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1940
Wenn ich zu Ihnen über das Wien von gestern spreche, soll dies kein Nekrolog, keine oraison funèbre sein. Wir haben Wien in unseren Herzen noch nicht begraben, wir weigern uns zu glauben, daß zeitweilige Unterordnung gleichbedeutend ist mit völliger Unterwerfung. Ich denke an Wien, so wie Sie an Brüder, an Freunde denken, die jetzt [1940] an der Front sind. Sie haben mit ihnen Ihre Kindheit verbracht, Sie haben Jahre mit ihnen gelebt, Sie danken ihnen glückliche gemeinsame Stunden. Nun sind sie fern von Ihnen und Sie wissen sie in Gefahr, ohne ihnen beistehen, ohne diese Gefahr teilen zu können. Gerade in solchen Stunden erzwungener Ferne fühlt man sich den Nächsten am meisten verbunden. So will ich zu Ihnen von Wien sprechen, meiner Vaterstadt und einer der Hauptstädte unserer gemeinsamen europäischen Kultur.
Sie haben in der Schule gelernt, daß Wien von je die Hauptstadt von Österreich war. Das ist nun richtig, aber die Stadt Wien ist älter als Österreich, älter als die habsburgische Monarchie, älter als das frühere und das heutige deutsche Reich. Als Vindobona von den Römern gegründet wurde, die als bewährte Städtegründer einen wunderbaren Blick für geographische Lage hatten, gab es nichts, was man Österreich nennen konnte. Von keinem österreichischen Stamm ist jemals bei Tacitus oder bei den anderen römischen Geschichtsschreibern berichtet. Die Römer legten nur an den günstigsten Stellen der Donau ein Castrum, eine militärische Siedlung an, um die Einfälle wilder Völkerschaften gegen ihr Imperium abzuwehren. Von dieser Stunde an war für Wien seine historische Aufgabe umschrieben, eine Verteidigungsstätte überlegener Kultur, damals der lateinischen, zu sein. Inmitten eines noch nicht zivilisierten und eigentlich niemandem gehörenden Landes werden die römischen Grundmauern gelegt, auf denen sich in späterer Zeit die Hofburg der Habsburger erheben wird. Und zu einer Zeit, wo rund um die Donau die deutschen und slawischen Völkerschaften noch ungesittet und nomadisch schwärmen, schreibt in unserem Wien der weise Kaiser Marc Aurel seine unsterblichen Meditationen, eines der Meisterwerke der lateinischen Philosophie.
Die erste literarische, die erste kulturelle Urkunde Wiens ist also nahezu achtzehnhundert Jahre alt. Sie gibt Wien unter allen Städten deutscher Sprache den Rang geistiger Anciennität, und in diesen achtzehnhundert Jahren ist Wien seiner Aufgabe treugeblieben, der höchsten, die eine Stadt zu erfüllen hat: Kultur zu schaffen und diese Kultur zu verteidigen. Wien hat als Vorposten der lateinischen Zivilisation standgehalten bis zum Untergang des römischen Reiches, um dann wieder aufzuerstehen als das Bollwerk der römisch-katholischen Kirche. Hier war, als die Reformation die geistige Einheit Europas zerriß, das Hauptquartier der Gegenreformation. An Wiens Mauern ist zweimal der Vorstoß der Osmanen gescheitert. Und als in unseren Tagen abermals das Barbarentum vorbrach, härter und herrschwilliger als je, hat Wien und das kleine Österreich verzweifelt festgehalten an seiner europäischen Gesinnung. Fünf Jahre lang hat es standgehalten mit allen Kräften; und erst als sie verlassen wurde in der entscheidenden Stunde, ist diese kaiserliche Residenz, diese »capitale« unserer altösterreichischen Kultur, zu einer Provinzstadt Deutschlands degradiert worden, dem es nie zugehört hatte. Denn wenn auch eine Stadt deutscher Sprache – nie ist Wien eine Stadt oder die Hauptstadt eines nationalen Deutschland gewesen. Es war Hauptstadt eines Weltreiches, das weit über die Grenzen Deutschlands nach Osten und Westen, Süden und Norden reichte bis nach Belgien empor, bis nach Venedig und Florenz hinab, Böhmen und Ungarn und den halben Balkan umfassend. Seine Größe und seine Geschichte war nie gebunden an das deutsche Volk und nationale Grenzen, sondern an die Dynastie der Habsburger, die mächtigste Europas, und je weiter das Habsburgerreich sich entfaltete, um so mehr wuchs die Größe und Schönheit dieser Stadt. Von der Hofburg aus, ihrem Herzen, und nicht von München, nicht von Berlin, die damals belanglose Städtchen waren, wurde durch Hunderte von Jahren die Geschichte bestimmt. In ihr ist immer wieder der alte Traum eines geeinten Europas geträumt worden; ein übernationales Reich, ein »heiliges römisches Reich«, schwebte den Habsburgern vor – und nicht etwa eine Weltherrschaft des Germanentums. All diese Kaiser dachten, planten, sprachen kosmopolitisch. Aus Spanien hatten sie sich die Etikette mitgebracht, Italien, Frankreich fühlten sie sich durch die Kunst verbunden, und durch Heirat allen Nationen Europas. Durch zwei Jahrhunderte ist am österreichischen Hofe mehr Spanisch, mehr Italienisch und Französisch gesprochen worden als Deutsch. Ebenso war der Adel, der sich rings um das Kaiserhaus scharte, vollkommen international; da waren die ungarischen Magnaten und die polnischen Großherren, da waren die alteingesessenen ungarischen, böhmischen, italienischen, belgischen, toscanischen, brabantischen Familien. Kaum einen deutschen Namen findet man unter all den prächtigen Barockpalästen, die sich um den Eugen von Savoyens reihen; diese Aristokraten heirateten untereinander und heirateten in ausländische Adelshäuser. Immer kam von außen neues fremdes Blut in diesen kulturellen Kreis, und ebenso mischte sich in ständigem Zustrom die Bürgerschaft. Aus Mähren, aus Böhmen, aus dem tirolerischen Gebirgsland, aus Ungarn, aus Italien kamen die Handwerker und Kaufleute: Slawen, Magyaren und Italiener, Polen und Juden strömten ein in den immer weiteren Kreis der Stadt. Ihre Kinder, ihre Enkel sprachen dann Deutsch, aber die Ursprünge waren nicht völlig verwischt. Die Gegensätze verloren nur durch die ständige Mischung ihre Schärfe, alles wurde hier weicher, verbindlicher, konzilianter, entgegenkommender, liebenswürdiger – also österreichischer, wienerischer.
Weil aus sovielen fremden Elementen bestehend, wurde Wien der ideale Nährboden für eine gemeinsame Kultur. Fremdes galt nicht als feindlich, als antinational, wurde nicht überheblich als undeutsch, als unösterreichisch abgelehnt, sondern geehrt und gesucht. Jede Anregung von außen wurde aufgenommen und ihr die spezielle wienerische Färbung gegeben. Mag diese Stadt, dieses Volk wie jedes andere Fehler gehabt haben, einen Vorzug hat Wien besessen: daß es nicht hochmütig war, daß es nicht seine Sitten, seine Denkart diktatorisch der Welt aufzwingen wollte. Die wienerische Kultur war keine erobernde Kultur, und gerade deshalb ließ sich jeder Gast von ihr so gerne gewinnen. Gegensätze zu mischen und aus dieser ständigen Harmonisierung ein neues Element europäischer Kultur zu schaffen, das war das eigentliche Genie dieser Stadt. Darum hatte man in Wien ständig das Gefühl, Weltluft zu atmen und nicht eingesperrt zu sein in einer Sprache, einer Rasse, einer Nation, einer Idee. In jeder Minute wurde man in Wien daran erinnert, daß man im Mittelpunkt eines kaiserlichen, eines übernationalen Reiches stand. Man brauchte nur die Namen auf den Schildern der Geschäfte zu lesen, der eine klang italienisch, der andere tschechisch, der dritte ungarisch, überall war noch ein besonderer Vermerk, daß man hier auch Französisch und Englisch spreche. Kein Ausländer, der nicht deutsch verstand, war hier verloren. Überall spürte man dank der Nationaltrachten, die frei und unbekümmert getragen wurden, die farbige Gegenwart der Nachbarländer. Da waren die ungarischen Leibgarden mit ihren Pallaschen und ihren verbrämten Pelzen, da waren die Ammen aus Böhmen mit ihren weiten bunten Röcken, die burgenländischen Bäuerinnen mit ihren gestickten Miedern und Hauben, genau denselben, mit denen sie im Dorf zum Kirchgang gingen, da waren die Marktweiber mit ihren grellen Schürzen und Kopftüchern, da waren die Bosniaken mit ihren kurzen Hosen und rotem Fes, die als Hausierer Tschibuks und Dolche verkauften, die Alpenländler mit ihren nackten Knien und dem Federhut, die galizischen Juden mit ihren Ringellocken und langen Kaftanen, die Ruthenen mit ihren Schafspelzen, die Weinbauern mit ihren blauen Schürzen, und inmitten all dessen als Symbol der Einheit die bunten Uniformen des Militärs und die Soutanen des katholischen Klerus. All das ging in seiner heimischen Tracht in Wien herum, genau so wie in der Heimat; keiner empfand es als ungehörig, denn sie fühlten sich hier zu Hause, es war ihre Hauptstadt, sie waren darin nicht fremd, und man betrachtete sie nicht als Fremde. Der erbeingesessene Wiener spottete gutmütig über sie, in den Couplets der Volkssänger war immer eine Strophe über den Böhmen, den Ungarn und den Juden, aber es war ein gutmütiger Spott zwischen Brüdern. Man haßte sich nicht, das gehörte nicht zur Wiener Mentalität.
Und es wäre auch sinnlos gewesen; jeder Wiener hatte einen Ungarn, einen Polen, einen Tschechen, einen Juden zum Großvater oder Schwager; die Offiziere, die Beamten hatten jeder ein paar Jahre in den Garnisonen der Provinz verbracht, sie hatten dort die Sprache erlernt, dort geheiratet; so waren aus den ältesten Wiener Familien immer wieder Kinder in Polen oder Böhmen oder im Trentino geboren worden; in jedem Hause waren tschechische oder ungarische Dienstmädchen und Köchinnen. So verstand jeder von uns von der Kindheit her ein paar Scherzworte der fremden Sprache, kannte die slawischen, die ungarischen Volkslieder, die die Mädchen in der Küche sangen, und der wienerische Dialekt war durchfärbt von Vokabeln, die sich allmählich dem Deutschen angeschliffen hatten. Unser Deutsch wurde dadurch nicht so hart, nicht so akzentuiert, nicht so eckig und präzis wie das der Norddeutschen, es war weicher, nachlässiger, musikalischer, und so wurde es uns auch leichter, fremde Sprachen zu lernen. Wir hatten keine Feindseligkeit zu überwinden, keinen Widerstand, es war in den besseren Kreisen üblich, Französisch, Italienisch sich auszudrücken, und auch von diesen Sprachen nahm man die Musik in die unsere hinein. Wir alle in Wien waren genährt von den Eigenarten der nachbarlichen Völker – genährt, ich meine es auch im wörtlichsten, im materiellen Sinne, denn auch die berühmte Wiener Küche war ein Mixtum compositum. Sie hatte aus Böhmen die berühmten Mehlspeisen, aus Ungarn das Gulasch und die anderen Zaubereien aus Paprika mitgebracht, Gerichte aus Italien, aus dem Salzburgischen und vom Süddeutschen her; all das mengte sich und ging durcheinander, bis es eben das Neue war, das österreichische, das Wienerische.
Alles wurde durch dieses ständige Miteinanderleben harmonischer, weicher, abgeschliffener, inoffensiver, und diese Konzilianz, die ein Geheimnis des wienerischen Wesens war, findet man auch in unserer Literatur. In Grillparzer, unserem größten Dramatiker, ist viel von der gestaltenden Kraft Schillers, aber das Pathetische fehlt glücklicherweise darin. Der Wiener ist zu selbstbeobachtend, um jemals pathetisch zu sein. In Adalbert Stifter ist das Kontemplative Goethes gewissermaßen ins Österreichische übersetzt, linder, weicher, harmonischer, malerischer. Und Hofmannsthal, ein Viertel Oberösterreicher, ein Viertel Wiener, ein Viertel Jude, ein Viertel Italiener, zeigt geradezu symbolisch, welche neuen Werte, welche Feinheiten und glücklichen Überraschungen sich durch solche Mischungen ergeben können. In seiner Sprache ist sowohl in Vers als auch in Prosa vielleicht die höchste Musikalität, die die deutsche Sprache erreicht hat, eine Harmonisation des deutschen Genius mit dem lateinischen, wie sie nur in Österreich, in diesem Lande zwischen den beiden, gelingen konnte. Aber dies ist ja immer das wahre Geheimnis Wiens gewesen: annehmen, aufnehmen, durch geistige Konzilianz verbinden und das Dissonierende lösen in Harmonie.
Deshalb und nicht durch einen bloßen Zufall ist Wien die klassische Stadt der Musik geworden. So wie Florenz die Gnade und den Ruhm hat, da die Malerei ihren Höhepunkt erreicht, in seinen Mauern alle die schöpferischen Gestalten im Raum eines Jahrhunderts zu versammeln, Giotto und Cimabue, Donatello und Brunelleschi, Lionardo und Michelangelo, so vereint Wien in seinem Bannkreis in dem einen Jahrhundert der klassischen Musik beinahe alle Namen. Metastasio, der König der Oper, läßt sich gegenüber der kaiserlichen Hofburg nieder, Haydn lebt im gleichen Hause, Gluck unterrichtet die Kinder Maria Theresias, und zu Haydn kommt Mozart, zu Mozart Beethoven, und neben ihnen sind Salieri und Schubert, und nach ihnen Brahms und Bruckner, Johann Strauß und Lanner, Hugo Wolf und Gustav Mahler. Keine einzige Pause durch hundert und hundertfünfzig Jahre, kein Jahrzehnt, kein Jahr, wo nicht irgendein unvergängliches Werk der Musik in Wien entstanden wäre. Nie ist eine Stadt gesegneter gewesen vom Genius der Musik als Wien im 18., im 19. Jahrhundert.
Nun können Sie einwenden: von all diesen Meistern sei kein einziger außer Schubert ein wirklicher Wiener gewesen. Das denke ich nicht zu bestreiten. Gewiß, Gluck kommt aus Böhmen, Haydn aus Ungarn, Caldara und Salieri aus Italien, Beethoven aus dem Rheinland, Mozart aus Salzburg, Brahms aus Hamburg, Bruckner aus Oberösterreich, Hugo Wolf aus der Steiermark. Aber warum kommen sie aus allen Himmelsrichtungen gerade nach Wien, warum bleiben sie gerade dort und machen es zur Stätte ihrer Arbeit? Weil sie mehr verdienen? Durchaus nicht. Mit Geld ist weder Mozart noch Schubert besonders verwöhnt worden, und Joseph Haydn hat in London in einem Jahr mehr verdient als in Österreich in sechzig Jahren. Der wahre Grund, daß die Musiker nach Wien kamen und in Wien blieben, war: sie spürten, daß hier das kulturelle Klima der Entfaltung ihrer Kunst am günstigsten war. Wie eine Pflanze den gesättigten Boden, so braucht produktive Kunst zu ihrer Entfaltung das aufnehmende Element, die Kennerschaft weiter Kreise, sie braucht, wie jene Sonne und Licht, die fördernde Wärme einer weiten Anteilnahme – immer wird die höchste Stufe der Kunst dort erreicht, wo sie Passion eines ganzen Volkes ist. Wenn alle Bildhauer und Maler Italiens im 16. Jahrhundert sich in Florenz versammeln, so geschieht es nicht nur, weil dort die Medicäer sind, die sie mit Geld und Aufträgen fördern, sondern weil das ganze Volk seinen Stolz in der Gegenwart der Künstler sieht, weil jedes neue Bild zum Ereignis wurde, wichtiger als Politik und Geschäft, und weil so ein Künstler den andern ständig zu überholen und zu übertreffen genötigt war.
So konnten auch die großen Musiker keine idealere Stadt für Schaffen und Wirken finden als Wien, weil Wien das ideale Publikum hatte, weil die Kennerschaft, weil der Fanatismus für die Musik dort alle Gesellschaftsschichten gleichmäßig durchdrang. Die Liebe zur Musik wohnte im Kaiserhause; Kaiser Leopold komponierte selbst, Maria Theresia überwachte die musikalische Erziehung ihrer Kinder, Mozart und Gluck spielten in ihrem Hause, Kaiser Joseph kennt jede Note der Opern, die er an seinem Theater aufführen läßt. Sie versäumen sogar ihre Politik über ihrer Liebe zur Kultur. Ihre Hofkapelle, ihr Hoftheater sind ihr Stolz, und nichts auf dem weiten Gebiet der Verwaltung erledigen sie so persönlich wie diese Angelegenheiten. Welche Oper gespielt wird, welcher Kapellmeister, welcher Sänger engagiert werden soll, ist die Lieblingssorge ihrer Sorgen.
In dieser Liebe für die Musik will der hohe Adel das Kaiserhaus womöglich noch übertreffen. Die Esterhazys, die Lobkowitz, die Waldsteins, die Rasumowskys, die Kinskys, alle verewigt in den Biographien Mozarts, Haydns, Beethovens, haben ihre eigene Kapelle oder zum mindesten ihre eigenen Streichquartette. All diese stolzen Aristokraten, deren Häuser sich sonst Bürgerlichen nie öffnen, subordinieren sich dem Musiker. Sie betrachten ihn nicht als ihren Angestellten, er ist nicht nur Gast, sondern der Ehrengast in ihrem Hause, und sie unterwerfen sich seinen Launen und Ansprüchen. Dutzende Male läßt Beethoven seinen kaiserlichen Schüler Erzherzog Rudolf vergeblich auf die Stunde warten, und der Erzherzog wagt nie, sich zu beschweren. Als Beethoven den ›Fidelio‹ vor der Aufführung zurückziehen will, wirft sich die Fürstin Lichnowsky vor ihm auf die Knie, und man kann sich heute nicht mehr vorstellen, was dies bedeutet, wenn damals eine Fürstin sich auf die Knie wirft vor dem Sohn eines trunksüchtigen Provinzkapellmeisters. Wie Beethoven sich einmal geärgert fühlt vom Fürsten Lobkowitz, geht er zur Tür seines Hauses und brüllt vor allen Lakaien hinein: Lobkowitzscher Esel! Der Fürst erfährt es, duldet es und trägt es ihm nicht nach. Als Beethoven Wien verlassen will, tun sich die Aristokraten zusammen, um ihm eine für die damalige Zeit enorme Lebensrente zu sichern ohne jede andere Verpflichtung, als in Wien zu bleiben und frei seinem Schaffen nachzugehen. Sie alle, sonst mittlere Leute, wissen, was große Musik ist und wie kostbar, wie verehrungswürdig ein großes Genie. Sie fördern die Musik nicht nur aus Snobismus, sondern, weil sie in Musik leben, fördern sie die Musik und geben ihr einen Rang über dem eigenen Rang.
Derselben Kennerschaft, derselben Leidenschaft begegnet im 18., im 19. Jahrhundert der Musiker im Wiener Bürgertum. Fast in jedem Hause wird einmal in der Woche Kammermusik abgehalten, jeder Gebildete spielt irgendein Instrument, jedes Mädchen aus gutem Hause kann ein Lied vom Blatt singen und wirkt mit in den Chören und Kapellen. Wenn der Wiener Bürger die Zeitung öffnet, ist sein erster Blick nicht, was in der Welt der Politik vorgeht; er schlägt das Repertoire der Oper und des Burgtheaters nach, welcher Sänger singt, welcher Kapellmeister dirigiert, welcher Schauspieler spielt. Ein neues Werk wird zum Ereignis, eine Premiere, das Engagement eines neuen Kapellmeisters, eines neuen Sängers an der Oper ruft endlose Diskussionen hervor, und der Kulissentratsch über die Hoftheater erfüllt die ganze Stadt. Denn das Theater, insbesondere das Burgtheater, bedeutet den Wienern mehr als eben bloß ein Theater; es ist der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelt, ein sublimiertes konzentriertes Wien innerhalb Wiens, eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft. Das Hoftheater zeigt der Gesellschaft vorbildlich, wie man sich in Gesellschaft benimmt, wie man Konversation macht in einem Salon, wie man sich anzieht, wie man spricht und sich gebärdet, wie man eine Tasse Tee nimmt und wie man eintritt und wie man sich verabschiedet. Es ist eine Art Cortigiano, ein Sittenspiegel des guten Benehmens, denn im Burgtheater darf so wenig ein unpassendes Wort gesagt werden wie in der Comédie Française, in der Oper kein falscher Ton gesungen werden: es wäre eine nationale Schande. Wie in einen Salon geht man nach italienischem Vorbild in die Oper, in das Burgtheater. Man trifft sich, man kennt sich, man begrüßt sich, man ist bei sich, man ist zu Hause. Im Burgtheater und in der Oper fließen alle Stände zusammen, Aristokratie und Bürgertum und die neue Jugend. Sie sind das große Gemeinsame, und alles, was dort geschieht, gehört der ganzen Stadt an. Als das alte Gebäude des Burgtheaters abgerissen wird, dasselbe in dem die ›Hochzeit des Figaro‹ zum erstenmal erklang, ist ein Trauertag in ganz Wien. Um sechs Uhr morgens stellen sich die Enthusiasten vor den Türen an und stehen dreizehn Stunden bis abends, ohne zu essen, ohne zu trinken, nur um der letzten Vorstellung in diesem Hause beiwohnen zu können. Von der Bühne brechen sie sich Holzsplitter heraus und bewahren sie genau so wie einstmals Fromme die Splitter vom heiligen Kreuz. Nicht nur der Dirigent, der große Schauspieler, der gute Sänger wird wie ein Gott vergöttert, diese Leidenschaft geht über auf den unbeseelten Raum. Ich war selbst beim letzten Konzert in dem alten Bösendorfer-Saal. Es war gar kein besonders schöner Saal, der da abgerissen wurde, eine frühere Reitschule des Fürsten Liechtenstein, einfach in Holz getäfelt. Aber er hatte die Resonanz einer alten Geige, und Chopin und Brahms hatten noch darin gespielt und Rubinstein und das Rosé-Quartett. Viele Meisterwerke waren dort zum erstenmal für die Welt erklungen, es war der Ort gewesen, wo alle Liebhaber von Kammermusik durch Jahre und Jahre Woche für Woche einander begegnet waren, eine einzige Familie. Und da standen wir nun nach dem letzten Beethoven-Quartett in dem alten Raum und wollten nicht, daß es zu Ende war. Man tobte, man schrie, einige weinten. Im Saal wurden die Lichter gelöscht. Es half nichts. Alle blieben im Dunkel, als wollten sie es erzwingen, daß auch dieser Saal bliebe, der alte Saal. So fanatisch empfand man in Wien nicht nur für die Kunst, die Musik, sondern sogar für die bloßen Gebäude, die mit ihr verbunden waren.
Übertreibung, werden Sie sagen, lächerliche Überschätzung! Und so haben wir selbst manchmal diesen geradezu irrwitzigen Enthusiasmus der Wiener für Musik und Theater empfunden. Ja, er war manchmal lächerlich, ich weiß es, wie zum Beispiel damals, als die guten Wiener sich als Kostbarkeit Haare von den Pferden aufhoben, die den Wagen von Fanny Elssler gezogen, und ich weiß auch, daß wir diesen Enthusiasmus gebüßt haben. Während sich Wien und Österreich in seine Theater, seine Kunst vernarrte, haben die deutschen Städte uns überholt in Technik und Tüchtigkeit und sind uns in manchen praktischen Dingen des Lebens vorausgekommen. Aber vergessen wir nicht: solche Überwertung schafft auch Werte. Nur wo wahrer Enthusiasmus für die Kunst besteht, fühlt sich der Künstler wohl, nur wo man viel fordert von der Kunst, gibt sie viel. Ich glaube, es gab kaum eine Stadt, wo der Musiker, der Sänger, der Schauspieler, der Dirigent, der Regisseur strenger kontrolliert und zu größerer Anspannung gezwungen war als in Wien. Denn hier gab es nicht nur die Kritik bei der Premiere, sondern eine ständige und unbeugsame Kritik durch das gesamte Publikum. In Wien wurde kein Fehler übersehen bei einem Konzert, jede einzelne Aufführung und auch die zwanzigste und hundertste war immer überwacht von einer geschulten Aufmerksamkeit von jedem Sitzplatz aus: wir waren ein hohes Niveau gewohnt und nicht bereit, einen Zoll davon nachzugeben. Diese Kennerschaft bildete sich in jedem einzelnen von uns schon früh heraus. Als ich noch auf das Gymnasium ging, war ich nicht einer, sondern einer aus zwei Dutzend, die bei keiner wichtigen Vorstellung im Burgtheater oder in der Oper fehlten. Wir jungen Menschen kümmerten uns als rechte Wiener nicht um Politik und nicht um Nationalökonomie, und wir hätten uns geschämt, etwas von Sport zu wissen. Noch heute kann ich Kricket nicht von Golf unterscheiden, und die Seite Fußballbericht in den Zeitungen ist für mich chinesisch. Aber mit vierzehn, mit fünfzehn Jahren merkte ich schon jede Kürzung und jede Flüchtigkeit bei einer Aufführung; wir wußten genau, wie dieser Kapellmeister das Tempo nahm und wie jener. Wir bildeten Parteien für einen Künstler und für den andern, wir vergötterten sie und haßten sie, wir zwei Dutzend in unserer Klasse. Aber nun denken Sie sich uns, diese zwei Dutzend einer einzigen Schulklasse multipliziert mit fünfzig Schulen, mit einer Universität, einer Bürgerschaft, einer ganzen Stadt, und Sie werden verstehen, welche Spannung bei uns in allen musikalischen und theatralischen Dingen entstehen mußte, wie stimulierend diese unermüdliche unerbittliche Kontrolle auf das Gesamtniveau des Musikalischen, des Theatralischen wirkte. Jeder Musiker, jeder Künstler wußte, daß er in Wien nicht nachlassen durfte, daß er das Äußerste bieten müsse, um zu bestehen.
Diese Kontrolle aber ging tief hinab bis ins unterste Volk. Die Militärkapellen jedes einzelnen Regiments wetteiferten miteinander, und unsere Armee hatte – ich erinnere nur an die Anfänge Lehárs – bessere Kapellmeister als Generäle. Jede kleine Damenkapelle im Prater, jeder Klavierspieler beim Heurigen stand unter dieser unerbittlichen Kontrolle, denn daß die Kapelle beim Heurigen gut war, war dem durchschnittlichen Wiener ebenso wichtig, wie die Güte des Weins, und so mußte der Musikant gut spielen, sonst war er verloren, sonst wurde er entlassen.
Ja, es war sonderbar: in der Verwaltung, im öffentlichen Leben, in den Sitten, überall gab es in Wien viel Nonchalance, viel Indifferenz, viel Weichheit, viel »Schlamperei«, wie wir sagen. Aber in dieser einen Sphäre der Kunst wurde keine Nachlässigkeit entschuldigt, keine Trägheit geduldet. Vielleicht hat diese Überschätzung der Musik, des Theaters, der Kunst, der Kultur Wien und Habsburg und Österreich viel politische Erfolge entgehen lassen. Aber ihr ist unser Imperium in der Musik zu danken.
In einer Stadt, die dermaßen in Musik lebte, die so wache Nerven für Rhythmus und Takt hatte, mußte auch der Tanz aus einer geselligen Angelegenheit zur Kunst werden. Die Wiener tanzten leidenschaftlich gern; sie waren Tanznarren, und das ging vom Hofball und Opernball bis hinab in die Vorstadtlokale und Gesindebälle. Aber man begnügte sich nicht damit, gern zu tanzen. Es war gesellschaftliche Verpflichtung in Wien, gut zu tanzen, und wenn man von einem ganz unbedeutenden jungen Burschen sagen konnte, er ist ein famoser Tänzer, so hatte er damit schon eine gewisse gesellschaftliche Qualifikation. Er war in eine Sphäre der Kultur aufgerückt, weil man eben Tanz zur Kunst erhob. Und wieder umgekehrt, weil man Tanz als Kunst betrachtete, stieg er auf in eine höhere Sphäre, und die sogenannte leichte Musik, die Tanzmusik, wurde zur vollkommenen Musik. Das Publikum tanzte viel und wollte nicht immer dieselben Walzer hören. Darum waren die Musiker genötigt, immer Neues zu bieten und sich gegenseitig zu überbieten. So formte sich neben der Reihe der hohen Musiker Gluck und Haydn und Mozart, Beethoven und Brahms eine andere Linie von Schubert und Lanner und Johann Strauß Vater und Johann Strauß Sohn zu Lehár und den andern großen und kleinen Meistern der Wiener Operette. Eine Kunst, die das Leben leichter, belebter, farbiger, übermütiger machen wollte, die ideale Musik für die leichten Herzen der Wiener.
Aber ich sehe, ich gerate in Gefahr, ein Bild von unserem Wien zu geben, das gefährlich jenem süßlichen und sentimentalen nahekommt, wie man es aus der Operette kennt. Eine Stadt, theaternärrisch und leichtsinnig, wo immer getanzt, gesungen, gegessen und geliebt wird, wo sich niemand Sorgen macht und niemand arbeitet. Ein gewisses Stück Wahrheit ist, wie in jeder Legende, darin. Gewiß, man hat in Wien gut gelebt, man hat leicht gelebt, man suchte mit einem Witz alles Unangenehme und Drückende abzutun. Man liebte Feste und Vergnügungen. Wenn die Militärmusik vorübermarschierte, ließen die Leute ihre Geschäfte und liefen auf die Straße ihr nach. Wenn im Prater der Blumenkorso war, waren dreimalhunderttausend Menschen auf den Beinen, und selbst ein Begräbnis wurde zu Pomp und Fest. Es wehte eine leichte Luft die Donau herunter, und die Deutschen sahen mit einer gewissen Verachtung auf uns herab wie auf Kinder, die durchaus nicht den Ernst des Lebens begreifen wollen. Wien war für sie der Falstaff unter den Städten, der grobe, witzige, lustige Genießer, und Schiller nannte uns Phäaken, das Volk, wo es immer Sonntag ist, wo sich immer am Herde der Spieß dreht. Sie alle fanden, daß man in Wien das Leben zu locker und leichtsinnig liebte. Sie warfen uns unsere »jouissance« vor und tadelten zwei Jahrhunderte lang, daß wir Wiener uns zu viel der guten Dinge des Lebens freuten.
Nun, ich leugne diese Wiener »jouissance« nicht, ich verteidige sie sogar. Ich glaube, daß die guten Dinge des Lebens dazu bestimmt sind, genossen zu werden und daß es das höchste Recht des Menschen ist, unbekümmert zu leben, frei, neidlos und gutwillig, wie wir in Österreich gelebt haben. Ich glaube, daß ein Übermaß an Ambition in der Seele eines Menschen wie in der Seele eines Volkes kostbare Werte zerstört, und daß der alte Wahlspruch Wiens »Leben und leben lassen« nicht nur humaner, sondern auch weiser ist als alle strengen Maximen und kategorischen Imperative. Hier ist der Punkt, wo wir Österreicher, die wir immer Nicht-Imperialisten waren, uns mit den Deutschen nie verständigen konnten – und selbst nicht mit den Besten unter ihnen. Für das deutsche Volk ist der Begriff »jouissance« verbunden mit Leistung, mit Tätigkeit, mit Erfolg, mit Sieg. Um sich selbst zu empfinden, muß jeder den anderen übertreffen und womöglich niederdrücken. Selbst Goethe, dessen Größe und Weisheit wir ohne Grenzen verehren, hat in einem Gedicht dieses Dogma aufgestellt, das mir von meiner frühesten Kindheit an unnatürlich schien. Er ruft den Menschen an:
»Du mußt herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.«
Nun, ich hoffe, man wird es nicht impertinent finden, wenn ich dieser Alternative Goethes, »Du mußt herrschen oder dienen«, widerspreche. Ich glaube, ein Mensch – wie auch ein Volk – soll weder herrschen noch dienen. Er soll vor allem frei bleiben und jedem anderen die Freiheit lassen, er soll, wie wir es in Wien lernten, leben und leben lassen und sich seiner Freude an allen Dingen des Lebens nicht schämen. »Jouissance« scheint mir ein Recht und sogar eine Tugend des Menschen, solange sie ihn nicht verdummt oder schwächt. Und ich habe immer gesehen, daß gerade die Menschen, die, solange sie konnten, frei und ehrlich sich des Lebens freuten, in der Not und in der Gefahr dann die Tapfersten waren, so wie auch immer die Völker und Menschen, die nicht aus Lust am Militarismus kämpfen, sondern nur, wenn sie dazu gezwungen sind, schließlich die besten Kämpfer sind.
Wien hat das gezeigt in der Zeit seiner schwersten Prüfung. Es hat gezeigt, daß es arbeiten kann, wenn es arbeiten muß, und dieselben angeblich so Leichtsinnigen wußten, sobald es das Wesentliche galt, wunderbar ernst und entschlossen zu sein. Keine Stadt nach dem Weltkriege war durch den Frieden von 1919 so tief getroffen worden wie Wien. Denken Sie es sich aus: die Hauptstadt einer Monarchie von vierundfünfzig Millionen hat plötzlich nur noch vier Millionen um sich. Es ist nicht die Kaiserstadt mehr, der Kaiser ist vertrieben und mit ihm all der Glanz von Festlichkeit. Alle Arterien zu den Provinzen, aus denen die Hauptstadt Nahrung zog, sind abgeschnitten, die Bahnen haben keine Waggons, die Lokomotiven keine Kohle, die Läden sind ausgeräumt, es ist kein Brot, kein Obst, kein Fleisch, kein Gemüse da, das Geld entwertet sich von Stunde zu Stunde. Überall prophezeit man, daß es mit Wien endgültig zu Ende ist. Gras werde in den Straßen wachsen, Zehntausende, Hunderttausende müßten wegziehen, um nicht Hungers zu sterben; und man erwägt ernstlich, ob man nicht die Kunstsammlungen verkaufen solle, um Brot zu schaffen, und einen Teil der Häuser niederreißen angesichts der drohenden Verödung.
Aber in dieser alten Stadt war eine Lebenskraft verborgen, die niemand vermutet hatte. Sie war eigentlich immer dagewesen, diese Kraft des Lebens, diese Kraft der Arbeit. Wir hatten uns ihrer nur nicht so laut und prahlerisch gerühmt wie die Deutschen, wir hatten uns selbst durch unseren Schein der Leichtlebigkeit täuschen lassen über die Leistungen, die im Handwerk, in den Künsten im stillen immer getan worden waren. Genau wie die Fremden gern Frankreich sehen als das Land der Verschwendung und des Luxus, weil sie nicht weit über die Läden der Juweliere in der Rue de la Paix und die internationalen Nachtlokale des Montmartre hinauskommen, weil sie nie Belleville betreten, nie die Arbeiter, nie die Bürgerschaft, nie die Provinz bei ihrer stillen zähen sparsamen Tätigkeit gesehen haben, so hatte man sich über Wien getäuscht. Jetzt aber war Wien herausgefordert, alles zu leisten, und wir vergeudeten nicht unsere Zeit. Wir verschwendeten nicht unsere seelischen Kräfte damit, wie drüben in Deutschland ununterbrochen die Niederlage zu leugnen und zu erklären, wir seien verraten worden und niemals besiegt. Wir sagten ehrlich: der Krieg ist zu Ende. Fangen wir von neuem an! Bauen wir Wien, bauen wir Österreich noch einmal auf!
Und da geschah das Wunder. Drei Jahre, und alles war wiederhergestellt, fünf Jahre, und es wuchsen jene prachtvollen Gemeindehäuser auf, die ein soziales Vorbild für ganz Europa wurden. Die Galerien, die Gärten erneuerten sich, Wien wurde schöner als je. Der ganze Handel strömte wieder zurück, die Künste blühten, es entstanden neue Industrien, und bald waren wir auf hundert Gebieten voran. Wir waren leichtlebig, leichtfertig gewesen, solange wir vom alten Kapital zehrten; jetzt, da alles verloren war, kam eine Energie zutage, die uns selbst überraschte. An die Universität dieser verarmten Stadt drängten Studenten aus aller Welt; um unseren großen Meister, Sigmund Freud, den wir eben im Exil begraben haben, bildete sich eine Schule, die in Europa und Amerika alle Formen geistiger Tätigkeit beeinflußte. Während wir früher im Buchhandel von Deutschland völlig abhängig gewesen waren, entstanden jetzt in Wien große Verlagshäuser; Kommissionen kamen aus England und Amerika, um die vorbildliche soziale Fürsorge der Gemeinde Wien zu studieren, das Kunstgewerbe schuf sich durch seine Eigenart und seinen Geschmack eine dominierende Stellung. Alles war plötzlich Aktivität und Intensität. Max Reinhardt verließ Berlin und organisierte das Wiener Theater. Toscanini kam aus Mailand, Bruno Walter aus München an die Wiener Oper, und Salzburg, wo Österreich all seine künstlerischen Kräfte repräsentativ zusammenfaßte, wurde die internationale Metropole der Musik und ein Triumph ohnegleichen. Vergeblich suchten die Kunstkammern Deutschlands mit ihren unbeschränkten Mitteln in München und anderen Städten diesen begeisterten Zustrom aus allen Ländern uns abzugraben. Es gelang nicht. Denn wir wußten, wofür wir kämpften, über Nacht war noch einmal Österreich eine historische Aufgabe zugefallen: die Freiheit des deutschen Worts, das in Deutschland schon geknechtet war, noch einmal vor der Welt zu bewähren, die europäische Kultur, unser altes Erbe, zu verteidigen. Das gab dieser Stadt, der angeblich so verspielten, eine wunderbare Kraft. Es war nicht ein einzelner, der dieses Wunder der Auferstehung vollbrachte, nicht Seipel, der Katholik, nicht die Sozialdemokraten, nicht die Monarchisten; es waren alle zusammen, es war der Lebenswille einer zweitausendjährigen Stadt, und ich darf es wohl sagen ohne kleinlichen Patriotismus: nie hat Wien seine kulturelle Eigenart so glorreich bekundet, nie hat es dermaßen die Sympathie der ganzen Welt errungen wie eine Stunde vor dem großen Anschlag auf seine Unabhängigkeit.
Es war der schönste und ruhmreichste Tag seiner Geschichte. Dies war sein letzter Kampf. Wir hatten willig in allem resigniert, was Macht war, Reichtum und Besitz. Wir hatten die Provinzen geopfert, niemand trachtete danach, von einem Nachbarlande, von Böhmen, von Ungarn, von Italien, von Deutschland auch nur einen Zoll zurückzuerobern. Wir waren vielleicht immer schlechte Patrioten im politischen Sinne gewesen, aber nun fühlten wir: unsere wahre Heimat war unsere Kultur, unsere Kunst. Hier wollten wir nicht nachgeben, hier uns von niemandem übertreffen lassen, und ich wiederhole, es ist das ehrenvollste Blatt in der Geschichte Wiens, wie es diese seine Kultur verteidigt hat. Nur ein Beispiel dafür: ich bin viel gereist, ich habe viele wunderbare Aufführungen gesehen, in der Metropolitan Opera unter Toscanini und die Ballette von Leningrad und Mailand, ich habe die größten Sänger gehört, aber ich muß bekennen, daß ich niemals von einer Leistung innerhalb der Kunst so erschüttert war wie von der Wiener Oper in den Monaten unmittelbar nach dem Zusammenbruch 1919. Man tappte hin durch dunkle Gassen – die Beleuchtung der Straßen war eingeschränkt wegen der Kohlennot –, man zahlte sein Billett mit ganzen Stößen wertloser Banknoten, man trat endlich ein in das vertraute Haus und erschrak. Grau war der Raum mit seinen wenigen Lichtern und eiskalt; keine Farbe, kein Glanz, keine Uniformen, kein Abendanzug. Nur dicht aneinander gedrängt in der Kälte in alten zerschlissenen Winterröcken und umgeschneiderten Uniformen die Menschen, eine graue fahle Masse von Schatten und Lemuren. Dann kamen die Musiker und setzten sich an ihre Plätze im Orchester. Wir kannten jeden einzelnen von ihnen, und man erkannte sie doch kaum. Abgemagert, gealtert, ergraut saßen sie da in ihren alten Fräcken. Wir wußten, diese großen Künstler waren zur Zeit schlechter bezahlt als jeder Kellner, jeder Arbeiter. Ein Schauer fiel einem auf das Herz, es war soviel Armut und Sorge und Jammer in diesem Raum, eine Luft von Hades und Vergängnis. Dann hob der Dirigent den Taktstock, die Musik begann, das Dunkel fiel, und mit einmal war der alte Glanz wieder da. Nie wurde besser gespielt, nie wurde besser gesungen in unserer Oper als in jenen Tagen, da man nicht wußte, ob am nächsten Tage das Haus nicht schon geschlossen werden müßte. Keiner von den Sängern, keiner von unseren wunderbaren Musikern hatte sich weglocken lassen von den besseren Honoraren in anderen Städten, jeder hatte gespürt, daß es seine Pflicht war, gerade jetzt das Höchste, das Beste zu geben und das Gemeinsame zu bewahren, das uns das wichtigste war: unsere große Tradition. Das Reich war dahin, die Straßen waren verfallen, die Häuser sahen aus wie nach einer Beschießung, die Menschen wie nach schwerer Krankheit. Alles war vernachlässigt und halb schon verloren; aber dies eine, die Kunst, unsere Ehre, unseren Ruhm, die verteidigten wir in Wien, jeder einzelne, tausend und tausend Einzelne. Jeder arbeitete doppelt und zehnfach, und auf einmal spürten wir, daß die Welt auf uns blickte, daß man uns erkannte, so wie wir uns selbst erkannt hatten.
So haben wir durch diesen Fanatismus für die Kunst, durch diese so oft verspottete Leidenschaft Wien noch einmal gerettet. Weggestoßen aus der Reihe der großen Nationen, haben wir doch unseren altbestimmten Platz innerhalb der Kultur Europas bewahrt. Die Aufgabe, eine überlegene Kultur zu verteidigen gegen jeden Einbruch der Barbarei, diese Aufgabe, die die Römer uns in die Mauern unserer Stadt eingemeißelt, wir haben sie bis zur letzten Stunde erfüllt.
Wir haben sie erfüllt in dem Wien von gestern und wir wollen, wir werden sie weiter erfüllen auch in der Fremde und überall. Ich habe von dem Wien von gestern gesprochen, dem Wien, in dem ich geboren bin, in dem ich gelebt habe und das ich vielleicht jetzt mehr liebe als je, seit es uns verloren ist. Von dem Wien von heute [1940] vermag ich nichts zu sagen. Wir wissen alle nicht genau, was dort geschieht, wir haben sogar Angst, es allzu genau uns vorzustellen. Ich habe in den Zeitungen gelesen, daß man Furtwängler berufen hat, das Wiener Musikleben zu reorganisieren, und sicher ist Furtwängler ein Musiker, an dessen Autorität niemand zweifelt. Aber schon daß das kulturelle Leben Wiens reorganisiert werden muß, zeigt, daß der alte wunderbare Organismus schwer gefährdet ist. Denn man ruft keinen Arzt zu einem Gesunden. Kunst wie Kultur kann nicht gedeihen ohne Freiheit, und gerade die Kultur Wiens kann ihr Bestes nicht entfalten, wenn sie abgeschnitten ist von dem lebendigen Quell europäischer Zivilisation. In dem ungeheuren Kampfe, der heute unsere alte Erde erschüttert, wird auch das Schicksal dieser Kultur entschieden, und ich brauche nicht zu sagen, auf welcher Seite unsere glühendsten Wünsche sind.