Stefan Zweig
Drei Meister. Balzac - Dickens - Dostojewski
Stefan Zweig

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Die Tragödie seines Lebens

Non vi si pensa quanto sangue costa.
    Dante

Immer ist bei Dostojewski Grauen der erste Eindruck und der zweite erst Größe. Auch sein Schicksal scheint anfangs dem flüchtigen Blick so grausam und gemein, wie sein Antlitz bäuerisch und gewöhnlich. Zuerst empfindet man es nur als eine sinnlose Marter, denn mit allen Instrumenten der Qual foltern diese sechzig Jahre den hinfälligen Körper. Die Feile der Not reibt seiner Jugend und seinem Alter die Süße weg, die Säge des körperlichen Schmerzes knirscht in sein Gebein, die Schraube der Entbehrung wühlt ihm hart bis an den Lebensnerv, die brennenden Drähte der Nerven zucken und zerren unaufhörlich durch seine Glieder, der feine Stachel der Wollust reizt unersättlich seine Leidenschaft. Keine Qual ist gespart, keine Marter vergessen. Eine sinnlose Grausamkeit, eine blindwütige Feindseligkeit scheint dies Schicksal vorerst. Rückschauend nur begreift man, daß es sich so hart zum Hammer geschmiedet, weil es Ewiges aus ihm meißeln wollte, daß es gewaltig war, um einem Gewaltigen gemäß zu sein. Denn nichts mißt es dem Maßlosen gemächlich zu, nirgends ähnelt sein Lebensgang dem gut gepflasterten breiten Bürgersteig aller anderen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, immer fühlt man hier eines finsteren Schicksalsgottes Lust, sich stark an dem Stärksten zu versuchen. Alttestamentarisch, heroisch und in nichts neuzeitlich und bürgerlich ist Dostojewskis Schicksal. Ewig muß er mit dem Engel ringen wie Jakob, ewig sich gegen Gott empören und ewig sich beugen wie Hiob. Nie läßt es ihn sicher werden, nie träge, immer muß er den Gott spüren, der ihn straft, weil er ihn liebt. Nicht eine Minute darf er rasten im Glück, damit sein Weg bis ins Unendliche gehe. Manchmal scheint der Dämon seines Schicksals schon innezuhalten in seinem Zorn und ihm zu verstatten, wie alle anderen die gemeine Straße des Lebens zu gehen, aber immer wieder reckt sich die gewaltige Hand und stößt ihn ins Dickicht zurück, in die brennenden Dornen. Schleudert es ihn hoch, so ist's nur, um ihn in tiefere Abgründe hinabzustürzen, ihn die ganze Weite der Ekstase und Verzweiflung zu lehren; es hebt ihn auf in Höhen des Hoffens, wo andere schwach zerschmelzen in Wollust, und wirft ihn in Schlünde des Leidens, wo alle andern zerschellen in Schmerz: und eben wie Hiob zerschmettert es ihn immer in den Augenblicken der höchsten Sicherheiten, nimmt ihm Frau und Kind, belädt ihn mit Krankheit und schändet ihn mit Verachtung, damit er nicht innehalte, mit Gott zu rechten, und ihm durch seine unaufhörliche Empörung und seine unaufhörliche Hoffnung nur mehr gewonnen sei. Es ist, als hätte sich diese Zeit lauer Menschen gerade diesen einen aufgespart, um zu zeigen, welche titanischen Maße in Lust und Qual auch unserer Welt noch möglich seien, und er, Dostojewski, scheint dumpf den gewaltigen Willen über sich zu spüren. Denn niemals wehrt er sich gegen sein Schicksal, niemals hebt er die Faust. Der Körper, der wunde, bäumt sich konvulsivisch in Zuckungen empor, aus seinen Briefen bricht manchmal wie Blutsturz ein heißer Schrei, aber der Geist, der Glaube, zwingt die Revolte nieder. Der mystisch Wissende in Dostojewski spürt das Heilige dieser Hand, den tragisch fruchtbaren Sinn seines Schicksals. Aus seinem Leid wird Liebe zum Leiden, und mit der wissenden Glut seiner Qual umflammt er seine Zeit, seine Welt.

Dreimal schwingt ihn das Leben empor, dreimal reißt es ihn nieder. Früh schon atzt es ihn mit der süßen Speise des Ruhms: sein erstes Buch schenkt ihm einen Namen; aber rasch faßt ihn die harte Kralle und schleudert ihn wieder zurück ins Namenlose: ins Zuchthaus, in die Katorga, nach Sibirien. Wieder taucht er, nur noch stärker und mutiger, empor: seine Memoiren aus dem Totenhause reißen Rußland in einen Taumel. Der Zar selbst netzt das Buch mit seinen Tränen, die russische Jugend steht in Flammen für ihn. Er gründet eine Zeitschrift, seine Stimme tönt zum ganzen Volke, die ersten Romane entstehen. Da bricht im Wettersturz seine materielle Existenz zusammen, Schulden und Sorgen peitschen ihn aus dem Land, Krankheit beißt sich in sein Fleisch, ein Nomade, irrt er durch ganz Europa, vergessen von seiner Nation. Aber zum drittenmal, nach Jahren der Arbeit und Entbehrung, taucht er aus den grauen Gewässern namenloser Not: die Rede zu Puschkins Gedächtnis bezeugt ihn als den ersten Dichter, den Propheten seines Landes. Unauslöschlich ist nun sein Ruhm. Aber gerade jetzt schlägt ihn die eiserne Hand nieder, und die verzückte Begeisterung seines ganzen Volkes schäumt ohnmächtig gegen einen Sarg. Das Schicksal bedarf seiner nicht mehr, der grausam weise Wille hat alles erreicht, aus seiner Existenz das Höchste gewonnen an geistiger Frucht: achtlos wirft es nun die leere Hülse des Körpers hin.

Durch diese sinnvolle Grausamkeit wird Dostojewskis Leben zum Kunstwerk, seine Biographie zur Tragödie. Und in wundervoller Symbolik nimmt sein künstlerisches Werk die typische Form des eigenen Schicksals an. Schon der Anbeginn seines Lebens ist Symbol: Fedor Michailowitsch Dostojewski wird im Armenhaus geboren. Mit der ersten Stunde ist ihm so schon die Stelle seiner Existenz angewiesen, irgendwo im Abseits, im Verachteten, nahe dem Bodensatz des Lebens und doch mitten im menschlichen Schicksal, nachbarlich von Leiden, Schmerz und Tod. Niemals bis zum letzten Tage (er starb in einem Arbeiterviertel, in einer Winkelwohnung des vierten Stocks) ist er dieser Umgürtung entronnen, alle die sechsundfünfzig schweren Jahre seines Lebens bleibt er mit Elend, Armut, Krankheit und Entbehrung im Armenhaus des Lebens. Sein Vater, Militärarzt wie der Schillers, ist adliger Abstammung, seine Mutter aus Bauernblut: beide Quellen des russischen Volkstums strömen so befruchtend in seine Existenz zusammen, strenggläubige Erziehung wendet schon früh seine Sinnlichkeit zur Ekstase. Dort im Moskauer Armenhaus, in einem engen Verschlag, den er mit seinem Bruder teilt, hat er die ersten Jahre seines Lebens verbracht. Die ersten Jahre; man wagt nicht zu sagen: seine Kindheit, denn dieser Begriff ist irgendwo aus seinem Leben verschollen. Niemals hat er von ihr gesprochen, und Dostojewskis Schweigen war immer Scham oder stolze Angst vor fremdem Mitleid. Ein grauer leerer Fleck ist dort in seiner Biographie, wo sonst bei Dichtern bunte Bilder lächelnd aufsteigen, zärtliche Erinnerungen und ein süßes Bedauern. Und doch meint man ihn zu kennen, blickt man tiefer in die brennenden Augen der Kindergestalten, die er schuf. Wie Kolja muß er gewesen sein, frühreif, phantasievoll bis zur Halluzination, voll jener flackernden, unsicheren Glut, etwas Großes zu werden, voll jenes gewaltsamen und knabenhaften Fanatismus, über sich selbst hinauszuwachsen und »für die ganze Menschheit zu leiden«. Wie der kleine Njetoscha Neswanowa muß er kelchvoll gewesen sein mit Liebe und zugleich der hysterischen Angst, sie zu verraten. Und wie jener Iljutschka, der Sohn des betrunkenen Hauptmanns, voll Scham über häusliche Kläglichkeiten und den Jammer der Entbehrungen, aber doch immer bereit, seine Nächsten vor der Welt zu verteidigen.

Wie er dann, ein Jüngling, aus dieser finsteren Welt vortritt, ist die Kindheit schon weggelöscht. In die ewige Freistatt aller Unbefriedigten, das Asyl der Vernachlässigten ist er geflohen, in die bunte und gefährliche Welt der Bücher. Er hat unendlich viel damals mit seinem Bruder gemeinsam gelesen, Tag um Tag und Nacht für Nacht – schon damals trieb er, der Unersättliche, jede Neigung bis zum Laster empor –, und diese phantastische Welt entfernt ihn noch mehr von der Wirklichkeit. Voll stärkster Begeisterung zur Menschheit ist er doch bis ins Krankhafte menschenscheu und verschlossen, Glut und Eis zugleich, ein Fanatiker gefährlichster Einsamkeit. Seine Leidenschaft tappt wirr umher, geht in diesen »Kellerjahren« alle dunklen Wege der Ausschweifung, aber immer einsam, mit Ekel in aller Lust, Schuldgefühl bei jedem Glück, und immer mit verbissenen Lippen. Aus Geldnot, nur um der paar Rubel willen, geht er zum Militär: auch dort findet er keinen Freund. Ein paar dumpfe Jünglingsjahre kommen. Wie die Helden aller seiner Bücher, lebt er in einem Winkel ein troglodytisches Dasein, träumend, sinnend, mit allen geheimen Lastern des Denkens und der Sinne. Sein Ehrgeiz weiß noch keinen Weg, er lauscht auf sich selbst und bebrütet seine Kraft. Er spürt sie mit Wollust und Grauen tief unten gären, er liebt sie und fürchtet sie, er wagt nicht, sich zu rühren, um dies dumpfe Werden nicht zu zerstören. Ein paar Jahre verharrt er in diesem schwarzen, formlosen Puppenstand von Einsamkeit und Schweigen, Hypochondrie fällt ihn an, eine mystische Angst zu sterben, ein Grauen oft vor der Welt, oft vor sich selbst, ein urmächtiger Schauer vor dem Chaos in der eigenen Brust. In den Nächten übersetzt er, um seinen verwirrten Finanzen aufzuhelfen (sein Geld zerfloß, typisch genug, in den gegensätzlichen Neigungen, in Almosen und Ausschweifungen), Balzacs Eugénie Grandet und Schillers Don Carlos. Aus dem trüben Dunst dieser Tage ballen sich langsam eigene Formen, und endlich reift aus diesem vernebelten, traumhaften Zustand von Angst und Ekstase sein erstes dichterisches Werk, der kleine Roman »Arme Leute«.

1844, mit vierundzwanzig Jahren, hat er diese meisterhafte Menschenstudie geschrieben, »mit leidenschaftlicher Glut, ja fast unter Tränen«. Seine tiefste Demütigung, die Armut, hat es gezeugt, seine höchste Gewalt, die Liebe zum Leid, das unendliche Mitleiden es gesegnet. Mißtrauisch betrachtet er die beschriebenen Blätter. Er ahnt darin eine Frage an das Schicksal, die Entscheidung, und nur mühsam entschließt er sich, Nekrasoff, dem Dichter, das Manuskript zur Prüfung anzuvertrauen. Zwei Tage vergehen ohne Antwort. Einsam grüblerisch sitzt er nachts zu Hause, arbeitet, bis die Lampe verqualmt. Plötzlich um vier Uhr morgens wird heftig an der Klingel gerissen, und Dostojewski, dem erstaunt Öffnenden, stürzt Nekrasoff in die Arme, küßt ihn und jubelt ihm zu. Er und ein Freund hatten gemeinsam das Manuskript gelesen, die ganze Nacht gehorcht, gejubelt und geweint, und am Ende hielt es beide nicht: sie mußten ihn umarmen. Es ist Dostojewskis erste Lebenssekunde, diese Klingel nachts, die ihn zum Ruhm ruft. Bis in den hellen Morgen tauschen die Freunde Glück und Ekstase in heißen Worten. Dann eilt Nekrasoff zu Bjelinski, dem allmächtigen Kritiker Rußlands. »Ein neuer Gogol ist erstanden«, ruft er schon an der Türe, das Manuskript wie eine Fahne schwingend. »Bei euch wachsen die Gogols wie die Pilze«, brummt der Mißtrauische, durch so viel Begeisterung verärgert. Aber als Dostojewski ihn am nächsten Tag besucht, ist er verwandelt. »Ja, begreifen Sie denn selbst, was Sie da geschaffen haben«, schreit er voll Erregung den verwirrten jungen Menschen an. Grauen überfällt Dostojewski, ein süßer Schauer vor diesem neuen plötzlichen Ruhm. Wie im Traum geht er die Treppe hinab, an der Straßenecke bleibt er taumelnd stehen. Zum erstenmal fühlt er und wagt doch nicht, es zu glauben, daß all dies Dunkle und Gefährliche, das ihm das Herz auftrieb, ein Gewaltiges ist und vielleicht das »Große«, von dem seine Kindheit wirr geträumt, die Unsterblichkeit, das Leiden für die ganze Welt. Erhebung und Zerknirschung, Stolz und Demut schwanken wirr durch seine Brust, er weiß nicht, welcher Stimme er glauben soll. Trunken taumelt er über die Straße, und in seine Tränen mischen sich Glück und Schmerz.

So melodramatisch geschieht Dostojewskis Entdeckung zum Dichter. Auch hier ahmt die Form seines Lebens die seiner Werke geheimnisvoll nach. Hier wie dort haben die rohen Konturen etwas von der banalen Romantik eines Schauerromans. In Dostojewskis Leben ist oft der Ansatz Melodram, aber immer wird es zur Tragödie. Es ist ganz auf Spannung gestellt: in einzelne Sekunden, ohne Übergang, sind die Entscheidungen komprimiert, mit zehn oder zwanzig solcher Sekunden der Ekstase oder des Niedersturzes sein ganzes Schicksal fixiert. Epileptische Ausbrüche des Lebens – eine Sekunde Ekstase und ohnmächtiger Zusammenbruch – könnte man sie nennen. Jeder Aufschwung ist bezahlt durch Niedersturz, und diese eine Sekunde der Begnadung mit vielen hoffnungslosen Stunden des Robots und der Verzweiflung. Der Ruhm, dieser funkelnde Reif, den ihm Bjelinski in jener Stunde aufs Haupt drückt, ist auch gleichzeitig schon der erste Ring einer Fußkette, an der Dostojewski klirrend sein Leben lang die schwere Kugel der Arbeit schleppt. Die »Hellen Nächte«, sein erstes Buch, bleibt auch das letzte, das er als freier Mann einzig um der schöpferischen Freude willen schuf. Dichten besagt für ihn von nun ab auch: erwerben, zurückerstatten, denn jedes Werk, das er seither beginnt, ist vor der ersten Zeile schon mit Vorschuß verpfändet, das noch ungeborene Kind in die Sklaverei des Gewerbes verkauft. Für immer ist er jetzt in das Bagno der Literatur gemauert, ein Leben lang gellen die verzweifelten Schreie des Eingesperrten nach Freiheit, aber erst der Tod bricht seine Ketten. Noch ahnt der Beginner nicht die Qual in der ersten Lust. Ein paar Novellen sind rasch vollendet, und schon plant er einen neuen Roman.

Da hebt das Schicksal warnend den Finger. Er will nicht, sein wachsamer Dämon, daß ihm das Leben zu leicht werde. Und damit er es erkennen lerne in allen seinen Tiefen, sendet ihm der Gott, den er liebt, seine Prüfung.

Wieder wie damals in der Nacht gellt die Klingel, Dostojewski öffnet erstaunt, aber diesmal ist's nicht die Stimme des Lebens, ein jubelnder Freund, Botschaft des Ruhms, sondern Ruf des Todes. Offiziere und Kosaken dringen in sein Zimmer, der Aufgestörte wird verhaftet, seine Papiere versiegelt. Vier Monate schmachtet er in einer Zelle der Sankt-Pauls-Festung, ohne das Verbrechen zu ahnen, dessen man ihn beschuldigt: Teilnahme an den Diskussionen einiger aufgeregter Freunde, die man übertrieben die Petraschewskysche Verschwörung genannt hat, ist sein ganzes Delikt, seine Verhaftung zweifellos ein Mißverständnis. Dennoch blitzt plötzlich die Verurteilung nieder zur härtesten Strafe, zum Tode durch Pulver und Blei.

Wieder drängt sich sein Schicksal in eine neue Sekunde, die engste und reichste seiner Existenz, eine unendliche Sekunde, in der sich Tod und Leben die Lippen reichen zum brennenden Kuß. Im Morgengrauen wird er mit neun Gefährten aus dem Gefängnis geholt, ein Sterbehemd ihm umgeworfen, die Glieder an den Pfahl geschnürt und die Augen verbunden. Er hört sein Todesurteil lesen und die Trommeln knattern – sein ganzes Schicksal ist zusammengepreßt in eine Handvoll Erwartung, unendliche Verzweiflung und unendliche Lebensgier in ein einziges Molekül Zeit. Da hebt der Offizier die Hand, winkt mit dem weißen Tuche und verliest die Begnadigung, das Todesurteil in sibirisches Gefängnis verwandelnd.

In einen Abgrund ohne Namen stürzt er jetzt hinab aus seinem ersten jungen Ruhm. Vier Jahre lang umgrenzen fünfzehnhundert eichene Pfähle seinen ganzen Horizont. An ihnen zählt er mit Kerben und mit Tränen Tag um Tag die viermal dreihundertfünfundsechzig Tage ab. Seine Genossen sind Verbrecher, Diebe und Mörder, seine Arbeit Alabasterschleifen, Ziegeltragen, Schneeschaufeln. Die Bibel wird das einzig verstattete Buch, ein räudiger Hund und ein flügellahmer Adler seine einzigen Freunde. Vier Jahre weilt er im »Totenhaus«, in der Unterwelt, Schatten zwischen Schatten, namenlos und vergessen. Als sie ihm dann die Kette von den wunden Füßen abschmieden und die Pfähle hinter ihm liegen, eine braune, morsche Mauer, ist er ein anderer: seine Gesundheit zerstört, sein Ruhm zerstäubt, seine Existenz vernichtet. Nur seine Lebenslust bleibt unversehrt und unversehrbar: heller als je flammt aus dem schmelzenden Wachs seines zerkneteten Körpers die heiße Flamme der Ekstase. Ein paar Jahre noch muß er in Sibirien verbleiben, halbfrei und ohne die Verstattung, eine Zeile zu veröffentlichen. Dort in der Verbannung, in bitterster Verzweiflung und Einsamkeit, geht er jene seltsame Ehe mit seiner ersten Frau ein, einer kranken und eigenartigen, die seine mitleidige Liebe unwillig erwidert. Irgendeine dunkle Tragödie der Aufopferung ist in diesem seinen Entschluß für immer der Neugier und Ehrfurcht verborgen, nur aus einigen Andeutungen in den »Erniedrigten und Beleidigten« vermag man den schweigsamen Heroismus dieser phantastischen Opfertat zu ahnen.

Ein Vergessener, kehrt er nach Petersburg zurück. Seine literarischen Gönner haben ihn fallen gelassen, seine Freunde sich verloren. Aber mutig und kraftvoll ringt er sich aus der Welle, die ihn niederwarf, wieder ans Licht. Seine »Erinnerungen aus dem Totenhause«, diese unvergängliche Schilderung einer Sträflingszeit, reißen Rußland aus der Lethargie gleichgültigen Miterlebens. Mit Grauen entdeckt die ganze Nation, daß ganz atemnah unter der flachen Schicht ihrer ruhigen Welt eine andere waltet, ein Purgatorium aller Qualen. Bis in den Kreml empor schlägt die Flamme der Anklage, der Zar schluchzt über dem Buche, von tausend Lippen klingt Dostojewskis Name. In einem einzigen Jahr ist sein Ruhm wieder erbaut, höher und dauerhafter als je. Gemeinsam mit seinem Bruder gründet der Auferstandene eine Zeitschrift, die er selbst fast allein schreibt, dem Dichter gesellt sich der Prediger, der Politiker, der »Praeceptor Russiae«. Stürmisch tönt der Widerhall, die Zeitschrift hat weiteste Verbreitung, ein Roman wird vollendet, heimtückisch, mit vielen blinzelnden Blicken lockt ihn das Glück. Dostojewskis Schicksal scheint für immer gesichert.

Aber noch einmal sagt der dunkle Wille, der über seinem Leben waltet: es ist zu früh. Denn eine irdische Qual ist ihm noch fremd, die Marter des Exils und die fressende Angst der täglichen, erbärmlichen Nahrungssorgen. Sibirien und die Katorga, die grauenhafteste Verzerrung Rußlands, sie war immerhin noch Heimat gewesen, nun soll er noch die Sehnsucht des Nomaden nach dem Zelte kennenlernen um der urmächtigen Liebe zum eigenen Volk willen. Noch einmal muß er zurück ins Namenlose, noch tiefer hinab in das Dunkel, ehe er der Dichter, der Herold seiner Nation sein darf. Wieder zuckt ein Blitz nieder, eine Sekunde der Vernichtung: die Zeitschrift wird verboten. Wieder ist es ein Mißverständnis und gleich mörderisch wie das erste. Und nun fällt, Wetterschlag auf Wetterschlag, das Grauen mitten in sein Leben. Seine Frau stirbt, kurz nach ihr sein Bruder und gleichzeitig sein bester Freund und Helfer. Zweier Familien Schulden hängen sich bleiern an ihn und krümmen sein Rückgrat unter unerträglicher Last. Noch wehrt er sich verzweifelt, arbeitet Tag und Nacht wie im Fieber, schreibt, redigiert, druckt selbst, nur um Geld zu ersparen, die Ehre, die Existenz zu retten, aber das Schicksal ist stärker als er. Wie ein Verbrecher flüchtet er vor seinen Gläubigern eines Nachts hinaus in die Welt.

Nun beginnt jene jahrelange ziellose Wanderung durch das europäische Exil, jene grauenhafte Abschnürung von Rußland, dem Blutquell seines Lebens, die ärger seine Seele beengte als die Pfähle der Katorga. Furchtbar ist es auszudenken, wie der größte russische Dichter, der Genius seiner Generation, der Bote einer Unendlichkeit, mittellos, heimatlos, ziellos von Land zu Land irrt. Mit Mühe findet er Herbergen in kleinen niederen Zimmern, die der Dunst der Armut füllt, der Dämon der Epilepsie krallt sich an seine Nerven, Schulden, Wechsel, Verpflichtungen peitschen ihn von Arbeit zu Arbeit, Verlegenheit und Scham jagen ihn von Stadt zu Stadt. Blinkt ein Strahl Glück in sein Leben, so schiebt das Schicksal sogleich neue dunkle Wolken vor. Ein junges Mädchen, seine Stenographin, war seine zweite Frau geworden, aber das erste Kind, das sie ihm schenkt, rafft die Entkräftung, die Not des Exils schon nach wenigen Tagen fort. War Sibirien das Purgatorium, der Vorhof seines Leidens, so ist Frankreich, Deutschland, Italien sicherlich seine Hölle. Kaum wagt man sich diese tragische Existenz zu vergegenwärtigen. Aber immer in Dresden, wenn ich durch die Straßen gehe, vorbei an irgendeinem niederen und schmutzigen Haus, so faßt mich's an, ob er da nicht irgendwo wohnte, zwischen kleinen sächsischen Krämern und Handlangern, oben im vierten Stock, einsam, unendlich einsam in dieser fremden Geschäftigkeit. Keiner hat ihn gekannt in all diesen Jahren. Eine Stunde weit in Naumburg wohnt Friedrich Nietzsche, der einzige, der ihn verstehen könnte, Richard Wagner, Hebbel, Flaubert, Gottfried Keller, die Zeitgenossen sind da, aber er weiß von ihnen nichts und sie nicht von ihm. Wie ein großes gefährliches Tier, struppig und in abgetragenen Kleidern, schleicht er aus seiner Arbeitshöhle scheu auf die Straße, immer den gleichen Weg, in Dresden, in Genf, in Paris: ins Café, in einen Klub, nur um russische Zeitungen zu lesen. Rußland will er spüren, Heimat, den bloßen Anblick der cyrillischen Lettern, den flüchtigen Atem des heimischen Wortes. Manchmal setzt er sich, nicht aus Liebe zur Kunst (ewig blieb er der byzantinische Barbar, der Bilderstürmer), sondern um sich zu wärmen, in die Galerie. Er weiß nichts von den Menschen, die um ihn sind, er haßt sie nur, weil sie nicht Russen sind, haßt die Deutschen in Deutschland, die Franzosen in Frankreich. Sein Herz horcht nach Rußland, nur sein Körper vegetiert teilnahmslos in dieser fremden Welt. Kein Gespräch, keine Begegnung hat irgendeiner der deutschen, französischen oder italienischen Dichter bezeugt. Nur im Bankhaus kennen sie ihn, wo er bleich tagtäglich an den Schalter kommt und mit vor Erregung zitternder Stimme fragt, ob nicht endlich der Wechsel aus Rußland gekommen sei, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach in Worten vor niedrigen und fremden Menschen in die Knie gestürzt. Schon lachen die Angestellten über den armen Narren und seine ewige Erwartung. Auch im Pfandhaus ist er steter Gast: alles hat er dort versetzt, einmal sogar seine letzte Hose, um nur ein Telegramm nach Petersburg senden zu können, einen jener markerschütternden Schreie, wie sie immer wieder gellend in seinem Briefe wiederkehren. Das Herz krampft sich zusammen, liest man die speichelleckerisch, hündisch demütigenden Briefe dieses Gewaltigen, in denen er um zehn erbetener Rubel willen fünfmal den Heiland anruft, diese entsetzlichen Briefe, die keuchen, heulen und winseln für eine erbärmliche Handvoll Geld. Die Nächte hindurch arbeitet er und schreibt, während seine Frau nebenan in den Wehen stöhnt, während die Epilepsie schon die Kralle spannt, ihm das Leben aus der Kehle zu pressen, während die Hausfrau mit der Polizei um ihre Miete droht und die Hebamme um ihre Bezahlung keift – schreibt er »Raskolnikow«, den »Idioten«, die »Dämonen«, den »Spieler«, diese monumentalen Werke des neunzehnten Jahrhunderts, diese universellen Gestaltungen unserer ganzen seelischen Welt. Die Arbeit ist seine Rettung und seine Qual. In ihr lebt er in Rußland, in der Heimat. In der Ruhe schmachtet er in Europa, in der Katorga. Immer tiefer stürzt er sich darum in seine Werke hinein. Sie sind das Elixier, das ihn trunken macht, sie sind das Spiel, das seine Nerven, die gepeinigten, zu höchster Lust anspannt. Und zwischendurch zählt er, wie einst die Pfähle des Zuchthauses, gierig die Tage: heimkehren können als Bettler, aber nur heimkehren! Rußland, Rußland, Rußland ist der ewige Schrei seiner Not. Aber noch darf er nicht zurück, noch muß er der Namenlose bleiben um des Werkes willen, der Märtyrer all dieser fremden Straßen, der einsame Dulder ohne Schrei und Klage. Noch muß er beim Gewürm des Lebens wohnen, ehe er aufsteigt in die große Herrlichkeit des ewigen Ruhms. Schon ist sein Körper ausgehöhlt von den Entbehrungen, immer häufiger schmettern die Keulenschläge der Krankheit auf sein Gehirn, daß er tagelang betäubt liegen bleibt, mit verdunkelten Sinnen, um sich mit erster Kraft taumelnd wieder an den Schreibtisch zu schleppen. Fünfzig Jahre ist Dostojewski alt: aber er hat die Qual von Jahrtausenden erlebt.

Da sagt endlich, im letzten, drängendsten Augenblick sein Schicksal: es ist genug. Gott wendet Hiob wieder sein Antlitz zu: mit zweiundfünfzig Jahren darf Dostojewski wieder zurück nach Rußland. Seine Bücher haben für ihn geworben, Turgenjeff, Tolstoi sind verschattet. Rußland blickt nur mehr auf ihn. Das »Tagebuch eines Schriftstellers« macht ihn zum Herold seines Volkes, und mit letzter Kraft und höchster Kunst vollendet er sein Testament an die Zukunft der Nation: »Die Karamasow«. Und nun entschleiert sein Schicksal endgültig ihm den Sinn und schenkt dem Geprüften eine Sekunde höchsten Glücks, die ihm weisen soll, daß der Same seines Lebens in unendlicher Saat aufgegangen ist. Endlich ist in einem Augenblick Dostojewskis sein Triumph so zusammengedrängt wie einst seine Qual, einen Blitz schickt ihm sein Gott, aber diesmal nicht einen, der ihn niederschlägt, sondern einen, der ihn wie seine Propheten mit feurigem Wagen ins Ewige entrückt. Zum achtzigsten Geburtstag Puschkins sind die großen Dichter Rußlands entboten, die Festrede zu halten. Turgenjeff, der Westler, der Dichter, der ein Leben lang ihm den Ruhm usurpierte, hat den Vorrang und spricht unter lauer und freundlicher Zustimmung. Am nächsten Tag ist das Wort Dostojewski gegeben, und er faßt es in dämonischer Trunkenheit wie einen Donnerkeil. Mit Flammen der Ekstase, die aus seiner leisen, heiseren Stimme plötzlich wie ein Gewitter bricht, verkündet er die heilige Mission der russischen Allversöhnung, wie hingemäht stürzen die Zuhörer an seine Knie. Der Saal erbebt unter der Explosion des Jubels, Frauen küssen ihm die Hände, ein Student bricht ohnmächtig vor ihm zusammen, alle anderen Redner verzichten auf das Wort. Ins Unendliche wächst die Begeisterung und feurig entbrennt die Glorie über dem Haupt mit der Dornenkrone.

Dies wollte sein Schicksal noch: in einer glühenden Minute die Erfüllung seiner Mission, den Triumph des Werkes zeigen. Dann wirft es – die reine Frucht ist gerettet – die verdorrte Hülse seines Körpers hin. Am 10. Februar 1881 stirbt Dostojewski. Ein Schauer geht durch Rußland. Ein Augenblick wortloser Trauer. Aber dann flutet's heran, aus den fernsten Städten reisen gleichzeitig und doch ohne Vereinbarung Deputationen, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Aus allen Winkeln der tausendhäuserigen Stadt schäumt jetzt – zu spät! zu spät! – die ekstatische Liebe der Menge heran, alles will den Toten sehen, den sie ein Leben lang vergessen. Die Schmiedestraße, in der er auf gebahrt ist, braust schwarz von Menschen, finstere Massen schwemmen in schauerndem Schweigen die Stiegen des Arbeiterhauses empor und füllen die engen Räume bis hart an den Sarg. Nach ein paar Stunden ist der Blumenschmuck verschwunden, unter den man ihn gebettet, weil hundert Hände sich einzelne Blüten als kostbare Reliquie mitnehmen. So stickig wird die Luft des engen Raumes, daß die Kerzen keine Nahrung mehr haben und verlöschen. Immer drängender fluten die Massen heran, Welle auf Welle gegen den Toten. Von ihrem Ansturm schwankt der Sarg und will hinstürzen: mit den Händen müssen ihn die Witwe, die erschreckten Kinder aufrecht halten. Der Polizeipräsident will das öffentliche Leichenbegängnis verbieten, bei dem die Studenten die Ketten des Sträflings hinter seinem Sarge zu tragen planen, aber er wagt es schließlich nicht gegen eine Begeisterung, die sonst mit Waffen sich die Teilnahme erzwungen hätte. Und bei dem Leichenzuge wird plötzlich Dostojewskis heiliger Traum für eine Stunde zum Geschehnis: das einige Rußland. Wie in seinem Werk durch das bruderselige Gefühl alle Klassen und Stände Rußlands, so sind die Hunderttausende hinter dem Sarg durch ihren Schmerz eine einzige Masse; junge Prinzen, prunkvolle Popen, Arbeiter, die Studenten, Offiziere, Lakaien und Bettler, sie alle unter einem wehenden Wald von Fahnen und Bannern klagen mit einer Stimme um den teuren Toten. Die Kirche, in der man ihn eingesegnet, ist ein einziger Blumenhain, und vor seinem offenen Grabe vereinigen sich alle Parteien zu einem Schwur der Liebe und Bewunderung. So schenkt er seiner Nation mit seiner letzten Stunde einen Augenblick der Versöhnung und hält mit dämonischer Kraft noch einmal die zur Raserei gespannten Gegensätze seiner Zeit zusammen. Und wie ein grandioser Salut für den Toten springt hinter seinem letzten Weg die furchtbare Mine auf: die Revolution. Drei Wochen später wird der Zar ermordet, der Donner des Aufstandes rollt, Blitze der Züchtigung durchzucken das Land: wie Beethoven stirbt Dostojewski im heiligen Aufruhr der Elemente, im Gewitter.


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