Heinrich Zschokke
Die Prinzessin von Wolfenbüttel
Heinrich Zschokke

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10.

Unter empfindlichem Schneegestöber machten wir uns auf den Weg, Janinskis Schlitten fuhr voran. Kurz vor Mitternacht erreichten wir endlich ein weitläufiges Dorf, namens Sloboda, dessen eine Seite ein hohes, altväterisches Gebäude mit einigen kleinen Türmen einnahm. Der Mond schien trübe durch die grauen Schneewolken, und warf ein melancholisches Licht auf das Schloß, welches mit seinen Erkern, Türmchen und engen Fenstern einem großen Gefängnis glich. Rings um dasselbe zog sich ein Graben, über welchen eine Brücke führte.

»Ach,« flüsterte mir Agathe zu, »ich hoffe auch von dieser Zuflucht nicht viel gutes.«

Unser Wirt war sehr geschäftig, uns aus dem Fuhrwerk zu heben; dann nahm er Agathen und führte sie in's Schloß. Herbert und ich folgten.

In einem großen, mit alten Tapeten bedeckten Zimmer ward ein Abendessen angerichtet. Überall herrschte Ordnung und Reinlichkeit, was uns wieder einiges Vertrauen einflößte.

»Wie freue ich mich,« sagte Janinski, »Sie aus der seltsamen Gefangenschaft des Starosten erlöst zu haben! Er ist sonst ein guter Kauz, aber etwas roh, und dabei ein Todfeind des Königs von Schweden. Er ist reich an Land und Leuten; aber seit er seine Gemahlin verloren, gleicht sein Haus einer Bettlerherberge, und er wühlt und wälzt sich nach Herzenslust in seinem Schlamm und Schmutz. Man muß ihm seine sonderbaren Launen nachsehen und, weil er von Einfluß ist, freundliche Nachbarschaft mit ihm halten . . . Vergessen Sie den Schrecken, den Ihnen der wunderliche Mann verursachte; an meinem Willen soll es nicht fehlen, Ihnen den Aufenthalt bei mir angenehmer zu machen! Ich habe auch Reisen in Europa gemacht, und weiß, wie wohl es thut, ein gastfreundliches Obdach zu finden, zumal in einem wilden, unwirtbaren Lande, wie bei uns.«

Wir dankten ihm für so viel Verbindliches, und Herbert zog seine Brieftasche hervor.

»Hier,« sagte er und zeigte ihm einen russischen Paß, »damit Sie auch uns kennen lernen! Sie sehen daraus, daß ich ein französischer Edelmann bin, de Laborde heiße, und daß diese beiden meine Töchter sind. Die Verkleidung der einen in Mannskleidern, der andern in russischer Bauerntracht war eine Grille von den beiden Mädchen, die ich ihnen gern nachsah. Ich bin von Ihrem Edelmut überzeugt, mein Herr, und wir schätzen uns glücklich, durch das rauhe Ungefähr mit einer so angenehmen Bekanntschaft überrascht worden zu sein.«

Janinski sah den Paß durch, und entschuldigte sich bei mir und Agathen, daß er, verführt durch unsere Verkleidung, uns vielleicht nicht mit der gebührenden Achtung behandelt habe. Auch für Agathen wurde jetzt ein Gedeck auf den Tisch gelegt. Ich bemerkte inzwischen, daß Janinski, seitdem Herbert die Eröffnung gemacht hatte, um vieles ernster geworden zu sein schien.

Wir bedurften diesen Tag mehr der Ruhe, als der Speisen. Eine Magd führte Agathen und mich in ein kleines Zimmer im obern Stock des Hauses, wo wir im Schutz der Ahnen unseres Edelmanns, deren halbverblichene Gemälde rings an den Wänden hingen, sanft entschlummerten.

Herbert brachte uns am folgenden Morgen die Einladung des gefälligen Wirts, einige Tage bei ihm zu verweilen, bis unsere, von so vielen Anstrengungen ermatteten Pferde sich erholt haben würden. Auch war das Wetter noch stürmischer als sonst; wir selbst hatten der Ruhe vonnöten, um neue Kraft zu schöpfen. Niemand kannte uns in dieser Gegend, welche von Reisenden höchst selten besucht ward; und dies fügte zu den Annehmlichkeiten der Ruhe noch das reizende Gefühl der Sicherheit hinzu.

Wir willigten ein. Janinski schien entzückt zu sein, als wären wir nicht seine Schuldner sondern er der unsrige.

»Ach,« rief er,« wie selten wird mir's zu teil, Menschen aus der gebildeten Welt zu sehen! Hätte ich nie andere Länder und höhere Bedürfnisse kennen gelernt, so würde mir unter meinen Nachbarn wohl sein, deren höchstes Gut Jagd, Spiel und Zechgelage sind. Nun aber fühle ich mich in meiner eigenen Heimat nicht mehr heimatlich. Der Tod meines Vaters machte mich zwar zum Erben seiner Güter, doch früher oder später werde ich mich ihrer entledigen, und wieder nach Warschau oder Dresden gehen, wenn der Himmel mir nicht zu guter Stunde eine liebenswürdige Gesellschafterin zuführt, die meine Einsamkeit belebt.«

Janinski war ein schöner Mann: die polnische Nationaltracht kleidete ihn ungemein vorteilhaft. Er sprach polnisch, französisch und russisch, und hatte eine kleine ausgewählte Bibliothek von lateinischen und französischen Schriftstellern. Er liebte die Musik; er spielte mit Fertigkeit die Flöte und das Klavier. Die Langeweile konnte uns also in Janinski's Schlosse nicht wohl überfallen. Ich las; Agathe saß am Klavier; Janinski begleitete ihr gefühlvolles Spiel mit der Flöte; Herbert schrieb und blätterte in Landkarten.

Am meisten von uns allen beschäftigte sich unser Wirt mit Agathen. An ihr hingen seine Augen unverwandt; ihr wußte er immer tausend Dinge zu sagen, die ein tiefes Gefühl verrieten; auf ihre Worte hörte er am liebsten, und ihren Wünschen kam er überall am schnellsten zuvor.

Als er am Abend des zweiten Tages neben Agathen am Klavier stand – beide waren eben im Zimmer allein – hörte er plötzlich auf, ihr Spiel zu begleiten. Sie sah zu ihm auf. Seine Augen waren voll Thränen. Er wandte sich ab und ging gegen das Fenster.

»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte Agathe und stand auf.

»Wie kann mir wohl sein?« rief er mit Heftigkeit. »Sie wollen morgen abreisen und mich wieder allein lassen! Warum erschienen Sie in meiner Einöde, wie Wesen einer bessern Welt, um mir einen Augenblick lang den Himmel zu geben, damit ich nachher das Armselige dieses Lebens desto tiefer empfinde? O, Fräulein, Fräulein, ich bin sehr unglücklich!«

Agathe, bestürzt und verlegen, wußte ihm nichts zu erwidern. Er nahm ihre Hand, drückte sie an seine Lippen und blickte mit nassen Augen gen Himmel.

»Zürnen Sie mir nicht, Fräulein, auch nicht meinem Schmerze!« fuhr er fort: »Hätte ich Sie in einer weitläufigen Stadt, in den glänzenden Kreisen eines Hofes gesehen, mein Herz würde Sie aus den Tausenden Ihres Geschlechtes herausgefunden und gesprochen haben: Nur Du allein bist mir über alles teuer! . . . Und nun wohne ich hier in der Wüste, fern von jeder freundlichen, meinem Geiste verwandten Gesellschaft . . . Ich sehnte mich vergebens nach dem Bessern . . . Meine Tage floßen in ermüdender Einförmigkeit dahin. Ich fing an, ein Alltagsmensch zu werden, und mein armes, nur zu zart fühlendes Herz sich an den Gang des abgeschmackten, gewohnten Herkommens zu gewöhnen. Ach, was ich nicht als Möglichkeit träumte, ward nun so plötzlich wunderbare Wirklichkeit! Ich sah Sie; eine himmlische Erscheinung hätte mich nicht tiefer erschüttern können. Ich bin ein Verwandelter geworden; ich sehe nur Sie, und kenne nur Sie, und alles rings umher ist mir so fremd geworden, als wäre es heute erst entstanden. Zürnen Sie mir nicht, Fräulein, denn ich kann Ihnen nichts gelten, das fühle ich wohl; ich bin Ihnen zu bedeutungslos! Unter den Millionen, die Sie sahen, haben Sie Millionen gesehen, wie mich.«

Er führte sie bei diesen Worten zum Klavier zurück und nahm die Flöte.

Agathe tändelte zitternd mit einzelnen Tönen. Sie zürnte ihm nicht, und wußte selbst nicht, daß er ihr wohlgefallen hatte.

Indem trat Vater Herbert ins Zimmer. Janinski ging ihm entgegen.

»Sie wollen mich morgen wieder verlassen?»sagte er. »Aber erinnern Sie sich, daß Sie mein Schuldner sind! Ich zähle auf Ihre Erkenntlichkeit; ich will den kleinen Dienst, den ich Ihnen leistete, für bezahlt halten, wenn Sie mir die Bitte gewähren, noch zwei Tage in Sloboda zu verweilen. Ich kann mich unmöglich an den Gedanken gewöhnen, Sie schon morgen zu verlieren.«

Herbert lächelte.

»Wie gern würden wir,« sagte er, »unsere Schuld bei Ihnen vermehren, wenn nicht allzu gebietende Familienverhältnisse uns die Beschleunigung unserer Reise zur Pflicht machten.«

Der liebeatmende Janinski aber ließ sich nicht zurückweisen; er drang mit so freundlichem Ungestüm auf unser Bleiben; er wußte die Gefahren der Reise bei gegenwärtiger Kälte, die Unsicherheit der Wege durch Wölfe, die der Frost aus den Wäldern triebe, um Nahrung in bewohnten Gegenden zu suchen, so lebhaft zu schildern, daß Herbert endlich wankte, und wenigstens Bedenkzeit forderte.

Als Herbert mir und Agathen, da wir allein waren, den Vorschlag machte, sah ich wohl, daß er bei der herrschenden rauhen Witterung geneigter sei, ein paar Tage in Sloboda zuzulegen, als aufzubrechen. Agathe aber gab statt aller Meinung auf meine Frage ein stummes Erröten zur Antwort.

So blieben wir also noch in Sloboda.

11.

Und aus den versprochenen zwei Tagen wurden allmählich ihrer sechs. Janinski war der glücklichste Mensch und die Güte selbst. Agathe unterhielt sich gern mit ihm, wenn er ihr von seiner Leidenschaft schwieg; ich bemerkte, daß sie schöner und gefühlvoller am Klavier sang, als sonst an meinem Flügel; daß ihr ganzes Wesen von einem höhern Geiste beseelt zu sein schien. Mir selbst kam sie weit liebenswürdiger vor, als ehemals; ihre Stimme hatte etwas unbeschreiblich Weiches und Rührendes; ihre Blicke hafteten länger und träumender an allen Gegenständen; hätte sie einen Todfeind gehabt, er würde ihr mit Liebe haben an das Herz sinken müssen.

Nur ich allein war die ewig Rastlose und schwebte in unendlicher Furcht. Jede fremde Gestalt, jeder Reisende, welcher über die Schneewüsten daher irrte, jagte mir Todesangst ein. Ach, und meine verlassenen Kinder, die fürstlichen Waisen! Immer war ich nur im Geiste bei ihnen; immer träumte ich nur von ihren holdseligen Gestalten . . . wie gern hätte ich für einen einzigen Kuß auf ihre Lippen mein freudenarmes Leben dahin gegeben.

Am Abend des sechsten Tages trat die gute Agathe zu mir ins Zimmer. Ihre Augen waren verweint, doch lächelte sie.

»Ich habe mit Vater Herbert geredet,« sprach sie, »er wäre entschlossen, morgen in der Frühe aufzubrechen, wenn Sie in unsere Abreise willigen.«

»Jeden Augenblick . . . jetzt . . . bin ich bereit!«

»Aber Janinski darf es nicht wissen . . . nicht eher als bis wir morgen plötzlich von ihm Abschied nehmen. Er würde uns tausend Schwierigkeiten in den Weg legen, um die Abreise zu hindern!« sagte sie und wandte sich errötend von mir.

Ihr Betragen fiel mir auf. Ich schloß sie in meine Arme; ich forschte nach der Ursache ihrer Verwirrung und dem Geheimnis ihrer Thränen. Halb erriet ichs.

»Du hast in der Wildnis eine Eroberung gemacht!« sagte ich lächelnd zu ihr.

»Er hat bei Herbert um meine Hand angehalten,« erwiderte Agathe, »in der Meinung, daß Herbert wirklich mein Vater sei. Herbert stellte ihm vergebens vor, daß er sich von seiner Tochter nicht trennen würde: daß ich in dieser Wüstenei nicht leben könne. Er will Hab und Gut in Geld verwandeln, will Polen verlassen, will uns folgen und sich in Frankreich bei uns niederlassen.«

»Und Du, Agathe?«

»Mir thut es leid! Er ist ein so guter Mensch, aber wilder Schwärmerei fähig. Darum müssen wir eilen, Sloboda zu verlassen.«

Herbert bestätigte Agathens Rede. Um Janinski für immer abzuweisen, hatte er demselben erklärt, daß er nirgends anders, als auf französischem Boden, über Agathens Schicksal entscheiden werde.

Sobald am folgenden Morgen Herbert in der Stille alles zur Abreise gerüstet und die Pferde angeschirrt hatte, zeigten wir dem unglücklichen Liebhaber unseren Entschluß an, ihn zu verlassen.

Schon war der Schlitten vorgefahren.

Janinski stand erbleichend, sprachlos vor uns. Seine Augen irrten abwechselnd auf uns Dreien herum und schienen zu fragen:

»Scheiden? Könnt Ihr dies? Wollet ihr Janinskis Tod?« . . .

Wir sagten ihm alles, was Erkenntlichkeit zu sagen gebot. Herbert zog einen kostbaren Ring vom Finger und bat ihn, denselben zum Andenken anzunehmen. Er stieß Herberts Hand zurück. Er trat ans Fenster, sah unsern Schlitten bereit stehen . . . kehrte sich wieder zu uns, drückte Herbert, dann mir die Hand; dann fiel er vor Agathen aufs Knie, drückte ihre Hand mit Inbrunst an sein Herz, seufzte tief und sprach mit beklommener Stimme das Wort »Ewig« aus.

Wir sahen den guten, armen Janinski nicht wieder.

Wir waren alle tief bewegt und hofften alle, er werde zurückkehren. Bald aber erfuhren wir von einem seiner Knechte, er habe sich auf sein Pferd geworfen und Sloboda verlassen.

Herbert und ich standen beim Schlitten. Agathe war noch im Hause geblieben. Ich ging zurück, um sie aufzusuchen.

Als ich ins Zimmer kam, wo Janinski uns verlassen hatte, fand ich sie schluchzend mit verhülltem Gesicht auf einem Sessel sitzen. Auf einem Tischchen neben sich hatte sie mit Kreide die Worte geschrieben: »Ewig Janinski!«

Ich näherte mich ihr und ergriff ihre Hand. Sie erschrak und suchte mir ihren Schmerz zu verheimlichen Aber ich hatte jene Worte gelesen, worin sie die Geschichte ihres Herzens beschrieb.

»Willst Du hier bleiben?« fragte ich.

Sie sprang auf und zog mich zum Schlitten hin, ohne ein Wort zu reden. Wir setzten uns hinein und fuhren ab.

12.

Es war ein düsterer Wintertag; der Himmel eine einzige graue Wolke, von welcher Schnee und Regen auf uns herabfiel. Aus den beschneiten Ebenen erhoben sich die dunkeln Waldungen wie schwarze Inseln. Dann und wann tönte aus der Ferne das melancholische Geläute einer Dorfglocke. Und Wälder, Wolken und Hütten flogen an uns, wie Gestalten eines einförmigen Traumes, vorüber.

Agathe lag fest an mich geschmiegt. Ich wagte nicht, ihr Träumen und Sinnen zu stören. Das arme Kind war aus dem seltsamen Abenteuer mit einem verwundeten Herzen hervorgegangen. Aus Liebe zu mir hatte sie hingegeben, was sie liebte . . .

O Julie, welch träumerisches Gemisch ist unser ganzes Leben; mehr Schatten, als Wesen; mehr Ahnung, als Genuß! . . . Da erscheinen wir, ohne zu wissen, woher? und irren eine Zeitlang zwischen Dornen und Rosen umher, begegnen und begrüßen manche fremde Gestalt, hätten mit mancher gern den Bund des Herzens geschlossen, aber sehen sie verschwinden, nie wiederkehren und die Woge der Zeit und das rätselhafte Schicksal führen uns weiter, bis wir müde und matt zusammensinken, und der Rinde unseres Planeten den erborgten Staub zurückgeben.

Man spottet gern jener Empfindungen von ewiger Liebe, von treuer Freundschaft, in welchen die Jugend sich wohlgefällt; man nennt sie Roman-Schwärmerei, Überspannung und Empfindelei . . . . Ich aber will Agathens Thränen nicht zürnen.

Die Jugend ist in Thaten und Empfindungen edler, als das spätere Alter. Sie wandelt noch in Unverdorbenheit, rein, wie sie aus den Händen der Natur und den frommen Lehren der Schule hervorging, unbekannt mit Verderbtheit und Greueln der Menschen; sie will das Große, das Gute, ihre Schwärmerei ist am ehrenwertesten . . . . Vom Rauch der Leidenschaft geschwärzt, geht das spätere Alter einher, ist selbst nicht mehr heilig, und sieht daher kein Heiligtum; wälzt sich in Lüsten, oder jagt rasend einem Hirngespinnst nach, oder verkauft um Gold die schönsten Gefühle, und nennt alles, was ihm nicht mehr reizend scheint, Thorheit, Kindertand. Die Tugend, dem Kinde und noch dem Jünglinge und Mädchen heilig, ist ihm Lebensklugheit. Es achtet nicht mehr des Schönen, sondern nur des Nützlichen.

O sagt mir doch, da wir nun einmal Menschen sind und menschlich denken und empfinden müssen, welche Schwärmerei ist die edlere? . . . Ist's das unbändige Streben nach Sinnengenuß oder das Streben nach Selbstverleugnung, Treue und Seelengüte?

Laßt unsern Kindern den erhabenen Sinn; tötet ihn nicht mutwilligerweise früher, als ihn vielleicht traurige Schicksale töten.

Ich will aber nun, sei denn auch meine Bestimmung auf Erden und jenseits des Grabes, welche sie wolle . . . ich will dem Tand der entarteten Menschheit auf ewig entsagen; will nicht nach Schätzen geizen, wenn ich nur mit dem Notwendigen mein Leben erhalten kann. will nicht nach Weltruhm ringen, wenn mich nur eine Seele herzlich liebt; will nicht den Purpur und den Bettlerrock, sondern nur die Herzen unterscheiden, und hienieden meine Welt mir schaffen, wie sie sein soll, nicht wie sie durch die verwirrende Leidenschaft im unglücklichen Europa ward.

Wir leben nur einmal, o Julie! Warum soll ich dies Leben den Grillen und Meinungen der Menschen opfern, und mir es nicht selbst weihen? Warum soll ich die Sklavin ihrer Vorurteile und ihrer Leidenschaften sein, da mir der Mächtigste von ihnen keinen Schmerz zu vergüten und keine Stunde neuen Lebens zu gewähren fähig ist, wenn meine Zeit einst abgelaufen sein wird!

13.

Sobald wir nach zwei Tagen das erste Städtchen – sein Name ist mir entfallen – erreicht hatten, fanden wir daselbst einen Reisewagen mit allen möglichen Bequemlichkeiten, der uns, wie der Postmeister sagte, schon längst erwartete.

Auch dies war ein Werk der Vorsorge unseres Herbert, damit wir nirgends allzulange aufgehalten würden, Er hatte ohne mein Wissen einen Menschen, Namens Paulowitz, in Dienst genommen; einen Menschen, dessen Treue und Klugheit erprobt waren, der schon viele Reisen gemacht hatte, durch Unglücksfälle aller Art verarmt, ohne Anstellung geblieben war, und jetzt sein Schicksal an Herberts Schicksal unauflöslich knüpfen wollte. Herbert sagte mir, daß uns Paulowitz in Paris erwarte und daselbst unsere Abreise nach Amerika vorbereite.

So eilten wir unaufhaltsam durch das übrige Polen und reisten durch Deutschland, ohne an einem Orte länger zu verweilen, als es nötig war, um durch einen nächtlichen Schlummer unsere erschöpften Kräfte zu stärken.

Ich las in den Zeitungen die Geschichte meines Todes und Begräbnisses. Meine Flucht aus Petersburg war ein Geheimnis geblieben . . . – Ihr meine zärtlich geliebten Eltern! . . . Meine einzige Julie! . . . In den Augenblicken, da Ihr noch meinen Tod beweintet, war ich Euch so nahe! Ich breitete schluchzend meine Arme nach jenen Gegenden aus, die Ihr bewohnt, und rief Euch leise unter tausend Thränen mein Lebewohl und meinen Segen zu. Während Ihr Euch in Trauerkleider hülltet, betete für Euch Eure unglückliche Tochter und Freundin um Frieden und Trost zu dem, der allein Trost und Frieden verleihen kann. Ich aber bin für Euch eine Tote und werde es bleiben . . . so will es mein Verhängnis.

Wir erreichten endlich nach einer unaussprechlich langen Reise die Hauptstadt Frankreichs. Hier hatte uns der gute Paulowitz eine angenehme Wohnung eingerichtet; auch erzählte er uns, daß er mit dem Schiffskapitän de la Bretonne, der im Hafen zu l'Orient sei, um den Preis einig geworden, uns nebst mehreren hundert Deutschen nach Amerika überzufahren. Diese Deutschen waren mehrenteils verarmte Leute, welche ihr Vaterland zu verlassen gedachten, um ihr Glück unter einem fremden Himmelsstriche durch Anlegung neuer Kolonien in Louisiana zu finden. Aber erst im Monat Mai konnte die Abfahrt geschehen. Ich fürchtete während dieser Zeit in Paris entdeckt zu werden. Eben das ungeheure Menschengewühl dieser kleinen Welt, in welchem ich anfangs glaubte, am unbemerktesten leben zu können, ward mir um so gefährlicher, da hier von allen Nationen Europas Reisende zusammenströmen. Wie leicht konnte ich in der Nähe des Hofes von irgend einem Neugierigen erkannt und verraten werden, der mich einmal in Petersburg oder Wolfenbüttel gesehen!

Vater Herbert, welcher jetzt den Namen de l'Ecluse angenommen, fand meine Besorgnisse sehr gegründet. Wir verließen Paris, um, nach unserer Gewohnheit immer unstät und flüchtig, vor der Abreise noch einige Gegenden Frankreichs zu besuchen. Aber auch auf dieser Irrfahrt war ich noch nicht vor Verräterei sicher . . . wo ich am geborgensten zu sein wähnte, war meine Gefahr am größten. Als wir uns nämlich in Poitiers befanden, kam ich auf den Gedanken, in Gesellschaft unserer artigen Wirtin einer Abendmesse in der dortigen Kirche beizuwohnen.

Ich betete mit Inbrunst, o meine Julie, für Dich, für meine Kinder und für meine fürstlichen Eltern . . . Ein unerwarteter Anblick riß mich aus meiner tiefen Andacht heraus und fesselte unwiderstehlich meine Aufmerksamkeit. Nicht fern von mir stand in den Reihen der Männer – o wie gern schrei ich seinen Namen, der mich wieder an die fröhlichsten Stunden meiner Kindheit erinnert! – der Chevalier d'Aubant. Ich erschrak und doch konnte ich meinen Augen nicht gebieten, ihn zu verlassen. D'Aubant war's, der einst – ach Julie, mit Wehmut gedenk' ich des Tages, ich feierte Dein Geburtsfest und wir unbesonnene Mädchen durchschwärmten mit kindischem Übermut die grüne Wildnis – uns Verirrten wie ein Schutzgeist erschien . . . d'Aubant, der nachmals im traurigen Petersburg edel genug dachte, für die Ehre einer zum Spott des Pöbels gewordenen Fürstin sein Leben zu wagen . . . dessen Bild ich mir nie denken kann, ohne es vom rosenfarbenen Himmel meiner Kindheit umstrahlt zu sehen – dessen Namen ich nie ohne Dankbarkeit nenne, da er für den meinigen ohne Hoffnung einer Belohnung sein Blut vergoß. Er war's! . . . Julie, ich zitterte! In angenehmer, wunderbarer Wärme glühte mein halb erloschenes Leben auf. D'Aubant glich in diesen Augenblicken einem holden Genius, der mir noch einmal an den Grenzen des vaterländischen Weltteils wie zum Abschiede erscheinen wollte, bevor mein Schicksal mich auf immerdar entführt haben würde. Ich vergaß bei seinem Anblick mich selbst und meine Gefahr. Er bemerkte mich nicht. Sein Gesicht drückte männliche Schwermut aus, Du erinnerst Dich noch seiner hohen Gestalt und der zarten, geistvollen Sprache seiner Mienen! Oft hatte uns die Erscheinung des schönen Waldgottes, wie Du ihn gern nanntest, Stoff zu tändelnden Neckereien gegeben.

O wie ward mir zumute! Ein halbes Jahrzehnt meines Lebens schien nicht gewesen zu sein. Ich irrte wieder mit Dir im Hain von Blankenburg und Du bekränztest mich wieder zum abendlichen Tanz auf dem Lustschlosse mit wilden Feldblumen.

Plötzlich wandte er sich um. Er erblickte mich, und ich glaubte in seinen Augen das tiefste Entsetzen zu lesen, welches seine ganze Seele beim Anblick einer Totgeglaubten erfülle mußte. Ich fiel aus meinen Träumen, und hüllte mein Gesicht in die Falten des Schleiers. Ich war einer Ohnmacht nahe. Wie eine ertappte Verbrecherin sehnte ich mich nach Flucht und Freiheit. Der Boden glühte unter meinen Sohlen, und die tausend in der Kirche Versammelten schienen ihre Augen auf mich allein zu richten und einander zuzuflüstern: Siehe, dort ist die entwichene Fürstin!

Es war wegen des Gedränges unmöglich, die Kirche sogleich zu verlassen, so sehr ich auch meine Gefährtin darum bat. Und immer blieben d'Aubants Blicke auf mich geheftet; immer begegneten meine Augen den seinigen wieder – und ein Gemisch von Grausen und Wollust durchschauerte mich, wie Glut und Frost den Fieberkranken.

Sobald ich unsere Wohnung wieder erreicht hatte, ließ ich Herbert rufen. Agathe bemerkte meine Verwirrung, meine Angst; Herbert desgleichen. Ich verheimlichte ihnen nichts. Ich erzählte ihnen von d'Aubant. Er war ihnen dem Namen nach, seit seiner Flucht aus Petersburg, nicht mehr unbekannt. Wir beschlossen einmütig, die Stadt Poitiers sogleich zu verlassen. Ich hatte in der Nacht keinen Schlummer. Immer wähnte ich mich verraten, und das Haus umringt, und mich den Kerkern von Petersburg zugeführt . . . und mitten in meiner Todesangst stand wieder die Gestalt d'Aubants vor mir, und neben ihm blühte das Elysium meines ersten Lebens, ich konnte dann den Mann nicht hassen, der mich verraten und ausliefern wollte.

Diese einzige Nacht in Poitiers dünkte mich länger und ereignisvoller, als mein ganzes Leben.

Am folgenden Morgen hatten wir schon, ehe es im Osten graute, Poitiers verlassen.

14.

Sobald der Maienmond begann, wurden wir unter dem Namen einer deutschen Familie, welche nach Westindien zu ihren Verwandten reiste, eingeschifft.

Paulowitz hieß nun Paul; Herbert, unser sorgsamer Vater, trug den Namen Walter. Jener hatte, während wir andern in Frankreichs Provinzen umhergezogen waren, mit bewundernswürdiger Sorgsamkeit in l'Orient alles zusammengekauft, was teils eine langwierige Seefahrt angenehm machen, teils uns im fernen Weltteile wohlthun konnte.

Die Kanonen donnerten im Hafen das Lebewohl. Die Winde schwellten unsere Segel. Das Schiffsvolk jauchzte. Die Batterieen von Port-Louis donnerten den Scheidegruß zurück . . . Das Schiff flog über die dunkeln, spielenden Wellen des Ozeans. Die Ufer Europas wichen zurück. Agathe stand voll tiefer Wehmut auf dem Verdeck. Ihre Lippen bebten, wie wenn sie zu dem verschwindenden Weltteile reden wollte; Thränen füllten ihre Augen. Die arme Agathe! Ihre Seele irrte in den Wüsteneien von Polen, und umschwebte den trauernden Janinski im winterlichen Sloboda, Herbert hatte sich mit gekreuzten Armen und gesenktem Haupte in schwermütiger Stellung an einen Mastbaum gelehnt. Meinethalben schied er von der mütterlichen Erde, und suchte in fernen Wildnissen nun das Ziel seines tugendhaften Lebens. Er hörte nicht das Donnern des Geschützes, nicht das fröhliche Jauchzen der Matrosen. Nur dann und wann schien ein Seufzer seine Brust zu heben.

Und aus dem Gewühl und Lärmen des Schiffsvolks erscholl mit einemmale ein feierlicher Kirchengesang, von Männern, Weibern und Kindern. Es waren Deutsche und Schweizer, welche sich eingeschifft hatten, um in Louisiana das Glück zu finden, welches ihnen in der alten Welt nicht lächeln wollte. Sie saßen gedrängt beisammen, und sangen mit lauter Stimme ihren Psalm zu dem Gotte ihrer Väter, und empfahlen ihm das teure Vaterland, welches sie nicht mehr ernähren konnte. Und aller Augen starrten nach dem festen Lande hin, und weinten im Angesichte desselben ihre Abschiedsthränen.

Die Wehmut übermannte auch mich. Mein leises, glühendes Gebet für meine Kinder stieg unter den Liedern dieser Unglücklichen zum Himmel empor; und meine Thränen begleiteten die ihrigen.

Natalie, o Natalie, geliebte Tochter, und Du, mein unglückseliger Säugling, dem nicht die zarte Hand der Mutterliebe die Thränen trocknen darf . . . noch einmal lebet wohl! So rief ich, und sah die Küsten Europas vor mir dunkler werden, und am Horizont verdämmern. Wie ein ungeheurer Sarg versank der heimatliche Weltteil mit all seinen Schätzen und Martern, mit seinen Thränen- und Freudenstunden in die Tiefe des Meeres. Nur nach meinen Kindern schlug mein Herz in diesem feierlichen Augenblick . . . auch sie gingen für mich auf ewig unter. Ich schwebte einsam auf dem Ozean, wie ein abgeschiedener Geist, der, zu entfernten Bestimmungen hingerissen, schaudernd die Welt wie einen Dunst vor sich zerfließen sieht . . . die Welt, welche für ihn zwar manche Qualen, aber auch manches Kleinod hatte.

Ich saß, in meinen Empfindungen verloren, auf dem Verdecke. Der Mond war aufgegangen, denn unsere Abfahrt geschah spät am Tage; weit umher herrschte Totenstille; überall nur Wollen und Himmel, Dunkelheit und Glanz. Dies furchtbar liebliche Schauspiel fesselte mich durch seine Neuheit und zerstreute meinen Gram.

Da trat Agathe zu mir und fragte schüchtern:

»Meine Augustine, störe ich Dich? Du bist betrübt. Verfolgt Dich schon so früh die Reue? Verlässest Du Dein Europa ungern?«

Ich zog das gute Mädchen an mich und antwortete:

»Nein, gern! Denn niemand liebte, niemand schützte mich dort. Und was mich liebt und schützt, begleitet mich zur neuen Welt. Nur um meine Kinder klage ich, und um meine Julie. Die sind mir verloren. Und hätte ich sie nicht verlassen, so wären sie mir dennoch verloren. Nun denn, gute Nacht, Vergangenheit! Sei mir willkommen, fremde Zukunft! Ich gehe Dir mit einer reinen Seele entgegen. Wer nichts zu fürchten hat, hat nur zu hoffen.«

Agathe drückte ihr Gesicht an meine Brust und schluchzte heftiger.

»Du weinst?« fragte ich sie. »Sehnst Du Dich heim?«

Nach einer langen Stille lispelte sie nur den Namen Janinski.

Meine Augen wurden von Thränen verdunkelt. Ich küßte des Mädchens heiße Stirn und antwortete nicht.

Was hätte ich auf solch ein vielsagendes Wort erwidern können?

Agathe liebte. Janinski war der Gegenstand ihrer ersten Leidenschaft. Treu und ergeben hatte sie mir ihre schönsten Empfindungen zum Opfer gebracht, und es erst damals gestanden, als sie hoffnungslos an der Möglichkeit ihres Glückes verzweifelte.

Ja, es ist das höchste Opfer, sein eigenes Herz freudig brechen zu lassen, indem man seine Liebe tötet! Unterm Himmel beseligt nichts so, wie dies Gefühl, welches mit dem Glücke der Unsterblichkeit so ganz eins. Wer seine Liebe opfert, der opfert mit ihr seine Unsterblichkeit. Ohne Liebe ist die Ewigkeit leer und wertlos.

15.

Wir schwammen nun aus dem hellen, immer bewegten Ozean von Insel zu Insel. Wir gewöhnten uns an das unbequeme Leben der Seefahrer; an das betäubende Hin- und Herwiegen des Schiffes; an das rege, wunderbare Einerlei des Weltmeeres, Das Bild des stillen, rastlosen Lebens und der Ewigkeit giebt uns keine Landschaft mit ihren blühenden Gefilden, kein Gebirge mit seinen unermeßlichen Aussichten in so vollem Maße, als das Meer. Hier ist alles Bewegung und unermüdlich. Unter uns gaukeln die Wellen; um uns flattern die bunten Wimpel des Schiffs; über unserm Haupte schweben die Gewölke. Die ungeheure Natur ist bald in stiller, bald in geräuschvoller Gährung, und der Mensch, welcher die unbändigen Elemente beherrscht, erscheint nirgends in so gewaltiger Hoheit, wie hier. Wir sahen die Kanarischen Inseln . . . wir wohnten einige Tage auf Teneriffa, am Fuße des Pic. Schon umgab uns hier eine neue Welt, ein neuer Pflanzenwuchs, und Menschen von anderen Farben. Wir wähnten uns schon von Europa weit geschieden. Agathe klagte leiser um Janinski, und lächelte wieder wie sonst. Ich hatte Rußland und Deutschland fast vergessen; die Erinnerung ward schwächer an alles, was mich einst freute und quälte . . . ich sah auf die Vergangenheit zurück, wie auf einen langen, düstern Traum, oder wie der Geist eines Verstorbenen auf die Geschichte seiner irdischen Wallfahrt.

Ich hätte es nicht geglaubt, daß ich hier noch durch einen Dritten so unerwartet, so überraschend an meine schönsten Lebensstunden, an Dich, o meine Julie, an meine ferne reizende Heimat erinnert werden würde!

Der Schiffskapitän beschloß plötzlich, mit gutem Winde wieder Teneriffa zu verlassen. Eilfertig verließen wir das Land. Wir waren ins Boot gestiegen und warteten noch auf die Rückkehr des wackern Paul. Er kam atemlos, stieg zu uns ein, und die Matrosen stießen vom Lande.

Julie, denke Dir, in eben diesem Augenblicke . . . ich saß mit dem Gesicht gegen das Land gewandt . . . erschien am Ufer ein junger Mann . . . ganz d'Aubants Gestalt. Ich erschrak . . . nein, ich kann es nicht Schreck nennen . . . eine unbegreifliche Mischung von Bestürzung, Freude und Wehmut war es, die mein Gemüt verwirrte. Ich ergriff Agathens Hand . . . »d'Aubant ist's! Gewiß d'Aubant!« rief ich. Es schien, als habe er mich erkannt . . . Aber sein Betragen war mir doch unerklärlich. Er lief am Ufer ängstlich umher und streckte die Arme über das Meer nach uns aus, – ich hätte wünschen mögen, daß ein Unfall unser Boot getroffen und es zur Rückkehr gezwungen hätte. Wir erreichten das Schiff. Die Anker wurden bei unserer Ankunft gelichtet. Rasch flogen wir in die weite Wüste des Ozeans hinaus; ich stand auf dem Verdeck; ich starrte nach den blühenden Lüften Teneriffas zurück. Und als die Gestade bläulich verdämmerten, starrte ich noch immer dahin; und mir war es, als sehe ich noch immer d'Aubants Gestalt, wie sie die Arme ausstreckte, und eine Stimme sagte mir immer: »Gegen mich!« . . . Und als wir gegen Abend nichts mehr sahen, als den hohen, einsamen Pic, wie er gleich einer Pyramide aus den Tiefen der Gewässer hervorragte, war mir's, als stehe diese Gebirgssäule am Horizont nur da, um noch die Gegend zu bezeichnen, wo d'Aubant trauere.

Paul kannte d'Aubant noch aus Petersburg. Er erzählte mir, daß d'Aubant es in der That gewesen, der am Ufer erschienen sei – daß er mit ihm einige Worte gesprochen; daß derselbe nach Amerika reise, um sich in Louisiana niederzulassen.

In Louisiana! . . . Also auch ein Unglücklicher?

Fast sollte ich über die Teilnahme erröten, welche dieser Mann in meinem Herzen erregt, denn jeder der Augenblicke, in welchen ich ihn gesehen, hat in meinem Gedächtnisse einen hohen Wert. Aber nicht er ist es, von dem ich mit wehmütiger Ruhe, mit einem Gefühl wie Sehnsucht, so gern träumte; es ist die Zahl meiner Blütenstunden, die ich betrauere, in denen er mir zum erstenmal erschien. Jetzt, von meiner ehemaligen Welt geschieden, ist mir jede Kleinigkeit von ihr so neu, so wichtig! . . . So gewährt uns eine am Fenster blühende Pflanze in des Nordens rauhen Wintertagen ein höheres Vergnügen, als eine Flur voll Blumen im Sommer. Ach, Julie, ich will d'Aubants gern gedenken! Es ist das Einzige, wodurch mein Herz sich eines Dankes entledigt, welchen es dem edlen Manne schuldig ist, der für meine Ehre sein Blut vergoß. Die Erinnerung an ihn ist zugleich eine Erinnerung an Dich und an mein verlornes Himmelreich.

16.

Geschrieben in Port au Prince.

Dem guten Herbert bekam die Seeluft übel. Er war uns erkrankt. Wir trauerten um ihn, wie um einen Vater. Mit Freudenthränen dankte ich Gott, als wir nach der langen, ewigen Fahrt endlich wieder festes Land erblickten. Es war St. Domingo, die reichste von allen Inseln Westindiens, rings von Felsen und gefahrvollen Klippen umgeben. Unser Schiff landete. Ich verließ mit den wenigen, welche mir in die fremde Welt folgten, das Schiff, und wir kehrten auf dasselbe nicht wieder zurück. Denn Vater Herbert liegt hier schon seit zwölf Wochen krank.

Weh' mir, wenn ich ihn verlöre! Er ist mein zweiter Vater, mein Lehrer, mein Schutzgeist, mein Führer. Ich würde in der Einöde der weiten Welt allein stehen. Agathe ist ein holdes Kind, und bedarf selbst des Rates und Schutzes.

O Alexis! Alexis! Dahin treibst Du mich, mein Gemahl! Fern von meinen Kindern, fern von meiner Heimat irre ich, die Tochter der Welfen, in fernen Zonen. Meinem Tode konntest Du keine Thränen weihen . . . was würde Dein Herz fühlen, wenn Du die Verlassene hier erblicktest?

Wir bewohnen ein artiges Landhaus am Meere, nicht weit von der Stadt; es gehört einem begüterten Kolonisten . . . Er ist ein alter, biederer Mann, immer reich an fröhlichen Einfällen. Seine an einen jungen Pflanzer vermählte Tochter besorgt die häuslichen Angelegenheiten. Sie ist Mutter zweier liebenswürdigen Knaben, die dem alten Großvater viele Freude machen. Wir sind in dieser Familie bald heimisch geworden. Wir lieben uns, wie wenn wir uns schon seit vielen Jahren kennten. Besonders hängen die beiden schönen Knaben an mir. Auch ich bin Mutter; ach, und die Küsse, welche ich an sie verschwende, gelten den fernen geliebten Engeln, von denen ich nie den süßen Mutternamen hören darf! . . .

O Julie, was ist bitterer, als der Schmerz einer unglücklichen Mutter?

Man wendet alle Kunst an, uns Pilger in St. Domingo zu fesseln. Täglich fordert man uns auf, daß wir uns hier niederlassen sollen. Der alte Deroy, so heißt unser freundlicher Wirt, will uns in seiner Nachbarschaft eine schöne Pflanzung verkaufen.

Nein, wir sind noch zu nahe an Europa; allwöchentlich erscheinen hier Schiffe von jenem mir so furchtbar gewordenen Weltteile. Die Neugier der Reisenden durchspürt die ganze Insel. Wie leicht könnte ich entdeckt und verraten werden! Ich will nach Louisiana . . . Dahin zieht mich meine Sehnsucht. Dort werde ich im Schatten tausendjähriger Haine verborgen und vergessen leben; dort werde ich mir ganz gehören. Und vielleicht – o Julie! süß ist mein Wahn – bin ich in jenen Wildnissen dann doch nicht so einsam.

Was habe ich Arme, womit ich meinem dürftigen Leben Reiz gebe, als Träumereien? Ich will mit kindlicher Begier an den bunten Hoffnungen hangen, und würden sie auch nie erfüllt.

Sobald Vater Herbert genesen ist, suchen wir Louisiana's Wälder auf.

17.

O wunderbare Allmacht der Liebe! . . . Was kein Mensch glauben, keiner träumen kann, ist geschehen. Julie, ich taumle vor Freuden! Der Geliebte Agathens, der gastfreundliche Pole Janinski, ist in St. Domingo. Er hat mit unbegreiflichem Glück unsere Spur durch ganz Europa und über das Weltmeer hin verfolgt, nachdem er sein Hab und Gut in Geld verwandelt hatte. Es klingt schwärmerisch. Aber, wenn sich der Mann in seiner Schwärmerei nur glücklich fühlt. Fast vermute ich, daß Agathe mit ihm mehr im Einverständnis gewesen, als sie mich wissen ließ.

Genug, er ist da! Aus der Stadt kam ein Bote an den Herrn Walter. Herbert führt in St. Domingo diesen Namen. Der Mensch brachte ihm einen Brief. Herbert war noch zu schwach, ihn selbst zu lesen. Agathe und ich standen vor seinem Bette. Ich öffnete den Brief und las ihn vor. Ehe ich vollendet hatte, sank Agathe fast bewußtlos nieder. Janinski kündigte sich in diesem Schreiben selbst an.

Sobald das gute Mädchen sich erholt hatte, hielten wir Rats zusammen. Agathe aber sprach nichts. Sie setzte sich, den Brief in der Hand, an's Fenster; stumm und in tiefer Gemütsbewegung saß sie da. Sie starrte nur den Brief an, las ihn aber nicht. Ich fürchtete für ihre Gesundheit. Ich wollte sie beruhigen; sie hörte mich aber nicht; sie sah nur das tote Blatt an, und stieß von Zeit zu Zeit einen Seufzer aus. Ich schrieb in Herbert's Namen die Antwort an den kühnen Abenteurer, und bat ihn, seinen Besuch noch um einige Tage zu verschieben, weil Agathe allzu bewegt sei. Noch hatte ich nicht vollendet, als sich die Thür öffnete. Janinski selbst trat herein.

Ich erschrak.

Agathe sprang mit einem Schrei vom Sessel auf, ward totenbleich, wankte ihm, mit halbgeschlossenen Augen, wie eine Sterbende entgegen, und fiel ohne Bewußtsein ihm in die Arme.

Mit Mühe brachten wir sie in's Leben zurück.

Erst am folgenden Tage konnte sie ihren Freund mit Ruhe sehen und sprechen.

Der kranke Herbert wollte dem Janinski Vorwürfe machen. »Oh,« rief Janinski, »mir steht es zu, Ihnen Vorwürfe zu machen! Warum erschienen Sie mit Ihrer liebenswürdigen Tochter in meiner Einöde, und raubten mir auf immerdar Freude und Ruhe? . . . Ich hatte sie gesehen, ich liebte sie, und die Überzeugung, daß ich Agathen nicht unglücklich liebe, machte mich noch elender. Es ist mir, aller Ihrer Vorstellungen und Verheimlichungen ungeachtet, gelungen, Sie auszuspähen. Ich bin nun da, Wollen Sie noch ferner hartherzig sein? Wollen Sie nicht mein Vater werden, wohlan, so verstoßen Sie mich! Aber ich werde Sie durch alle Weltteile verfolgen, wie Ihr Schatten, bis Sie von meiner Ergebenheit, von meiner Standhaftigkeit gerührt werden. Verschmähen Sie mich als Ihren Sohn . . . nun, so will ich Ihr Sklave werden! Sie reißen sich nicht wieder von mir los.«

So ungefähr sprach der Mann, und wie er's sprach! Seine ganze Miene war Seele. Entzücken, Wehmut und Besorgnis sprachen in denselben Augenblicken aus seiner Stimme, aus seinem Lächeln, und aus der Thräne, die von seinem flammenden Auge wie ein Lichtfunken fiel.

Herbert sah mich mit einem stillforschenden Blicke an, und reichte Janinski freundlicher die Hand,

»So viel Treue ist wohl des höchstes Lohnes wert!« sagte ich . . .

Janinski fiel mir zu Füßen, bedeckte meine Hand mit brennenden Küssen, und rief:

»Verlassen Sie mich nicht! Verstoßen Sie den unglücklichen Janinski nicht!«

Und als Herbert sprach: »Wohlan, Janinski, ich gebe Ihnen meine Tochter, wenn meine Tochter Ihnen Liebe geben kann!« sprang Janinski auf, und redete wie ein Begeisterter, oder wie einer, dessen Sinne verwirrt waren . . .

Er weinte, er lachte, er erzählte von den Gefahren seiner Reise, er rief Agathens Namen, er bat um ihre Liebe, ungeachtet Agathe nicht mehr zugegen war, er überhäufte Herbert und mich mit Dank und Segen, schilderte einen Sturm, den er auf dem Meere ausgestanden, und faltete dann wieder die Hände gen Himmel, als wollte er Gott für das erreichte Ziel Dank sagen.

Es war nicht mehr daran zu denken, den hochbeglückten Schwärmer nach der Stadt zurückzusenden. Wir behielten ihn im Hause. Am folgenden Tage gab ihm Agathe den Schwur der ewigen Liebe, und mit errötenden Wangen den belohnenden Kuß für so viel unglaubliche Treue.

Wie sie Beide nun hochbeseligt sind! . . . Ich sehe in dem Glücke dieser Liebenden mein eigenes Glück blühen . . . . Janinski will sich im schönen Louisiana mit uns anbauen. Unaufhörlich träumen wir von dem Elysium, welches unser wartet.

18.

Langsam kehrte Vater Herberts Gesundheit endlich wieder. Schon konnte er, nach sieben peinlichen Monaten, das Krankenlager verlassen . . . wir beschlossen, sobald er vollkommen hergestellt sein würde, die Vermählung der beiden Liebenden zu feiern.

O meine Julie, nun nehm' ich die Feder, um Dir eine meiner fürchterlichsten Lebensstunden zu beschreiben!

Auf Erden soll keine Freude reifen; unser Herz sich an keine Lust hängen. Die Hoffnung, welche wie ein neugebornes Kind zartlächelnd an unserm Herzen ruht, wird von dem tückischen Dolch der nächsten Stunde getötet. Wir gehören nicht dieser Welt an. Sie selbst stößt uns mit grausamem Ernst zurück, wenn wir sie lieb gewinnen möchten. Über den Sternen ist unsere Heimat, nicht unter denselben! sagt der gute Herbert, wenn er mich trösten will Ach! und was können wir für unsere Schwäche? Warum tragen wir ein fühlendes Herz in der Brust?

Janinski, Agathe, Frau Almas, die Tochter des alten Deroy, mit ihren beiden schönen Knaben August und Karl, und ich gingen am Nachmittage durch die fruchtbaren Felder. Nächtlicher Regen hatte die Luft erfrischt, und ein kühler Ostwind blies über das Meer herüber. Wir streiften durch die Zucker- und Indigopflanzungen, sahen den Arbeiten der Sklaven zu, und kehrten nachbarlich in manche Hütte ein,

Von langem Wandern ermüdet, ruhten wir auf weichem Rasen unter Kakaobäumen aus. Die Sonne war schon hinter den Hügeln niedergesunken, ihre letzten Strahlen flimmerten rötlich an den Gebüschen und Felsen. Ein gewürzhafter Duft von tausend unbekannten Kräutern strömte uns im Zuge des Ostwindes entgegen.

Da sagte Janinski:

»Warum ist diese Herrlichkeit so vergänglich? Warum gewährt uns der Himmel nicht schon hier ein ewiges Leben? Wir sind berufen, das wundervolle Schauspiel zu sehen, und ehe wir's noch ganz genießen können, ist der Vorhang schon wieder gefallen.«

»Das Leben hienieden ist nur der Prolog zum ewigen Schauspiel!« erwiderte ich ihm. »Er kündigt nur an, und reizt unsere Erwartung auf das Folgende. Ist der Prolog so reizend, wie sollen wir nicht mit Begier wünschen, daß der Vorhang falle, damit das Schauspiel selbst beginne?«

Janinski drückte Agathens Hand an seine hochschlagende Brust; und sie lächelte zärtlich den teuren Liebling an.

»Sollen wir wünschen, daß der Vorhang falle?« fragte sie ihn.

»Ich habe genug empfangen, Agathe,« rief er, »denn Agathe liebt mich. Und mein höchstes Ziel ist errungen, glücklicher kann die Welt mich nicht mehr machen. Früher oder später, immer aber einmal müssen wir hienieden enden; gepriesen sei der Mensch, welcher mitten unter seinen Freuden entschlummert! Und ist dies Leben nur der Prolog, o meine Agathe, was werden wir uns im Jenseits sein!«

Unter solchen Gesprächen verflogen die Minuten und Stunden. Der aufgegangene Mond und die wachsende Dunkelheit erinnerten uns an den Heimweg,

Wir wählten den kürzesten Pfad, der längst dem Meergestade sich hinzog, die Knaben sprangen munter davon. Ein plötzlicher Sturmwind erhob sich, noch ehe wir die Wohnung erreichen konnten. Gesträuche und Bäume brausten wild, der Staub wirbelte in großen Wolken von der Erde himmelan; die Wellen schlugen mit dumpfem Geräusch an die Klippen . . . . Der Aufruhr der Natur ward von einer Sekunde zur andern entsetzlicher. Wir verdoppelten unsere Schritte, denn wir waren von der Wohnung noch weit entfernt.

»Meine Kinder! meine Kinder!« seufzte Frau Almas ängstlich.

»Sie sind gewiß schon zu Hause,« sagte Janinski, »denn sie haben uns schon längst verlassen.«

Die Gewalt des Sturmes warf uns fast zu Boden. Mondschein, Finsternis und Staubwolken blendeten uns, daß wir kaum sahen, wohin wir traten. Das Meer brüllte ungestümer, und von den wankenden Bäumen stürzten zerrissene Zweige. Es war mir, als zittere das Erdreich, als wolle der gewaltige Orkan die Felsenwurzeln St. Dominos vom Grunde des Ozeans losreißen und die Insel zermalmen.

»Noch eine Viertelstunde!« sagte die junge Almas, welche uns den Weg zeigte.

Mutterzärtlichkeit machte sie behende und mutig. Sie flog immer weit vor uns hin durch Nacht und Sturm; kaum konnten wir sie einholen.

Wenn wir ihr nahe waren, hörten wir sie nur die Worte lispeln:

»Meine Kinder! Meine Kinder!«

Plötzlich stand sie still, rang die Hände und rief:

»O mein Gott, diesen Weg so hart am Meere dürfen wir nicht gehen! Bei der Flut und bei solchem Sturme stürzen oft große Wellen über den schmalen Fußpfad. Zurück! . . .«

Noch ehe wir einen Entschluß fassen konnten, rief sie wieder:

»Doch ich will erst nach der gefahrvollen Stelle hin, um zu wissen, ob meine Kinder hinüber sind.«

Sie ging; wir folgten ihr.

Als wir zwischen den Felsen hervortraten, deren Wände uns kurze Zeit gegen die Windstöße geschützt hatten, sahen wir vor uns das kochende Meer, wie es sich hoch emportürmte, und von Zeit zu Zeit eine große Woge gegen die Klippenmauer jagte, an welcher sich der Fußpfad hinzog. Die Wellen eilten mit erschütternder Furchtbarkeit vom Meere gegen das Gestade, hundert neben hundert, wie ergrimmte Streiter, welche eine feste Burg erstürmen und wütend über die Leichname ihrer gesunkenen Vorderreihen fortstürzen. Der bleiche Mond sah durch die fliehenden Wolken des Himmels, und leuchtete grausig zum Kampf der empörten Elemente.

Als wir der Stelle nahe gekommen, gebot uns Janinski, stille zu stehen. Kaum konnten wir in dem betäubenden Wogengetöse unsere Worte hören.

»Still!« rief die bebende Almas. »Ist das nicht das Wimmern eines Kindes?«

Uns allen fuhr ein kalter Schauer durch Mark und Bein. Wir horchten: wir vernahmen deutlich ein ängstliches Stöhnen, aber wir sprachen zur bangen Mutter:

»Nein, wir hören es nicht! Der Wind pfeift in den Klippen und Gebüschen.«

»Ich muß aber hinüber!« rief die verzweifelnde Mutter.

Janinski ergriff sie, und indem die letzte Woge abfloß, trug er sie eilends über den Pfad in Sicherheit.

Dann kam er wieder, erhaschte den glücklichen Moment und trug seine Agathe dahin.

Er kam wieder und nahm auch mich.

Drüben im Hause saß der kleine Karl schon am Fenster und weinte und seine Mutter lag vor ihm auf den Knieen in Todesangst und rief:

»Aber wo ist Dein Bruder August?«

Der Knabe schluchzte und deutete mit der Hand auf die schäumenden Wellen hinaus.

»Allmächtiger Gott!« schrie sie, sprang auf und streckte die Arme gegen das Meer, als fordere sie dem tauben Ozean den kostbaren Raub wieder ab.

Indem trat der Mond abermals aus den Wolken.

Da sahen wir deutlich, nicht weit vom Ufer, den armen August im Wasser. Er hielt sich mit seinen kleinen Armen festgeklammert an einem zerbrochenen Baumstamm, der in den Wellen hing. Von Zeit zu Zeit rauschte eine Woge über ihn hinweg.

Als seine Mutter ihn erblickte, flog sie mit ausgebreiteten Armen der daherströmenden Woge entgegen, und stürzte sich uneingedenk ihrer schwachen Kraft ins Meer, um den holden Liebling ihrer Seele zu retten. Heulend schlugen die Wellen über sie zusammen. Wir alle standen erstarrt. Ich taumelte ohnmächtig gegen die Felswand.

Nur der edle Janinski behielt seine Geistesgegenwart. Er beobachtete die Flut, bat uns, ruhig zu sein, und sprang, als er die Kleider der armen Almas über den Wellen erblickte, eilig ins Wasser.

Agathe schlug schauernd ihre Arme um meinen Nacken. Alle Kraft verließ sie. Sie sank, einer Entseelten gleich, auf die feuchte Erde an meiner Seite nieder. Ich rief bald den Namen der Almas, bald den Namen Janinski. Und als ich sah, wie Janinski, mit den Wellen kämpfend und sie bewältigend, die Kleider der Almas faßte, und seine Beute gegen das Ufer führte, schlug mein Herz wieder hoch und freudig. Indem die bebende Almas von Janinski ans Land gebracht und zu meinen Füßen niedergelegt ward, erschienen auch ihr Gatte und ihr Vater, welche sorgenvoll ausgegangen waren, uns zu suchen. Sie hatten mein Geschrei vernommen, ihre Schritte beflügelt, und eilten nun, die halbtote Frau und Agathen ins Leben zu bringen.

Janinski aber säumte nicht, sein großes, gefahrvolles Werk zu beenden. Er warf sich zum zweitenmal ins Meer, denn noch hielt sich der Knabe mit aller Kraft an einem Zweige des Baumstammes fest, aber jede über ihn hinrollende Woge drohte ihn wegzuspülen. Sein Retter erschien, riß ihn vom Baume los, kämpfte sich mit ihm durch die Fluten hindurch nach dem Gestade zurück, und als er nahe genug war, schleuderte er ihn mit unglaublicher Macht auf's feste Land hinauf, wo ihn sein Vater auffing.

Aber Janinski wälzten die Wogen wieder vom Ufer zurück . . . noch einmal streckte er den Arm aus einer Welle empor . . . und wir sahen ihn nicht mehr.

O Julie, wir sahen ihn nicht wieder! Wir erhoben ein fürchterliches Geschrei. Sturm und Wellen heulten mit uns. Aber der Edle blieb verschwunden . . . unser Geschrei, unser Suchen blieb vergebens.

Man holte Sklaven herbei und Fackeln, Seile und Leitern. Einige Neger wagten ihr Leben im Meer, den Verlornen zu finden. Der Greis Deroy versprach dem Sklaven die Freiheit zu schenken, der uns Janinski bringen würde. Er bot den Preis vergebens.

Wir Frauen wurden nebst den Kindern in die Wohnung geführt. Die Männer setzten ihre Nachforschungen fort. Ach, erst am fünften Tage nachher fand man Janinskis Leichnam an einer von der Stelle, wo wir ihn zuletzt sahen, weit entfernten Klippe.

So ward der Tod in den Wellen der Lohn seiner heldenmütigen Tugend. So hatte der edle Mann nun Heimat und alles verlassen, hatte voll treuer Liebe Länder und Meere durchirrt, hatte, vom günstigen Gestirn geleitet, die Geliebte wiedergefunden, um vor ihren Augen sein Leben zu verlieren.

19.

Fünf traurige Monate sind seit Janinskis Tode verflossen. In wenigen Tagen sollen wir nach Neu-Orleans zu Schiffe gehen. Herbert, wiewohl nicht ganz hergestellt, ist doch stark genug, die Mühseligkeiten einer neuen Seereise zu wagen. Das ungesunde Klima St. Domingos würde ihn töten, wenn wir länger zögerten.

Und meine Agathe, die unglückliche Braut, hat ihren Kampf gekämpft und obgesiegt. Sie sehnt sich mehr als ich nach der Einsamkeit von Louisiana, um dort ihren Janinski mit eben der unüberwindlichen Liebe zu betrauern, mit welcher er sie einst liebte. Sie ist ein schönes Bild der Wehmut, und erscheint mir liebenswürdiger als jemals.

Gute Nacht denn, Weltgetümmel, aus welchem wir alle mit verwundetem Herzen scheiden . . . Empfanget mich, ihr stillen Wildnisse der Fremde und gebet mir die längst ersehnte Ruhe! Dort hört der furchtbare Wechsel der Schicksale auf. Unsere Tage verfließen dort in stiller Einförmigkeit und klösterlicher Abgeschiedenheit, bis man unsern Staub in den friedlichen Schoß der Erde senkt.

Wenn die dunkelroten Gluten des Morgens durch den Wald brechen und der Gesang der Vögel erwacht, will ich betend meine ersten Stunden dem Vater des Weltalls weihen, dann in häuslichen Geschäften Mittel suchen, das Leben derer zu verschönern, welche mir mit Selbstverleugnung in die Einöde folgten. Ich werde sie alle froh sehen; und was kann meinem Frieden mangeln, wenn sie lächeln? Ich will die Wunder der Natur studieren; Bildung, Eigenschaften und Kräfte der reizenden Pflanzenwelt untersuchen, von der hohen Ceder bis zum Moose, von der Palme bis zum Grashalm. So werde ich Gott sehen, so werde ich mit ihm vertrauter werden. Bald will ich ein ödes Feld urbar machen, bald einsame Spaziergänge schmücken, um meine Geliebten zu überraschen; bald die Arbeiten und Tagewerke der Insekten belauschen; bald mich an der erhabenen Musik des donnernden Wasserfalles ergötzen.

Und wenn die Nacht mit ihrer begeisternden Herrlichkeit die Fluren Louisianas beschleicht, wenn das Firmament seine tausend Sonnen enthüllt, und ein ernster Geist die verstummte Welt durchzieht, dann will ich der Ewigkeit meine Betrachtungen, meine Hoffnungen weihen. Sie wird mir nicht mehr fremd sein. Mein Auge wird einst im Tode unter einer Freudenthräne brechen.

Seid mir gegrüßt, ihr heilige Wildnisse, die noch keines Europäers Ehrgeiz, Wollust und Golddurst entweihte! Nehmt mich auf in Eure kühlen Schatten; ich gehöre nicht mehr dem Getümmel der Welt und ihrer Leidenschaft an; ich werde fortan in meinem harmlosen Selbst leben!


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