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1919
Abends noch in Paris. Ein letzter Gang über die Boulevards: die Bäume sind kahl und grau, an manchen hängt noch, ganz schwach und zitternd, ein letztes falbes Blatt, das der Herbstwind zu nehmen vergessen. Mild und klar ist der Abend, aber – Du fühlst es – es fehlt ihm die Frische, der Duft. Es ist trotz Schnee und Stürmen abgelebte Luft; schmacklos und leer, denn sie hat nicht jenes Quellen der aufbrechenden Erde, wenn sie die Sonne fühlt, nicht den Pollenduft der vielen werdenden Blüten. Wochen und Wochen noch ist es bis zum Frühling. Nachts dann im Zuge. Durch Stunden nur Dunkelheit und das Gestampf der Räder durch unbekanntes Land. Morgens, ganz früh, wenn das Morgenrot noch wie ein ungeheurer Brand am Horizonte flammt, siehst Du hinaus. Leer liegen die Felder, brandrot und erdig, unbelaubt stehen die Bäume. Aber doch ist etwas in der Landschaft – Du weißt es nicht zu sagen, was es ist – das schon vom Frühling spricht, eine Ahnung, daß die Blüten schon ganz nahe am Bast pochen, daß die Saat schon mit den unterirdischen Halmen die letzte Schichte der Erde berührt. Das Zittern der Äste im Wind scheint Dir halb noch Bitte und halb schon erfüllte Seligkeit. Und hier – ja hier, sieh es nur, hier ist schon ein erstes Grün, das die Erde umflicht, ein helles, unsäglich zartes Grün. Und mehr und mehr: zwischen den leeren Bäumen hier und da solche, an denen schon die kleinen Schößlinge sprießen, manche schon mit großen, leuchtenden Blüten. Und immer mehr und mehr! Jenen wundervollen Augenblick eines vielfältigen Geschehens fühlst Du, jene Tage und Wochen, in denen ein Frühling wird, zusammengepreßt in eine prächtige Stunde. Denn immer lebendiger wird das Bild, farbig belebt nun durch die ersten immergrünen Bäume, durch das steigende Licht, durch Wärme und Sonnenfeuer. Und mit dem Morgen bist Du in des Frühlings Land.
Hat der Frühling ein schöneres Land als die Provence? Kaum läßt es sich denken, wenn man sieht, wie in den Rahmen der Fensterscheibe sich in buntem Wechsel die blühenden Bilder stellen. Und denke der provençalischen Lieder. Ist denn das nicht unendlich frühlingshaft, dieses zarte Minnen der Ritter um die geliebte Dame, die Pagenlieder und Aventiuren, dieser Eindruck, den wir aus Lied und Geschichte von dem blühenden Lande haben? Und so wunderbar eint sich dies alles: kaum staunte man, würde man auf weißem Zelter einen schmucken Ritter durch diese milde, sonnige Landschaft traben sehen. Er ist hier sanft und doch groß, der Frühling, groß auch ohne jenes ungeheure Geschehen seiner Leidenschaft, ohne den Mistral, jenen furchtbaren Föhn, der im Lande wühlt, der wie Fieber in das Blut schießt und wie Gottes Zorn in den Bäumen wettert. Norden und Süden einen sich hier wie in flüchtigem Kuß. Neben den immergrünen Sträuchern und Bäumen, die ohne Blüte und Frucht nur als Wächter der Schönheit im Lande warten, stehen friedlich jene Kulturen des Nordens, manche noch nackt und frierend, manche in dünnem Farbenflor. Und so weiß der Frühling hier doch noch zu beglücken, so gütig dem Anblicke auch der Winter ist.
Helle, freundliche Städte, Valence, Nimes, Orange – in welcher wollte man nicht rasten? Aber der Zug wettert und eilt. Doch hier mußt Du bleiben, in dieser Stadt, die so wunderbar weiß leuchtet wie ein Traumschloß, die so breit und groß sich um die Rhône schmiegt, in Avignon, der Stadt der Päpste. Linien, wie mit lässiger Künstlerhand in das weite Gelände eingezeichnet, fesseln Deinen Blick: die weißen Straßen, flimmernder, glühender Kalk, und dazwischen jener blaue, flutende Streifen des Stromes, zweimal durchquert, einmal von der weißen Brücke, das andere Mal von den Überresten jenes stolzen Bogens, mit dem der Heilige Bénezet die Umschließung der Stadt vollkommen zu machen hoffte. Ein herrlicher, düsterer Anblick muß sie an Herbsttagen sein, diese hohe, herrische Papstburg, die wie ein geharnischtes Haupt hoch über der niederen Stadt droht, und die Festungswälle, mit denen diese Gewaltigen gleichsam wie mit gespreiteten, geschienten Armen den ganzen Umkreis festhielten. Aber der Frühling nimmt sacht alles Tragische dieser Zwingburg: weiß glänzen ihre Kalkmauern ins Land, scharf in den tiefblauen Himmel eingeschnitten, ein edler Anblick ohne Strenge. Wer denkt an die Folterkammern, wer will sich daran erinnern, daß von jenem viereckigen Turme im Revolutionsjahre die Opfer in die entsetzliche Tiefe hinabgeschleudert wurden, wer will sich dessen entsinnen, wenn die Sonne so sanft und zärtlich ist? Jetzt sind grüne Gärten mit schönen Gängen zwischen den herben Mauern, und von blühenden Terrassen sieht man in das Land hinab. Und Frühling, Frühling überall.
Weiter mit dem eilenden Zuge. Vorbei an kleinen, reizenden Städtchen, vorbei an Tarascon – Bonjour, Monsieur Tartarin! – vorbei, vorbei. Aber noch einmal kurze Rast. Wie kann man den Frühling verstehen ohne schöne Frauen? In Arles, der Stadt der berühmten Arlesierinnen mußt Du ein paar Stunden noch verweilen. Aus Schutt und kleinen, winkeligen Häusern ragen majestätisch die Überreste römischer Zeit, das ungeheure Amphitheater und die Arena. Und ein schattiger, schmaler Gang, seltsam eingefaßt von schlichten Urnen und offenen Steinsärgen, führt aus lichtem Land in die berühmte Gräberstadt, das Alyscamps, dessen Dante in seiner ›Divina commedia‹ schon Erwähnung getan, in jenes unendliche Feld der Toten. Und doch, heute ist es ein Gang nur zwischen knospenden Bäumen; das sanfte Hüftewiegen der paar Arlesierinnen, die Dir begegnen, rührt mehr an Dein Herz als diese wuchtige Mahnung der Vergänglichkeit, Frühlingsglaube, Frühlingsfahrt.
Und wieder weiter. Nicht allzu groß ist dieses Land der lichten Felder und des hellen Frühlings, bald ist die Provence durchmessen. Noch im Abendglühen kannst Du Marseille finden, den Port des Orients mit den unzähligen Hafengassen und dem breitausladenden, weißschimmernden Quai. Die Frühlingssehnsucht ist nun still geworden, von tausend kleinen und großen Wundern begütigt. Aber neues Bangen kommt Dich an: zu welcher Schönheit sich wenden von diesem Orte, der, ein magischer Knoten, bunte Fäden wechselnder Wege in sich verspinnt? Links, zwei Stunden weit, reiht sich die Perlenkette der Riviera, rechts winkt Spanien wie ein Märchen geheimnisvoll und fremd. Und gegenüber, weit hinter dem Meere, das blau und still sich zu Füßen der Stadt legt wie ein Seidentuch, das schmiegsam die Knie streift, weit hinter diesen Wellen, die nur wie im Traum sich wiegen, blüht die dunkle, ferne Blume Afrika ...