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Mit dem Reichstag von Worms, mit dem Bannstrahl der Kirche und der kaiserlichen Acht glaubt Erasmus – und die meisten teilen sein Gefühl – Luthers Reformationsversuch erledigt. Was übrigbleibt, ist offene Rebellion gegen Staat und Kirche, ein neues Albigensertum, Waldenser- oder Hussitentum, das wahrscheinlich gleich grausam vernichtet werden wird, und gerade diese kriegerische Lösung wollte Erasmus vermieden wissen. Sein Traum war es gewesen, reformatorisch die evangelische Lehre der Kirche einzubauen, und solchem Ziele hätte er gerne seinen Beistand geliehen. »Bleibt Luther innerhalb der katholischen Kirche, so will ich gern an seine Seite treten«, hatte er öffentlich versprochen. Aber mit einem Ruck und Riß hat sich der Gewalttätige für immer von Rom gelöst. Nun ist es vorbei. »Die Luthertragödie ist zu Ende, ach daß sie nie auf der Bühne erschienen wäre«, klagt der enttäuschte Friedensfreund. Ausgelöscht ist der Funke der evangelischen Lehre, versunken der Stern des geistigen Lichts, »actum est de stellula lucis evangelicae«. Nun werden die Schergen und die Kanonen entscheiden über die Sache Christi, er selbst aber ist entschlossen, in jedem kommenden Konflikt zur Seite zu treten, er fühlt sich zu schwach für die Größe der Probe. Demütig bekennt er, in einer so ungeheuren und verantwortlichen Entscheidung nicht jene letzte Gottes- und Selbstgewißheit zu besitzen, der sich die andern rühmen: »Mögen denn Zwingli und Bucer den Geist besitzen, Erasmus ist nichts als ein Mensch, er kann die Sprache des Geistes nicht vernehmen.« Der Fünfzigjährige, der längst tiefe Einsicht gewonnen hat in die Undurchdringlichkeit der göttlichen Probleme, fühlt sich nicht berufen, Wortführer in diesem Streite zu sein; nur dort will er still und demütig dienen, wo ewige Klarheit herrscht, in der Wissenschaft, in der Kunst. So flüchtet er aus der Theologie, aus der Staatspolitik, aus dem Kirchenzwist in sein Studierzimmer, aus dem Gezänk in das erhabene Schweigen der Bücher; hier kann er der Welt noch nützlich sein. Also zurück in die Zelle, alter Mann, und verhänge die Fenster gegen die Zeit! Laß den andern, die Gottes Ruf in ihren Herzen fühlen, den Kampf und folge der stilleren Aufgabe, die Wahrheit in der lauteren Sphäre der Kunst und der Wissenschaft zu verteidigen. »Fordern auch die verderbten Sitten des römischen Klerus ein außerordentliches Heilmittel, so steht es doch nicht mir und meinesgleichen zu, das Heilgeschäft uns anzumaßen. Lieber dulde ich den Zustand der Dinge, als daß ich neue Unruhe erwecke, deren Richtung oft auf das entgegengesetzte Ziel hinausläuft. Wissentlich war ich und werde ich nie Anführer oder Teilnehmer eines Aufruhrs sein.«
Erasmus hat sich zurückgezogen aus dem Kirchenstreit in die Kunst, in die Wissenschaft, in sein eigenes Werk. Er fühlt sich angeekelt von diesem Gekläff und Gezänk der Parteien. »Consulo quieti meae«, nur Ruhe will er mehr, das heilige Otium des Künstlers. Aber die Welt hat sich verschworen, ihn nicht ruhen zu lassen. Es gibt Zeiten, in denen Neutralität Verbrechen genannt wird, in politisch erregten Augenblicken verlangt die Welt ein klares Dafür oder Dagegen, lutheranisch oder papistisch. Die Stadt Löwen, in der er wohnt, macht ihm das Friedensverhalten schwer, und während das ganze reformatorische Deutschland Erasmus tadelt, daß er ein zu lauer Lutherfreund sei, feindet ihn hier die streng katholische Fakultät an und nennt ihn den Anstifter der »Lutherpest«. Die Studenten, immer die Stoßtruppe jedes Radikalismus, veranstalten lärmende Demonstrationen gegen Erasmus, sie werfen sein Katheder um, gleichzeitig wird auf den Kanzeln von Löwen gegen ihn geeifert, und der Legat des Papstes, Aleander, muß seine ganze Autorität einsetzen, um wenigstens die öffentlichen Beschimpfungen gegen seinen alten Kameraden zu unterdrücken. Mut war nun niemals des Erasmus Sache; so zieht er es vor, zu flüchten statt zu kämpfen. Wie sonst vor der Pest, so flieht er vor dem Haß aus der Stadt, in der er jahrelang sein Werk getan. Hastig packt der alte Nomade seine wenigen Sachen zusammen und geht auf die Wanderschaft. »Ich muß mich in acht nehmen, daß ich von den Deutschen, die jetzt gleich Besessenen sind, nicht zerrissen werde, bevor ich Deutschland verlasse.« Immer gerät der Unparteiische in den bittersten Streit.
Erasmus will in keiner ausgesprochen katholischen Stadt mehr wohnen und in keiner reformierten, nur das Neutrale ist ihm schicksalsgemäßer Raum. So sucht er Zuflucht in dem ewigen Hort aller Unabhängigkeit, in der Schweiz. Basel wird nun für viele Jahre die Stadt seiner Wahl; im Mittelpunkt Europas gelegen, still und vornehm, mit sauberen Straßen, mit ruhigen, unleidenschaftlichen Menschen, keinem kriegslüsternen Fürsten Untertan, sondern demokratisch frei, verspricht sie dem unabhängigen Gelehrten die ersehnte Stille. Hier findet er eine Universität und hochgelehrte Freunde, die ihn kennen und ehren, hier Famuli, gefällige Gehilfen für sein Werk, hier Künstler, wie einen Holbein, und vor allem Froben, den Buchdrucker, diesen großen Meister seines Handwerks, mit dem ihn seit Jahren schon gemeinsame erfreuliche Arbeit verbindet. Durch den Eifer seiner Verehrer wird ihm ein bequemes Haus bereitgestellt, zum erstenmal empfindet der ewig Umhergetriebene etwas wie Heimatgefühl in dieser freien und wohnsamen Stadt. Hier kann er dem Geiste leben, also seiner wahren und wirklichen Welt. Nur wo er seine Bücher in Ruhe schreiben kann, nur wo man sie sorgsam druckt, vermag er sich wohl zu fühlen. Basel wird der große Ruhepunkt seines Lebens. Hier hat der ewige Wanderer länger gelebt, als irgendwo sonst, ganze acht Jahre, und im Laufe der Zeit haben sich diese Namen ruhmreich aneinander gebunden: man kann seitdem Erasmus nicht mehr denken ohne Basel und Basel nicht ohne Erasmus. Hier steht noch heute wohlbehütet sein Haus, hier werden einige der Bildnisse Holbeins bewahrt, die sein Antlitz in die Ewigkeit getragen haben, hier hat Erasmus viele seiner schönsten Schriften geschrieben, vor allem die Colloquia, diese funkelnden lateinischen Dialoge, die, ursprünglich dem kleinen Froben als Lehrstücke zugedacht, ganze Generationen in der Kunst lateinischer Prosa unterwiesen haben. Hier vollendet er die große Ausgabe der Kirchenväter, von hier sendet er Brief um Brief in die Welt; hier, in der Zitadelle der Arbeit verschanzt, schafft er, abseits vom Getümmel, Werk um Werk, und wenn die geistige Welt Europas nach ihrem Führer blickt, so sieht sie nach der alten königlichen Stadt am Rhein hinüber. Basel wird durch Erasmus in jenen Jahren zu einer europäischen geistigen Residenz. Um den großen Gelehrten sammelt sich eine Reihe humanistischer Schüler, wie Oecolampadius und Rhenanus und Amerbach; kein Mann von Bedeutung, kein Fürst und Gelehrter, kein Freund der schönen Künste versäumt, in Frobens Druckerei und im Haus »zum Lufft« seine Aufwartung zu machen, von Frankreich und Deutschland und Italien pilgern die Humanisten heran, um den verehrten Mann am Werke zu sehen. Noch einmal scheint hier in der Stille, während in Wittenberg und Zürich und an allen Universitäten der theologische Streit entbrennt, den Künsten und Wissenschaften ein letztes Refugium geschaffen zu sein.
Aber täusche Dich nicht, alter Mann. Deine wahre Zeit ist vorbei, Dein Acker verwüstet. Der Kampf ist in der Welt, ein Kampf auf Leben und Tod, der Geist ist parteiisch geworden, man schließt sich zusammen zu feindseligen Rotten: der Freie, der Unabhängige, der Abseitige wird nicht mehr geduldet. Ein Weltkampf ist da für oder gegen die evangelische Erneuerung, jetzt hilft es nicht mehr, die Fenster zu verschließen und hinter die Bücher zu flüchten; jetzt, da von einem Ende Europas zum andern Luther die christliche Welt zerrissen hat, geht es nicht an, den Kopf in den Sand zu stecken und weiterhin die kindische Ausflucht zu versuchen, man hätte seine Werke nicht gelesen. Jetzt wütet rechts und links das ewig grauenhafte Zwangswort: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.« Wenn ein Kosmos in zwei Stücke zerfällt, geht der Riß durch jeden einzelnen Menschen; nein, Erasmus, vergeblich bist Du geflüchtet, und mit Feuerbränden wird man Dich herausräuchern aus Deiner Zitadelle. Diese Zeit will Bekenntnis, diese Welt will wissen, wo Erasmus, ihr geistiger Führer, steht, ob für oder gegen Luther, ob für oder gegen den Papst.
Nun hebt ein erschütterndes Schauspiel an. Die Welt will durchaus einen Menschen, der des Kämpfens müde ist, in den Kampf zerren. »Es ist ein Unglück«, klagt der Fünfundfünfzigjährige, »daß dieser Weltsturm mich gerade in einem Augenblick überrascht hat, da ich auf eine durch meine viele Arbeit verdiente Rast hoffen konnte. Warum erlaubt man mir nicht, bloß Zuschauer zu sein bei dieser Tragödie, der ich doch so wenig geeignet bin, als Schauspieler mitzuwirken, und da doch so viele andere Leute sich gierig auf die Szene stürzen?« Aber Ruhm wird in solchen kritischen Zeiten zur Verpflichtung und zum Fluch, ein Erasmus ist zu sehr vor die Weltneugier gestellt, sein Wort zu wichtig, als daß die Parteileute zur Rechten und zur Linken auf seine Autorität verzichten wollten; mit allen Mitteln ziehen und zerren die Führer von beiden Seiten, um ihn für ihre Sache zu gewinnen. Sie locken ihn mit Geld und Schmeicheleien, sie höhnen ihn, es mangle ihm an Mut, um ihn aus seinem überklugen Schweigen herauszutreiben, sie schrecken ihn mit der falschen Nachricht, seine Bücher seien in Rom verboten und verbrannt worden, sie fälschen seine Briefe, sie verdrehen seine Worte. In einem solchen Augenblick wird der wahre Wert eines unabhängigen Menschen großartig klar. Denn Kaiser und Könige, drei Päpste und auf der andern Seite Luther, Melanchthon, Zwingli, sie alle werben jetzt um ein zustimmendes Wort des Erasmus. Alles Irdische könnte er erreichen, wenn er beitreten wollte zu einer Partei oder zur andern: er weiß, er könnte »in der ersten Reihe in der Reformation stehen«, wenn er sich klar zu ihr bekennen würde, er weiß anderseits: »Ich könnte ein Bistum haben, wenn ich gegen Luther schriebe.« Aber gerade vor dieser Unbedingtheit und Einseitigkeit des Bekennens schauert die Ehrlichkeit des Erasmus zurück. Er kann die Papstkirche nicht aufrichtigen Herzens verteidigen, weil er als erster in diesem Streite ihre Mißbräuche gerügt, ihre Erneuerung gefordert, aber auch den Evangelischen will er sich nicht völlig verpflichten, weil sie nicht die Idee seines Friedens-Christus in die Welt tragen, sondern zu wüsten Eiferern geworden sind. »Sie schreien unablässig: Evangelium, Evangelium! Dessen Ausleger wollen sie aber selber sein. Einst machte das Evangelium die Wilden sanft, die Räuber wohltätig, die Händelsüchtigen friedfertig, die Fluchenden zu Segnenden. Diese aber, wie Besessene, fangen allerhand Aufruhr an und reden den Wohlverdienten Böses nach. Ich sehe neue Heuchler, neue Tyrannen, aber nicht einen Funken evangelischen Geistes.« Nein, zu keinem von beiden, nicht zum Papst, nicht zu Luther, will Erasmus sich öffentlich als Anhänger bekennen. Nur Frieden, Frieden, Frieden, nur Abseitigkeit und Stille, nur eine die ganze Menschheit fördernde Arbeit! »Consulo quieti meae.«
Aber Erasmus' Ruhm ist zu groß, und zu ungebärdig das Warten auf sein Bekenntnis. Aus der ganzen Welt mehren sich die Rufe, er solle vortreten, er solle für sich und für alle das Wort der Entscheidung sprechen. Wie tief im ganzen Bildungskreise der Glaube an ihn als an einen edlen und unbestechlichen Geist verwurzelt ist, besagt ein erschütternder Appell aus der innersten Seele eines großen deutschen Gemüts. Albrecht Dürer hat auf seiner holländischen Reise Erasmus kennengelernt; wenige Monate später, als sich das Gerücht verbreitete, Luther, der Führer der deutschen religiösen Sache sei tot, sieht Dürer in Erasmus den einzigen, der würdig genug wäre, die heilige Sache weiterzutragen, und in der Erschütterung seiner Seele ruft er Erasmus in seinem Tagebuch mit den Worten an: »Erasme Rotterdame, wo wiltu bleiben? Hör, Du Ritter Christi, reit hervor neben dem Herrn Christum, beschütz die Wahrheit, erlang der Martärer Krön! Du bist doch sonst ein altes Männiken, ich hab von Dir selbst gehört, dass Du Dir selbst noch zwei Jahr zugegeben hast, die Du noch taugest etwas zu tun. Dieselben leg wohl an, dem Evangelio und dem wahren christlichen Glauben zu Gott und lass Dich dann hören, so werden der Höllen Pforten, der römisch Stuhl wie Christus sagt, nit wider Dich vermögen ... Oh Erasmus, halt Dich hie, dass ich Gott Dein rühme wie vom David geschrieben stehet, dann Du magst thun und fürwahr, Du magst den Goliath fällen.«
So denkt Dürer und mit ihm die ganze deutsche Nation. Aber nicht minder erhofft die katholische Kirche in ihrer Not alles von Erasmus, und der Stellvertreter Christi auf Erden, der Papst, schreibt in einem eigenhändigen Brief eine fast wörtlich gleiche Mahnung: »Tritt hervor, tritt hervor zur Unterstützung der Sache Gottes! Gebrauche Deine herrlichen Gaben zu Gottes Ehre! Denke daran, daß es mit Gottes Hilfe an Dir liegt, wenn ein Großteil derer, welche durch Luther verführt worden sind, wieder auf den rechten Weg kommen, wenn diejenigen, welche noch nicht abgefallen sind, festbleiben und jene, welche dem Falle nahe sind, davor behütet werden!« Der Herr der Christenheit und seine Bischöfe, die Herren der Welt, Heinrich VIII. von England, Karl V. und Franz I. und Ferdinand von Österreich, der Herzog von Burgund und anderseits die Führer der Reformation, alle stehen sie drängend und bittend vor Erasmus, wie dereinst die homerischen Fürsten vor dem Zelt des zürnenden Achilles, damit er von seiner Tatenlosigkeit lasse und in den Kampf ziehe. Die Szene ist großartig; selten in der Geschichte ist so gerungen worden von den Mächtigen dieser Erde um das Wort eines einzelnen geistigen Menschen, selten hat sich die Suprematie der geistigen Macht über die irdische so sieghaft bewährt. Aber hier offenbart sich der geheime Bruch im Wesen des Erasmus. Er sagt all diesen Werbern um seine Gunst kein klares, kein heroisches: »Ich will nicht.« Er kann sich nicht aufraffen zu einem offenen, deutlichen Wort, zu einem Nein. Er will mit keiner Partei sein: das ehrt seine innere Unabhängigkeit. Aber leider, er will es sich auch gleichzeitig mit keiner Partei verderben; dies nimmt seiner durchaus richtigen Haltung die Würde. Denn er wagt gegenüber diesen mächtigen Männern, die seine Gönner, Bewunderer und Unterstützer sind, keinen offenen Widerstand, sondern hält sie alle mit undeutlichen Ausreden hin, er divagiert, er laviert, er temporiert, er voltigiert – man muß mit Absicht hier die allerkünstlichsten Worte wählen, um das Künstliche seiner Haltung zu veranschaulichen – er verspricht und verzögert, er schreibt verbindliche Worte, ohne sich zu binden, er schmeichelt und heuchelt, er entschuldigt bald mit Krankheit, bald mit Müdigkeit, bald mit Unzuständigkeit seine Zurückhaltung. Dem Papst antwortet er mit übertreiblicher Bescheidenheit: Wie? Er, ein so kleiner Geist, er, dessen Bildung unter dem Mittelmaß stünde, solle sich des Ungeheuren unterfangen, die Ketzerei auszurotten? Den König von England vertröstet er von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr und beschwichtigt gleichzeitig auf der Gegenseite Melanchthon und Zwingli durch schmeichlerische Briefe; hundert Ausflüchte findet und erfindet er, andere und immer andere. Aber hinter all diesem unsympathischen Ränkespiel verbirgt sich ein entschlossener Wille: »Wenn einer Erasmus nicht schätzen kann, weil er ihm als ein schwächlicher Christ erscheint, so möge er von mir denken, was er will. Ich kann nicht ein anderer sein, als ich bin. Hat ein anderer von Christus größere Gaben des Geistes und ist selbstsicherer als ich es bin, so möge er sie für den Ruhm Christi gebrauchen. Meiner Geistesart entspricht es mehr, einen stilleren und sicheren Weg zu gehen. Ich kann nicht anders, als Zwiespalt hassen und Frieden und Verständigung lieben, denn ich habe erkannt, wie dunkel alle menschlichen Angelegenheiten sind. Ich weiß, um wieviel leichter es ist, Wirrnis aufzuwühlen, als sie zu beschwichtigen. Und da ich nicht meiner eigenen Vernunft in allen Dingen traue, stehe ich lieber davon ab, mich mit voller Gewißheit über die Geistesart eines anderen auszusprechen. Mein Wunsch wäre, daß alle zusammen für den Sieg der christlichen Sache und des friedlichen Evangeliums kämpfen, und zwar ohne Gewalttätigkeit und nur im Sinne der Wahrheit und Vernunft, daß wir uns verständigten, sowohl in Hinsicht auf die Würde der Priester, als auch für die Freiheit des Volkes, das unser Herr Jesus frei wünschte. Allen jenen, welche auf dieses Ziel hinwirken nach Maßgabe ihrer besten Kräfte, wird Erasmus gern zur Seite stehen. Aber wenn irgendeiner wünscht, mich in Wirrnis zu verstricken, so soll er mich weder als Führer noch als Gefährten haben.«
Erasmus' Entschluß ist unbeugsam: Jahre und Jahre läßt er Kaiser, Könige, Päpste und Reformatoren, Luther, Melanchthon, Dürer, die ganze große kriegerische Welt warten und warten, und keinem einzigen gelingt es, ihm ein entscheidendes Wort abzupressen. Seine Lippen lächeln höflich jedem zu, aber sie bleiben hartnäckig verschlossen für das letzte, entscheidende Wort.
Einer aber ist da, der nicht warten will, ein heißer und ungeduldiger Kriegsmann des Geistes, unbändig entschlossen, diesen gordischen Knoten zu zerhauen: Ulrich von Hutten. Dieser »Ritter gegen Tod und Teufel«, dieser Erzengel Michael der deutschen Reformation, hatte zu Erasmus gläubig und liebend wie zu einem Vater aufgeblickt. Leidenschaftlich dem Humanismus ergeben, war des Jünglings sehnlichster Wunsch, »der Alkibiades dieses Sokrates zu werden«; sein ganzes Leben hatte er vertrauensvoll in des Erasmus Hand gelegt, »in summa, so die Götter mich bewahren und Du uns zum Ruhme Deutschlands erhalten bleibst, würde ich alles ablehnen, um mit Dir beisammen bleiben zu können«. Erasmus wiederum, für Bewunderung allzeit empfänglich, hatte diesen »einzigartigen Liebling der Musen« auf das herzlichste gefördert, er liebte diesen glühenden jungen Mann, der den unermeßlichen Jubelruf wie eine eiserne Lerche in die Himmel geworfen: »O saeculum, o litterae! Juvat vivere!«, dies selig vertrauensvolle: »Es ist eine Lust zu leben!« Er hatte ehrlich und tatwillig gehofft, in diesem jungen Scholaren einen neuen Meister der Weltwissenschaft zu erziehen, aber bald hatte die Politik den jungen Hutten an sich gerissen, ihm wurde die Stubenluft, der Bücherkram des Humanismus allmählich zu eng, zu dumpf. Der junge Ritter und Ritterssohn zieht wieder den Fehdehandschuh an, er will nicht mehr nur die Feder führen, sondern auch das Schwert wider Papst und Pfaffentum. Obwohl gekrönt mit dem Lorbeer des lateinischen Dichters, wirft er diese fremde gelehrte Sprache weg, um nur mehr in deutschen Worten die Zeit für das deutsche Evangelium in Waffen zu rufen:
Latein ich vor geschrieben hab
das war eim jeden nicht bekannt
Jetzt schrei ich an das Vaterland.
Aber Deutschland treibt den Verwegenen aus, in Rom will man ihn als Ketzer verbrennen. Gebannt von Haus und Hof, verarmt und vorzeitig gealtert, bis in die Knochen zerfressen von der unheimlichen Franzosenkrankheit, bedeckt mit Schwären, ein halb zerfetztes weidwundes Wild, schleppt sich mit letzten Kräften der kaum Fünfunddreißigjährige nach Basel. Dort wohnt ja sein großer Freund, das »Licht Deutschlands«, sein Lehrer, sein Meister, sein Beschützer Erasmus, dessen Ruhm er gekündet, dessen Freundschaft ihn begleitet, dessen Empfehlungen ihn gefördert haben, er, dem er ein Gutteil seiner verschollenen und schon halb zerstörten künstlerischen Kraft dankt. Zu ihm flüchtet dieser dämonisch Getriebene knapp vor dem Untergang, ein Schiffbrüchiger, der, bereits gepackt von der dunklen Welle, nach der letzten Planke greift.
Aber Erasmus – nie hat sich die bedauerliche Ängstlichkeit seiner Seele nackter enthüllt als in dieser erschütternden Probe – läßt den Geächteten nicht in sein Haus. Schon lange ist ihm dieser ewige Zänker und Stänker unangenehm und unbequem, bereits in Löwen, als Hutten ihn aufforderte, man solle den Pfaffen offenen Krieg erklären, hatte er schroff abgelehnt: »Meine Aufgabe ist, die Sache der Bildung zu fördern.« Er will mit diesem Fanatiker, der die Dichtung der Politik geopfert hat, mit diesem »Pylades Luthers«, nichts zu schaffen haben, zumindest nicht öffentlich und am wenigsten in dieser Stadt, wo hundert Späher ihm ins Fenster sehen. Erasmus hat Furcht vor diesem erbärmlich gejagten, halb totgehetzten Menschen, er hat dreifache Furcht, erstens, daß dieser Pestbringer – nichts hat ja Erasmus so sehr gefürchtet wie Ansteckung – die Bitte tun könne, in seinem Hause zu wohnen, zweitens, daß dieser »egens et omnibus rebus destitutus«, dieser Bettler und von allem Besitz Entblößte, ihm dann dauernd zur Last fiele, und drittens, daß dieser Mann, der den Papst beschimpft und die deutsche Nation zum Pfaffenkrieg aufgereizt hat, seine eigene sichtbar zur Schau getragene Unparteilichkeit kompromittieren würde. So wehrt er Huttens Besuch in Basel ab, und zwar, seiner Art gemäß, nicht mit einem offenen und entschiedenen: »Ich will nicht«, sondern unter nichtigen und kleinlichen Vorwänden, er könne wegen seines Steinleidens und seiner Koliken Hutten, der Stubenwärme benötigt, nicht in einem geheizten Zimmer empfangen, ihm selbst sei aber jeder Ofendunst unerträglich, – eine klare oder vielmehr klägliche Ausflucht.
Nun begibt sich vor den Augen der ganzen Welt ein beschämendes Schauspiel. In Basel, der damals noch kleinen Stadt mit insgesamt vielleicht hundert Straßen und zwei oder drei Plätzen, wo jeder den andern kennt, hinkt wochenlang ein erbarmungswürdiger Kranker, Ulrich von Hutten, der große Dichter, der tragische Landsknecht Luthers und der deutschen Reformation, auf den Gassen und in den Wirtshäusern herum, und immer wieder an dem Haus vorbei, wo sein einstiger Freund wohnt, der erste Förderer und Erwecker ebenderselben evangelischen Sache. Manchmal steht er auf dem Marktplatz und schaut zornigen Blicks hinüber zur verriegelten Tür, zu den ängstlich zugetanen Fenstern des Mannes, der ihn einstmals als den »Neuen Lukian«, als den großen satirischen Dichter der Zeit begeistert der Welt verkündigt. Hinter den unbarmherzig verschlossenen Fensterläden wieder, wie eine Schnecke im Haus, sitzt Erasmus, das alte dünne Männchen, und kann es nicht erwarten, daß dieser Störenfried, dieser lästige Landstreicher endlich wieder seine Stadt verlasse. Unterirdisch gehen Botschaften hin und her, denn immer noch wartet Hutten, ob die Tür sich nicht auftun wolle, die alte Freundeshand sich nicht endlich helfend seinem Elend entgegenstrecken. Aber Erasmus schweigt und wehrt mit schlechtem Gewissen ab, vorsorglich versteckt er sich in seinem Haus.
Schließlich reist Hutten ab, vergifteten Bluts und nun auch vergifteten Herzens. Er reist hinüber nach Zürich zu Zwingli, der ihn furchtlos empfängt. Von Krankenbett zu Krankenbett schleppt er sich mühsam weiter, nur mehr einige Monate wird es währen, bis man sein einsames Grab auf der Insel Ufenau rüstet. Aber ehe er stürzt, hebt dieser schwarze Ritter ohne Furcht und Tadel zum letztenmal das schon halb zerbrochene Schwert, um wenigstens mit dem Stumpf noch Erasmus tödlich zu treffen, er, der Bekenner, den Übervorsichtigen, der sich nicht bekennen will. Mit einer furchtbaren Zornschrift – Expostulatio cum Erasmo – fällt er den einstigen Freund, den einstigen Führer an. Er zeiht ihn vor der ganzen Welt unersättlicher Ruhmsucht, die ihn neidisch mache auf die wachsende Macht eines andern (dies sein Hieb in Sachen Luthers), er beschuldigt ihn erbärmlicher Unzuverlässigkeit, schmäht seine Gesinnung und schreit erbittert über die ganze deutsche Erde, Erasmus habe die nationale, die lutherische Sache, obwohl ihr innerlich zugehörig, im Stich gelassen und schmählich verraten. Vom Totenbett ruft er mit glühenden Worten Erasmus auf, er möge die evangelische Lehre, da er nicht Mut genug habe, sie zu verteidigen, wenigstens offen angreifen, denn man fürchte ihn in den Reihen der Evangelischen längst nicht mehr: »Gürte Dich, die Sache ist reif geworden zur Tat, und eine Aufgabe, würdig Deines vorgeschrittenen Alters. Nimm alle Stärke zusammen und wende sie ans Werk. Du wirst Deine Gegner gewappnet finden. Die Partei der Lutheraner, die Du von der Erde verjagen möchtest, wartet auf den Kampf und wird ihn Dir nicht verweigern.« In tiefer Erkenntnis des geheimen Zwiespalts in Erasmus sagt Hutten seinem Gegner voraus, er werde einem solchen Kampf nicht gewachsen sein, weil sein Gewissen doch in vielen Dingen Luthers Lehre recht gebe. »Ein Teil von Dir wird sich nicht so sehr gegen uns richten als gegen Deine eigenen früheren Schriften. Du wirst genötigt sein, Dein Wissen gegen Dich selbst zu wenden und beredsam gegen Deine einstige Beredsamkeit zu sein. Deine eigenen Schriften werden sich gegenseitig bekämpfen.«
Erasmus spürt sofort die Härte des Schlags. Bisher hatten nur kleine Leute gegen ihn gekläfft. Ab und zu hatten verärgerte Skribenten ihm kleine Übersetzungsfehler nachgewiesen, Schleuderhaftigkeiten und unrichtige Zitate; schon diese ungefährlichen Wespenstiche hatten den Empfindlichen unruhig gemacht. Hier aber wird er zum erstenmal angefallen von einem wirklichen Gegner, angefallen und herausgefordert vor ganz Deutschland. Im ersten Schrecken versucht er, den Druck von Huttens Schrift, die zunächst nur im Manuskript kursiert, zu unterdrücken, aber als ihm dies nicht gelingt, greift er zornig zur Feder und antwortet mit seinem »Spongia adversus aspergines Hutteni« (um mit dem Schwamm die Anwürfe Huttens wegzuwischen). Hart auf hart schlägt er zurück und scheut auch in diesem erbitterten Kampf nicht, unter den Gürtel zu zielen, wo er Hutten verwundet und schon tödlich getroffen weiß. In vierhundertvierundzwanzig einzelnen Paragraphen widerlegt er jeden einzelnen Anwurf, um schließlich – immer ist Erasmus groß, wenn es um sein Entscheidendes, um die Unabhängigkeit geht – ein mächtiges und klares Bekenntnis abzugeben: »In so vielen Büchern, in so vielen Briefen und in so vielen Disputen habe ich unbeugsam erklärt, daß ich nicht in irgendeine Parteisache gemengt werden will. Wenn Hutten mir zürnt, weil ich Luther nicht so unterstütze, wie er es wünschte, so habe ich schon vor drei Jahren öffentlich erklärt, daß ich dieser Partei völlig fremd bin und es bleiben will; ja sogar, daß ich nicht nur selbst außen bleibe, sondern auch alle meine Freunde zu dieser Haltung ermuntere. In diesem Sinne werde ich nicht wankend werden. Ich verstehe unter Partei das völlige Eingeschworensein auf alles, was Luther geschrieben hat oder schreibt oder jemals schreiben wird: eine solche Art völliger Selbstpreisgabe kommt manchmal bei ausgezeichneten Menschen vor, ich aber habe öffentlich allen meinen Freunden erklärt, daß, wenn sie mich nur als unbedingten Lutheraner heben könnten, sie von mir denken mögen, was sie wollen. Ich liebe die Freiheit, ich will und kann niemals einer Partei dienen.«
Der scharfe Gegenhieb hat Hutten nicht mehr getroffen. Als die zornige Schrift des Erasmus die Druckpresse verläßt, ruht Hutten, der ewige Kämpfer, schon im ewigen Frieden, und mit lindem Rauschen umspült der Zürichsee sein einsames Grab. Der Tod hat Hutten besiegt, ehe der tödliche Schlag des Erasmus ihn erreichte. Aber sterbend ist Hutten, dem großen Besiegten, noch ein letzter Sieg gelungen: er hat erzwungen, was Kaiser und Könige, was Papst und Klerus mit all ihrer Macht nicht vermochten; er hat mit der Beize seines Spottes Erasmus aus seinem Fuchsbau herausgeräuchert. Denn öffentlich herausgefordert, vor der Welt der Ängstlichkeit und Wankelmütigkeit beschuldigt, muß Erasmus jetzt dartun, daß er eine Auseinandersetzung mit diesem mächtigsten aller Gegner, mit Luther, nicht scheut; er muß Farbe bekennen, er muß Partei nehmen. Schweren Herzens geht Erasmus ans Werk, der alte Mann, der nichts anderes mehr als seinen Frieden will und sich nicht darüber täuscht, daß die lutherische Sache längst zu gewaltig geworden ist, um mit einem Federkiel noch niedergedrückt zu werden. Er weiß, er wird niemand überzeugen, er wird nichts ändern und nichts bessern. Ohne Lust, ohne Freude zieht er in den ihm aufgezwungenen Kampf. Aber er kann nicht mehr zurück. Und als er die Schrift gegen Luther endlich 1524 dem Drucker übergibt, seufzt er erleichtert auf: »Alea iacta est«, »Der Würfel ist gefallen!«