Stefan Zweig
Sternstunden der Menschheit
Stefan Zweig

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Die Flucht zu Gott

Ende Oktober 1910

Ein Epilog zu Leo Tolstois unvollendetem Drama
»Das Licht scheinet in der Finsternis«

Einleitung

Im Jahre 1890 beginnt Leo Tolstoj eine dramatische Selbstbiographie, die später als Fragment aus seinem Nachlaß unter dem Titel: »Und das Licht scheinet in der Finsternis« zur Veröffentlichung und Aufführung gelangte. Dieses unvollendete Drama (schon die erste Szene verrät's) ist nichts anderes als eine allerintimste Darstellung seiner häuslichen Tragödie, geschrieben offenbar als Selbstrechtfertigung eines beabsichtigten Fluchtversuches und gleichzeitig als Entschuldigung seiner Frau, also ein Werk vollkommenen moralischen Gleichgewichts inmitten äußerster seelischer Zerrissenheit.

Sich selbst hat Tolstoj in der durchsichtig selbstbildnerischen Gestalt des Nikolai Michelajewitsch Sarynzew hingestellt, und wohl das wenigste der Tragödie darf als erfunden angenommen werden. Zweifellos hat Leo Tolstoj sie nur gestaltet, um sich selbst die notwendige Lösung seines Lebens vorauszudichten. Aber weder im Werk noch im Leben, weder damals im Jahre 1890 noch zehn Jahre später, 1900, hat Tolstoj den Mut und die Form eines Entschlusses und Abschlusses gefunden. Und aus dieser Willensresignation ist das Stück Fragment geblieben, endend mit vollkommener Ratlosigkeit des Helden, der nur flehend die Hände zu Gott aufhebt, er möge ihm beistehen und für ihn den Zwiespalt enden.

Den fehlenden letzten Akt der Tragödie hat Tolstoj auch später nicht mehr geschrieben, aber wichtiger: er hat ihn gelebt. In den letzten Oktobertagen des Jahres 1910 wird das Schwanken eines Vierteljahrhunderts endlich Entschluß, Krise zur Befreiung: Tolstoj entflieht nach einigen ungeheuer dramatischen Auseinandersetzungen und entflieht gerade zurecht, um jenen herrlichen und vorbildlichen Tod zu finden, der seinem Lebensschicksal die vollkommene Formung und Weihe verleiht.

Nichts schien mir nun natürlicher, als das gelebte Ende der Tragödie dem geschriebenen Fragment anzufügen. Dies und einzig dies habe ich hier mit möglichster historischer Treue und Ehrfurcht vor den Tatsachen und Dokumenten versucht. Ich weiß mich frei von der Vermessenheit, damit ein Bekenntnis Leo Tolstojs eigenmächtig und gleichwertig ergänzen zu wollen, ich schließe mich dem Werke nicht an, ich will ihm bloß dienen. Was ich hier versuche, möge darum nicht als Vollendung gelten, sondern als ein selbständiger Epilog zu einem unvollendeten Werke und ungelösten Konflikt, einzig bestimmt, jener unvollendeten Tragödie einen festlichen Ausklang zu geben. Damit sei der Sinn dieses Epilogs und meine ehrfürchtige Mühe erfüllt.

Für eine allfällige Darstellung muß betont werden, daß dieser Epilog zeitlich sechzehn Jahre später spielt als »Das Licht scheinet in der Finsternis« und dies äußerlich in der Erscheinung Leo Tolstojs unbedingt sichtbar werden muß. Die schönen Bildnisse seiner letzten Lebensjahre können da vorbildlich sein, insbesondere jenes, das ihn im Kloster Schamardino bei seiner Schwester zeigt, und die Photographie auf dem Totenbette. Auch das Arbeitszimmer sollte in seiner erschütternden Einfachheit respektvoll dem historischen nachgebildet werden. Rein szenisch wünschte ich diesen Epilog (der Tolstoj mit seinem Namen nennt und nicht mehr hinter der Doppelgängergestalt Sarynzew verbirgt) nach einer größeren Pause dem vierten Akt des Fragments »Das Licht scheinet in der Finsternis« angeschlossen. Eine selbständige Aufführung liegt nicht in meiner Absicht.

Gestalten des Epilogs:

Leo Nikolajewitsch Tolstoj (im dreiundachtzigsten Jahr seines Lebens).
Sofia Andrejewna Tolstoj, seine Gattin.
Alexandra Lwowna (genannt Sascha), seine Tochter.
Der Sekretär.
Duschan Petrowitsch, Hausarzt und Freund Tolstojs.
Der Stationsvorsteher von Astapowo, Iwan Iwanowitsch Osoling.
Der Polizeimeister von Astapowo, Cyrill Gregorowitsch.
Erster Student.
Zweiter Student.
Drei Reisende.

Die ersten beiden Szenen spielen an den letzten Oktobertagen des Jahres 1910 im Arbeitszimmer von Jasnaja Poljana, die letzte am 31. Oktober 1910 im Wartesaal des Bahnhofes von Astapowo.

Erste Szene

Ende Oktober 1910 in Jasnaja Poljana

Das Arbeitszimmer Tolstojs, einfach und schmucklos, genau nach dem bekannten Bild

Der Sekretär führt zwei Studenten herein. Sie sind nach russischer Art in hochgeschlossene, schwarze Blusen gekleidet, beide jung, mit scharfen Gesichtern. Sie bewegen sich vollkommen sicher, eher anmaßend als scheu.

Der Sekretär: Nehmen Sie inzwischen Platz, Leo Tolstoj wird Sie nicht lange warten lassen. Nur möchte ich Sie bitten, bedenken Sie sein Alter! Leo Tolstoj liebt dermaßen die Diskussion, daß er oft seine Ermüdbarkeit vergißt.

Erster Student: Wir haben Leo Tolstoj wenig zu fragen – eine einzige Frage nur, freilich eine entscheidende für uns und für ihn. Ich verspreche Ihnen, knapp zu bleiben – vorausgesetzt, daß wir frei sprechen dürfen.

Der Sekretär: Vollkommen. Je weniger Formen, um so besser. Und vor allem, sagen Sie ihm nicht Durchlaucht – er mag das nicht.

Zweiter Student (lachend): Das ist von uns nicht zu befürchten, alles, nur das nicht.

Der Sekretär: Da kommt er schon die Treppe herauf.

(Tolstoj tritt ein, mit raschen, gleichsam wehenden Schritten, trotz seines Alters beweglich und nervös. Während er spricht, dreht er oft einen Bleistift in der Hand oder krümelt ein Papierblatt, aus Ungeduld, schon selber das Wort zu ergreifen. Er geht rasch auf die beiden zu, reicht ihnen die Hand, sieht jeden von ihnen einen Augenblick scharf und durchdringend an, dann läßt er sich auf dem Wachslederfauteuil ihnen gegenüber nieder.)

Tolstoj: Sie sind die beiden, nicht wahr, die mir das Komitee schickte . . . (Er sucht in einem Briefe.) Entschuldigen Sie, daß ich Ihre Namen vergessen habe . . .

Erster Student: Unsere Namen bitten wir Sie als gleichgültig zu betrachten. Wir kommen zu Ihnen nur als zwei von Hunderttausenden.

Tolstoj (ihn scharf ansehend): Haben Sie irgendwelche Fragen an mich?

Erster Student: Eine Frage.

Tolstoj (zum zweiten): Und Sie?

Zweiter Student: Dieselbe. Wir haben alle nur eine Frage an Sie, Leo Nikolajewitsch Tolstoj, wir alle, die ganze revolutionäre Jugend Rußlands – und es gibt keine andere: Warum sind Sie nicht mit uns?

Tolstoj (sehr ruhig): Ich habe das, wie ich hoffe, deutlich ausgesprochen in meinen Büchern und außerdem in einigen Briefen, die inzwischen zugänglich gemacht worden sind. – Ich weiß nicht, ob Sie persönlich meine Bücher gelesen haben?

Erster Student (erregt): Ob wir Ihre Bücher gelesen haben, Leo Tolstoj? Es ist sonderbar, was Sie uns da fragen. Gelesen – das wäre zu wenig. Gelebt haben wir von Ihren Büchern seit unserer Kindheit, und als wir junge Menschen wurden, da haben Sie uns das Herz im Leibe erweckt. Wer anders, wenn nicht Sie, hat uns die Ungerechtigkeit der Verteilung aller menschlichen Güter sehen gelehrt – Ihre Bücher, nur sie haben unsere Herzen von einem Staat, einer Kirche und einem Herrscher losgerissen, der das Unrecht an den Menschen beschützt, statt die Menschheit. Sie und nur Sie haben uns bestimmt, unser ganzes Leben einzusetzen, bis diese falsche Ordnung endgültig zerstört ist . . .

Tolstoj (will unterbrechen und sagt): Aber nicht durch Gewalt . . .

Erster Student (hemmungslos ihn übersprechend): Seit wir unsere Sprache sprechen, ist niemand gewesen, dem wir so vertraut haben wie Ihnen. Wenn wir uns fragten, wer wird dieses Unrecht beseitigen, so sagten wir uns: Er! Wenn wir fragten, wer wird einmal aufstehen und diese Niedertracht stürzen, so sagten wir: Er wird es tun, Leo Tolstoj. Wir waren Ihre Schüler, Ihre Diener, Ihre Knechte, ich glaube, ich wäre damals gestorben für einen Wink Ihrer Hand, und hätte ich vor ein paar Jahren in dieses Haus treten dürfen, ich hätte mich noch geneigt vor Ihnen wie vor einem Heiligen. Das waren Sie für uns, Leo Tolstoj, für Hunderttausende von uns, für die ganze russische Jugend bis vor wenigen Jahren – und ich beklage es, wir beklagen es alle, daß Sie uns seitdem ferne und beinahe unser Gegner geworden sind.

Tolstoj (weicher): Und was meinen Sie, müßte ich tun, um euch verbunden zu bleiben?

Erster Student: Ich habe nicht die Vermessenheit, Sie belehren zu wollen. Sie wissen selbst, was Sie uns, der ganzen russischen Jugend entfremdet hat.

Zweiter Student: Nun, warum es nicht aussprechen, zu wichtig ist unsere Sache für Höflichkeiten: Sie müssen endlich einmal die Augen öffnen und nicht länger lau bleiben angesichts der ungeheuren Verbrechen der Regierung an unserm Volke. Sie müssen endlich aufstehen von Ihrem Schreibtisch und offen, klar und rückhaltlos an die Seite der Revolution treten. Sie wissen, Leo Tolstoj, mit welcher Grausamkeit man unsere Bewegung niedergeschlagen hat, mehr Menschen modern jetzt in den Gefängnissen als Blätter in Ihrem Garten. Und Sie, Sie sehen das alles mit an, schreiben vielleicht, so sagt man, ab und zu in einer englischen Zeitung irgendeinen Artikel über die Heiligkeit des menschlichen Lebens. Aber Sie wissen selbst, daß gegen diesen blutigen Terror heute Worte nicht mehr helfen, Sie wissen so gut wie wir, daß jetzt einzig ein vollkommener Umsturz, eine Revolution not tut, und Ihr Wort allein kann ihr eine Armee erschaffen. Sie haben uns zu Revolutionären gemacht, und jetzt, da ihre Stunde reif ist, wenden Sie sich vorsichtig ab und billigen damit die Gewalt!

Tolstoj: Niemals habe ich die Gewalt gebilligt, niemals! Seit dreißig Jahren habe ich meine Arbeit gelassen, einzig um die Verbrechen aller Machthaber zu bekämpfen. Seit dreißig Jahren – ihr wart noch nicht geboren – fordere ich, radikaler als ihr, nicht nur die Verbesserung, sondern die vollkommene Neuordnung der sozialen Verhältnisse.

Zweiter Student (unterbrechend): Nun, und? Was hat man Ihnen bewilligt, was hat man uns gegeben seit dreißig Jahren? Die Knute den Duchoborzen, die Ihre Botschaft erfüllten, und sechs Kugeln in die Brust. Was ist besser geworden in Rußland durch Ihr sanftmütiges Drängen, durch Ihre Bücher und Broschüren? Sehen Sie nicht endlich ein, daß Sie jenen Unterdrückern noch helfen, indem Sie das Volk langmütig und dulderisch machen und vertrösten auf das tausendjährige Reich? Nein, Leo Tolstoj, es hilft nichts, dieses übermütige Geschlecht im Namen der Liebe anzurufen, und wenn Sie mit Engelszungen redeten! Diese Zarenknechte werden um Ihres Christus willen keinen Rubel aus ihrer Tasche holen, nicht einen Zoll werden sie nachgeben, ehe wir ihnen nicht mit der Faust an die Kehle fahren. Genug lang hat das Volk gewartet auf Ihre Bruderliebe, jetzt warten wir nicht länger, jetzt schlägt die Stunde der Tat.

Tolstoj (ziemlich heftig): Ich weiß, sogar eine »heilige Tat« nennt ihr es in euren Proklamationen, eine heilige Tat, »den Haß hervorzurufen«. Aber ich kenne keinen Haß, ich will ihn nicht kennen, auch gegen jene nicht, die sich an unserem Volke versündigen. Denn der das Böse tut, ist unglücklicher in seiner Seele als der, der das Böse erleidet – ich bemitleide ihn, aber ich hasse ihn nicht.

Erster Student (zornig): Ich aber hasse sie alle, die Unrecht tun an der Menschheit – schonungslos wie blutige Bestien hasse ich jeden von ihnen! Nein, Leo Tolstoj, nie werden Sie mich ein Mitleid lehren mit diesen Verbrechern.

Tolstoj: Auch der Verbrecher ist noch mein Bruder.

Erster Student: Und wäre er mein Bruder und meiner Mutter Kind und brächte Leiden über die Menschheit, ich würde ihn niederschlagen wie einen tollen Hund. Nein, kein Mitleid mehr mit den Mitleidslosen! Es wird nicht eher Ruhe auf dieser russischen Erde sein, als bis die Leichen der Zaren und Barone unter ihr liegen; es wird keine menschliche und sittliche Ordnung geben, ehe wir sie nicht erzwingen.

Tolstoj: Keine sittliche Ordnung kann durch Gewalt erzwungen werden, denn jede Gewalt zeugt unvermeidlich wieder Gewalt. Sobald ihr zur Waffe greift, schafft ihr neuen Despotismus. Statt zu zerstören, verewigt ihr ihn.

Erster Student: Aber es gibt kein Mittel gegen die Mächtigen als Zerstörung der Macht.

Tolstoj: Zugegeben; aber niemals darf man ein Mittel anwenden, das man selber mißbilligt. Die wahre Stärke, glauben Sie mir, erwidert Gewalt nicht durch Gewalt, sie macht ohnmächtig durch Nachgiebigkeit. Es steht im Evangelium geschrieben . . .

Zweiter Student (unterbrechend): Ach, lassen Sie das Evangelium. Die Popen haben längst einen Branntwein daraus gemacht, um das Volk zu verdumpfen. Das galt vor zweitausend Jahren und hat schon damals keinem geholfen, sonst wäre die Welt nicht so randvoll von Elend und Blut. Nein, Leo Tolstoj, mit Bibelsprüchen läßt sich heute die Kluft zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern, zwischen Herren und Knechten nicht mehr verkleistern: es liegt zuviel Elend zwischen diesen beiden Ufern. Hunderte, nein Tausende gläubiger, hilfreicher Menschen schmachten heute in Sibirien und in den Kerkern, morgen werden es Tausende, Zehntausende sein. Und ich frage Sie, sollen wirklich alle diese Millionen Unschuldiger weiter leiden um einer Handvoll Schuldiger willen?

Tolstoj (sich zusammenfassend): Besser, sie leiden, als daß nochmals Blut vergossen werde; gerade das unschuldige Leiden ist hilfreich und gut wider das Unrecht.

Zweiter Student (wild): Gut nennen Sie das Leiden, das unendliche, jahrtausendalte des russischen Volkes? Nun: so gehen Sie in die Gefängnisse, Leo Tolstoj, und fragen Sie die Geknuteten, fragen Sie die Hungernden unserer Städte und Dörfer, ob es wirklich so gut ist, das Leiden.

Tolstoj (zornig): Besser gewiß als eure Gewalt. Glaubt ihr denn wirklich, mit euren Bomben und Revolvern das Böse endgültig aus der Welt zu schaffen? Nein, in euch selbst wirkt dann das Böse, und ich wiederhole euch, hundertmal besser ist es, für eine Überzeugung zu leiden, als für sie zu morden.

Erster Student (gleichfalls zornig): Nun, wenn es so gut ist und wohltätig, zu leiden, Leo Tolstoj, nun – warum leiden Sie dann nicht selbst? Warum rühmen Sie immer die Märtyrerschaft bei den andern und sitzen selbst warm im eigenen Haus und essen auf silbernem Geschirr, während Ihre Bauern – ich hab' es gesehen – in Lappen gehen und halb verhungert in den Hütten frieren? Warum lassen Sie sich nicht selber knuten statt Ihrer Duchoborzen, die um Ihrer Lehre willen gepeinigt werden? Warum verlassen Sie nicht endlich dieses gräfliche Haus und gehen auf die Straße, selber in Wind und Frost und Regen die angeblich so köstliche Armut zu kennen? Warum reden Sie nur immer, statt selbst nach Ihrer Lehre zu handeln, warum geben Sie selbst nicht endlich ein Beispiel?

Tolstoj (er ist zurückgewichen. Der Sekretär springt vor gegen den Studenten und will ihn erbittert zurechtweisen, aber schon hat sich Tolstoj gefaßt und schiebt ihn sanft langsam beiseite): Lassen Sie doch! Die Frage, die dieser junge Mensch an mein Gewissen gerichtet hat, war gut . . . eine gute, eine ganz ausgezeichnete, eine wahrhaft notwendige Frage. Ich will mich bemühen, sie aufrichtig zu beantworten. (Er tritt einen kleinen Schritt näher, zögert, rafft sich zusammen, seine Stimme wird rauh und verhüllt.) Sie fragen mich, warum ich nicht das Leiden auf mich nehme, gemäß meiner Lehre und meinen Worten? Und ich antworte Ihnen darauf mit äußerster Scham: wenn ich bislang meiner heiligsten Pflicht mich entzogen habe, so war es . . . so war es . . . weil ich . . . zu feige, zu schwach oder zu unaufrichtig bin, ein niederer, nichtiger, sündiger Mensch . . ., weil mir Gott bis zum heutigen Tage noch nicht die Kraft verliehen hat, das Unaufschiebbare endlich zu tun. Furchtbar reden Sie, junger, fremder Mensch, in mein Gewissen. Ich weiß, nicht den tausendsten Teil dessen habe ich getan, was not tut, ich gestehe in Scham, daß es längst schon, längst meine Pflicht gewesen wäre, den Luxus dieses Hauses und die erbärmliche Art meines Lebens, das ich als Sünde empfinde, zu verlassen und, ganz wie Sie es sagen, als Pilger auf den Straßen zu gehen, und ich weiß keine Antwort, als daß ich mich schäme in tiefster Seele und mich beuge über meine eigene Erbärmlichkeit. (Die Studenten sind einen Schritt zurückgewichen und schweigen betroffen. Eine Pause. Dann fährt Tolstoj fort mit noch leiserer Stimme): Aber vielleicht . . . vielleicht leide ich dennoch . . . vielleicht leide ich eben daran, daß ich nicht stark und ehrlich genug sein kann, mein Wort vor den Menschen zu erfüllen. Vielleicht leide ich eben hier mehr an meinem Gewissen als an der furchtbarsten Folter des Leibes, vielleicht hat Gott gerade dieses Kreuz mir geschmiedet und dieses Haus mir qualvoller gemacht, als wenn ich im Gefängnis läge mit Ketten an den Füßen . . . Aber Sie haben recht, nutzlos bleibt dieses Leiden, weil ein Leiden nur für mich allein, und ich überhebe mich, wollte ich seiner mich noch rühmen.

Erster Student (etwas beschämt): Ich bitte Sie um Verzeihung, Leo Nikolajewitsch Tolstoj, wenn ich in meinem Eifer persönlich geworden bin . . .

Tolstoj: Nein, nein, im Gegenteil, ich danke Ihnen! Wer an unser Gewissen rüttelt, und sei es mit den Fäusten, hat wohl an uns getan. (Ein Schweigen. Tolstoj wieder mit ruhiger Stimme:) Haben Sie beide noch eine andere Frage an mich?

Erster Student: Nein, sie war unsere einzige Frage. Und ich glaube, es ist ein Unglück für Rußland und die ganze Menschheit, daß Sie uns Ihren Beistand verweigern. Denn niemand wird diesen Umsturz, diese Revolution mehr aufhalten, und ich fühle, furchtbar wird sie werden, furchtbarer als alle dieser Erde. Die bestimmt sind, sie zu führen, werden eherne Männer sein, Männer der rücksichtslosen Entschlossenheit, Männer ohne Milde. Wären Sie an unsere Spitze getreten, so hätte Ihr Beispiel Millionen gewonnen, und es müßten weniger Opfer sein.

Tolstoj: Und wäre es ein einziges Leben nur, dessen Tod ich verschuldete, ich könnte es nicht verantworten vor meinem Gewissen.

(Die Hausglocke gongt vom untern Stockwerk.)

Der Sekretär (zu Tolstoj, um das Gespräch abzubrechen): Es läutet zu Mittag.

Tolstoj (bitter): Ja, essen, schwätzen, essen, schlafen, ausruhen, schwätzen – so leben wir unser müßiges Leben, und die andern arbeiten indes und dienen damit Gott. (Er wendet sich den jungen Leuten wieder zu.)

Zweiter Student: Wir bringen also unsern Freunden nichts als Ihre Absage zurück? Geben Sie uns kein Wort der Ermutigung?

Tolstoj (sieht ihn scharf an, überlegt): Sagt euren Freunden folgendes in meinem Namen: ich liebe und achte euch, russische junge Menschen, weil ihr so stark das Leiden eurer Brüder mitfühlt und euer Leben einsetzen wollt, um das ihre zu verbessern. (Seine Stimme wird hart, stark und schroff.) Aber weiter vermag ich euch nicht zu folgen, und ich weigere mich, mit euch zu sein, sobald ihr die menschliche und brüderliche Liebe zu allen Menschen verleugnet.

(Die Studenten schweigen. Dann tritt der zweite Student entschlossen vor und sagt hart:)

Zweiter Student: Wir danken Ihnen, daß Sie uns empfangen haben, und danken Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit. Ich werde wohl nie mehr Ihnen gegenüberstehen – so erlauben Sie auch mir unbekanntem Nichts zum Abschied ein offenes Wort. Ich sage Ihnen, Leo Tolstoj, Sie irren, wenn Sie meinen, daß die menschlichen Beziehungen allein durch die Liebe verbessert werden können: das mag gelten für die Reichen und für die Sorglosen. Aber jene, die von Kindheit auf hungern und ein ganzes Leben schon unter der Herrschaft ihrer Herren schmachten, die sind müde, länger auf die Niederfahrt dieser brüderlichen Liebe vom christlichen Himmel zu warten, sie werden lieber ihren Fäusten vertrauen. Und so sage ich Ihnen am Vorabend Ihres Todes, Leo Nikolajewitsch Tolstoj: die Welt wird noch im Blute ersticken, man wird nicht nur die Herren, sondern auch ihre Kinder erschlagen und in Stücke reißen, damit die Erde auch von jenen nichts Schlimmes mehr zu gewärtigen habe. Möge es Ihnen erspart sein, dann noch Augenzeuge Ihres Irrtums zu werden – dies wünsche ich Ihnen von Herzen! Gott schenke Ihnen einen friedlichen Tod!

(Tolstoj ist zurückgewichen, sehr erschreckt von der Vehemenz des glühenden jungen Menschen. Dann faßt er sich, tritt auf ihn zu und sagt ganz schlicht:)

Tolstoj: Ich danke Ihnen insbesondere für Ihre letzten Worte. Sie haben mir gewünscht, was ich seit dreißig Jahren ersehne – einen Tod in Frieden mit Gott und allen Menschen. (Die beiden verbeugen sich und gehen; Tolstoj sieht ihnen längere Zeit nach, dann beginnt er erregt auf und ab zu gehen und sagt begeistert zum Sekretär:) Was das doch für wunderbare Jungen sind, wie kühn, stolz und stark, diese jungen russischen Menschen! Herrlich, herrlich diese gläubige, glühende Jugend! So habe ich sie vor Sebastopol gekannt, vor sechzig Jahren; mit ganz demselben freien und frechen Blick gingen sie gegen den Tod, gegen jede Gefahr – trotzig, bereit, mit einem Lächeln zu sterben für ein Nichts, ihr Leben, das wunderbare junge Leben hinzuwerfen für eine hohle Nuß, für Worte ohne Inhalt, für eine Idee ohne Wahrheit, nur aus Freude an der Hingebung. Wunderbar, diese ewige russische Jugend! Und dient mit all dieser Glut und Kraft dem Haß und dem Mord wie einer heiligen Sache! Und doch, sie haben mir wohlgetan! Aufgerüttelt haben sie mich, diese beiden, denn wirklich, sie haben recht, es tut not, daß ich endlich mich aufraffe aus meiner Schwäche und eintrete für mein Wort! Zwei Schritte vom Tod und immer zögere ich noch! Wirklich, das Richtige kann man nur von der Jugend lernen, nur von der Jugend!

(Die Tür wird aufgerissen, die Gräfin bricht wie eine scharfe Zugluft ein, nervös, irritiert. Ihre Bewegungen sind unsicher, immer irren ihre Augen fahrig von einem zum andern Gegenstand. Man spürt, daß sie an anderes denkt, während sie spricht und verzehrt ist von einer inneren, aufgerüttelten Unruhe. Sie sieht geflissentlich an dem Sekretär vorbei, als wäre er Luft, und spricht nur zu ihrem Mann. Hinter ihr ist rasch Sascha, ihre Tochter, eingetreten; man hat den Eindruck, als wäre sie der Mutter gefolgt, um sie zu überwachen.)

Gräfin: Es hat schon zum Mittagessen geläutet, und seit einer halben Stunde wartet unten der Redakteur vom »Daily Telegraph« wegen deines Artikels gegen die Todesstrafe, und du läßt ihn stehen wegen solcher Burschen. So ein manierloses, freches Volk! Unten, als der Diener sie fragte, ob sie beim Grafen angemeldet seien, antwortete der eine: Nein, wir sind bei keinem Grafen gemeldet, Leo Tolstoj hat uns bestellt. Und du läßt dich ein mit solchen naseweisen Laffen, die am liebsten die Welt so wirr haben möchten wie ihre eigenen Köpfe! (Sie sieht unruhig im Zimmer herum.) Wie hier alles herumliegt, die Bücher auf der Erde, alles durcheinander und voller Staub, wirklich, es ist schon eine Schande, wenn jemand Besserer kommt. (Sie geht auf den Lehnstuhl zu, faßt ihn an.) Ganz zerfetzt schon das Wachstuch, man muß sich schämen, nein, es ist nicht mehr zum Ansehen. Glücklicherweise daß morgen der Tapezierer aus Tula ins Haus kommt, der muß gleich den Fauteuil ausbessern. (Niemand antwortet ihr. Sie sieht unruhig hin und her.) Also bitte, komm jetzt! Man kann ihn doch nicht länger warten lassen.

Tolstoj (plötzlich sehr blaß und unruhig): Gleich komme ich, ich habe hier nur noch . . . etwas zu ordnen . . . Sascha wird mir helfen dabei . . . Leiste du inzwischen dem Herrn Gesellschaft und entschuldige mich, ich komme sofort. (Die Gräfin geht, nachdem sie noch einen flackernden Blick über das ganze Zimmer geworfen hat. Tolstoj wirft sich, kaum daß sie aus dem Zimmer getreten ist, gegen die Tür und dreht rasch den Schlüssel um.)

Sascha (über seine Heftigkeit erschreckt): Was hast du?

Tolstoj (in höchster Aufregung, die Hand aufs Herz gepreßt, stammelnd): Der Tapezierer morgen . . . Gott sei Dank . . . da ist es noch Zeit . . . Gott sei Dank.

Sascha: Aber was ist denn . . .

Tolstoj (erregt): Ein Messer, rasch ein Messer oder eine Schere . . . (Der Sekretär hat ihm mit befremdetem Blick vom Schreibtisch eine Papierschere herübergereicht. Tolstoj beginnt mit nervöser Hast, manchmal ängstlich zur verschlossenen Tür aufschauend, die Rißstelle in dem zerschlissenen Fauteuil mit der Schere zu erweitern, dann tastet er mit den Händen unruhig in das vorquellende Roßhaar, bis er endlich einen versiegelten Brief herausholt.) Da – nicht wahr? . . . es ist lächerlich . . . lächerlich und unwahrscheinlich, wie in einem miserablen französischen Kolportageroman . . . eine Schmach ohne Ende . . . So muß ich, ein Mann mit klaren Sinnen, in meinem eigenen Haus und dreiundachtzigsten Jahr meine wichtigsten Papiere verstecken, weil mir alles durchwühlt wird, weil man hinter mir her ist, hinter jedem Wort und Geheimnis! Ah, welche Schande, welche Hölle mein Leben hier in diesem Haus, welche Lüge! (Er wird ruhiger, öffnet den Brief und liest ihn; zu Sascha:) Vor dreizehn Jahren habe ich diesen Brief geschrieben, damals, als ich weg sollte von deiner Mutter und aus diesem Höllenhaus. Es war der Abschied an sie, ein Abschied, zu dem ich dann den Mut nicht fand. (Er knistert den Brief in den zitternden Händen und liest halblaut für sich:) ». . . Es ist mir jedoch nicht länger möglich, dieses Leben, das ich seit sechzehn Jahren führe, fortzusetzen, ein Leben, in dem ich einerseits gegen euch kämpfe und euch aufreizen muß. So beschließe ich, zu tun, was ich längst hätte tun sollen, nämlich zu fliehen . . . Wenn ich dies offen täte, so gäbe es Bitterkeit. Ich würde vielleicht schwach werden und meinen Entschluß nicht ausführen, während er doch ausgeführt werden muß. Verzeiht mir also, ich bitte euch darum, wenn mein Schritt euch Schmerz bereitet, und vor allem Du, Sonja, entlasse mich gutwillig aus Deinem Herzen, suche mich nicht, beklage Dich nicht über mich, verurteile mich nicht.« (Schwer aufatmend:) Ah, dreizehn Jahre ist das her, dreizehn Jahre habe ich mich seitdem weitergequält, und jedes Wort ist noch wahr wie einst und mein Leben von heute genau so feig und schwach. Noch immer, noch immer bin ich nicht geflohen, noch immer warte und warte ich und weiß nicht auf was. Immer habe ich alles klar gewußt und immer falsch gehandelt. Immer war ich zu schwach, immer ohne Willen gegen sie! Den Brief habe ich hier versteckt wie ein Schuljunge ein schmutziges Buch vor dem Lehrer. Und das Testament, in dem ich sie damals bat, das Eigentum an meinen Werken der ganzen Menschheit zu schenken, ihr in die Hand geliefert, nur um Frieden zu haben im Hause, statt Frieden mit meinem Gewissen.

(Pause.)

Der Sekretär: Und glauben Sie, Leo Nikolajewitsch Tolstoj – Sie erlauben mir doch die Frage, da sich so unvermutet der Anlaß ergibt . . . glauben Sie . . ., daß, wenn . . . wenn Gott Sie abberufen sollte . . ., daß . . . daß dann dieser Ihr letzter, dringlichster Wunsch auf das Eigentum an Ihren Werken zu verzichten, auch wirklich erfüllt wird?

Tolstoj (erschrocken): Selbstverständlich . . . das heißt . . . (Unruhig:) Nein, ich weiß doch nicht . . . Was meinst du, Sascha?

Sascha (wendet sich ab und schweigt).

Tolstoj: Mein Gott, daran habe ich nicht gedacht. Oder nein: schon wieder, schon wieder bin ich nicht ganz wahrhaftig: – nein, ich habe nur nicht daran denken wollen, ich bin wieder ausgewichen, wie ich immer jeder klaren und geraden Entscheidung ausweiche. (Er sieht den Sekretär scharf an.) Nein, ich weiß, ich weiß bestimmt, meine Frau und die Söhne, sie werden meinen letzten Willen so wenig achten, als sie heute meinen Glauben achten und meine Seelenpflicht. Sie werden mit meinen Werken Schacher treiben, und noch nach meinem Tode werde ich als ein Lügner an meinem Worte vor den Menschen stehen. (Er macht eine entschlossene Bewegung.) Aber das soll, das darf nicht sein! Endlich einmal Klarheit! Wie sagte dieser Student heute, dieser wahre, aufrichtige Mensch? Eine Tat verlangt die Welt von mir, endlich Ehrlichkeit, eine klare, reine und eindeutige Entscheidung – das war ein Zeichen! Mit dreiundachtzig Jahren darf man nicht länger die Augen schließen vor dem Tod, man muß ihm ins Antlitz sehen und bündig seine Entscheidungen treffen. Ja, gut gemahnt haben mich diese fremden Menschen: alles Nichttun versteckt immer nur eine Feigheit der Seele. Klar muß man sein und wahr, und ich will es endlich werden, jetzt in meiner zwölften Stunde, im dreiundachtzigsten Jahr. (Er wendet sich zum Sekretär und seiner Tochter.) Sascha und Wladimir Georgewitsch, morgen mache ich mein Testament, klar, ehern, bindend und unanfechtbar, in dem ich den Ertrag aller meiner Schriften, das ganze schmutzige Geld, das an ihm wuchert, an alle, an die ganze Menschheit schenke – es darf kein Handel getrieben werden mit dem Wort, das ich um aller Menschen und aus der Not meines Gewissens gesagt und geschrieben habe. Kommen Sie morgen vormittags, bringen Sie einen zweiten Zeugen mit – ich darf nicht länger zögern, vielleicht hält sonst der Tod mir die Hand auf.

Sascha: Einen Augenblick noch, Vater – nicht daß ich dir abreden wollte, aber ich fürchte Schwierigkeiten, wenn die Mutter uns zu viert hier sieht. Sie wird sofort Verdacht schöpfen und deinen Willen im letzten Augenblick vielleicht noch erschüttern.

Tolstoj (nachdenkend): Du hast recht! Nein, hier in diesem Haus kann ich nichts Reines, nichts Rechtes vollbringen: hier wird das ganze Leben zur Lüge. (Zum Sekretär:) Richten Sie es so ein, daß ihr mir morgen um 11 Uhr vormittags im Walde von Grumont, beim großen Baume links, hinter dem Roggenfeld, begegnet. Ich werde tun, als ob ich meinen gewohnten Spazierritt machte. Bereitet alles vor, und dort wird mir, so hoffe ich, Gott Festigkeit geben, endlich mich von der letzten Fessel zu lösen.

(Die Mittagsglocke läutet heftiger zum zweitenmal.)

Der Sekretär: Aber lassen Sie jetzt nur nichts vor der Gräfin merken, sonst ist alles verloren.

Tolstoj (schwer atmend): Entsetzlich, immer wieder sich verstellen müssen, immer wieder sich verstecken. Vor der Welt will man wahr sein, vor Gott will man wahr sein, vor sich selbst will man wahr sein und darf es nicht vor seiner Frau und seinen Kindern! Nein, so kann man nicht leben, so kann man nicht leben!

Sascha (erschreckt): Die Mutter!

(Der Sekretär dreht rasch den Schlüssel an der Tür auf, Tolstoi geht, um seine Erregung zu verbergen, zum Schreibtisch und bleibt mit dem Rücken gegen die Eintretende gewandt.)

Tolstoj (stöhnend): Das Lügen in diesem Haus vergiftet mich – ach, wenn man nur einmal ganz wahr sein könnte, wahr wenigstens vor dem Tod!

Die Gräfin (tritt hastig herein): Warum kommt ihr denn nicht? Immer brauchst du so lange.

Tolstoj (sich ihr zuwendend, sein Gesichtsausdruck ist bereits vollkommen ruhig, und er sagt langsam, mit nur den andern verständlicher Betonung): Ja, du hast recht, ich brauche immer und zu allem lange. Aber wichtig ist doch nur das eine: daß dem Menschen Zeit bleibt, rechtzeitig das Rechte zu tun.

Zweite Szene

Im gleichen Zimmer. Spätnacht des folgenden Tages.

Der Sekretär: Sie sollten sich heute früher niederlegen, Leo Nikolajewitsch, Sie müssen müde sein nach dem langen Ritt und den Aufregungen.

Tolstoj: Nein, gar nicht müde bin ich. Müde macht den Menschen nur eines: Schwanken und Unsichersein. Jede Tat befreit, selbst die schlechte ist besser als Nichttun. (Er geht im Zimmer auf und ab.) Ich weiß nicht, ob ich heute richtig gehandelt habe, ich muß erst mein Gewissen fragen. Daß ich mein Werk an alle zurückgab, hat mir die Seele leicht gemacht, aber ich glaube, ich hätte dies Testament nicht heimlich machen dürfen, sondern offen vor allen und mit dem Mut der Überzeugung. Vielleicht habe ich unwürdig getan, was um der Wahrheit willen freimütig hätte getan sein müssen – aber gottlob, nun ist es geschehen, eine Stufe weiter im Leben, eine Stufe näher dem Tod. Jetzt bliebe nur noch das Schwerste, das Letzte: zur rechten Stunde ins Dickicht kriechen wie ein Tier, wenn das Ende kommt, denn in diesem Hause wird mein Tod unwahrhaftig sein wie mein Leben. Dreiundachtzig Jahre bin ich alt, und noch immer, noch immer finde ich nicht die Kraft, mich ganz vom Irdischen loszureißen, und vielleicht versäume ich die rechte Stunde.

Der Sekretär: Wer weiß seine Stunde! Wenn man die wüßte, wäre alles gut.

Tolstoj: Nein, Wladimir Georgewitsch, gar nicht gut wäre das. Kennen Sie nicht die alte Legende, ein Bauer hatte sie mir einmal erzählt, wie Christus das Wissen um den Tod von den Menschen nahm? Vordem kannte ein jeder im voraus seine Todesstunde, und als Christus einmal auf Erden kam, merkte er, daß manche Bauern nicht ihren Acker bestellten und wie die Sünder lebten. Da tadelte er einen unter ihnen um seiner Lässigkeit willen, doch der Schächer murrte nur: für wen solle er da noch Saat eingießen in die Erde, wenn er die Ernte nicht mehr erlebe. Da erkannte Christus, daß es schlecht wäre, wenn die Menschen im voraus wüßten um ihren Tod, und nahm ihnen ihr Wissen. Seitab müssen die Bauern ihr Feld bestellen bis zum letzten Tage, als ob sie ewig lebten, und dies ist recht, denn nur durch die Arbeit hat man am Ewigen teil. So will auch ich noch heute (er deutet auf sein Tagebuch) mein tägliches Feld bestellen.

(Heftige Schritte von außen, die Gräfin tritt ein, schon im Nachtkleid, und wirft einen bösen Blick auf den Sekretär.)

Die Gräfin: Ach so . . . ich dachte, du wärest endlich allein . . . ich wollte mit dir sprechen . . .

Der Sekretär (verbeugt sich): Ich gehe schon.

Tolstoj:: Leben Sie wohl, lieber Wladimir Georgewitsch.

Die Gräfin (kaum daß die Tür sich hinter ihm geschlossen): Immer ist er um dich, wie eine Klette hängt er dir an . . . und mich, mich haßt er, er will mich von dir entfernen, dieser schlechte, heimtückische Mensch.

Tolstoj: Du bist ungerecht gegen ihn, Sonja.

Die Gräfin: Ich will nicht gerecht sein! Er hat sich eingedrängt zwischen uns, gestohlen hat er dich mir, entfremdet deinen Kindern. Nichts gelte ich mehr, seit er hier ist, das Haus, du selbst gehörst jetzt aller Welt, nur uns nicht, deinen Nächsten.

Tolstoj: Könnte ich's nur in Wahrheit! So will es ja Gott, daß man allen gehöre und nichts für sich behalte und die Seinen.

Die Gräfin: Ja, ich weiß, das redet er dir ein, dieser Dieb an meinen Kindern, ich weiß, er bestärkt dich gegen uns alle. Darum dulde ich ihn nicht mehr im Haus, diesen Aufreizer, ich will ihn nicht.

Tolstoj: Aber Sonja, du weißt doch, daß ich ihn brauche für meine Arbeit.

Die Gräfin: Du findest hundert andere! (Abweisend:) Ich ertrage nicht seine Nähe. Ich will diesen Menschen nicht zwischen dir und mir.

Tolstoj: Sonja, Gute, ich bitte dich, errege dich nicht. Komm, setze dich hierher, sprechen wir doch still miteinander – ganz so wie in der hingegangenen Zeit, als unser Leben anfing –, bedenke doch, Sonja, wie wenig bleibt uns an guten Worten und an guten Tagen noch! (Die Gräfin sieht beunruhigt um sich und setzt sich zitternd nieder.) Sieh, Sonja, ich brauche diesen Menschen – vielleicht brauche ich ihn nur, weil ich schwach bin im Glauben, denn, Sonja, ich bin nicht so stark, als ich mir wünschte zu sein. Jeder Tag zwar bestätigt mir's, viele Tausende Menschen sind irgendwo weit in der Welt, die meinen Glauben teilen, aber versteh dies, so ist unser irdisches Herz; es braucht, um seiner sicher zu bleiben, wenigstens von einem Menschen die nahe, die atmende, die sichtbare, die fühlbare, die greifbare Liebe. Vielleicht konnten die Heiligen ohne Helfer allein in ihrer Zelle wirken und auch ohne Zeugen nicht verzagen, aber sieh, Sonja, ich bin doch kein Heiliger – ich bin nichts als ein sehr schwacher und schon alter Mann. Deshalb muß ich jemanden nahe haben, der meinen Glauben teilt, diesen Glauben, der jetzt das Teuerste meines alten, einsamen Lebens ist. Mein größtes Glück freilich wäre das gewesen, wenn du selbst, du, die ich seit achtundvierzig Jahren dankbar achte, wenn du an meinem religiösen Bewußtsein teilgenommen hättest. Aber Sonja, du hast es ja niemals gewollt. Was meiner Seele das Teuerste ward, das siehst du ohne Liebe, und ich fürchte, du siehst es sogar mit Haß. (Die Gräfin macht eine Bewegung.) Nein, Sonja, mißverstehe mich nicht, ich klage dich nicht an. Du hast mir und der Welt gegeben, was du geben konntest, viel mütterliche Liebe und Sorgenfreudigkeit; wie solltest du Opfer bringen für eine Überzeugung, die du nicht mitlebst in deiner Seele. Wie sollte ich dir Schuld geben, daß du meine innersten Gedanken nicht teilst – bleibt doch immer das geistige Leben eines Menschen, seine letzten Gedanken ein Geheimnis zwischen ihm und seinem Gott. Aber sieh, da ist ein Mensch gekommen, endlich einer in mein Haus, hat vordem selbst gelitten in Sibirien für seine Überzeugung und teilt nun die meine, ist mir Helfer und lieber Gast, hilft und bestärkt mich in meinem inneren Leben – warum willst du mir diesen Menschen nicht lassen?

Die Gräfin: Weil er dich mir entfremdet hat, und das kann ich nicht ertragen, das kann ich nicht ertragen. Das macht mich rasend, das macht mich krank, denn ich spüre genau, alles, was ihr tut, geht gegen mich. Heute wieder, mittags, habe ich ihn ertappt, da steckte er hastig ein Papier weg, und keiner von euch konnte mir aufrecht in die Augen sehn: nicht er und nicht du, und nicht Sascha! Ihr alle verbergt etwas vor mir. Ja, ich weiß es, ich weiß es, ihr habe etwas Böses gegen mich getan.

Tolstoj: Ich hoffe, daß Gott mich, eine Handbreit vor meinem Tode, davor bewahrt, wissentlich etwas Böses zu tun.

Die Gräfin (leidenschaftlich): Also du bestreitest nicht, daß ihr Heimliches getan habt . . . etwas gegen mich. Ah, du weißt, vor mir kannst du nicht lügen wie vor den andern.

Tolstoj (heftig auffahrend): Ich lüge vor den andern? Das sagst du mir, du, um derentwillen ich vor allen als Lügner erscheine. (Sich bezähmend:) Nun, ich hoffe zu Gott, daß ich die Sünde der Lüge wissentlich nicht begehe. Vielleicht ist es mir schwachem Menschen nicht gegeben, immer die ganze Wahrheit zu sagen, aber dennoch glaube ich, darum kein Lügner, kein Betrüger an den Menschen zu sein.

Die Gräfin: Dann sage mir, was ihr getan habt – was war das für ein Brief, für ein Papier . . . quäle mich doch nicht länger . . .

Tolstoj (auf sie zutretend, sehr sanft): Sofia Andrejewna, nicht ich quäle dich, sondern du selbst quälst dich, weil du mich nicht mehr liebst. Hättest du noch Liebe, so hättest du auch Vertrauen zu mir – Vertrauen selbst dort, wo du mich nicht mehr begreifst. Sofia Andrejewna, ich bitte dich, sieh doch in dich hinein: achtundvierzig Jahre leben wir zusammen! Vielleicht findest du aus diesen vielen Jahren irgendwo noch aus vergessener Zeit in irgendeiner Falte deines Wesens ein wenig Liebe zu mir: dann nimm, ich bitte dich, diesen Funken und fache ihn an, versuche noch einmal zu sein, die du mir so lange warst, liebend, vertrauend, sanft und hingegeben; denn, Sonja, manchmal erschrecke ich, wie du jetzt zu mir bist.

Die Gräfin (erschüttert und erregt): Ich weiß nicht mehr, wie ich bin. Ja, du hast recht, häßlich bin ich geworden und böse. Aber wer könnte das ertragen, mit anzusehen, wie du dich quälst, mehr zu sein als ein Mensch – diese Wut, mit Gott zu leben, diese Sünde. Denn Sünde, ja Sünde ist das, Hochmut, Überhebung und nicht Demut, sich so hinzudrängen zu Gott und eine Wahrheit zu suchen, die uns versagt ist. Früher, früher, da war alles gut und klar, man lebte wie alle andern Menschen, redlich und rein, hatte seine Arbeit und sein Glück, und die Kinder wuchsen auf, und man freute sich schon ins Alter hinein. Und plötzlich mußte dies über dich kommen, damals vor dreißig Jahren, dieser furchtbare Wahn, dieser Glaube, der dich und uns alle unglücklich macht. Was kann ich dafür, daß ich's heute noch nicht verstehe, welchen Sinn das hat, daß du Ofen putzest und Wasser trägst und schlechte Stiefel schusterst, du, den eine Welt als ihren größten Künstler liebt. Nein, noch immer will das, mir nicht eingehn, warum unser klares Leben, fleißig und sparsam, still und einfach, warum das mit einemmal Sünde sein sollte an andern Menschen. Nein, ich kann es nicht verstehen, ich kann, ich kann es nicht.

Tolstoj (sehr sanft): Sieh, Sonja, gerade dies sagte ich dir ja: dort, wo wir nicht begreifen, eben dort müssen wir dank unserer Liebeskraft vertrauen. So ist es mit den Menschen, so auch mit Gott. Meinst du, ich maße mir wirklich an, das Rechte zu wissen? Nein, ich vertraue nur, was man so redlich tut, um das man so bitter sich quält, das kann vor Gott und den Menschen nicht ganz ohne Sinn und Wert sein. So versuche auch du, Sonja, ein wenig zu glauben, wo du mich nicht mehr begreifst, vertraue doch wenigstens meinem Willen zum Rechten, und alles, alles wird noch einmal gut.

Die Gräfin (unruhig): Aber du sagst mir dann alles . . . du wirst mir alles sagen, was ihr heute getan habt.

Tolstoj (sehr ruhig): Alles werde ich dir sagen, nichts will ich mehr verbergen und heimlich tun, in meinem Handbreit Leben. Ich warte nur, bis Serjoschka und Andrey zurück sind, dann will ich vor euch alle hintreten und aufrichtig sagen, was ich in diesen Tagen beschlossen. Aber diese kurze Frist, Sonja, lasse dein Mißtrauen und spüre mir nicht nach – es ist dies meine einzige, meine innigste Bitte, Sofia Andrejewna, willst du sie erfüllen?

Die Gräfin: Ja . . . ja . . . gewiß . . . gewiß.

Tolstoj: Ich danke dir. Sieh, wie leicht doch alles wird durch Offenheit und Zuversicht! Wie gut, daß wir sprachen in Frieden und Freundschaft. Du hast mir das Herz wieder warm gemacht. Denn sieh, als du eintratest, da lag dunkel das Mißtrauen auf deinem Gesicht, fremd war mir's durch Unruhe und Haß, und ich erkannte dich nicht als jene von einst. Nun liegt deine Stirn wieder klar, und ich erkenne wieder deine Augen, Sofia Andrejewna, deine Mädchenaugen von einst, gut und mir zugewandt. Aber nun ruhe dich aus, du Liebe, es ist spät! Ich danke dir von Herzen. (Er küßt sie auf die Stirn, die Gräfin geht, bei der Tür wendet sie sich noch einmal erregt um.)

Die Gräfin: Aber du wirst mir alles sagen? Alles?

Tolstoj (noch immer ganz ruhig): Alles, Sonja. Und du gedenke deines Versprechens.

(Die Gräfin entfernt sich langsam mit einem unruhigen Blick auf den Schreibtisch.)

Tolstoj (geht mehrmals im Zimmer auf und ab, dann setzt er sich zum Schreibtisch, schreibt einige Worte in das Tagebuch. Nach einer Weile steht er auf, schreitet auf und nieder, tritt noch einmal zum Pult zurück, blättert nachdenklich in dem Tagebuch und liest halblaut das Geschriebene): »Ich bemühe mich, Sofia Andrejewna gegenüber so ruhig und fest als möglich zu sein, und glaube, ich werde mein Ziel, sie zu beruhigen, mehr oder weniger erreichen . . . Heute habe ich zum erstenmal die Möglichkeit gesehen, sie in Güte und Liebe zum Nachgeben zu bringen . . . Ach, wenn doch . . .« (Er legt das Tagebuch nieder, atmet schwer, um schließlich ins Nebenzimmer hinüberzugehen und dort Licht zu entzünden. Dann kommt er noch einmal zurück, zieht sich mühsam die schweren Bauernschuhe von den Füßen, legt den Rock ab. Dann löscht er das Licht und geht, bloß in den breiten Hosen und dem Arbeitshemd, in seinen Schlafraum nebenan.)

(Für einige Zeit bleibt das Zimmer vollkommen still und dunkel. Es geschieht nichts. Man hört keinen Atemzug. Plötzlich öffnet sich leise, mit diebischer Vorsicht, die Eingangstür ins Arbeitszimmer. Jemand tappt auf bloßen Sohlen in den stockschwarzen Raum, in der Hand eine Blendlaterne, die jetzt vorgewendet einen schmalen Kegel Licht zunächst auf den Fußboden wirft. Es ist die Gräfin. Ängstlich blickt sie um sich, lauscht zuerst an der Tür des Schlafzimmers, dann schleicht sie, offenbar beruhigt, zum Schreibtisch hinüber. Die aufgestellte Blendlaterne erhellt nun mit weißem Kreis einzig den Raum um den Schreibtisch inmitten des Dunkels. Die Gräfin, von der man nur die zuckenden Hände im Lichtkreis sieht, greift zuerst nach dem zurückgelassenen Schriftstück, beginnt in nervöser Unruhe im Tagebuch zu lesen, schließlich zieht sie vorsichtig eine nach der andern von den Schreibtischladen auf, stöbert immer hastiger in den Papieren, ohne etwas zu finden. Schließlich nimmt sie mit einer zuckenden Bewegung die Laterne wieder in die Hand und tappt hinaus. Ihr Gesicht ist vollkommen verstört wie das einer Mondsüchtigen. Kaum hat sich die Tür hinter ihr geschlossen, so reißt seinerseits Tolstoj mit einem Ruck die Tür vom Schlafzimmer auf. Er hält eine Kerze in der Hand, und sie schwankt hin und her, so furchtbar schüttelt die Erregung den alten Mann: er hat seine Frau belauscht. Schon stürzt er ihr nach, schon faßt er die Klinke der Eingangstür, plötzlich aber wendet er sich gewaltsam um, stellt ruhig und entschlossen die Kerze auf den Schreibtisch, geht zur Nachbartür an der andern Seite und klopft ganz leise und vorsichtig an.)

Tolstoj (leise): Duschan . . . Duschan . . .

Stimme Duschans (vom Nebenzimmer her): Seid Ihr es, Leo Nikolajewitsch?

Tolstoj: Leise, leise, Duschan! Und komm sofort heraus . . .

Duschan (kommt aus dem Nebenzimmer, auch er nur halb bekleidet.)

Tolstoj: Wecke meine Tochter Alexandra Lwowna, sie soll sofort herüberkommen. Dann laufe rasch hinab in den Stall und befiehl Grigor, die Pferde einzuspannen, aber ganz leise soll er es tun, damit niemand im Hause etwas merkt. Und daß du mir selber leise bist! Zieh keine Schuhe an, und gibt acht, die Türen knarren. Wir müssen fort, unverzüglich – es ist keine Zeit zu verlieren.

(Duschan eilt fort. Tolstoj setzt sich hin, zieht sich entschlossen die Stiefel wieder an, nimmt seinen Rock, fährt hastig hinein, dann sucht er einige Papiere und rafft sie zusammen. Seine Bewegungen sind energisch, aber manchmal fieberhaft. Auch während er jetzt am Schreibtisch einige Worte auf ein Blatt wirft, zucken seine Schultern.)

Sascha (leise eintretend): Was ist geschehen, Vater?

Tolstoj: Ich fahre fort, ich breche aus . . . endlich . . . endlich ist es entschieden. Vor einer Stunde hat sie mir geschworen, Vertrauen zu haben, und jetzt, um drei Uhr nachts, ist sie heimlich in mein Zimmer eingebrochen, die Papiere zu durchwühlen . . . Aber das war gut, das war sehr gut . . . nicht ihr Wille war das, das war ein anderer Wille. Wie oft habe ich Gott gebeten, er möge mir ein Zeichen schenken, wenn es Zeit ist – nun ward mir's gegeben, denn jetzt habe ich ein Recht, sie allein zu lassen, die meine Seele verlassen hat.

Sascha: Aber wohin willst du, Vater?

Tolstoj: Ich weiß nicht, ich will es nicht wissen . . . Irgendwohin, nur fort aus der Unwahrhaftigkeit dieses Daseins. . . . irgendwohin . . . Es gibt viele Straßen auf Erden, und irgendwo wartet schon ein Stroh oder ein Bett, wo ein alter Mann ruhig sterben kann.

Sascha: Ich begleite dich . . .

Tolstoj: Nein. Du mußt noch bleiben, sie beruhigen . . . sie wird ja rasen . . . ach, was wird sie leiden, die Arme! . . . Und ich bin es, der sie leiden macht . . . Aber ich kann nicht anders, ich kann nicht mehr . . . ich ersticke sonst hier. Du bleibst hier zurück, bis Andrey und Serjoschka eintreffen. Dann erst reise mir nach, ich fahre zuerst ins Kloster von Schamardino, um Abschied zu nehmen von meiner Schwester, denn ich spüre, die Zeit des Abschiednehmens ist für mich gekommen.

Duschan (hastig zurück): Der Kutscher hat eingespannt.

Tolstoj: Dann mach dich selber fertig, Duschan, da die paar Papiere steck zu dir . . .

Sascha: Aber Vater, du mußt den Pelz nehmen, es ist bitterkalt in der Nacht. Ich will rasch noch wärmere Kleider für dich einpacken . . .

Tolstoj: Nein, nein, nichts mehr. Mein Gott, wir dürfen nicht mehr zögern . . . ich will nicht mehr warten . . . sechsundzwanzig Jahre warte ich auf diese Stunde, auf dieses Zeichen . . . mach rasch, Duschan . . . es könnte uns jemand noch aufhalten und hindern. Da, die Papiere nimm, die Tagebücher, den Bleistift . . .

Sascha: Und das Geld für die Bahn, ich will es holen . . .

Tolstoj: Nein, kein Geld mehr! Ich will keines mehr anrühren. Sie kennen mich an der Bahn, sie werden mir Karten geben, und weiter wird Gott helfen. Duschan, mach fertig, komm. (Zu Sascha:) Du, gib ihr diesen Brief: es ist mein Abschied, möge sie mir ihn vergeben! Und schreibe mir, wie sie es ertragen hat.

Sascha: Aber Vater, wie soll ich dir schreiben? Sofort erfahren sie, nenne ich an der Post den Namen, deinen Aufenthalt und jagen dir nach. Du mußt einen falschen Namen annehmen.

Tolstoj: Ach, immer lügen! Immer lügen, immer wieder sich die Seele erniedern mit Heimlichkeiten . . . aber du hast recht . . . Komm doch, Duschan! . . . Wie du willst, Sascha . . . es ist ja nur zum Guten . . . also wie soll ich mich nennen?

Sascha (denkt einen Augenblick nach): Ich unterschreibe alle Depeschen mit Frolowa, und du nennst dich T. Nikolajew.

Tolstoj (schon ganz fieberhaft vor Eile): T. Nikolajew . . . gut . . . gut . . . Und nun lebe wohl (er umarmt sie). T. Nikolajew, sagst du, soll ich mich nennen. Noch eine Lüge, noch eine! Nun – gebe Gott, dies möge meine letzte Unwahrheit vor den Menschen sein.

(Er geht hastig ab.)

Dritte Szene

Drei Tage später (31. Oktober 1910).

Der Wartesaal im Eisenbahnstationsgebäude von Astapowo. Rechts führt eine große, verglaste Tür hinaus auf den Perron, links eine kleinere Tür zum Wohnraum des Stationsvorstehers, Iwan Iwanowitsch Osoling. Auf den Holzbänken des Wartesaales und um einen Tisch sitzen einige wenige Passagiere, um auf den Schnellzug aus Danlow zu warten: Bäuerinnen, die, eingehüllt in ihre Tücher, schlafen, kleine Händler in Schafspelzen, außerdem ein paar Angehörige großstädtischer Stände, offenbar Beamte oder Kaufleute.

Erster Reisender (in einer Zeitung lesend, plötzlich laut): Das hat er ausgezeichnet gemacht! Ein famoses Stück von dem Alten! Das hätte keiner mehr erwartet.

Zweiter Reisender: Was gibt's denn?

Erster Reisender: Durchgebrannt ist er, Leo Tolstoj, aus seinem Haus, niemand weiß, wohin. Nachts hat er sich aufgemacht, die Stiefel angezogen und den Pelz, und so, ohne Gepäck und ohne Abschied zu nehmen, ist er davongefahren, nur von seinem Arzt, Duschan Petrowitsch, begleitet.

Zweiter Reisender: Und die Alte hat er zu Hause gelassen. Kein Spaß für Sofia Andrejewna. Dreiundachtzig muß er jetzt alt sein. Wer hätte das von ihm gedacht, und wohin, sagst du, ist er gefahren?

Erster Reisender: Das möchten sie eben wissen, die zu Hause und die in den Zeitungen. In der ganzen Welt telegraphieren sie jetzt herum. An der bulgarischen Grenze will ihn einer gesehen haben, und andere reden von Sibirien. Aber kein Mensch weiß etwas Wirkliches. Gut hat er das gemacht, der Alte!

Dritter Reisender (junger Student): Wie sagt ihr? Leo Tolstoj ist von Haus weggefahren, bitte gebt mir die Zeitung, laßt mich's selber lesen (wirft einen Blick hinein). Oh, das ist gut, das ist gut, daß er sich endlich aufgerafft hat.

Erster Reisender: Warum denn gut?

Dritter Reisender: Weil es schon eine Schande war gegen sein Wort, wie er lebte. Genug lange haben sie ihn gezwungen, den Grafen zu spielen, und mit Schmeicheleien die Stimme erwürgt. Jetzt kann Leo Tolstoj endlich frei aus seiner Seele zu den Menschen sprechen, und Gott gebe, daß durch ihn die Welt erfahre, was hier in Rußland am Volke geschieht. Ja, gut ist es, Segen und Genesung für Rußland, daß dieser heilige Mann sich endlich gerettet hat.

Zweiter Reisender: Vielleicht ist aber alles gar nicht wahr, was die hier schwätzen, vielleicht (er wendet sich um, ob niemand zuhört, und flüstert:) vielleicht haben sie das nur hineingetan in die Zeitungen, um irre zu machen, und in Wahrheit ihn ausgehoben und weggeschafft . . .

Erster Reisender: Wer sollte ein Interesse haben, Leo Tolstoj fortzuschaffen . . .

Zweiter Reisender: Sie . . . sie alle, denen er im Wege ist, sie alle, der Synod und die Polizei und das Militär, sie alle, die sich vor ihm fürchten. Es sind schon einige so verschwunden – ins Ausland, hat man dann gesagt. Aber wir wissen, was sie mit dem Ausland meinen . . .

Erster Reisender (auch leise): Das könnte schon sein . . .

Dritter Reisender: Nein, das wagen sie doch nicht. Dieser eine Mann ist mit seinem bloßen Wort stärker als sie alle, nein, das wagen sie nicht, denn sie wissen, wir holten ihn heraus mit unsern Fäusten.

Erster Reisender (hastig): Vorsicht . . . aufgepaßt . . . Cyrill Gregorowitsch kommt . . . rasch die Zeitung weg . . .

(Der Polizeimeister Cyrill Gregorowitsch ist in voller Uniform hinter der Glastür vom Bahnsteig her aufgetaucht. Er wendet sich sofort zum Zimmer des Stationsvorstehers und klopft an.)

Iwan Iwanowitsch Osoling (der Stationsvorsteher, aus seinem Zimmer, mit der Dienstkappe auf dem Kopf): Ach, Ihr seid es, Cyrill Gregorowitsch . . .

Polizeimeister: Ich muß Euch sofort sprechen. Ist Eure Frau bei Euch im Zimmer?

Vorsteher: Ja.

Polizeimeister: Dann lieber hier! (Zu den Reisenden in scharfem, befehlshaberischem Ton:) Der Schnellzug aus Danlow wird gleich eintreffen; bitte, sofort das Wartezimmer zu räumen und sich auf den Bahnsteig zu begeben. (Alle stehen auf und drücken sich hastig hinaus. Der Polizeimeister zum Stationsvorsteher:) Eben sind wichtige chiffrierte Telegramme eingelaufen. Man hat festgestellt, daß Leo Tolstoj auf seiner Flucht vorgestern bei seiner Schwester im Kloster Schamardino eingetroffen ist. Gewisse Anzeichen lassen vermuten, daß er beabsichtigt, von dort weiterzureisen, und jeder Zug von Schamardino nach jeder Richtung wird seit vorgestern von Polizeiagenten begleitet.

Vorsteher: Aber erklärt mir, Väterchen Cyrill Gregorowitsch, weshalb denn eigentlich? Ist doch keiner von den Unruhestiftern, Leo Tolstoj, ist doch unsere Ehre, ein wirklicher Schatz für unser Land, dieser große Mann.

Polizeimeister: Macht aber mehr Unruhe und Gefahr als die ganze Bande von Revolutionären. Übrigens, was kümmert's mich, hab' nur Auftrag, jeden Zug zu überwachen. Nun wollen die in Moskau aber unsere Aufsicht vollkommen unsichtbar. Deshalb bitte ich Sie, Iwan Iwanowitsch, statt meiner, den jeder an der Uniform kennt, auf den Bahnsteig zu gehen. Sofort nach Ankunft des Zuges wird ein Geheimpolizist aussteigen und Ihnen mitteilen, was man auf der Strecke beobachtet hat. Ich gebe die Meldung dann sofort weiter.

Vorsteher: Wird zuverlässig besorgt.

(Von der Einfahrt her das Glockensignal des nahenden Zuges.)

Polizeimeister: Sie begrüßen den Agenten ganz unauffällig wie einen alten Bekannten, nicht wahr? Die Passagiere dürfen die Überwachung nicht merken; kann uns beiden nur von Vorteil sein, wenn wir alles geschickt durchführen, denn jeder Bericht geht nach Petersburg bis an die höchste Stelle: vielleicht fischt da auch unsereiner einmal das Georgskreuz.

(Der Zug fährt rückwärts donnernd ein. Der Stationsvorsteher stürzt sofort durch die Glastür hinaus. Nach einigen Minuten kommen schon die ersten Passagiere, Bauern und Bäuerinnen mit schweren Körben, laut und lärmend durch die Glastür. Einige lassen sich im Wartezimmer nieder, um auszurasten oder Tee zu kochen.)

Vorsteher (plötzlich durch die Tür. Aufgeregt schreit er die Sitzenden an:) Sofort den Raum verlassen! Alle! Sofort! . . .

Die Leute (erstaunt und murrend): Aber warum denn . . . haben doch bezahlt . . . warum soll man hier im Warteraum nicht sitzen dürfen . . . Warten doch nur auf den Personenzug.

Vorsteher (schreiend): Sofort, sage ich, sofort alle hinaus! (Er drängt sie hastig weg, eilt wieder zur Tür, die er weit öffnet.) Hier, bitte, führen Sie den Herrn Grafen herein!

Tolstoj (rechts von Duschan, links von seiner Tochter Sascha geführt, tritt mühsam herein. Er hat den Pelz hoch aufgeschlagen, einen Schal um den Hals, und doch merkt man, daß der ganze umhüllte Körper friert und zittert. Hinter ihm drängen fünf oder sechs Leute nach.)

Vorsteher (zu den Nachdrängenden): Draußen bleiben!

Stimmen: Aber lassen Sie uns doch . . . wir wollen ja nur Leo Nikolajewitsch behilflich sein . . . vielleicht etwas Kognak oder Tee . . .

Vorsteher (ungeheuer erregt): Niemand darf hier herein! (Er drängt sie gewaltsam zurück und sperrt die Glastür zum Bahnsteig ab; man sieht aber die ganze Zeit noch neugierige Gesichter hinter der Glastür vorübergehen und hereinspähen. Der Stationsvorsteher hat rasch einen Sessel aufgegriffen und neben den Tisch bereitgestellt.) Wollen Durchlaucht nicht ein wenig ruhen und sich niedersetzen?

Tolstoj: Nicht Durchlaucht . . . Gottlob nicht mehr . . . nie mehr, das ist zu Ende. (Er sieht sich erregt um, bemerkt die Menschen hinter der Glastür:) Weg . . . weg mit diesen Menschen . . . will allein sein . . . immer Menschen . . . einmal allein sein . . .

Sascha (eilt zur Glastür hin und verhängt sie hastig mit den Mänteln).

Duschan (inzwischen leise mit dem Vorsteher sprechend): Wir müssen ihn sofort zu Bett bringen, er hat plötzlich einen Fieberanfall im Zug bekommen, über vierzig Grad, ich glaube, es steht nicht gut um ihn. Ist hier ein Gasthof in der Nähe mit ein paar anständigen Zimmern?

Vorsteher: Nein, gar nichts! In ganz Astapowo gibt es keinen Gasthof.

Duschan: Aber er muß sofort zu Bett. Sie sehen ja, wie er fiebert. Es kann gefährlich werden.

Vorsteher: Ich würde mir's selbstverständlich nur zur Ehre rechnen, mein Zimmer hier nebenan Leo Tolstoj anzubieten . . . aber verzeihen Sie . . . es ist so gänzlich ärmlich, so einfach . . . ein Dienstraum, ebenerdig, eng . . . wie dürfte ich wagen, Leo Tolstoj darin zu beherbergen . . .

Duschan: Das tut nichts, wir müssen ihn zunächst um jeden Preis zu Bett bringen. (Zu Tolstoj, der frierend am Tisch sitzt, geschüttelt von plötzlichen Frostschauern:) Der Herr Stationsvorsteher ist so freundlich, uns sein Zimmer anzubieten. Sie müssen jetzt sofort ausruhen, morgen sind Sie dann wieder ganz frisch, und wir können weiterreisen.

Tolstoj: Weiterreisen? . . . Nein, nein, ich glaube, ich werde nicht mehr reisen . . . das war meine letzte Reise, und ich bin schon am Ziel.

Duschan (ermutigend): Nur keine Sorge wegen der paar Striche Fieber, das hat nichts zu bedeuten. Sie haben sich ein wenig erkältet – morgen fühlen Sie sich wieder ganz wohl.

Tolstoj: Ich fühle mich schon jetzt ganz wohl . . . ganz, ganz wohl . . . Nur heute nacht, das war furchtbar, da kam es über mich, sie könnten mir nachsetzen von zu Hause, sie würden mich einholen und zurück in jene Hölle . . . und da bin ich aufgestanden und habe euch geweckt, so stark riß es mich auf. Den ganzen Weg ließ mich nicht diese Angst, das Fieber, daß mir die Zähne schlugen . . . Aber jetzt, seit ich hier bin . . . aber wo bin ich eigentlich? . . . nie habe ich diesen Ort gesehen . . . jetzt ist's auf einmal ganz anders . . . jetzt habe ich gar keine Angst mehr . . . ich glaube, sie holen mich nicht mehr ein.

Duschan: Gewiß nicht, gewiß nicht. Sie können beruhigt sich zu Bett legen, hier findet Sie niemand.

(Die beiden helfen Tolstoj auf.)

Vorsteher (ihm entgegentretend): Ich bitte zu entschuldigen . . . ich konnte nur ein ganz einfaches Zimmer anbieten . . . mein einziges Zimmer . . . Und das Bett ist vielleicht auch nicht gut . . . nur ein Eisenbett . . . Aber ich will alles veranlassen, werde sofort telegraphisch ein anderes kommen lassen mit dem nächsten Zug . . .

Tolstoj: Nein, nein, nichts anderes . . . Zu lange, viel zu lange habe ich es besser gehabt als die andern! Je schlechter jetzt, um so besser für mich! Wie sterben denn die Bauern? . . . und sterben doch auch einen guten Tod . . .

Sascha (ihm weiterhelfend): Komm, Vater, komm, du wirst müde sein.

Tolstoj (noch einmal stehenbleibend): Ich weiß nicht . . . ich bin müde, du hast recht, in allen Gliedern zieht's hinab, ich bin sehr müde, und doch erwarte ich noch etwas . . . es ist so, wie wenn man schläfrig ist und kann doch nicht schlafen, weil man an etwas Gutes denkt, das einem bevorsteht, und man will den Gedanken nicht an den Schlaf verlieren . . . Sonderbar, so war's mir noch nie . . . vielleicht ist das schon etwas vom Sterben . . . Jahre und jahrelang, ihr wißt ja, habe ich immer Angst gehabt vor dem Sterben, eine Angst, daß ich nicht liegen konnte in meinem Bette, daß ich hätte schreien können wie ein Tier und mich verkriechen. Und jetzt, vielleicht ist er da drinnen im Zimmer, der Tod, und erwartet mich. Und doch, ich gehe ganz ohne Angst ihm entgegen. (Sascha und Duschan haben ihn bis zur Tür gestützt.)

Tolstoj (bei der Tür stehenbleibend und hineinsehend): Gut ist das hier, sehr gut. Klein, eng, nieder, arm . . . Mir ist, als hätte ich dies einmal geträumt, so ein fremdes Bett, irgendwo in einem fremden Haus, ein Bett, in dem einer liegt . . . ein alter, müder Mann . . . warte, wie hieß er nur, ich habe es doch geschrieben vor ein paar Jahren, wie hieß er doch nur, der alte Mann? . . . der einmal reich war und dann ganz arm zurückkommt, und niemand kennt ihn, und er kriecht auf das Bett neben den Ofen . . . Ach, mein Kopf, mein dummer Kopf! . . . wie hieß er nur, der alte Mann? . . . er, der reich gewesen ist und hat nur mehr das Hemd auf dem Leibe . . . und die Frau, die ihn kränkte, ist nicht bei ihm, wie er stirbt . . . Ja, ja, ich weiß schon, ich weiß, Kornej Wasiljew habe ich ihn damals in meiner Erzählung genannt, den alten Mann. Und in der Nacht, da er stirbt, weckt Gott das Herz auf in seiner Frau, und sie kommt, Marfa, ihn noch einmal zu sehen . . . Aber sie kommt zu spät, er liegt schon ganz starr auf dem fremden Bett mit geschlossenen Augen, und sie weiß nicht, ob er ihr noch zürnt oder schon vergeben hat. Sie weiß nicht mehr, Sofia Andrejewna . . . (wie aufwachend:) Nein, Marfa heißt sie doch . . . ich verwirre mich schon . . . Ja, ich will mich hinlegen. (Sascha und der Vorsteher haben ihn weiter geleitet. Tolstoj zum Vorsteher:) Ich danke dir, fremder Mensch, daß du mir Herberge gibst in deinem Haus, daß du mir gibst, was das Tier hat im Walde . . . und zu dem mich, Kornej Wasiljew, Gott geschickt hat . . . (plötzlich ganz schreckhaft:) Aber schließt gut die Türe, laßt mir niemand herein, ich will keine Menschen mehr . . . nur allein sein mit ihm, tiefer, besser als jemals im Leben . . . (Sascha und Duschan führen ihn in den Schlafraum, der Vorsteher schließt hinter ihnen behutsam die Tür und bleibt benommen stehen.)

(Heftiges Klopfen von außen an der Glastür. Der Stationsvorsteher sperrt auf, der Polizeimeister tritt hastig herein.)

Polizeimeister: Was hat er Ihnen gesagt? Ich muß sofort alles melden, alles! Will er am Ende hier bleiben, und wie lange?

Vorsteher: Das weiß weder er noch irgendeiner. Das weiß Gott allein.

Polizeimeister: Aber wie konnten Sie Ihm Unterkunft geben in einem staatlichen Gebäude? Ist doch Ihre Dienstwohnung, die dürfen Sie nicht vergeben an einen Fremden.

Stationsvorsteher: Leo Tolstoj ist meinem Herzen kein Fremder. Kein Bruder steht mir näher als er.

Polizeimeister: Aber Ihre Pflicht war, zuvor anzufragen.

Stationsvorsteher: Ich habe mein Gewissen gefragt.

Polizeimeister: Nun, Sie nehmen es auf Ihre Kappe. Ich erstatte sofort die Meldung . . . Furchtbar, was für eine Verantwortung da plötzlich auf einen fällt! Wenn man wenigstens wüßte, wie man an höchster Stelle zu Leo Tolstoj steht . . .

Stationsvorsteher (sehr ruhig): Ich glaube, die wahrhaft höchste Stelle hat es immer gut mit Leo Tolstoj gemeint . . .

Polizeimeister (sieht ihn verdutzt an).

(Duschan und Sascha treten, vorsichtig die Tür zuziehend, aus dem Zimmer.)

Polizeimeister (entfernt sich schnell).

Stationsvorsteher: Wie haben Sie den Herrn Grafen verlassen?

Duschan: Er liegt ganz still – nie habe ich so ein Gesicht ruhiger gesehen. Hier kann er endlich einmal finden, was ihm die Menschen nicht gönnen: Frieden. Zum erstenmal ist er allein mit seinem Gott.

Stationsvorsteher: Verzeihen Sie mir, einem einfachen Menschen, aber mir zittert das Herz, ich kann es nicht fassen. Wie konnte Gott so viel Leides auf ihn häufen, daß Leo Tolstoj fliehen mußte aus seinem Haus und hier sterben soll in meinem armen, unwürdigen Bett . . . Wie können denn Menschen, russische Menschen, eine so heilige Seele verstören, wie vermögen sie ein anderes, denn ihn ehrfürchtig zu lieben . . .

Duschan: Gerade die einen großen Mann lieben, stehen oft zwischen ihm und seiner Aufgabe, und vor jenen, die ihm am nächsten stehen, muß er am weitesten fliehen. Es ist schon recht gekommen, wie es kam: Dieser Tod erst erfüllt und heiligt sein Leben.

Stationsvorsteher: Aber doch . . . mein Herz kann und will es nicht fassen, daß dieser Mensch, dieser Schatz unserer russischen Erde, hatte leiden müssen an uns Menschen, und man selbst lebte indes sorglos seine Stunden dahin . . . Da muß man sich doch seines eigenen Atems schämen . . .

Duschan: Beklagen Sie ihn nicht, Sie lieber, guter Mann: ein mattes und niederes Schicksal wäre seiner Größe nicht gemäß gewesen. Hätte er nicht an uns Menschen gelitten, nie wäre Leo Tolstoj geworden, der er heute der Menschheit ist.

 


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