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Walther Rathenau

1922

 

Die Wasser der Zeit strömen zu rasch in unseren erregten Tagen, um Gestalten plastisch zu spiegeln: Das Heute weiß nichts mehr vom Gestern und wie Schatten gleiten die Figuren vorüber, die ein flüchtiger Zeitwille zu flüchtiger Macht berufen. Wer weiß heute noch die deutschen Kanzler des letzten Jahrzehntes, die Minister des Krieges mit Namen zu nennen, wer sich gar noch ihres geistigen Umrisses, ihres persönlichen Wesens zu entsinnen, obwohl sie – hierin verdächtig ähnlich dem Unglücksminister des Jahres 1870 Emile Olivier – Buch auf Buch türmen und sich geschäftig-geschäftlich mit ihren Erinnerungen konkurrenzieren? Aber nichts erlöst sie von der ephemeren Schattenhaftigkeit ihrer Wirkung, keine Bildkraft hebt sie hinaus über ihr bloß dokumentarisches Gewesen-Sein. Kein einziger von allen den professionellen Diplomaten Deutschlands, selbst der tragische Schwächling Bethmann-Hollweg nicht, ist noch dem Bewußtsein der Welt als sinnlicher Umriß, als Persönlichkeit lebendig gewärtig, indes jener Eine, der von außen kam, in ihre Welt und nur ein paar Wochen in ihr wohnte, so voll den gespannten Raum mit seines Wesens Kraft erfüllte, daß er sich immer sichtbarer als Figur und Erscheinung vor den Horizont der Weltgeschichte hebt. Gerade seit ihn mißleitete Leidenschaft von seiner Stelle stieß, steht Walther Rathenau am stärksten in Unvergeßlichkeit deutscher Geschichte, und sein Fehlen ist heute sinnlich fühlbarer als seiner Nachfolger unpersönliche Gegenwärtigkeit.

Er war plötzlich aus einer scheinbar privaten Existenz an sichtbare Stelle gerückt. Aber er war schon immer da, überall hatte man sein Wirken gefühlt, überall in Deutschland diesen erstaunlichen überragenden Geist gekannt, nur war diese Wirkung niemals eine einheitliche, zu einem nennbaren Begriff geschlossene gewesen, denn jeder einzelne kannte ihn aus anderer Sphäre. In Berlin hatte er lange, ja unerlaubt lange bloß als der Sohn seines Vaters Emil Rathenau gegolten, des Elektrizitätsmagnaten: in Berlin, in der Heimat war er immer der Erbe. Die Industrie kannte ihn aber längst als Aufsichtsrat von fast hundert Unternehmungen, die Bankiers als Direktor der Handelsgesellschaft, die Soziologen als Verfasser kühner und neuartiger Bücher, die Höflinge als Vertrauensmann des Kaisers, die Kolonien als Begleiter Dernburgs, das Militär als Leiter der Rohstoffaktion, das Patentamt als Urheber mehrerer chemischer Erfindungen, die Schriftsteller als einen von ihnen, und ein Theaterdirektor fand sogar nach seinem Tode noch ein Drama von ihm im verstaubten Schrank. Seine physische Gestalt – hochgewachsen, schlank – tauchte überall auf, wo geistige Kräfte in Regung waren, man sah ihn bei den Premieren Reinhardts, dessen Theater er begründen half, im Kreise Gerhart Hauptmanns ebenso wie in der Welt der Finanzen. Er fuhr von einer Aufsichtsratssitzung zur Eröffnung der Sezession, von der Matthäuspassion zu einer politischen Besprechung, ohne darin eine Gegensätzlichkeit zu fühlen – in seiner enzyklopädischen Natur war eben alle Betätigung und Bemühung, alle Problematik des Geistes und der Tatsachen zu einer einzigen tätigen Einheit gebunden.

Von ferne gesehen mochte solche Vielfalt leicht als universaler Dilettantismus beargwöhnt werden. Aber sein Wissen und Wesen war das Gegenteil aller Leichtfertigkeit. Ich habe nie etwas Stupenderes gekannt als die Bildung Walther Rathenaus: er sprach die drei europäischen Sprachen französisch, englisch und italienisch wie deutsch, wußte ebenso genau unvorbereitet in einer einzigen Sekunde das Nationalvermögen der Spanier abzuschätzen wie eine Melodie aus einem bestimmten Opus Beethovens zu erkennen, er hatte alles gelesen und war überall gewesen, und diese unerhörte Fülle von Wissen und Tätigkeit war nur zu erklären, wenn man die außerordentliche und in unserer Zeit vielleicht unerreichte Kapazität seines Gehirns in Betracht zog. Walther Rathenaus Geist war von einer einzigen Wachheit und Konzentration: es gab für dies erstaunliche Präzisionsgehirn nichts Vages, Verschwommenes, sein ewig wacher Geist kannte keine Dämmerzustände von Träumerei und Ermüdung. Immer war er geladen und gespannt, mit einem einzigen Blinkfeuer überstrahlte er blitzschnell den Horizont eines Problems, und wo jeder andere alle die vielen Zwischenstufen des provisorischen Denkens bis zum definitiven brauchte, da zündete bei ihm die diagnostische Entscheidung mit einem Schlag. Sein Denken war funktionell so vollendet, daß es für ihn eigentlich kein Nachdenken und kein Vordenken gab, so wie er ja auch in Rede und Schreibe ein Konzept nicht kannte: Rathenau war einer von den vier oder fünf Deutschen im 70-Millionen-Reich (ich glaube nicht, daß es mehr gibt), die fähig waren, einen Vortrag, ein Expose, eine Broschüre so klassisch reif vor dem Sekretär oder dem zufälligen Zuhörer zu sprechen, daß man sie mitstenographieren und ohne Änderung dem Druck übergeben konnte. Er war beständige Bereitschaft und unablässige Gespanntheit, und eben weil ihm alles Passive, Träumerische und Genießerische fehlte, beständig in Tätigkeit. Nur wer diesen Menschen aus dem Gespräch kannte, mit seiner beispiellosen Geschwindigkeit des Begreifens mit jener ungeheuerlichen und kaum faßbaren Abbreviatur aller Zusammenhänge, konnte das große Geheimnis seines äußeren Lebens verstehen: daß dieser tätigste Mensch gleichzeitig derjenige war, der immer und für alles Zeit hatte.

Nichts hat mich mehr an ihm erstaunt als die geniale Organisation seines äußeren Lebens, während solcher Vielfalt der Interessen, dieses Freisein und Zeit-haben für Alles und Jedes bei unerhörtester Tätigkeit. Es war mein stärkster Eindruck, als ich ihn zum erstenmal sah, mein stärkster, als ich ihn das letztemal sah. Das erstemal – vor mehr als fünfzehn Jahren –, als ich nach längerer brieflicher Bekanntschaft ihn in Berlin anrief, sagte er mir am Telefon, er reise am nächsten Morgen für drei Monate nach Südafrika. Ich wollte natürlich sofort auf den doch gänzlich gelegentlichen Besuch verzichten, aber er hatte inzwischen schon zu Ende kalkuliert, die Stunden gezählt und bat mich, um 1/4 12 Uhr nachts zu ihm kommen, wir könnten dort zwei Stunden angenehm verplaudern. Und wir sprachen zwei und drei Stunden: nichts deutete auf irgendeine Spannung, auf eine Unruhe knapp vor einer Dreimonatsreise in einen andern Erdteil an. Sein Tag war eingeteilt, dem Schlaf sowie dem Gespräch ein gewisses Maß zugewiesen, das er voll erfüllte mit seiner leidenschaftlichen und unendlich anregenden Rede. Und so war es immer: man mochte kommen, wann man wollte, dieser tätigste Mensch hatte für den gelegentlichsten Menschen Zeit bei Tag und bei Nacht, es gab für ihn kein unerfülltes Versprechen, keine unerledigten Briefe, keinen vergessenen Anlaß im Tumult seiner Tätigkeit, und mit genau derselben bewundernden Stärke wie das erstemal habe ich dieses Genie seiner Lebensorganisation bei der letzten Begegnung gespürt. Es war im November vor einem Jahr, ich sollte nach Berlin kommen zu einem Vortrag und freute mich schon wieder bei dieser Gelegenheit des gewohnten Gespräches mit ihm, das mir eigentlich immer das wertvollste Erlebnis eines Berliner Aufenthaltes war; da stand plötzlich in den Zeitungen die Nachricht, daß Rathenau jene politische Mission nach London übernehmen sollte. Mit einemmal war er aus der privaten Sphäre in die Schicksalswelt des deutschen Reiches erhoben. Selbstverständlich dachte ich nicht mehr daran, ihn in solcher Stunde zu sehen, schrieb nur eine Zeile, ich wolle ihn in einem Augenblick, wo eine Weltentscheidung an ihn herantrete, nicht zu bloßem Gespräch behelligen. Aber als ich nach Berlin kam, lag, als einziger von allen erwarteten Briefen anderer, einer von ihm im Hotel. Er schrieb, es sei richtig, er habe wenig Zeit, aber ich solle nur Sonntag abend zu ihm kommen, pünktlich war er zur Stelle, und zwischen zwei Konferenzen im Reichsamt und zahllosen Erledigungen war er ganz Ruhe, Überlegenheit und Unbesorgtheit im rein abstrakten Gespräch. Und wieder zwei Tage später, im Hause eines Berliner Verlegers, wo eine kleine Gesellschaft versammelt war, kam er abends um ½ 10 Uhr herein, erzählte Dinge der Vergangenheit mit dem Gleichmut eines lässigen, sorglosen Menschen, plauderte dann noch weiter am Weg bis zur Königsallee (wo ihn die Kugel drei Monate später getroffen hat). Es war ein Uhr in der Nacht, man ging zu Bett, stand in den neuen Morgen auf, und da stand schon in den Zeitungen, daß Walther Rathenau heute mit dem ersten Frühzug nach London zu den Verhandlungen gereist sei. So geschlossen, so funktionsbereit, so ewig wach war dieses Gehirn Rathenaus, daß er vier Stunden vor Abfahrt zu welthistorischen Entscheidungen, die seinen ganzen Willen anspannten und über das Schicksal von Millionen entschieden, scheinbar lässig mit vollem Pflichtbewußtsein im plaudernden Gespräche ausruhen konnte, ohne Nervosität, ohne Ermüdung oder Abspannung zu verraten. Seine Überlegenheit war so groß, daß er sich nie und zu nichts vorzubereiten brauchte: er war immer bereit.

 

Diese Organisation, diese Fügsamkeit des Denkens unter den Willen, diese Vollendung des diagnostischen Geistes war sein Genie. Und das Tragische an diesem Menschen war, daß er diese Form seines Genies wie überhaupt die Idee der Organisation nicht liebte, daß er – in seinen Büchern hat er es ja oft gesagt – alle geistige wie materielle Organisation für unfruchtbar und sekundär hielt, solange sie nicht einem höheren, selbstlosen Sinn, irgendeinem Seelischen diente. Und diesen Sinn hat er lange nicht gefunden. Er schrieb viel in seinen Büchern von der Seele und vom Glauben als einem Postulat, aber man glaubte nicht recht diesem Tätigsten den Hymnus an die Kontemplation und noch weniger dem Millionär das Lob des geistigen Lebens. Und doch war eine tiefe Einsamkeit in ihm und eine große Unbefriedigtheit. Das bloß Kumulative, das bloße Zusammenraffen von Aufsichtratsstellungen, der Trustwahn eines Stinnes oder Castiglione als Selbstzweck konnte für diesen überlegenen Geist keinen Reiz haben: unablässig fragte er sich in die Welt hinein nach einem Warum und Wozu, nach einer überpersönlichen Rechtfertigung seines gigantischen Tuns. In dem untersten Wesen dieses Intellektuellsten aller Intellektuellen war ein unlöschbarer Durst nach dem Religiösen, nach irgendeiner Dumpfheit des Fühlens, nach einem Glauben. Aber in jedem Glauben ist ein Korn Wahn, ein Korn Weltbeschränktheit, und es war das Verhängnis Rathenaus, seine tiefste Tragik, absolut wahnlos zu sein. Er war ein König Midas des Geistes: was er anblickte, löste sich auf zu Kristall, wurde durchsichtig und klar, schichtete sich zu geistiger Ordnung: nicht ein Senfkorn Wahn oder Gläubigkeit gab ihm Ruhe und Tröstung. Er konnte sich nicht verlieren, sich nicht vergessen: er hätte vielleicht sein Vermögen hingegeben, irgend etwas zu schaffen in erhabener Dumpfheit des Wesens, ein Gedicht oder einen Glauben, aber es war ihm verhängt, immer klar zu sein, immer wach, sein eigenes herrliches Gehirn in sich rotieren und in tausend Spiegelstellungen funkeln zu fühlen.

Darum war auch irgendeine geheimnisvolle Kühle um ihn, eine Atmosphäre reiner Geistigkeit, kristallen klar, aber gewissermaßen luftleerer Raum. Man kam ihm nie ganz nahe, so herzlich, so gefällig, so hingebend er war, und sein hinrollendes Gespräch, wo Horizonte immer weiter und weiter sich wie Kulissen eines kosmischen Schauspiels auftaten, es begeisterte mehr, als es wärmte. Sein geistiges Feuer hatte etwas von einem Diamanten, der die härteste Materie zu zerschneiden vermag und unzerstörbar leuchtet: aber dies Feuer war in sich gefangen, es leuchtete nur zu andern und es wärmte nicht ihn selbst. Eine leichte gläserne Schicht war zwischen ihm und der Welt trotz oder eben wegen dieser geistigen Hochspannung um sein Wesen gegürtet, man spürte diese Undurchdringlichkeit schon, wenn man sein Haus betrat. Da war diese herrliche Villa im Grunewald, 20 Zimmer für Musik und Empfang, aber keines atmete Wärme des Bewohntseins, hatte den Hauch von Erfülltheit und Rast; da war sein Schloß Freienwalde, wo er die Sonntage verbrachte, ein altes märkisches Gut, das er vom Kaiser gekauft, aber man fühlte es wie ein Museum, und im Garten spürte man, daß niemand an den Blumen sich freute, niemand über den Kies ging und niemand ruhend im Schatten saß. Er hatte nicht Frau und nicht Kind, er selbst ruhte nicht und wohnte nicht: irgendwo in diesen Häusern war ein kleines Zimmer, dort diktierte er dem Sekretär oder las seine Bücher, oder schlief seinen kurzen, raschen Schlaf. Sein wirkliches Leben war immer im Geiste, immer in der Tätigkeit, in einer ewigen Wanderschaft, und vielleicht hat sich das merkwürdig Heimlose, großartig Abstrakte des jüdischen Geistes nie vollendeter in einem Gehirn, in einem Wesen ausgeprägt als in diesem Menschen, der sich im tiefsten gegen die Intellektualität seines Geistes wehrte und mit seinem ganzen Willen und seinen Sympathien einem imaginären deutschen, ja preußischen Ideal sich andrängte und doch immer spürte, daß er von einem andern Ufer, von einer anderen Art des Geistes war. Hinter all diesen wechselnden, scheinbar fruchtbaren und immer großartigen Aspekten Rathenaus stand eine furchtbare Einsamkeit: er hat sie niemandem geklagt, und doch hat jeder sie gefühlt, der ihn sah im Wettsturz seiner Tätigkeit und Geselligkeit.

Darum war ihm, wie so vielen innerlich Vereinsamten, der Krieg eine Art Befreiung. Zum erstenmal war diesem ungeheuren Tätigkeitsdrang ein Zweck außerhalb seiner selbst gegeben, zum erstenmal diesem Riesengeist eine Aufgabe gestellt, die seiner würdig war, zum erstenmal konnte diese Energie, die sonst sich in allen Windrichtungen des Geistigen auswirkte, gebunden und zielstrebend in eine Richtung sich entladen. Und mit jenem unerhörten Falkenblick, der aus der verwirrtesten Situation sofort den Knotenpunkt wahrnahm, griff Rathenau damals in das grandiose Geflecht des Krieges hinein. Auf den Straßen jubelten die Leute, die Burschen zogen singend ihrem Tod entgegen, die Herren Dichter dichteten mit Volldampf, die Bierhausstrategen bohrten Fähnchen auf die Landkarten und zählten die Kilometer bis Paris und selbst der deutsche Generalstab rechnete den Weltkrieg nur nach Wochen. Rathenau, dem tragischen Klarseher, war es in der ersten Stunde gewiß, daß ein Kampf, in den die klarsichtigste, die englische Nation sich verstrickt hatte, ein Kampf auf Monate und Jahre hinaus sein mußte, und sein diagnostischer Falkenblick erkannte in der ersten Sekunde die schwache Stelle in der Rüstung Deutschlands, den Mangel an Rohstoffen, der bei einer Blockade durch England notwendig in kürzester Zeit eintreten mußte. Eine Stunde später war er im Kriegsministerium und wieder eine Stunde später begann er jene Kontingentierung der gesamten Rohstoffe im 70-Millionen-Reich und baute das System des ökonomischen Widerstands gigantisch aus, ohne das Deutschland wahrscheinlich schon Monate früher zusammengebrochen wäre.

Es war wohl der erste Augenblick des Lebens, in dem er seine Tätigkeit als sinnvoll und nicht bloß als zwanghaft empfand, aber selbst jene Jahre wurden ihm bald tragisch überschattet durch die eigene Hellsichtigkeit. Sein überlegener Geist, den keine Hoffnung leichtfertig beschwingte, den kein Wahn auch nur für eine Sekunde übertäuben konnte, der zu stolz war, um sich zu belügen, sah das tragische Schicksal des Krieges nach den ersten Fehlschlägen als unvermeidlich voraus und mußte es erleben, sich immer wieder von den Schwätzern und Schreiern, von den traurigen Helden des Siegfriedens überschrien zu wissen. Sein Buch »Von kommenden Dingen«, 1917 als erste Warnung entsandt, zeigte Europa sein Schicksal für den Fall einer Fortdauer des Wahns. Es war ein Appell, den nur Torheit überhören konnte. Aber Wahn ist immer stärker als die Wahrheit, und so mußte er weiter mit schmerzhaft verbissenen Zähnen seine verschwiegensten Gedanken in sich vergraben, mußte zusehen, wie die Torheit des Unterseeboot-Krieges, der Irrwitz der Annexionisten sich austobte, mußte schweigen, obwohl für ihn so wie für Ballin die Klarheit über den Ausgang eine beinahe selbstmörderische ward.

 

Und ebenso tragisch, klarsehend, mit dem vollen Bewußtsein der Vergeblichkeit, unbestechlich hoffnungslos und nur pflichtbewußt ist dieser Walther Rathenau dann Monate später nach dem Zusammenbruch an die wenig begehrliche Stelle des Ministers eines zerschmetterten Reiches getreten. Es war nicht Eitelkeit, wie so viele meinten, die ihn verlockte, sondern eine finstere Pflichtentschlossenheit gegen sich selbst, gegen die Pflicht, endlich einmal an der Größe einer Aufgabe, der sonst niemand gewachsen war, die eigene ungeheure und noch niemals ganz ausgenützte Kraft zu erproben. Er wußte, was ihm bevorstand: die Mörder Erzbergers waren von ihren Münchner Gesellen gut geschützt und jeder Nachfolger dadurch stillschweigend ermuntert worden; er wußte, daß ihm, dem Juden, eine politische Leistung, und auch die größte, nicht im gegenwärtigen Deutschland zuerkannt, wohl aber jede scheinbare Nachgiebigkeit zum Verbrechen gestempelt würde; er kannte genau den hysterischen Gegenwillen Frankreichs und die verlogene Verhetztheit der alldeutschen Kreise, die sich gegenseitig Waffen in die Hände spielten, er wußte alles und wußte auch wohl das Ende – nicht als Emphatiker des Gefühls wie die andern, sondern als tragisch Wissender ist er an den Platz getreten, den ihm sein Schicksal wies.

In diesen Tagen hat Rathenau zum erstenmal ein Maß für seine Kräfte gefunden, die Weltgeschichte als den wahren Gegenspieler für seinen grandiosen Geist. Zum erstenmal konnte seine Tatkraft, sein Wille, seine Überlegenheit nicht an zufälliger kommerzieller oder literarischer Materie, sondern an zeitlosen Geschehnissen, an Weltsubstanz sich versuchen, und selten hat ein einzelner Mensch sich dermaßen in seinem großen Augenblick bewährt. Genug der Anwesenden bei der Konferenz in Genua haben es mit Bewunderung erzählt, wie heroisch dort seine persönliche Leistung war, wie sehr er, der Vertreter des ungeliebtesten Staates, alle Staatsmänner Europas zur Bewunderung zwang. Seine geistige Spannkraft hatte napoleonisches Maß: er war von Deutschland über Paris gefahren, 58 Stunden im Waggon gereist, kam arbeitend an, nahm die Depeschen entgegen, kleidete sich um, machte zwei Besuche, ging ohne ein Zeichen der Ermüdung in den Sitzungssaal und hielt dort zwei oder drei Stunden seine große Rede. Dann begann eine Diskussion, ein Kreuzfeuer von technischen Fragen, das an seine Konzentration, seine Willenskraft die höchsten Anforderungen stellte. Die englischen, die französischen, die italienischen Delegierten fragten vorbereitet ihn, den Unvorbereiteten, Dutzende von Fragen in ihrer eigenen Sprache. Er antwortete unvorbereitet den Italienern italienisch, den Franzosen französisch, den Engländer englisch, blieb keine Auskunft schuldig und kämpfte so stundenlang als einzelner in einer Art Rösselsprung der Antwort von einem zum andern. Als die Sitzung aufgehoben war, sahen alle im Saale auf, es war jener unwillkürliche Aufblick der Ehrfurcht, den der Gegner für den überlegenen Geist empfindet. Zum erstenmal seit Jahrzehnten hatte das Ausland wieder vor einem deutschen Staatsmann Achtung gefunden, zum erstenmal seit Bismarck ein deutscher Diplomat durch sein persönliches Wesen imponiert. Und so wurde ihm auch das letzte Wort jener Konferenz gegeben, zu jener großartigen Rede am Ostertag, wo er – während zu Hause schon die Gymnasiasten in der Schulpause seine Ermordung berieten – den Ruf zur Besinnung, zur Eintracht Europas mit der ganzen Leidenschaft tragischer Überzeugung formte und sein letztes Wort das »Pace! Pace!« Petrarcas war.

 

Er hat einen raschen, einen guten Tod gehabt. Die dummen Jungen, die mit ihrer eingepeitschten Hinterhaltsheldentat dem deutschen Geiste zu dienen meinten, waren unbewußt im Einklang mit dem tiefsten Sinn seines Schicksals, denn nur durch das Hingeopfertsein ward das Opfer sichtbar, das Walther Rathenau auf sich genommen hatte. Aber vielleicht ist die Nation mehr um diesen Tod zu bedauern als er selbst. Welthistorische Gestalten soll man nicht sentimentalisch sehen und nicht ihnen langgemächliches Leben und umhüteten Bettod wünschen wie braven bürgerlichen Familienvätern: ihr wahres Schicksal ist nicht das persönliche, sondern das historische, das zeitlos bildsame, und das liegt in wenigen großen Augenblicken beschlossen. Das Höchste, das solchen Naturen verstattet ist, bleibt immer im Sinne Schopenhauers ein heroischer Lebenslauf. Rathenau hat diese letzte, diese höchste Lebensform eben durch seinen Tod erreicht: eine Stunde Weltwirken nur war ihm gegeben, die hat er groß genützt, und ein Beispiel steht nun dauernd an der Stelle, wo flüchtig, allzuflüchtig seine irdische Gestalt gestanden. Nie war er größer als in seinem Tod, nie sichtbarer als heute in seinem Fernesein: Klage um ihn ist zugleich Klage um das deutsche Schicksal, das in entscheidender Stunde seine stärkste und geistigste Tatkraft verstieß und wieder hinabrollte in die alte verhängnisvolle Wirrsäligkeit, in die wütige Ungeschicklichkeit seiner beharrlich unwirklichen und darum ewig unwirksamen Politik.


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