Fuße, um diese irren Bilder zu verscheuchen. Aber die Hände zitterten, und unter den Knien schwankte der Boden. Er mußte sich niederlegen. Und saß dann auf dem kleinen Schemel, in sich eingestürzt, bis seine Frau ihn zu Mittag rief.
Jeder Bissen würgte ihn. Hoch oben im Hals saß etwas Bitteres, das mußte immer erst hinab, und immer stieg es wieder empor. Gebeugt und stumm, wie er saß, merkte er, daß seine Frau ihn beobachtend ansah. Plötzlich fühlte er ihre Hand leise auf der seinen. »Was ist dir, Ferdinand?« Er antwortete nicht. »Hast du schlechte Nachrichten bekommen?« Er nickte nur und würgte. »Vom Militär?« Er nickte wieder. Sie schwieg. Er schwieg auch. Dick und drückend stand der Gedanke mit einemmal im Zimmer zwischen den Dingen und stieß sie alle zur Seite. Breit und klebrig saß er auf den angebrochenen Speisen. Er kroch, eine feuchte Schnecke, über ihren Nacken und machte sie schauern. Sie wagten einander nicht anzuschauen und saßen nur gebückt und stumm, die Last, die unerträgliche, dieses Gedankens über sich.
Etwas war zerbrochen in ihrer Stimme, als sie endlich fragte: »Haben sie dich auf das Konsulat bestellt?« – »Ja.« – »Und wirst du gehen?« Er zitterte. »Ich weiß nicht, aber ich muß doch.« –. »Warum mußt du? Sie können dir in der Schweiz nicht befehlen. Hier bist du frei.« Bös stieß er aus den gepreßten Zähnen: »Frei! Wer ist denn noch heute frei?« – »Jeder, der frei sein will. Und du am meisten. Was ist das? –« Sie riß das Papier, das er vor sich gelegt hatte, verächtlich weg. – »Was hat das für Kraft über dich, dieser Fetzen, beschmiert von einem armseligen Kanzleischreiber, über dich, den Lebendigen, den Freien? Was kann dir das anhaben?« – »Das Blatt nicht, aber der es sendet.« – »Wer sendet das? Welcher Mensch? Eine Maschine, die große Menschenmordmaschine. Aber dich kann sie nicht fassen.« – »Sie hat Millionen gefaßt, warum gerade nicht mich?« – »Weil du nicht willst.« – »Auch sie haben nicht gewollt.« – »Aber sie waren nicht frei. Sie standen zwischen den Gewehren, und darum gingen sie. Aber keiner freiwillig. Keiner wäre aus der Schweiz in diese Hölle zurückgegangen.«
Sie hielt an in ihrer Erregung, weil sie sah, daß er sich quälte. Mitleid wie zu einem Kinde wogte in ihr auf. »Ferdinand,« sagte sie, indem sie sich an ihn lehnte, »versuche jetzt ganz klar zu denken. Du bist verschreckt, und ich verstehe, daß es verstört, wenn diese heimtückische Bestie einen plötzlich anspringt. Bedenke, wir haben diesen Brief doch erwartet. Hundertmal haben wir diese Möglichkeit beschlossen, und ich war stolz auf dich, weil ich wußte, du würdest ihn in Fetzen reißen und dich nicht hergeben dazu, Menschen zu morden. Weißt du nicht?« – »Ich weiß, Paula, ich weiß, aber ...« – »Nicht jetzt sprechen«, drängte sie. »Du bist irgendwie schon gepackt. Besinne dich an unsere Gespräche, an das Konzept, das du aufsetztest – links liegt es in der Schreibtischlade – und wo du erklärtest, nie eine Waffe zur Hand zu nehmen. Du warst ganz fest entschlossen ...« Er warf sich auf. »Nie war ich fest! Nie war ich sicher. Alles das war Lüge, ein Verstecken vor meiner Angst. Ich habe mich berauscht mit diesen Worten. Aber das war alles nur wahr, solange ich frei war, und ich habe immer gewußt, wenn sie mich rufen, so werde ich schwach. Meinst du, ich habe vor ihnen gezittert? Sie sind doch nichts – solange sie nicht in mir wirklich sind, sonst sind sie ja Luft, Wort, ein Nichts. Aber vor mir habe ich gezittert, denn ich wußte immer, sobald sie mich rufen, würde ich gehn.« – »Ferdinand, du willst gehn?« – »Nein, nein, nein,« stampfte er auf, »ich will nicht, ich will nicht, nichts will in mir. Aber gegen meinen eigenen Willen werde ich gehn. Das ist ja das Entsetzliche ihrer Macht, daß man ihnen dient gegen seinen Willen, gegen seine Überzeugung. Wenn man noch Willen hätte – aber kaum, daß man so ein Blatt in Händen hat, dann ist der Wille aus einem fort. Man gehorcht. Man ist der Schulknabe: der Lehrer ruft, man steht auf und zittert.« – »Aber Ferdinand, wer ruft denn? Das Vaterland? Ein Schreiber! Ein gelangweilter Bureauknecht! Und dann, selbst der Staat hat kein Recht, einen zum Mord zu zwingen, kein Recht ...« – »Ich weiß, ich weiß. Jetzt zitiere noch Tolstoi! Ich weiß doch alle Argumente: verstehst du denn nicht, ich glaube ja nicht, daß sie ein Recht haben, mich zu rufen, nicht, daß ich eine Pflicht habe, ihnen zu folgen. Ich kenne nur eine Pflicht, die heißt, ein Mensch zu sein und zu arbeiten. Ich habe kein Vaterland jenseits der Menschheit, keinen Ehrgeiz, Menschen zu töten, ich weiß alles, Paula, ich sehe alles so klar wie du – nur, sie haben mich eben schon, sie rufen mich, und ich weiß, trotz allem und allem ich werde kommen.« – »Warum? Warum? Ich frage dich: warum?« Er stöhnte: »Ich weiß nicht. Vielleicht weil der Wahnsinn jetzt in der Welt stärker ist als die Vernunft. Vielleicht weil ich kein Held bin, eben deshalb wage ich nicht zu fliehen ... Man kann das nicht erklären. Es ist irgendein Zwang: ich kann nicht die Kette zerbrechen, die zwanzig Millionen Menschen erwürgt. Ich kann nicht.«
Er barg das Gesicht in den Händen. Die Uhr ging über ihnen schrittauf, schrittab, ein Wachtposten vor dem Schilderhaus der Zeit. Sie zitterte leise. »Es ruft dich, das verstehe ich, obwohl ich es nicht verstehe. Aber hörst du einen Ruf nicht auch von hier? Hält dich hier nichts?« Er fuhr auf. »Meine Bilder? Meine Arbeit? Nein! Ich kann nicht mehr malen. Ich habe das heute gespürt. Ich lebe schon drüben und nicht mehr hier. Es ist Verbrechen, jetzt für sich zu arbeiten, während eine Welt in Trümmer geht. Man darf nicht mehr für sich fühlen, für sich allein leben!«
Sie stand auf und wandte sich ab. »Ich habe es nicht geglaubt, daß du für dich allein lebst. Ich glaubte ... ich glaubte, ich sei für dich auch ein Stück Welt.« Sie konnte nicht weiter sprechen, ihre Tränen drängten sich zwischen die Worte. Er wollte sie beruhigen. Aber ein Zorn stand hinter ihren Tränen, vor dem er zurückschrak. »Geh,« sagte sie, »geh doch! Was bin ich dir? Nicht soviel wie ein Fetzen Papier. So geh doch, wenn du willst.«
»Ich will ja nicht«, schlug er auf mit den Fäusten in ohnmächtiger Wut. »Ich will ja nicht. Aber sie wollen. Und sie sind stark, und ich bin schwach. Sie haben ihren Willen seit tausenden Jahren gehärtet, sie sind organisiert und raffiniert, sie haben sich vorbereitet, und auf uns fällt es wie ein Donner. Sie haben Willen, und ich habe Nerven. Es ist ein ungleicher Kampf. Man kann nicht an wider eine Maschine. Wären es Menschen, man könnte sich wehren. Aber es ist eine Maschine, eine Metzgermaschine, ein seelenloses Werkzeug ohne Herz und Vernunft. Man kann nicht wider sie.«
»Ja, man kann, wenn man muß.« Sie schrie jetzt wie eine Rasende. »Ich kann, wenn du nicht kannst! Bist du schwach, ich bin es nicht, ich knicke nicht ein vor so einem Wisch, ich gebe nichts Lebendiges gegen ein Wort. Du wirst nicht gehen, solange ich Macht habe über dich. Du bist krank, ich kann es beschwören. Du bist ein Nervenmensch. Wenn ein Teller klirrt, zuckst du zusammen. Jeder Arzt muß das sehen. Laß dich hier untersuchen, ich werde mit dir gehen, ich werde ihm alles sagen. Man gibt dich gewiß frei. Man muß sich nur wehren, nur den Willen fest zwischen die Zähne nehmen. Erinnere dich an Jeannot, deinen Pariser Freund: drei Monate hat er sich im Irrenhaus beobachten lassen, sie haben ihn gefoltert mit ihrer Untersuchung, aber er hat durchgehalten, bis sie ihn freiließen. Man muß nur zeigen, daß man nicht will. Man darf sich nicht ergeben. Es geht doch um das Ganze: vergiß nicht, man will an dein Leben, an deine Freiheit, an alles. Da muß man sich wehren.«
»Wehren! Wie kann man sich wehren? Sie sind stärker als alle, sie sind die Stärksten der ganzen Welt.«
»Das ist nicht wahr! Nur solange die Welt will, sind sie stark. Der einzelne ist immer stärker als der Begriff, aber er muß nur er selbst bleiben, sein eigener Wille. Er muß nur wissen, daß er Mensch ist und es bleiben will, dann sind diese Worte um ihn, mit denen man die Leute jetzt chloroformiert, dann sind: Vaterland, Pflicht, Heldentum bloß Phrasen, die nach Blut stinken, nach warmem, lebendigem Menschenblut. Sei aufrichtig, ist dir dein Vaterland so wichtig wie dein Leben? Eine Provinz, die den erlauchten Monarchen wechselt, so lieb wie deine rechte Hand, mit der du malst? Glaubst du an eine Gerechtigkeit außer an die unsichtbare, die wir in uns bauen mit unsern Gedanken und unserm Blut? Nein, ich weiß es, nein! Darum bist du ein Lügner gegen dich selbst, wenn du gehen willst ...«
»Ich will ja nicht ...«
»Nicht genug! Du willst überhaupt nicht mehr. Du läßt dich wollen, und das ist dein Verbrechen. Du gibst dich hin an etwas, was du verabscheust, und setzt dafür dein Leben ein. Warum nicht lieber für etwas, das du bekennst? Das Blut für den eigenen Gedanken – gut! Aber warum für den fremden? Ferdinand, vergiß nicht, wenn du genug willst, um frei zu bleiben, was sind sie da drüben: böse Narren! Willst du nicht genug und kriegen sie dich, bist du selbst der Narr. Du hast mir immer gesagt ...«
»Ja, gesagt habe ich, alles gesagt, geschwätzt und geschwätzt, um mir selbst Mut zu machen. Ich habe groß geredet, wie die Kinder im finstern Wald singen aus Furcht vor ihrer Furcht. Lüge war das alles, jetzt spür' ich's grauenhaft klar. Denn ich habe immer gewußt, wenn sie mich rufen, so gehe ich ...«
»Du gehst? Ferdinand! Ferdinand!«
»Nicht ich! Nicht ich! Etwas in mir geht – es ist schon gegangen. Irgend etwas steht auf in mir wie der Schulknabe vor dem Lehrer, ich sagte es dir ja, und zittert und gehorcht! Und dabei höre ich alles, was du sagst, und ich weiß, es ist richtig und wahr und menschlich und notwendig – es ist das einzige, was ich tun soll und muß – ich weiß es und weiß es, und darum ist es ja so niederträchtig, daß ich gehe. Aber ich gehe, irgend etwas hat mich! Verachte mich nur! Ich verachte mich ja selbst. Aber ich kann nicht anders, ich kann nicht!«
Er hämmerte mit beiden Fäusten auf den Tisch vor sich hin. Etwas Stumpfes, Tierisches, Gefangenes war in seinem Blick. Sie konnte ihn nicht ansehen. Ihre Liebe fürchtete sich, ihn zu verachten. Auf dem noch gedeckten Tisch stand das Fleisch, kalt und wie totes Aas, das Brot schwarz und zerkrümmt wie Schlacken. Schwüler Dunst von Speisen füllte das Zimmer. Ekel stieg ihr in die Kehle, Ekel vor allem. Sie stieß das Fenster auf. Luft brach ein; über ihre Schultern, die leise zuckenden, hob sich der märzblaue Himmel, und weiße Wolken streiften um ihr Haar.
»Sieh,« sagte sie leiser, »sieh da hinaus! Einmal nur, ich bitte dich darum. Vielleicht ist alles, was ich sage nicht ganz wahr. Worte gehen ja immer daneben. Aber das, was ich sehe, ist doch wahr. Das lügt nicht. Da drunten geht ein Bauer hinter dem Pflug, er ist jung und stark. Warum läßt er sich nicht morden? Weil sein Land nicht Krieg hat, weil sein Acker um sechs Striche weiter drüben liegt, gilt das Gesetz nicht für ihn. Und du bist jetzt in diesem Land, so gilt es auch nicht für dich. Kann ein Gesetz, ein unsichtbares, wahr sein, das nur bis zu ein paar Meilensteinen gilt und jenseits ihrer nicht mehr? Spürst du nicht das Sinnlose, wenn du in diesen Frieden da blickst? Ferdinand, sieh, wie klar der Himmel ist über dem See, die Farben, sieh, wie sie warten, daß man ihrer sich freue, komm her ans Fenster und sag' mir dann noch einmal, du willst gehen ...«
»Ich will ja nicht! Ich will ja nicht! Du weißt es ja! Warum soll ich das noch sehen? Ich weiß doch alles, alles, alles! Du quälst mich ja nur! Jedes Wort tut mir weh, das du sagst. Und nichts, nichts, nichts hilft mir doch!«
Sie fühlte sich schwach werden vor seinem Schmerz. Mitleid zerbrach ihre Kraft. Leise wandte sie sich um.
»Und wann ... Ferdinand ... wann ... sollst du auf das Konsulat?«
»Morgen! Eigentlich gestern schon. Aber der Brief hat mich nicht gefunden. Erst heute haben sie mich aufgespürt. Morgen muß ich kommen.«
»Und wenn du morgen nicht kommst? Laß sie doch warten. Sie können dir hier nichts tun. Uns eilt es ja nicht. Laß sie acht Tage warten. Ich schreibe ihnen, du seiest krank, du lägest im Bett. Mein Bruder hat es auch so gemacht und hat vierzehn Tage so gewonnen. Im ärgsten Falle glauben sie dir nicht und schicken den Konsulatsarzt herauf. Mit dem kann man vielleicht reden. Menschen, die keine Uniform anhaben, sind immer mehr Menschen. Vielleicht sieht er deine Bilder und sieht ein, daß so jemand nicht an die Front gehört. Und hilft es nichts, so sind wenigstens acht Tage gewonnen.«
Er schwieg, und sie spürte, das Schweigen war wider sie.
»Ferdinand, versprich mir's, daß du nicht schon morgen gehst! Laß sie warten. Man muß innerlich vorbereitet sein. Jetzt bist du verstört, und sie machen mit dir, was sie wollen. Morgen wären sie die Stärkeren. In acht Tagen wirst du es sein. Denke an die guten Tage, die wir dann haben werden. Ferdinand, Ferdinand, hörst du?«
Sie rüttelte ihn auf. Leeren Blickes sah er sie an. Nichts von ihren Worten stand in diesem stumpfen verlorenen Blick. Nur Grauen und Angst aus einer Tiefe, die sie nicht kannte. Allmählich erst faßte er sich zusammen.
»Du hast recht«, sagte er endlich. »Du hast recht. Es eilt ja nicht. Was können sie mir tun? Du hast recht. Ich gehe bestimmt morgen nicht hin. Auch übermorgen nicht. Du hast recht. Muß der Brief mich denn gefunden haben? Kann ich nicht einen Ausflug gemacht haben? Darf ich nicht krank sein? Nein – ich habe dem Postboten ja unterschrieben. Aber das macht nichts. Du hast recht. Man muß sich besinnen! Du hast recht. Du hast recht!«
Er war aufgestanden und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Du hast recht, du hast recht«, wiederholte er mechanisch, aber es war keine Überzeugung darin. »Du hast recht, du hast recht« – ganz abwesend, ganz stumpfsinnig wiederholte er immer das Wort. Sie spürte, seine Gedanken waren anderswo, ganz weit von hier, immer schon bei denen drüben, immer schon im Verhängnis. Sie konnte es nicht mehr hören, dieses ewige »Du hast recht, du hast recht«, das nur von den Lippen kam. Leise ging sie hinaus. Und hörte ihn noch stundenlang innen auf und ab gehen wie einen Gefangenen in seinem Kerker.
Auch abends rührte er das Essen nicht an. Etwas Starres, ganz Abwesendes war in ihm. Und erst nachts, an ihrer Seite fühlte sie das Lebendige seiner Angst; er klammerte sich an ihren weichen warmen Leib, als wollte er sich an ihn flüchten, umpreßte sie heiß und zuckend. Aber sie wußte, es war nicht Liebe, sondern Flucht. Ein Krampf war es, und unter seinen Küssen spürte sie eine Träne, bitter und salzig. Dann lag er wieder stumm. Manchmal hörte sie ihn stöhnen. Dann hielt sie ihm die Hand herüber, und er faßte sie, als könnte er sich daran halten. Sie sprach nicht; nur einmal, da sie ihn schluchzen hörte, versuchte sie ihn zu trösten. »Du hast noch acht Tage. Denke nicht daran.« Aber sie schämte sich selbst, daß sie ihm riet, anderes zu denken, denn sie spürte an dem Kalten seiner Hand, an dem springenden Gang seines Herzens, daß nur dieser eine Gedanke ihn besaß und befehligte. Und daß es kein Wunder gab, ihn davon zu erlösen.
Nie war das Schweigen, nie das Dunkel so schwer gewesen in diesem Hause. Das Grauen der ganzen Welt stand kalt zwischen den Wänden. Nur die Uhr ging unbeirrt weiter, der eiserne Wachtposten, schrittauf, schrittab, und sie wußte, daß mit jedem Schritt der Mensch, der geliebte lebendige Mensch an ihrer Seite ihr ferner wurde. Sie konnte es nicht mehr ertragen, sprang auf und hielt den Pendel an. Jetzt gab es keine Zeit mehr, nur Grauen und Schweigen. Und sie lagen beide stumm und wach bis in den neuen Tag, einer neben dem andern, und der Gedanke ging auf und nieder in ihren Herzen.
Es war noch winterhaft dämmrig, Rauhreif überschwebte in schweren Schwaden den See, als er aufstand, rasch die Kleider umwarf, zögernd und ungewiß von einem Zimmer in das andere hastete und wieder zurück, bis er plötzlich nach Hut und Mantel griff und leise die Tür des Hauses auf tat. Später erinnerte er sich noch oftmals des Zitterns seiner Hand, wie sie an den frostkalten Riegel rührte und er sich scheu dabei umwandte, ob keiner ihn erspähe. Und wirklich, wie gegen einen schleichenden Dieb sprang der Hund gegen ihn auf, duckte sich aber, ihn erkennend, zärtlich unter seiner Liebkosung, umwedelte ihn dann wild, der Begleitung begierig. Aber er scheuchte ihn zurück mit der Hand – zu sprechen wagte er nicht. Und dann, selbst unwissend um seine Hast, eilte er plötzlich den Saumweg hinab. Manchmal blieb er noch stehen, sah zurück zu dem Haus, das langsam im Nebel sich verlor, aber dann riß es ihn weiter, er lief, stolperte über Steine, als ob jemand ihn jagte, zur Station hinab, und dort erst blieb er stehen, aus den nassen Kleidern dampfend und Schweiß auf der Stirne.
Ein paar Bauern und kleine Leute standen dort, die ihn kannten. Sie grüßten ihn, einer oder der andere schien nicht übel gelaunt, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, aber er bog sich vor ihnen zurück. Eine schamhafte Angst war in ihm, mit Menschen jetzt sprechen zu müssen, und doch tat dies leere Warten vor den nassen Schienen ihm weh. Ohne zu wissen, was er begann, stellte er sich auf die Wage, warf ein Geldstück ein, starrte auf dem kleinen Spiegel über den Zeigern in sein fahles, schweißnaß dampfendes Gesicht, und erst wie er niederstieg und das Geldstück innen niederklirrte, merkte er, daß er vergessen, nach der Zahl zu schauen. »Ich bin wahnsinnig, ganz wahnsinnig«, murmelte er leise. Ein Grauen kam ihn an vor sich selbst. Er setzte sich nieder auf eine Bank und wollte sich zwingen, alles klar zu überdenken. Aber da hämmerte hart neben ihm die Signalglocke, er fuhr auf. Und schon schrie die Lokomotive aus der Ferne. Der Zug brauste her, er warf sich in ein Coupé. Eine Zeitung lag schmutzig auf der Erde. Er hob sie auf, starrte hinein, ohne zu wissen, was er las, und sah nur seine eigenen Hände, die sie hielten und immer mehr zitterten.
Der Zug hielt. Zürich. Er schwankte hinaus. Er wußte, wohin es ihn riß, und spürte den eigenen Willen dawider, aber schwach und immer schwächer, Hie und da versuchte er noch kleine Kraftproben. Er stellte sich vor ein Plakat und zwang sich, es zu lesen von oben bis unten, um sich zu beweisen, daß er frei sich gebiete. »Ich habe ja keine Eile«, sagte er sich halblaut, aber noch das Wort zwischen den murmelnden Lippen, riß es ihn schon fort. Wie ein Motor war in ihm diese brennende Nervosität, diese stoßende Ungeduld, die ihn vorwärts trieb. Hilflos sah er sich um nach einem Auto. Die Beine zitterten ihm. Eines stieß vorbei. Er rief es an. Wie ein Selbstmörder in den Fluß warf er sich hinein. Und nannte noch den Namen: die Straße des Konsulats.
Das Auto surrte. Er lehnte sich zurück, die Augen geschlossen. Ihm war, als sause er in einen Abgrund, und fühlte doch eine leise Wollust in der Geschwindigkeit, mit der ihn das Fahrzeug in sein Schicksal riß. Es tat ihm wohl, passiv dabei zu sein. Schon hielt er, der Wagen. Er stieg aus, zahlte und stieg in den Lift, irgendwie wiederholte sich das Lustgefühl, so mechanisch gefahren und gehoben zu sein. Als wäre er nicht es selbst, der all dies tat, sondern sie, die Macht, die unbekannte, unfaßbare, die ihn zwang.
Die Tür des Konsulats war versperrt. Er läutete. Keine Antwort. Heiß zuckte es in ihm auf: zurück, rasch fort, die Treppen hinunter! Aber er läutete nochmals. Ein Schritt kam langsam von innen geschlurft. Ein Diener tat umständlich auf, hemdärmlig, das Staubtuch in der Hand. Offenbar räumte er die Bureaus zusammen. »Was wollen Sie denn ...«, fuhr er ihn unwirsch an. »In das Konsulat ... ich ... ich bin bestellt«, stammelte er, schon rückstürzend in seine Scham, vor dem Diener zu stottern.
Der Diener drehte sich frech beleidigt um. »Können Sie nicht lesen unten an der Tafel: ›Amtsstunden von 10–12.‹ Jetzt ist niemand da.« Und ohne ein Wort abzuwarten, schlug er die Türe zu.
Ferdinand stand da und zuckte in sich zusammen. Grenzenlose Scham fiel ihm ins Herz. Er sah auf die Uhr. Es war sieben Uhr zehn Minuten. »Wahnsinnig! Ich bin wahnsinnig«, stammelte er. Und zitterte die Treppen hinab wie ein Greis.
Zweieinhalb Stunden – entsetzlich war ihm diese tote Zeit, denn er spürte, daß mit jeder Minute des Wartens ihm etwas von seiner Kraft entglitt. Jetzt war er gespannt gewesen und bereit, er hatte alles vorberechnet, jedes Wort an seinen Platz gestellt, die ganze Szene innerlich vorgebaut, und jetzt fiel zwischen ihn und seine bereite Kraft dieser eiserne Vorhang zweier Stunden. Schreckhaft spürte er, wie die ganze Hitze in ihm verrauchte, Wort für Wort aus seinem Gedächtnis wegwischte, wie sie einander überstürzten und sich stießen in nervöser Flucht.
So hatte er es sich gedacht: er würde auf das Konsulat gehen und sich dort sofort dem Referenten für Militärangelegenheiten melden lassen, den er flüchtig kannte. Einmal hatte er ihn bei Freunden kennengelernt und mit ihm über Gleichgültiges gesprochen. Immerhin aber, er kannte seinen Widerpart, einen Aristokraten, elegant, weltmännisch und eitel auf seine Bonhomie, der gerne großmütig tat und es sich angelegen sein ließ, nicht als Beamter zu scheinen. Diesen Ehrgeiz hatten sie ja alle, sie wollten irgendwie als Diplomaten, als souveräne Persönlichkeiten genommen werden, und hier beabsichtigte er einzusetzen: sich anmelden lassen, gesellschaftlich höflich, zuerst von allgemeinen Dingen sprechen und nach der Frau Gemahlin sich erkundigen. Der Referent würde ihm gewiß Platz anbieten und eine Zigarette und dann schließlich in sein Schweigen höflich fragen: »Womit kann ich Ihnen dienen?« Der andere müßte ihn fragen, das war wichtig und nicht zu vergessen. Und darauf würde er antworten, ganz kühl und indifferent: »Ich habe da ein Schreiben erhalten, ich möchte zur Untersuchung nach M. hinüberfahren. Das muß wohl ein Irrtum sein, ich bin seinerzeit ausdrücklich für dienstuntauglich erklärt worden.« Ganz kühl müßte er das sagen, man sollte gleich sehen, daß er die ganze Sache als eine Bagatelle betrachte. Der Referent würde darauf – er kannte schon seine lässige Art – das Papier nehmen und ihm erklären, es handle sich da um eine neue Überprüfung, er hätte doch in den Zeitungen längst die Aufforderung lesen müssen, daß auch die seinerzeit Zurückgestellten sich abermals zu melden hätten. Darauf würde er dann, wieder ganz kühl, gleichsam achselzuckend sagen: »Ach so! Ich lese ja keine Zeitungen, ich habe keine Zeit dazu. Ich habe zu arbeiten.« Gleich müßte der andere sehen, wie gleichgültig ihm der ganze Krieg sei, wie souverän und frei er sich empfinde. Natürlich würde ihm der Referent dann erklären, er müsse dieser Aufforderung Folge leisten, es sei ihm ja persönlich leid, aber die Militärbehörden und so weiter .. Jetzt wäre es dann an der Zeit, energisch zu werden. »Ich verstehe,« müßte er sagen, »aber mir ist es jetzt ganz unmöglich, meine Arbeit zu unterbrechen. Ich habe eine Gesamtausstellung meiner Bilder vereinbart und darf den Mann nicht im Stiche lassen. Mein Wort ist verpfändet.« Und würde dann dem Referenten vorschlagen, entweder ihm den Termin zu verlängern oder sich hier vom Konsulatsarzt neuerlich untersuchen zu lassen.
Bis hieher war alles ganz sicher. Erst von hier an gabelten sich die Möglichkeiten. Entweder würde der Referent glatt darauf eingehen, dann war jedenfalls Zeit gewonnen. Wenn er aber höflich – mit jener kalten, ausweichenden und plötzlich amtlich werdenden Höflichkeit –ihm erklären sollte, dies sei jenseits seiner Kompetenz und nicht statthaft, dann galt es, entschlossen zu sein. Er müßte zunächst aufstehen, an den Tisch treten und mit fester Stimme sagen, aber ganz, ganz fest, mit unbeugsamer, von innen kommender Entschlossenheit: »Ich nehme es zur Kenntnis, bitte aber protokollarisch zu vermerken, daß ich durch meine ökonomischen Verpflichtungen gehindert bin, der Einberufung sofort Folge zu leisten, und sie auf meine eigene Gefahr um drei Wochen verschiebe, bis ich diesem moralischen Zwange Genüge getan habe. Ich denke selbstverständlich nicht daran, mich meiner vaterländischen Pflicht zu entziehen.« Auf diese mühsam ausgedachten Sätze war er ganz besonders stolz. »Protokollarisch zu vermerken«, »ökonomische Verpflichtungen« – das klang so sachlich und amtlich. Sollte der Referent ihn dann auf die Rechtsfolgen noch aufmerksam machen, dann wäre es Zeit, den Ton noch etwas schärfer zu spannen und die Sache kühl zu erledigen: »Ich kenne das Gesetz und bin mir der Rechtsfolgen bewußt. Aber mein gegebenes Wort ist mir das oberste Gesetz, und um es einzulösen, muß ich jede Schwierigkeit auf mich nehmen.« Dann rasch sich verbeugen, das Gespräch damit quer durchschneiden und zur Türe gehen! Sie mußten sehen, daß er kein Arbeiter oder Lehrjunge sei, der warte, bis man ihn verabschiede, sondern einer, der selbst bestimme, wann für ihn eine Konversation zu Ende sei.
Dreimal sagte er sich im Aufundabgehen diese Szene her. Der ganze Aufbau, der Ton gefiel ihm ausgezeichnet, er war schon ungeduldig auf die Stunde wie der Schauspieler auf sein Stichwort. Nur die eine Stelle sagte ihm noch nicht recht zu: »Ich denke nicht, mich der vaterländischen Pflicht zu entziehen.« Irgendeine patriotische Höflichkeit müßte ja unbedingt im Gespräch sein, unbedingt, damit man sehen solle, er sei nicht renitent, aber doch nicht bereit, er erkenne zwar – vor ihnen natürlich nur – die Notwendigkeit an, aber nicht für sich. »Vaterländische Pflicht« – das Wort war aber doch zu papieren, zu abgelesen. Er überlegte. Vielleicht: »Ich weiß, daß das Vaterland meiner bedarf.« Nein, das war noch lächerlicher. Oder besser: »Ich gedenke nicht, mich dem Ruf des Vaterlandes zu entziehen.« Das war besser. Aber doch, diese Stelle gefiel ihm nicht. Sie war zu servil, die Verbeugung um einige Zentimeter zu tief. Er überlegte weiter. Am besten ganz einfach: »Ich weiß, was meine Pflicht ist« – ja, das war das Richtige, das konnte man nach innen und nach außen wenden, verstehen oder mißverstehen. Und das klang knapp und klar. Das konnte man ganz diktatorisch sagen: »Ich weiß, was meine Pflicht ist« – wie eine Drohung fast. Jetzt war alles richtig. Aber doch: er sah wieder nervös auf die Uhr. Die Zeit wollte nicht vorwärts gehen. Es war erst acht Uhr.
Die Straße stieß ihn herum, er wußte nicht, wohin mit sich. So ging er in ein Café, versuchte die Zeitungen zu lesen. Aber er fühlte, wie die Worte ihn störten, auch da stand überall von Vaterland und Pflicht, und diese Phrasen verwirrten sein Konzept. Er trank einen Kognak und noch einen zweiten, um den bitteren Geschmack in der Kehle loszuwerden. Krampfhaft dachte er nach, wie er die Zeit überrennen könnte, und preßte dabei die Brocken des imaginären Gesprächs immer wieder zusammen. Plötzlich griff er sich an die Wange: »Unrasiert, ich bin ja unrasiert!« Er eilte hinüber zum Friseur, ließ sich die Haare schneiden und waschen, das nahm eine halbe Stunde Warten weg. Und dann, es war ihm eingefallen, elegant müsse er aussehen. Das war wichtig dort. Nur gegen arme Teufel waren sie hochmütig, die schnauzten sie an, aber wenn man elegant auftrat, weltmännisch und leicht, dann legten sie gleich die andere Walze ein. Der Gedanke berauschte ihn. Er ließ sich den Rock bürsten, ging sich Handschuhe kaufen. Bei der Wahl überlegte er lange. Gelbe, das war irgendwie zu provokant, zu gigerlhaft; diskret perlgrau, das wirkte eher. Dann irrte er wieder auf der Straße. Vor dem Spiegel eines Schneiders sah er sich an, rückte sich die Kravatte zurecht. Die Hand war noch zu leer, ein Spazierstock, fiel ihm ein, das gibt einem Besuch so etwas Gelegentliches, etwas Gleichgültiges. Rasch lief er noch hinüber und wählte einen aus. Als er aus dem Laden trat, schlug es dreiviertel zehn vom Turm. Noch einmal memorierte er seine Lektion. Ausgezeichnet. Die neue Fassung: »Ich weiß, was meine Pflicht ist«, war jetzt die stärkste Stelle. Ganz sicher, ganz fest schritt er aus und lief die Treppen hinauf, leicht wie ein Knabe.
Eine Minute später, kaum daß der Diener die Tür geöffnet hatte, beklemmte ihn schon das jäh aufsteigende Gefühl, seine Rechnung möchte eine irrige sein. Nichts geschah nach seiner Erwartung. Als er nach dem Referenten fragte, wurde ihm bedeutet, der Herr Sekretär habe Besuch. Er müsse warten. Und eine wenig höfliche Gebärde deutete auf einen Sessel inmitten der Reihe, wo schon drei andere mit gedrückten Gesichtern saßen. Unwillig nahm er Platz, er spürte feindselig, daß er hier Angelegenheit sei, eine Erledigung, ein Fall. Die nebenan erzählten einander ihre kleinen Schicksale; der eine, mit einer weinerlichen und ganz zerkneteten Stimme, wie er in Frankreich zwei Jahre interniert gewesen wäre und daß man ihm hier kein Geld zur Heimreise vorstrecken wolle, der andere klagte, man sei ihm nirgends behilflich zu einem Posten, und er habe drei Kinder. Ferdinand erbebte innerlich vor Zorn: auf eine Bittstellerbank hatte man ihn gesetzt, und er merkte, daß die gedrückte und doch aufmuckerische Art dieser kleinen Menschen ihn irgendwie irritierte. Er wollte das Gespräch noch einmal überdenken, aber diese dummen Redereien querten ihm mitten durch die Gedanken. Am liebsten hätte er sie angeschrien: »Schweigt, Gesindel!« oder Geld aus der Tasche geholt, sie heimzuschicken, aber sein Wille war ganz lahm, und den Hut in der Hand wie sie alle, saß er mit ihnen. Dazu verwirrte ihn das ewige Kommen und Gehen von Leuten türaus und türein, er fürchtete bei jedem, ein Bekannter möchte ihn hier auf der Bittstellerbank sehen, und sprang doch innerlich schon auf in Bereitschaft, wann immer ein Türflügel sich auftat, und duckte sich dann wieder enttäuscht. Immer deutlicher war ihm, er müsse jetzt fortgehen, rasch flüchten, ehe seine Energie ihm ganz entglitt. Einmal raffte er sich zusammen, stand auf und sagte zu dem Diener, der wie ein Wachtposten neben ihnen stand: »Ich kann ja morgen wieder kommen.« Aber der Diener beruhigte ihn: »Der Herr Sekretär wird gleich frei sein«, und schon knickten ihm die Knie ein. Er war gefangen hier, es gab keinen Widerstand.
Endlich rauschte eine Dame heraus, lächelnd und eitel, mit einem überlegenen Blick vorbei an den Wartenden, und schon rief der Diener: »Der Herr Sekretär sind jetzt frei.« Ferdinand stand auf, zu spät bemerkte er, daß er den Spazierstock und die Handschuhe auf das Fensterbrett gelegt hatte, aber zurückgehen konnte er nicht mehr, die Türe war schon offen, und den Blick halb zurück, verwirrt von den äußerlichen Gedanken, trat er ein. Der Referent saß lesend am Schreibtisch, jetzt sah er flüchtig auf, nickte ihm zu, und ohne den Wartenden zum Sitzen einzuladen, lächelte er höflich kalt: »Ah, unser Magister artium. Gleich, gleich«, stand auf, rief ins Nebenzimmer: »bitte den Akt Ferdinand R..., der vorgestern erledigt wurde, Sie wissen ja, Stellungsbefehl nachgesandt« und sagte, schon wieder sich setzend: »Auch Sie verlassen uns wieder! Nun, hoffentlich haben Sie hier in der Schweiz eine schöne Zeit gehabt. Sehen übrigens prächtig aus«, und schon den Akt, den ihm der Schreiber brachte, flüchtig durchblätternd: Einrückung M... ja ... ja ... stimmt ... alles in Ordnung ... ich habe schon die Papiere ausstellen lassen ... Vergütung der Reisekosten erheben Sie wohl nicht?« Ferdinand stand unsicher und hörte seine Lippen stammeln: »Nein ... nein.« Der Referent unterschrieb das Blatt, reichte es ihm hin. »Eigentlich sollten Sie ja schon morgen fahren, aber so hitzig wird es wohl nicht sein. Lassen Sie nur die Farben trocknen auf dem letzten Meisterwerk. Wenn Sie noch ein oder zwei Tage zum Ordnen Ihrer Angelegenheiten brauchen, das nehme ich auf meine Kappe. Darauf kommt es dem Vaterland ja nicht an.« Ferdinand spürte, daß das ein Witz war, zu dem man lächeln müßte, und spürte wirklich schon mit innerm Entsetzen, daß sich seine Lippen höflich krümmten. »Etwas sagen, ich muß jetzt etwas sagen,« arbeitete es in ihm, »nicht so dastehen wie ein Stock«, und endlich rang es sich ihm heraus: »Die Einberufungsorder genügt ... ich brauche sonst ... keinen Paß?« »Nein, nein,« lächelte der Referent, »man wird Ihnen keine Schwierigkeiten an der Grenze machen. Sie sind übrigens schon angemeldet. Nun, gute Reise!« Er reichte ihm die Hand. Ferdinand spürte, daß er verabschiedet sei. Es wurde dunkel vor seinen Augen, rasch tastete er zur Türe, der Ekel erwürgte ihn. »Rechts, bitte rechts«, sagte die Stimme hinter ihm. Er war zur falschen Türe gegangen, und schon hielt ihm – mit einem leisen Lächeln, wie er mitten im Dunkel seiner Sinne zu erkennen glaubte – der Referent die richtige Ausgangstüre auf. »Danke, danke ... bitte bemühen Sie sich nicht«, stammelte er noch, selber rasend über seine überflüssige Höflichkeit. Und kaum draußen, als der Diener ihm Stock und Handschuhe reichte, fiel es ihm ein: »Ökonomische Verpflichtung ... protokollarisch zu vermerken.« Er schämte sich wie nie in seinem Leben: noch gedankt hatte er ihm, höflich gedankt! Aber selbst zu Zorn schwoll sein Gefühl nicht mehr auf. Blaß stieg er die Treppen hinab und fühlte nur, daß es nicht er selber war, der da ging. Daß schon die Macht, die fremde, die mitleidlose, ihn hatte, die eine ganze Welt unter ihre Füße getreten.
Spätnachmittags erst kam er nach Hause. Die Sohlen brannten ihm, stundenlang war er ziellos umhergeirrt und vor seiner eigenen Türe dreimal zurückgewichen; schließlich versuchte er von rückwärts her durch die Weinberge auf verdecktem Wege sich einzuschleichen. Aber der Hund, der getreue, hatte ihn erspäht. Mit wildem Gebell sprang er an ihm auf und umwedelte ihn leidenschaftlich. An der Tür stand seine Frau, und er sah auf den ersten Blick, daß sie alles wußte. Ohne Wort folgte er ihr, die Scham drückte ihm den Nacken.
Aber sie war nicht hart. Sie sah ihn nicht an, sichtlich vermied sie, ihn zu quälen. Sie stellte etwas kaltes Fleisch auf den Tisch, und als er sich folgsam hinsetzte, trat sie an seine Seite. »Ferdinand,« sagte sie, und ihre Stimme zitterte sehr, »du bist krank. Man kann jetzt nicht sprechen mit dir. Ich will dir keine Vorwürfe machen, du handelst doch jetzt nicht aus dir selbst heraus, und ich fühle, wie sehr du leidest. Aber das eine versprich mir, daß du nichts mehr unternimmst in dieser Sache, ohne dich vorher mit mir zu beraten.«
Er schwieg. Ihre Stimme wurde erregter.
»Ich habe mich nie in deine persönlichen Angelegenheiten gemengt, es war mein Ehrgeiz, dir immer die volle Freiheit deiner Entschließungen zu lassen. Aber du spielst jetzt nicht nur mit deinem Leben, sondern auch mit meinem. Wir haben Jahre gebraucht für unser Glück, und ich gebe es nicht so leicht her wie du, nicht an den Staat, nicht an den Mord, nicht an deine Eitelkeit und deine Schwäche. An niemanden, hörst du, an niemanden! Bist du schwach vor ihnen, ich bin es nicht. Ich weiß, um was es geht. Und ich gebe nicht nach.«
Er schwieg noch immer, und sein sklavisch schuldbewußtes Schweigen erbitterte sie allmählich. »Ich lasse mir nichts nehmen von einem Wisch Papier, ich erkenne kein Gesetz an, das im Mord endet. Ich lasse mich nicht ins Rückgrat knicken von einem Amt. Ihr Männer seid jetzt alle verderbt von Ideologien, ihr denkt Politik und Ethik, wir Frauen, wir fühlen noch geradeaus. Ich weiß auch, was Vaterland bedeutet, aber ich weiß, was es heute ist: Mord und Sklaverei. Man kann seinem Volke gehören, aber wenn die Völker wahnsinnig geworden sind, muß man es nicht mit ihnen sein. Bist du ihnen schon Zahl, Nummer, Werkzeug, Kanonenfutter, ich fühle dich noch als lebendigen Menschen, und ich verweigere dich ihnen. Ich gebe dich nicht her. Nie habe ich mir angemaßt, für dich zu bestimmen, aber jetzt ist es meine Pflicht, dich zu schützen; bisher warst du ja noch ein klarer, mündiger Mensch, der wußte, was er wollte, jetzt bist du schon so eine verstörte zerbrochene Pflichtmaschine mit abgetötetem Willen wie die Millionen Opfer draußen. Sie haben dich an den Nerven gefaßt, um dich zu kriegen, aber mich haben sie vergessen; nie war ich so stark wie jetzt.«
Er schwieg immer nur dumpf in sich hinein. In ihm war kein Widerstand, nicht gegen das andere, nicht gegen sie.
Sie reckte sich auf, wie einer, der sich zum Kampfe rüstet. Ihre Stimme war hart, straff, gespannt.
»Was haben sie dir gesagt auf dem Konsulat? Ich will es wissen.« Schon war es ein Befehl. Er nahm müde das Blatt und reichte es ihr hin. Sie las mit gefaltenen Brauen und biß die Zähne zusammen. Dann warf sie es verächtlich auf den Tisch.
»Eilig haben es die Herrschaften! Gleich morgen! Und du hast dich wahrscheinlich noch bedankt bei ihnen, die Hacken zusammengeklappt, schon ganz gehorsamst. ›Morgen sich stellig zu machen.‹ Stellig! Besser gesagt sklavisch. Nein, so weit ist es noch nicht! Noch lange nicht!«
Ferdinand stand auf. Er war blaß, und seine Hand krampfte sich an den Sessel. »Paula, täuschen wir uns nicht. Es ist so weit! Man kann nicht aus sich heraus. Ich habe versucht, mich zu wehren. Es ging nicht. Ich bin eben – dieses Blatt. Und wenn ich es auch zerreiße, ich bin es doch. Mache mir's nicht schwer. Es wäre ja doch keine Freiheit hier. Jede Stunde würde ich spüren, daß drüben etwas ruft, nach mir tastet, an mir zieht und zerrt. Drüben wird mir leichter sein; es gibt eine Freiheit wieder im Kerker selbst. Solange man noch draußen ist und sich flüchtig fühlt, nur so lange ist man noch unfrei. Und dann, warum gleich das Ärgste denken? Sie haben mich das erste Mal zurückgeschickt, warum nicht diesmal? Oder vielleicht geben sie mir keine Waffe, ich bin sogar dessen gewiß, ich bekomme irgendeinen leichten Dienst. Warum gleich das Ärgste denken? Es ist vielleicht gar nicht so gefährlich, vielleicht ziehe ich das weiße Los.«
Sie blieb hart. »Darum handelt es sich jetzt nicht mehr, Ferdinand. Nicht darum, ob sie dir leichten Dienst geben oder schweren. Sondern ob du jemandes Dienst zu nehmen hast, den du verabscheust, ob du mithelfen willst wider deine Überzeugung an dem größten Verbrechen der Welt. Denn jeder ist Mithelfer, der sich nicht weigert. Und du kannst es, darum mußt du es tun.«
»Ich kann es? Nichts kann ich! Nichts mehr! Alles, was mich früher stark machte, mein Abscheu, mein Haß, meine Empörung gegen diesen Widersinn, das drückt mich jetzt nieder. Quäl' mich nicht, ich bitte, quäle mich nicht, sage mir das nicht.«
»Nicht ich sage es. Du selbst mußt dir sagen, daß sie kein Recht haben über den lebendigen Menschen.«
»Recht! Ein Recht! Wo ist jetzt ein Recht in der Welt? Die Menschen haben es ermordet. Jeder einzelne hat sein Recht, aber sie, sie haben die Macht, und das ist jetzt alles.«
»Warum haben sie die Macht? Weil ihr sie ihnen gebt. Und nur solange ihr feig seid, haben sie die Macht. Dies alles, was eine Menschheit jetzt das Ungeheure nennt, besteht aus zehn Menschen voll Willen in allen Ländern, und zehn Menschen können es wieder zerstören. Ein Mensch, ein einziger lebendiger Mensch, der sie verneint, tötet die Macht. Aber solange ihr euch niederduckt und sagt: vielleicht rutsche ich durch, solange ihr ausbiegt und ihr durch die Finger gleiten wollt, statt sie ins Herz zu treffen, so lange seid ihr Knechte und verdient es nicht besser. Man darf nicht sich verkriechen, wenn man ein Mann ist; man muß ›nein‹ sagen, das ist heute die einzige Pflicht und nicht die, sich schlachten zu lassen.«
»Aber Paula ... was denkst du ... ich soll ...«
»Du sollst ›nein‹ sagen, wenn es in dir nein sagt. Du weißt, ich liebe dein Leben, ich liebe deine Freiheit, ich liebe deine Arbeit. Aber wenn du mir heute sagst, ich muß hinüber, mit dem Revolver Recht sprechen, und wenn ich weiß, du mußt es, so werde ich dir sagen: Geh! Aber wenn du gehst um einer Lüge willen, an die du selbst nicht glaubst, aus Schwäche und Nervosität, und aus Hoffnung, durchzurutschen, dann verachte ich dich, ja, ich verachte dich! Willst du gehen, ein Mensch für die Menschheit, für das, woran du glaubst, dann halte ich dich nicht. Aber um Bestie unter Bestien zu sein, Sklave unter Sklaven, da werfe ich mich wider dich. Man darf sich opfern für die eigene Idee, aber nicht für den Wahn der andern. Sollen die für das Vaterland sterben, die daran glauben ...«
»Paula!« Unwillkürlich hob er sich auf.
»Rede ich dir schon zu frei? Spürst du schon den Korporalstock hinter dir? Fürchte dich nicht! Wir sind noch in der Schweiz. Du möchtest, daß ich schweige oder dir sage: es wird dir nichts passieren. Aber jetzt ist keine Zeit mehr für Sentimentalitäten. Jetzt geht es um das Ganze und um mich und dich!«
»Paula!« Wieder versuchte er zu unterbrechen.
»Nein, ich habe kein Mitleid mehr mit dir. Ich habe dich als einen freien Menschen gewählt und geliebt. Und ich verachte Schwächlinge und Selbstbelüger. Warum soll ich Mitleid haben? Was bin ich dir denn? Ein Feldwebel schmiert einen Wisch Papier voll, und schon wirfst du mich weg und läufst ihm nach. Aber ich lasse mich nicht wegwerfen und dann wieder aufheben: jetzt entscheide dich! Sie oder ich! Verachtung wider sie oder wider mich! Ich weiß, daß Schweres über uns kommt, wenn du bleibst, ich werde nie mehr meine Eltern und Geschwister sehn, man sperrt uns die Rückkehr, aber ich nehme es auf mich, wenn du mit mir bist. Aber reißt du uns jetzt entzwei, so ist es für immer.«
Er stöhnte nur. Aber sie funkelte von zorniger Kraft.
»Ich oder sie! Ein drittes gibt es nicht! Ferdinand, besinne dich, solange es noch Zeit ist. Ich habe mich oft gekränkt, daß wir kein Kind hatten. Jetzt bin ich zum erstenmal dessen froh. Ich will von einem Schwächling kein Kind und mag keine Kriegswaise aufziehn. Nie habe ich mehr zu dir selbst gestanden als jetzt, da ich dir's schwer mache. Aber ich sage dir: das ist kein Gehen auf Probe. Das ist ein Abschied. Verläßt du mich, um einzurücken, um diesen uniformierten Mördern zu folgen, so gibt es keine Rückkehr. Ich teile nicht mit Verbrechern, ich teile einen Menschen nicht mit diesem Vampir, dem Staat. Er oder ich – du hast jetzt zu wählen.«
Er stand noch zitternd, als sie schon zur Tür schritt und sie hinter sich zuschlug. Der krachende Ruck stieß ihm bis in die Knie. Er mußte sich setzen und knickte in sich zusammen, dumpf und ratlos. Der Kopf fiel matt über die geballten Fäuste. Und endlich brach es aus ihm: er weinte wie ein kleines Kind.
Sie kam nicht mehr ins Zimmer den ganzen Nachmittag, aber er fühlte, daß außen ihr Wille stand, feindlich und bewehrt. Und wußte gleichzeitig um jenen andern Willen, der, ein stählernes Triebrad kalt unter die Brust getan, ihn von sich vorwärts trieb. Manchmal versuchte er einzelnes zu überdenken, aber die Gedanken glitten ihm weg, und während er starr und scheinbar nachdenklich saß, zerfloß das Letzte seiner Ruhe in eine brennende Nervosität. Er fühlte beide Enden seines Lebens gefaßt von übermenschlich zerrenden Kräften und wünschte nur: er risse inmitten entzwei.
Um sich zu beschäftigen, kramte er in den Tischladen, zerriß Briefe, starrte andere an, ohne ein Wort zu fassen, taumelte durch das Zimmer, setzte sich wieder hin, von Unrast auf-, von Müdigkeit wieder niedergedrängt. Und plötzlich ertappte er seine Hände, wie sie die notwendigen Dinge der Reise zusammenlegten, unter dem Sofa den Rucksack herausschleppten, und er starrte auf seine eigenen Hände, die alles dies zweckmäßig taten ohne seinen Willen. Er begann zu zittern, als der Rucksack dann plötzlich gepackt auf dem Tische stand, und die Schultern wurden ihm schwer, als lastete er schon auf ihnen und darin das ganze Gewicht der Zeit.
Die Tür ging. Seine Frau trat ein, die Petroleumlampe in der Hand. Auf den Tisch gestellt, überzitterte ihr runder Schein den vorbereiteten Sack. Schroff beleuchtet stand die verborgene Schmach jetzt aus dem Dunkel auf. Er stammelte: »Es ist nur für alle Fälle ... ich habe ja noch Zeit ... ich ... aber ein Blick, starr, steinern und maskenhaft, fiel über sein Wort und zerstieß es. Minuten starrte sie ihn an, grausam hart die gepreßte Lippe zwischen den Zähnen. Unbeweglich und schließlich leise schwankend wie vor einer Ohnmacht stieß sie den Blick in ihn hinein. Um ihre Lippen löste sich die Spannung. Aber sie wandte sich, ein Zucken lief ihre Schultern nieder, und ohne sich zurückzuwenden, ging sie von ihm.
Ein paar Minuten später kam das Mädchen und brachte das Essen für ihn allein. Der gewohnte Platz ihm zur Seite blieb frei, und als er, ungewissen Gefühles voll, hinblickte, erkannte er grausames Symbol: der Rucksack lag dort am Sessel. Ihm war, als sei er schon fort, schon gegangen, schon abgestorben für dieses Haus: dunkel standen die Wände, die der Lichtkreis der Lampe nicht mehr erfaßte, und draußen, hinter fremden Lichtern, drückte föhnige Nacht. Alles war still in der Ferne, und die Höhe des Himmels, unsäglich ausgespannt über die Tiefe, vermehrte nur das Gefühl der Einsamkeit. Er fühlte, wie Stück um Stück all dies ringsum, Haus, Landschaft, Werk und Weib in ihm abstarb, wie sein breitwogendes Leben plötzlich eintrocknete und um das schlagende Herz sich preßte. Bedürfnis nach Liebe, nach warmen gütigen Worten überkam ihn. Er fühlte sich bereit, allem Zuspruch nachzugeben, nur irgendwie wieder zurückzugleiten in das Vergangene. Wehmut überwogte die zuckende Unrast, und des Abschieds großes Gefühl erlosch in kindhafter Sehnsucht nach einer kleinen Zärtlichkeit.
Er ging zur Tür und rührte leise die Klinke. Sie gab nicht nach. Sie war verschlossen. Er klopfte zaghaft. Keine Antwort. Er klopfte nochmals. Sein Herz schlug mit. Alles schwieg. Nun wußte er: es war alles verspielt. Kalt fiel es ihn an. Er löschte das Licht, warf sich in den Kleidern auf das Sofa, hüllte sich in seine Decke: alles in ihm ersehnte jetzt Absturz und Vergessenheit. Einmal noch lauschte er auf. Ihm war, als hätte er Nahes vernommen. Er horchte nach der Türe, Starr stand sie im Holz. Nichts. Das Haupt stürzte ihn wieder nieder.
Da rührte ihn leise von unten etwas an. Er fuhr auf in Schreck, der rasch zu Rührung schwand. Der Hund, der mit der Magd hereingeschlichen und unter dem Sofa gelegen, drängte sich an ihn und leckte mit warmer Zunge die Hand. Und des Tieres unwissende Liebe durchdrang ihn groß, weil sie aus abgestorbenem Weltall kam, weil dies das Letzte war, was noch zu ihm gehörte von vergangenem Leben. Er beugte sich nieder und umschlang ihn wie einen Menschen. Irgend etwas auf Erden liebt mich noch und verachtet mich nicht, fühlte er, ihm bin ich noch nicht Maschine, nicht Mordwerkzeug, nicht williger Schwächling, sondern nur Wesen, durch Liebe verwandt. Immer wieder fuhr seine Hand zärtlich über das weiche Fell. Der Hund drängte sich enger an ihn, als wüßte er um seine Einsamkeit, beide atmeten sie leise und allmählich schon aus beginnendem Schlaf.
Als er aufwachte, war Frische in ihm und draußen vor dem spiegelnden Fenster Helligkeit eines blanken Morgens: der Föhnwind hatte das Dunkle von den Dingen genommen, und über dem See glänzte, weißer Umriß, die Kette der fernen Berge. Ferdinand sprang auf, ein wenig noch taumlig von den verschlafenen Stunden, und war ganz wach, da sein Blick den geschnürten Rucksack traf. Mit einemmal fiel ihm alles ein, aber es wog leicht jetzt im hellen Tag.
»Wozu habe ich das gepackt?« sagte er sich.
»Wozu? Ich denke doch nicht zu reisen. Es fängt ja jetzt der Frühling an. Ich will malen. So eilig wird es nicht sein. Er selbst hat mir doch gesagt, es hat einige Tage Zeit. Nicht einmal ein Tier läuft zur Schlachtbank. Meine Frau hat recht: es ist ein Verbrechen gegen sie, gegen mich, gegen alle. Es kann mir im letzten doch nichts geschehen. Ein paar Wochen Arrest vielleicht, wenn ich später einrücke, aber ist Dienst nicht auch Gefängnis? Ich bin nicht sozial ambitioniert, ja, ich empfinde es als eine Ehre, in dieser Zeit der Sklaverei ungehorsam gewesen zu sein. Ich denke nicht mehr daran, zu reisen. Ich bleibe da. Ich will die Landschaft mir erst malen, damit ich einmal weiß, wo ich glücklich war. Und ehe es nicht im Rahmen hängt, gehe ich nicht. Ich lasse mich nicht treiben wie eine Kuh. Ich habe keine Eile.«
Er nahm den Rucksack, schwenkte ihn hoch und warf ihn in die Ecke. Es war ihm Wollust, dabei seine Kraft zu spüren. Ein Bedürfnis nach rascher Probe seines Willens sprang auf aus seiner Frische. Er nahm den Zettel aus der Brieftasche, ihn zu zerreißen, und entfaltete ihn.
Aber seltsam, die Magie der militärischen Worte überwältigte ihn von neuem. Er begann zu lesen: »Sie haben« ... das Wort griff ihm an das Herz. Es war wie ein Befehl, der Widerrede nicht duldete. Irgendwie spürte er sich wanken. Wieder stieg es in ihm auf, das Unbekannte. Seine Hände begannen zu zittern. Die Kraft verflog. Von irgendwo kam es kalt, wie wenn Zugluft wehte, Unruhe stieg auf, innen begann das stählerne Uhrwerk des fremden Willens sich zu regen, alle Nerven zu spannen und zu federn bis in die Gelenke. Unwillkürlich sah er auf die Uhr. »Noch Zeit«, murmelte er, wußte aber nicht mehr, was er selber meinte, den Morgenzug an die Grenze oder die selbstgegebene Frist. Schon kam es wieder, dies geheimnisvolle Ziehen von innen, die wegreißende Ebbe, stärker als je, weil vor letztem Widerstand, und gleichzeitig die Angst, die gewisse ratlose Angst, zu unterliegen. Er wußte: wenn ihn jetzt niemand hielt, war er verloren.
Er tastete an die Tür zum Zimmer seiner Frau und horchte gierig. Nichts regte sich. Zaghaft pochte sein Knöchel an. Schweigen. Er pochte nochmals. Wiederum Schweigen. Behutsam klinkte er auf. Die Tür war offen, aber leer das Zimmer, leer und zerwühlt das Bett. Er erschrak. Leise rief er ihren Namen und als nichts antwortete, unruhiger: »Paula!« Und dann ganz laut durch das Haus, wie ein Überfallener schreit: »Paula! Paula! Paula!« Nichts regte sich. Er tastete in die Küche. Sie war leer. Das grauenhafte Gefühl des Verlorenseins bestätigte sich zitternd in ihm. Er tappte hinauf in das Atelier unwissend, was er wollte: Abschied nehmen oder sich zurückhalten lassen. Aber auch hier war niemand. Selbst von dem Hund, dem getreuen, keine Spur. Alles ließ ihn im Stich, Einsamkeit warf sich gewaltsam wider ihn und zerbrach seine letzte Kraft.
Er ging zurück durch das leere Haus in sein Zimmer, faßte den Rucksack. Irgendwie fühlte er sich vor sich selbst entlastet, daß er dem Zwange nachgab. »Es ist ihre Schuld,« sagte er sich, »ihre Schuld allein. Warum ist sie fort? Sie hätte mich zurückhalten müssen, es war ihre Pflicht. Sie hätte mich retten können vor mir selbst, aber sie wollte nicht mehr. Sie verachtet mich. Ihre Liebe ist vergangen. Sie hat mich fallen lassen: so falle ich. Mein Blut über sie! Es ist ihre Schuld nicht meine, ihre Schuld allein.«
Noch einmal vor dem Haus wandte er sich um. Ob nicht ein Ruf käme von irgendwo, ein Wort der Liebe. Ob nicht irgend etwas diese stählerne Maschine des Gehorsams in ihm mit den Fäusten zerschlagen wollte. Aber nichts sprach. Nichts rief. Nichts zeigte sich. Alles verließ ihn, und schon spürte er sich ins Bodenlose stürzen. Und der Gedanke überfiel ihn, ob es nicht besser wäre, noch zehn Schritte weiter zu gehen an den See und von der Brücke sich in den großen Frieden zu senken.
Da schlug die Uhr vom Kirchturm hart und schwer. Aus dem hellen Himmel, dem einst so geliebten, fiel dieser harte Ruf und trieb ihn auf wie ein Peitschenschlag. Zehn Minuten noch: dann kam der Zug, dann war alles vorbei, endgültig, rettungslos. Zehn Minuten noch: aber er spürte nichts mehr, daß sie Freiheit waren, wie ein Gehetzter warf er sich vorwärts, taumelte, stockte, lief, keuchte weiter in rasender Angst eines Versäumens, hastiger und immer hastiger, bis er plötzlich, knapp vor dem Bahnsteig beinahe mit jemandem zusammenstieß, der quer vor der Schranke stand.
Er schrak zusammen. Der Rucksack fiel aus seiner zitternden Hand. Es war seine Frau, die vor ihm stand, blaß und übernächtig, den Blick voll ernster Traurigkeit wider ihn gerichtet.
»Ich wußte, daß du kommen würdest. Seit drei Tagen weiß ich es. Aber ich denke nicht daran, dich zu verlassen. Seit frühmorgens warte ich hier, seit dem ersten Zuge, und werde hier warten bis zum letzten. Solange ich atme, werden sie dich nicht fassen. Ferdinand, besinn dich doch! Du selbst hast doch gesagt, es sei noch Zeit, was drängst du dich so?«
Er sah sie unsicher an.
»Es ist nur ... ich bin schon angemeldet ... sie erwarten mich ...«
»Wer erwartet dich? Die Sklaverei und der Tod vielleicht, sonst niemand! Wach' doch auf, Ferdinand, spür's doch, du bist frei, ganz frei, niemand hat Macht über dich, niemand kann dir befehlen, hörst du, du bist frei, du bist frei, du bist frei! Ich werde es dir tausendmal sagen, zehntausendmal, jede Stunde, jede Minute, bis du es selbst fühlst. Du bist frei! Du bist frei! Du bist frei!«
»Ich bitte dich,« sagte er leise, als zwei Bauern im Vorbeigehen sich neugierig umkehrten, »sprich nicht so laut. Die Leute schauen schon ...«
»Die Leute! Die Leute,« schrie sie wütend, »was kümmern mich die Leute? Was werden sie mir helfen, wenn du zerschossen liegst oder zerbrochen heimhumpelst? Ich pfeife auf die Leute, auf ihr Mitleid, auf ihre Liebe, auf ihre Dankbarkeit – ich will dich als Menschen, als freien lebendigen Menschen. Frei will ich dich, frei, wie es einem Menschen geziemt, nicht als Kanonenfutter ...«
»Paula!« Er suchte die Rasende zu begütigen. Sie stieß ihn fort.
»Laß mich mit deiner feigen blödsinnigen Furcht! Ich bin in freiem Land, ich kann sagen, was ich will, ich bin kein Knecht und gebe dich nicht in die Knechtschaft! Ferdinand, wenn du fährst, werfe ich mich vor die Lokomotive ...«
»Paula!« Er faßte sie wieder an. Aber ihr Antlitz war plötzlich bitter. »Nein,« sagte sie, »ich will nicht lügen. Ich werde vielleicht auch zu feig sein. Millionen Weiber waren zu feig, als man ihre Männer, ihre Kinder wegschleppte – keine einzige hat getan, was sie hätte tun müssen. Wir sind vergiftet von eurer Feigheit. Was werde ich tun, wenn du wegfährst? Flennen und heulen, in die Kirche laufen und Gott bitten, daß du einen leichten Dienst bekommst. Und vielleicht dann noch die verspotten, die nicht gegangen sind. Es ist alles möglich in dieser Zeit.«
»Paula,« er hielt ihre Hände, »warum machst du mir es so schwer, wenn es doch sein muß.«
»Soll ich dir es leicht machen? Nein, schwer soll es dir werden, unendlich schwer, so schwer, als ich es nur machen kann. Hier stehe ich: mit Gewalt mußt du mich wegstoßen, mit deinen Fäusten, du mußt mich zertreten mit deinen Füßen. Ich gebe dich nicht frei.«
Die Signale hämmerten. Er fuhr auf, blaß und erregt, griff nach seinem Rucksack. Aber schon hatte sie den Sack an sich gerissen und stellte sich quer wider ihn. »Gib her«, stöhnte er. »Nie! Nie!« keuchte sie, mit ihm ringend. Die Bauern ringsum sammelten sich und lachten laut. Zurufe, hetzend und übermütig, flogen her, spielende Kinder liefen heran. Aber die beiden rangen mit der, ganzen Kraft ihrer Erbitterung um den Sack wie um ein Leben.
In diesem Augenblick dröhnte die Lokomotive, der Zug brauste ein. Plötzlich ließ er den Sack und ohne sich umzuwenden, in rasender Hast, über die Schienen stolpernd zum Zug und auf einen Waggon zu, stürzte sich hinein. Schallendes Gelächter brach ringsum aus, die Bauern johlten vor Freude. Mit lauten Zurufen: »Muescht furtschpringe, suscht hätt's dich«, »Schpring, schpring, sie verwütscht dich«, jagten sie ihn vorwärts, und hinter ihm peitschte knallendes Lachen in seine Scham. Und schon rollte der Zug.
Sie stand, den Rucksack in Händen, übergossen vom Gelächter der Leute, und starrte auf den Zug, der immer schneller verschwand. Kein Gruß wehte aus dem Fenster, kein Zeichen kam. Und plötzlich drängten sich ihr Tränen über den Blick, und sie sah nichts mehr.
Er saß geduckt in der Ecke und wagte, als der Zug nun rascher rollte, nicht einen Blick aus dem Fenster. Draußen flog, von der Geschwindigkeit der Fahrt in tausend Fetzen zerrissen, alles vorbei, was er besaß, das kleine Haus am Hügel mit seinen Bildern und Tisch und Stuhl und Bett, mit Frau und Hund und vieler Tage Glück. Und die Landschaft stob geschleudert weg, in deren Weite er sich oft strahlenden Blicks geworfen, seine Freiheit und sein ganzes Leben. Ihm war, als sei er ausgeströmt mit allen Adern seines Lebens und nichts mehr sein, als dies weiße Blatt, dies knisternde Blatt in seiner Tasche, mit dem er hinwehte, vom bösen Wink des Schicksals getrieben.
Dumpf und verworren nur fühlte er, was ihm geschah. Der Schaffner verlangte sein Billett, er hatte keines, traumwandlerisch nannte er den Grenzort als Ziel, willenlos stieg er um in einen anderen Zug: die Maschine in ihm tat alles, und es schmerzte nicht mehr. Im Schweizer Grenzhaus verlangten sie seine Papiere. Er gab sie: nichts blieb ihm als dies leere Blatt. Manchmal suchte sich noch etwas Verlorenes in ihm leise zu besinnen und murmelte aus einer Tiefe wie aus einem Traum: »Kehr' um! Du bist noch frei! Du mußt ja nicht.« Aber die Maschine in seinem Blut, die nicht sprach und doch gewaltig Nerv und Glieder regte, sie stieß ihn ehern vorwärts mit ihrem unsichtbaren »Du mußt«.
Er stand auf dem Perron der Übergangsstation in seine Heimat. Drüben, deutlich im matten Licht, überkreuzte eine Brücke den Fluß: das war die Grenze. Seine müßigen Sinne versuchten das Wort zu verstehen; hier drüben also durfte man noch leben, atmen, frei sprechen, nach seinem Willen tun, ernstem Werk dienen, und achthundert Schritte hinter jener Brücke wurde einem der Wille aus dem Leib getan wie dem Tier seine Eingeweide, man mußte fremden Menschen gehorchen, und fremden Menschen, andern wieder, ein Messer in die Brust rennen. Und all das war diese kleine Brücke da, zehn Dutzend Holzpfosten über zwei Traversen gespannt. Und zwei Männer, jeder in einer andern bunten sinnlosen Tracht, standen deshalb dort mit Gewehren und behüteten sie. Etwas Dumpfes quälte ihn, er spürte, daß er nicht mehr deutlich denken konnte, aber die Gedanken rollten weiter. Was behüteten sie an diesem Stück Holz? Daß keiner herüberkäme von einem Land zum andern, daß keiner entwiche aus dem Lande, wo einem der Wille ausgeweidet wurde, in jenes andere hinüber. Aber er selbst, er wollte doch hinüber? Ja, aber in anderem Sinne, aus der Freiheit in die ...
Er stockte im Denken, Der Gedanke der Grenze hypnotisierte ihn. Seit er sie sinnlich sah, wesenhaft, bewacht von den beiden gelangweilten Bürgern in Soldatentracht, verstand er etwas in sich nicht mehr ganz. Er versuchte auszuholen: es war Krieg. Aber Krieg nur in dem Land drüben – einen Kilometer weiter war Krieg oder eigentlich einen Kilometer weniger zweihundert Meter weiter drüben begann der Krieg. Vielleicht, fiel es ihm ein, noch zehn Meter näher, also tausendachthundert Meter weniger zehn schon. Irgendein wahnsinniges Verlangen zuckte in ihm auf, zu untersuchen, ob diese letzten zehn Meter Erde noch Krieg hatten oder nicht. Das Spaßige des Gedankens belustigte ihn. Irgendwo mußte da ein Strich sein, die Trennung. Wie, wenn man an die Grenze ginge, mit einem Fuß auf der Brücke und mit einem noch auf der Erde, was war man da – noch frei oder schon Soldat? Ein Bein durfte Zivilstiefel tragen, das andere Militärstiefel. Immer kindischer wirrte es ihm durch den Kopf. Wenn man auf der Brücke stände, schon drüben, und zurückliefe, war man da Deserteur? Und das Wasser, war das kriegerisch oder friedlich? Und war da auch irgendwo am Grunde ein Strich dazwischen in den Landesfarben? Und die Fische, durften die eigentlich ins Kriegsgebiet hinüberschwimmen? Überhaupt die Tiere! Er dachte an seinen Hund. Wäre er mitgekommen, so hätte man ihn wahrscheinlich auch mobilisiert, er hätte Maschinengewehre ziehen müssen oder Verwundete im Kugelregen suchen. Gott sei Dank, er war zu Hause geblieben ...
Gott sei Dank! Er erschrak selbst bei dem Gedanken und schüttelte sich auf. Er spürte, wie, seit er die Grenze körperlich sah, diese Brücke zwischen Tod und Leben, etwas in ihm zu arbeiten begann, das nicht die Maschine war, daß ein Wissen in ihm wach werden wollte und ein Widerstand. Auf dem anderen Geleise stand der Zug noch, mit dem er gekommen, nur daß die Lokomotive inzwischen verschoben, mit ihren riesigen Glasaugen jetzt nach der andern Richtung sah, bereit, die Wagen wieder zurück in die Schweiz zu ziehen. Eine Mahnung war diese Möglichkeit, daß es noch Zeit sei: er fühlte, wie der abgestorbene Nerv der Sehnsucht nach dem verlorenen Hause sich schmerzhaft in ihm regte, wie der vergangene Mensch in ihm wieder begann. Drüben sah er, jenseits der Brücke, den Soldaten stehn, in fremdes Kleid verschnürt, das Gewehr schwer über der Schulter, sah ihn schrittauf und schrittab sinnlos wandern und sich selbst im Spiegel dieses fremden Menschen. Jetzt erst ward ihm sein Schicksal klar, und seit er es verstand, sah er die Vernichtung darin. Und das Leben schrie auf in seiner Seele.
Da hämmerten die Signale, und der harte Schlag zerbrach das noch unsichere Gefühl. Jetzt, wußte er, war alles verloren. Wenn er in diesen Zug sich setzte und drei Minuten, die zwei Kilometer, fuhr bis zur Brücke und hinüber. Und er wußte, daß er fahren würde. Eine Viertelstunde noch, und er wäre gerettet gewesen. Taumelnd stand er da.
Aber nicht von der Ferne, in die er zitternd spähte, kam der Zug, sondern drüben über die Brücke polterte er langsam heran. Und mit einemmal wogte die Halle von Bewegung. Menschen strömten aus den Wartesälen, Frauen stürzten schreiend und drängend vor, Schweizer Soldaten ordneten sich eilig zur Reihe. Und plötzlich hub Musik an zu spielen – er horchte, staunte, glaubte sich nicht. Aber es schmetterte laut, unverkennbar; die Marseillaise. Die Hymne der Feinde für einen Zug aus deutschem Land!
Der Zug donnerte heran, keuchte und hielt. Und schon stürmte alles vor, die Türen der Waggons wurden aufgerissen, bleiche Gesichter taumelten heraus, einen ekstatischen Glanz in den glühenden Augen – Franzosen in Uniform, verwundete Franzosen, Feinde, Feinde! Traumhaft war es einige Sekunden, ehe er begriff, daß dies ein Zug mit verwundeten Austauschgefangenen sei, die hier aus der Gefangenschaft erlöst waren, aus dem Wahn des Krieges gerettet. Und sie ahnten, sie wußten, sie spürten es alle; wie sie winkten und riefen und lachten, ob manchem auch das Lachen noch schmerzhaft war! Einer, taumelnd und stockend, stolperte auf seinem Stelzfuß hinaus, hielt sich an einen Pfosten und schrie: »La Suisse! La Suisse! Dieu soit béni!« Frauen stürzten schluchzend von Fenster zu Fenster, bis sie den Gesuchten, Geliebten fanden, alle Stimmen flogen durcheinander in Rufen, Schluchzen und Schreien, aber hochgespannt alles in der goldenen Seite des Jubels. Die Musik schwieg. Minuten hörte man nichts als die große Brandung des Gefühls, die schreiend und rufend über die Menschen schlug.
Dann ward es allmählich stiller, Gruppen bildeten sich, selig gebunden in leiser Freude und raschem Gespräch. Ein paar Frauen irrten noch rufend hin und her, Pflegeschwestern brachten Labung und Geschenke. Man trug die Schwerkranken auf ihren Bahren heraus, blaß in ihren weißen Linnen, zärtlich umdrängt von Fürsorge und tröstender Vorsicht. Der ganze Auswurf des Elends drängte sich in Gestalt: Verstümmelte mit leeren Ärmeln, Abgezehrte und Halbverbrannte, Überreste einer Jugend, verwildert und gealtert. Aber von allen Augen glänzte es beruhigt in den Himmel hinein: sie fühlten alle der Pilgerschaft Ende.
Ferdinand stand wie gelähmt inmitten der unerwarteten Ankunft: das Herz schlug mit einemmal wieder mächtig unter dem papierenen Blatt aus der Brust. Abseits der andern, allein, von keinem gewartet, sah er eine Tragbahre stehn. Er ging hin zu dem Vergessenen dieser fremden Freude, langsam, unsichern Schritts. Kalkweiß war des Verwundeten Gesicht im verwilderten Bart, lahm hing sein zerschossener Arm von der Bahre nieder. Die Augen waren geschlossen, die Lippen blaß. Ferdinand zitterte. Leise hob er den hängenden Arm empor und bettete ihn sorgsam über des Leidenden Brust. Da schlug der fremde Mensch die Augen auf, sah ihn an, und aus unendlicher Ferne unbekannter Qual stieg ein Lächeln dankbar auf und grüßte ihn.
Da kam es über den Zitternden wie ein Blitz. Das sollte er tun? Menschen so schänden, Brüdern nicht mehr ins Auge zu blicken als mit Haß, teilhaftig werden an dem großen Verbrechen durch freien Willen? Mächtig sprang die große Wahrheit des Gefühls in ihm auf und zerbrach die Maschine in seiner Brust, Freiheit stieg hoch, selig und groß, und zerriß den Gehorsam. Niemals! Niemals! schrie es in ihm auf, eine Stimme, urmächtig und unerkannt. Und schon schlug es ihn hin. Schluchzend brach er vor der Tragbahre zusammen.
Menschen stürzten auf ihn zu. Man meinte ihn von einem epileptischen Anfall getroffen, der Arzt eilte her. Aber schon stand er langsam auf und wehrte die Hilfe ab, ruhige Heiterkeit in den Zügen. Er griff nach der Brieftasche, holte seine letzte Banknote heraus, legte sie auf des Verwundeten Bett; dann nahm er den Zettel, las ihn noch einmal langsam und bewußt. Dann riß er ihn mitten durch und streute die Fetzen auf den Bahnsteig. Die Leute starrten ihn an wie einen Wahnsinnigen. Er aber fühlte nichts mehr von Scham. Er fühlte nur: genesen. Die Musik begann wieder zu spielen. Und sein Herz überrauschte alle Töne mit klingendem Getön.
Spätabend kam er zurück in sein Haus. Es war dunkel und verschlossen wie ein Sarg. Er klopfte an. Schritte schlurften: seine Frau tat auf. Wie sie ihn sah, schrak sie zusammen. Aber er faßte sie mild und lenkte sie in die Tür. Sie sprachen nichts. Sie bebten nur beide vor Glück. Er trat in sein Zimmer: seine Bilder standen da, sie hatte alle vom Atelier herabgeholt, um ihm nahe zu sein durch sein Werk. Unendliche Liebe fühlte er an diesem Zeichen und verstand, wieviel er sich gerettet. Schweigend preßte er ihre Hand. Aus der Küche stürmte der Hund, sprang hoch an ihm auf: alles hatte ihn erwartet, er fühlte, nie war er mit seinem wirklichen Wesen hier weggegangen, und doch war ihm wie einem, der aus dem Tod wieder ins Leben tritt.
Noch immer sprachen sie nichts. Aber sie faßte ihn sacht, führte ihn zum Fenster: draußen stand, unberührt von der selbstgeschaffenen Qual einer verwirrten Menschheit, die ewige Welt und glänzte für ihn, unendliche Sterne unter unendlichem Himmel. Er sah hinauf und erkannte gläubig bewegt, daß kein Gesetz für den Menschen auf Erden gibt als das ihre, daß nichts ihn wahrhaft bindet als Verbundensein. Nah seinen Lippen wogte selig der Atem seiner Frau, und manchmal zitterten ihre beiden Körper leise aneinander in der Wolllust des Sichfühlens. Aber sie schwiegen: frei schwang sich ihr Herz in die ewige Freiheit der Dinge, erlöst von der Wirrnis der Worte und der Menschen Gesetz.