Heinrich Zschokke
Blätter aus dem Tagebuche des armen Pfarr-Vikars von Wiltshire
Heinrich Zschokke

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Am 15. Dezember 1764.

Ich erhielt von Herrn Doktor Snart, meinem Patron, zehn Pfund Sterling als den Betrag des halbjährigen Gehalts.

Ich mußte den sauer verdienten Lohn noch unter manchen Unannehmlichkeiten in Empfang nehmen. Nachdem ich anderthalb Stunden im kühlen Vorzimmer des Herrn Rektors hatte warten müssen, erlaubte man mir endlich, in sein Gemach zu treten. Er saß gemächlich im großen Lehnstuhle am Schreibtische; das Geld war schon gezählt. Er erwiderte meine Verbeugungen mit einem majestätischen Kopfnicken seitwärts, indem er seine schöne schwarzseidene Hausmütze ein wenig aus dem Nacken empor und wieder zurückschob. Wirklich hat er viel Würde. Ich kann mich ihm nie ohne Ehrfurcht nahen. Ich glaube, ich würde zu dem Könige selbst nicht mit größerer Ehrerbietung hintreten. Er nötigte mich nicht zum Sitzen, obwohl er wissen konnte, daß ich den Morgen schon elf (englische) Meilen bei schlechtem Wetter gemacht und vom anderthalbstündigen Stehen im Vorzimmer auch nicht viel Trost für die müden Beine gehabt hatte. Er wies mit der Hand auf das Geld.

Mir schlug das Herz gewaltig, als ich nun mit der lange überlegten und wohleingelernten Bitte um einige Gehaltsvermehrung hervortreten wollte. Daß ich doch meine Schüchternheit auch in den allerunschuldigsten, ja ich darf sagen, in den gerechtesten Sachen nicht ablegen kann! Mit einer Angst, als wollt' ich ein Verbrechen begehen, hob ich zweimal vergebens an. Gedächtnis, Worte und Stimme verließen mich. Der Schweiß stand mir plötzlich in großen Tropfen auf der Stirn.

»Was wollen Sie eigentlich?« fragte er leutselig.

»Ich bin . . . alles ist teuer . . . kaum im stande, mit dem geringen Gehalt in diesen Zeiten auszukommen.«

»Geringes Gehalt, Herr Vikar? Wo denken Sie hin? Ich kann jeden Tag einen andern Vikar um fünfzehn Pfund Sterling Jahrgehalt haben!«

»Um fünfzehn Pfund! Nun ja, wenn er ohne Familie ist, mag er's mit dem Gelde machen.«

»Ihre Familie, Herr Vikar, hat sich doch nicht vermehrt, hoffe ich? Sie haben ja nur zwei Töchter.«

»Ja, Eure Hochwürden! Aber diese wachsen heran. Meine Jenny, die älteste, ist nun achtzehn Jahre, und Polly, die jüngere, bald zwölf Jahre alt.«

»Desto besser! Können die Mädchen nicht arbeiten?«

Ich wollte antworten, er ließ mich aber nicht zum Worte kommen, sondern stand auf und sagte, indem er gegen das Fenster ging und mit den Fingern an den Scheiben trommelte: »Ich habe heute unmöglich Zeit, mich weiter einzulassen, Überlegen Sie's, ob Sie mit fünfzehn Pfund des Jahres die Stelle behalten wollen, und melden Sie mir's dann. Können Sie nicht, so wünsche ich Ihnen eine bessere Vikarstelle zum Neujahrsgeschenk.«

Er verbeugte sich höflich gegen mich und schob wieder an der Mütze. Ich strich hastig das Geld ein und empfahl mich seiner Huld. Ich war wie angedonnert. So kalt hatte er mich noch nie empfangen und abgefertigt. Nicht einmal bot er mir, nach bisheriger Gewohnheit, ein Mittagessen an Ich hatte darauf gehofft, denn ich war nüchtern von Crekelade in aller Frühe fortgegangen. Nun kaufte ich mir in der Vorstadt bei einem Bäcker, an dem ich vorüberging, ein Brot und machte mich damit auf den Rückweg.

Wie niedergeschlagen war ich auf dem Wege! Ich weinte wie ein Knabe. Die Thränen fielen auf das Brot, indem ich es hungrig verschlang.

Pfui, Thomas! Schäme Dich Deines Kleinmutes! Lebt der alte Gott nicht mehr? Und wenn Du nun die ganze Stelle verloren hättest? Jetzt sind es ja nur fünf Pfund weniger. Freilich der vierte Teil des ganz kleinen Jahrlohns! freilich auf den Tag im Durchschnitt kaum zehn Pence, wovon drei Personen sich nähren und kleiden müssen . . . Was ist's denn weiter mehr? . . . Man muß vom alten Wohlleben etwas abbrechen.

Am 16. Dezember.

Ja, ich glaube, Jenny ist ein Engel. Ihre Seele ist noch schöner, als ihr Leib; beinahe muß ich mich schämen, ihr Vater zu sein: sie ist viel besser und frömmer, als ich.

Gestern hatte ich nicht den Mut, den beiden Mädchen unser bevorstehendes Unglück zu verkünden. Als ich es heute that, ward Jenny ernst, dann plötzlich wieder freundlich, und sagte:

»Bist Du unruhig, Vater?«

»Sollte ich nicht?«

»Nein, Du solltest nicht!«

»Liebes Kind, wir kommen nie aus Schulden und Sorgen! Ich weiß nicht, wie wir bestehen werden. Es fehlt uns so vieles! Wer giebt es nun bei fünfzehn Pfund, die kaum für Lebensmittel ausreichen?«

Statt der Antwort legte Jenny schmeichelnd ihren Arm um meinen Nacken und wies mit der andern Hand zum Himmel.

»Der dort!« sagte sie.

Polly setzte sich auf meinen Schoß, streichelte mir das Gesicht und sagte:

»Ich will Dir was erzählen. Mir träumte diese Nacht, es sei Neujahr und der König sei nach Crekelade gekommen. Das war eine Pracht! Der König stieg vor unserer Hausthür vom Pferde und kehrte bei uns ein. Da hatten wir unsere Not mit Kochen und Braten. Der König aber ließ von seinen eignen Speisen bringen in goldenem und silbernem Geschirr. Draußen schollen Pauken und Trompeten. Und denke Dir, bei Pauken- und Trompetenklang brachte man Dir auf einem Atlaskissen zum Neujahrsgeschenk eine goldene Bischofsmütze. Sie sah etwas närrisch aus, ungefähr wie die spitzen Hauben der Bischöfe im alten Bilderbuch. Du nahmst Dich aber darin recht gut aus, doch mußte ich mich fast außer Atem lachen. Da weckte mich Jenny. Ich war recht böse darüber. Der Traum von dem Neujahrsgeschenk hat gewiß etwas zu bedeuten; bis Neujahr sind ja nur noch vierzehn Tage.«

Ich sagte der Polly: »Träume sind Schäume.« Sie aber sagte: »Träume kommen von Gott.«

Zwar glaube ich an so etwas nicht, doch will ich den Traum aufschreiben, um zu sehen, ob er ein tröstender Wink des Himmels war. Ein Neujahrsgeschenk wäre ja doch möglich, das uns allen wohl zu statten käme.

Den ganzen heutigen Tag habe ich gerechnet. Ich rechne nicht gern; das Rechnen und Geldwesen macht mir den Kopf wüst und das Herz leer und doch schwer.

Am 17. Dezember.

Meine Schulden sind – Gott sei Dank! – nun alle bis auf eine abgetragen. An fünf verschiedenen Orten zahlte ich sieben Pfund Sterling und elf Shilling; bleiben mir also bar zwei Pfund und neun Shilling. Damit soll ich ein halbes Jahr haushalten. Helfe mir Gott!

Die schwarzen Hosen, welche ich beim Schneider Cutbay sah, die muß ich nun wohl ungekauft lassen, obgleich ich sie dringend nötig hätte. Sie sind zwar schon getragen, aber noch gut imstande und der Preis wäre billig, aber Jenny hat einen Rock noch nötiger. Das gute Kind dauert mich, wenn ich es bei der strengen Kälte im leichten Kamelotkleide sehen muß. Polly kann mit dem Kleide zufrieden sein, das ihr die Schwester aus ihrem alten sehr künstlich zusammengestückt hat.

Auch meine Teilnahme an der Zeitung, die ich bisher mit dem Weber Westburn hielt, muß ich aufgeben. Das thut mir weh. Hier in Crekelade erfährt man sonst nichts vom Laufe der Welt. Beim Pferderennen in Newmarket gewann der Herzog von Cumberland gegen den Herzog von Grafton eine Wette von fünftausend Pfund Sterling. Es ist doch sonderbar, daß sich die Worte der Schrift immer so buchstäblich bewähren: Wer da hat, dem wird gegeben, und man kann hinzufügen, wer wenig hat, dem wird genommen. Ich muß noch fünf Pfund von meinem kargen Gehalte verlieren.

Pfui, Thomas, schon wieder murrend! Und warum? Wegen der Zeitung, die Du nicht mehr mithalten kannst? . . . Schäme Dich! Wirst es ja doch wohl von andern erfahren, ob General Paoli auf Korsika die Freiheit behaupten werde. Die Franzosen haben den Genuesen freilich Hilfstruppen zugesagt, aber Paoli hat zwanzigtausend Mann alter Soldaten.

Am 18. Dezember.

Ach, wie glücklich sind wir armen Leute doch! Um ein Spottgeld hat Jenny einen prächtigen Weiberrock bei der Trödlerin Barde gekauft und nun sitzt sie da und trennt ihn in Pollys Gesellschaft auf, um einen neuen daraus für sich zu machen. Jenny versteht das Handeln und Feilschen besser denn ich, aber man giebt ihr auch lieber nach, wenn sie so engelhaft-mild bittet. Nun ist Freude über Freude im Hause. Am Neujahrstage will Jenny zum ersten Mal im neuen Rocke erscheinen. Polly macht hundert lustige Glossen und Prophezeiungen dazu. Ich wette, der Dey von Algier hat sich nicht so sehr über das kostbare Geschenk der Venetianer gefreut, über die zwei Diamantringe, die beiden mit Brillanten besetzten Uhren, die mit Gold ausgelegten Pistolen, köstlichen Teppiche, Pferdedecken und die zwanzigtausend Zechinen bar.

Jenny meint, wir müssen uns ihren Rock am Mund absparen. Bis Neujahr wird kein Fleisch gekauft. Das ist ganz recht.

Der Weber Westburn ist ein edler Mann. Ich sagte ihm gestern die Zeitung auf, weil ich meines bisherigen Gehalts, vielleicht meiner ganzen Stelle, nicht sicher sei. Er schüttelte mir die Hand und sagte: »So halte ich mir das Blatt allein und Sie, Herr Vikar, lesen es doch mit mir!«

Man muß nur nie verzagen. Es giebt der guten Menschen in der Welt mehr als man glaubt, und unter den Armen mehr als unter den Reichen.

Abends, an demselben Tage.

Der Bäcker ist ein unfreundlicher Mann. Obgleich ich ihm nichts mehr schuldig bin, machte er doch der guten Polly, als sie das Brot holte und sie es gar klein und schlecht aufgegangen oder halb verbrannt fand, einen Zank, daß die Leute auf der Straße still standen. Dann erklärte er, er gebe nichts mehr auf Borg; wir sollten unser Brot anderswo kaufen. Polly dauerte mich. Ich hatte genug zu trösten.

Ich weiß nicht, wie die Crekelader zu allen Nachrichten kommen. Jedermann im Dorfe spricht davon, der Rektor Snart werde statt meiner einen andern Vikar anstellen. Das wäre mein Tod.

Der Fleischer sogar muß Wind davon bekommen haben, denn nicht umsonst schickte er seine Frau mit Klagen über schlechte Zeiten zu mir und ließ sagen, daß er unmöglich ferner sein Fleisch anders als gegen bare Bezahlung verkaufen könne. Die Frau war wirklich sehr höflich und konnte nicht genug sagen, wie lieb und wert wir ihr wären. Sie riet uns, zu Colswood zu gehen, um da unsern kleinen Fleischbedarf einzukaufen; er sei ein vermögenderer Mann und könne leichter auf das Geld warten. Ich mochte der guten Frau nicht sagen, wie uns dieser Wucherer vor einem Jahr behandelte, als er uns das Pfund Fleisch um einen Penny teuerer denn anderen Leuten angerechnet hatte und, da ihm sein Schwören und Fluchen nicht half und er nicht leugnen konnte, rund heraus sagte: sein Geld, wenn er es ein Jahr lang ausstehen habe, müsse verzinst werden . . . und wie er uns damit die Thür wies.

Noch besteht meine Barschaft in einundvierzig Shilling drei Pence. Wie soll das enden, wenn mir niemand mehr so viel vertraut, daß ich meine Lebensmittel am Ende eines Vierteljahrs bezahlen kann? . . . Und wenn Rektor Snart einen andern Vikar nimmt? . . . Dann bin ich mit meinen armen Kindern auf die Gasse hinausgeworfen.

Nun, Gott ist auch auf der Gasse!

Am 19. Dezember, in der Frühe.

Ich erwachte heute schon sehr früh und überlegte, was in meiner mißlichen Lage zu thun sei. Ich dachte wohl an Master Sitting, meinen reichen Vetter zu Cambridge; allein die armen Leute haben keine Vettern, nur die reichen. Brächte mir der Neujahrstag die Bischofsmütze aus Pollys Traum, wäre mir halb England verwandt.

Folgenden Brief habe ich an den hochwürdigen Herrn Doktor Snart geschrieben und heute auf die Post gegeben:

»Ich schreibe mit bangem Herzen, denn jedermann sagt, daß Eure Hochwürden einen andern Vikar statt meiner anstellen. Ich weiß nicht, ob das Gerücht Grund habe oder nur entstanden ist, weil ich einigen Personen von der Unterredung gesagt habe, die ich mit Ihnen hatte.

Dero mir anvertrautes Land habe ich mit Eifer und Treue verwaltet, Gottes Wort lauter und rein gelehrt, keine Klage über mich vernommen; selbst mein innerer Richter verurteilt mich nicht. Ich bat demütig um eine kleine Zulage zu meinem geringen Gehalte. Eure Hochwürden sprachen von Verminderung meines Lohnes, der kaum hinreicht, für mich und meine Familie die notwendigsten Bedürfnisse des Lebens zu bestreiten. Möge Ihr menschenfreundliches Herz entscheiden!

Unter Eurer Hochwürden seligem Vorgänger habe ich sechzehn, unter Ihnen anderthalb Jahre gedient. Ich bin ein Fünfziger; mein Haar beginnt grau zu werden. Ohne Bekannte, ohne Gönner, ohne Aussicht auf ein anderes Amt, ohne Kenntnis, mir auf andere Weise mein Brot zu schaffen, hängt mein und meiner Kinder Glück allein von Ihrer Gnade ab. Lassen Sie uns fallen, so bleibt uns keine andere Stütze als der Bettelstab.

Meine Töchter, allmählich erwachsen, verursachen bei aller Einschränkung größere Ausgaben. Die älteste Tochter Jenny vertritt bei der jüngern Mutterstelle und führt das Hauswesen. Wir halten keine Magd; meine Tochter ist die Magd, die Köchin, die Wäscherin, die Schneiderin, die Schusterin sogar; so wie ich der Zimmermann, der Maurer, der Schornsteinfeger, der Holzhauer, der Gärtner, Bauer und Holzträger meines Hauses bin.

Gottes Barmherzigkeit war bisher mit uns. Keines ward krank. Wir hätten keine Arznei bezahlen können.

Crekelade ist ein kleiner Ort. Meine Töchter boten sich vergebens an, für andere Haushaltungen Arbeiten zu machen, zu waschen, zu flicken, zu nähen. Selten empfingen sie eine Arbeit. Hier im Orte hilft sich jede Haushaltung selbst; niemand ist reich.

Es wäre ein herbes Schicksal, wenn ich ferner mit zwanzig Pfund Sterling im Jahre mich und die Meinigen durchbringen sollte; es wäre das Traurigste, wenn ich es mit fünfzehn Pfund versuchen müßte . . . aber ich vertraue auf Ihr Erbarmen und auf Gott, und bitte Eure Hochwürden, mich wenigstens aus der Angst reißen zu wollen.«

Nachdem ich den Brief geschrieben, warf ich mich auf die Kniee, während ihn Polly auf die Post trug, und betete um glücklichen Ausgang. Da ward es mir im Gemüt sonderbar hell und wohl. Ach, ein Wort zu Gott ist immer ein Wort von Gott! Ich kam so leicht aus meinem Kämmerlein, und war doch so schwer hineingegangen.

Jenny saß am Fenster bei der Arbeit; sie saß da mit einer Ruhe, Seligkeit und Anmut, wie ein Engel. Es strahlte von ihrem Antlitze wie Licht. Ein schwacher Sonnenblick durch das kleine Fenster verklärte das ganze Zimmer. Mir war himmlisch wohl. Ich stellte mich an's Pult und schrieb meine Predigt: Von den Freuden der Armut.

Ich predige in der Kirche ebensoviel mir selber als anderen. Und geht keiner gebessert aus der Kirche, bin ich es doch; und schöpft keine Seele Trost aus meinen Worten, schöpfe ich ihn doch. Es geht dem Geistlichen, wie dem Arzt. Er kennt die Kraft seiner Arzneien, aber nicht immer ihre Wirkungen auf die Natur aller Kranken.

An demselben Tage Vormittags.

Am Morgen erhielt ich ein Billet, das mir ein Fremder aus dem Wirtshause schickte, welcher daselbst übernachtet hatte. Der Unbekannte bat mich wegen dringender Angelegenheiten auf einen Augenblick zu sich.

Ich ging zu ihm. Es war ein hübscher junger Mann von etwa sechsundzwanzig Jahren, von edlen Gesichtszügen und vielem Anstande. Er trug einen alten, abgeschabten Überrock und Stiefel, an denen der gestrige Kot verhärtet war. Sein runder Hut, obwohl ursprünglich kostbarer als der meinige, war doch weit verdorbener und abgetragener. Der junge Mensch schien, ungeachtet seiner übelbestellten Kleidung, von gutem Hause zu sein. Er trug wenigstens ein sauberes Hemd vom feinsten Linnen, wenn es ihm nicht etwa von einer mildthätigen Hand erst verehrt worden war.

Er führte mich in ein Nebenzimmer der Wirtsstube, bat tausendmal um Entschuldigung, mich bemüht zu haben, und entdeckte mir demütig, er sei in der bittersten Verlegenheit, kenne niemand in diesem Orte, wo er gestern Abend angekommen wäre, und habe deswegen seine Zuflucht zu mir, als Geistlichen, nehmen wollen. Er wäre, setzte er hinzu, seines Standes ein Komödiant, jetzt ohne Anstellung und im Begriff, nach Manchester zu reisen. Nun aber sei er mit seinem Gelde zu Ende, so daß er nicht einmal genug habe, den Wirt völlig zu bezahlen, geschweige nach Manchester zu kommen. Demnach wende er sich in der Verzweiflung an mich. Mit zwölf Schillingen wäre ihm geholfen. Er wolle mir, wenn ich ihm den Vorschuß machen könne, das Geld, sobald er wieder bei einem Theater angenommen sein würde, ehrlich und dankbar zurückstellen. Sein Name sei John Fleetmann.

Er hätte nicht nötig gehabt, mir seine Not und Angst so ausführlich zu schildern. In den Zügen seines Gesichts lag noch mehr Kummer und Unruhe, als in seinen Worten. Allein in meinem Gesicht las er vermutlich etwas Ähnliches, denn wie er die Augen zu mir aufschlug, erschrak er und sagte:

»Wollen Sie mich hilflos lassen?«

Ich erklärte ihm nun ganz unumwunden meine Lage: daß er von mir nichts weniger als den vierten Teil meiner Baarschaft begehre, daß ich sogar in größter Ungewißheit über die fernere Dauer meines Amtes schwebe.

Plötzlich kalt und wie in sich zurückgesunken, sagte er:

»Sie rechnen einem Unglücklichen Ihr Unglück vor. Ich fordere von Ihnen nichts. Ist denn niemand anders in Crekelade, der, wenn auch keinen Reichtum, doch Mitleid hat?«

Ich sah den Herrn Fleetmann mitleidig an und schämte mich ein wenig, ihm meine böse Lage vorgestellt zu haben, um dahinter ohne Erröten hartherzig sein zu können. Zugleich sann ich umher unter meinen Crekeladern und getraute mir nicht einen zu nennen. Ich kannte ihre Herzen vielleicht zu wenig.

Dann trat ich ihm einen Schritt näher, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte:

»Herr Fleetmann, Sie thun mir leid! Haben Sie noch ein wenig Geduld! Sie wissen, wie arm ich bin. Ich will Ihnen helfen, wenn ich kann. In einer Stunde gebe ich Ihnen Bescheid.«

Ich ging nach Hause. Unterwegs dachte ich: »Sonderbar, warum der Fremde sich eben an mich zuerst wendet und der Komödiant an einen Geistlichen! Ich muß etwas in meiner Natur haben, das den Instinkt der Unglücklichen und Begehrenden magnetisch anzieht. Denn was in Not ist, spricht mich an, der doch das Wenigste zu geben hat.«

Daheim erzählte ich den Kindern, wer der Fremde sei und was er von mir begehre. Ich wollte Jennys Rat hören. Sie sagte mitleidig:

»Ich weiß, Vater, was Du denkst, darum habe ich Dir nichts zu raten.«

»Und was denke ich denn?«

»Du denkst, ich will gegen den armen Komödianten sein, wie ich wünsche, daß Gott und der Doktor Snart gegen mich sein möchten.«

Das hatte ich zwar nicht gedacht, aber ich wünschte es gedacht zu haben. Ich suchte die zwölf Schilling hervor und gab sie an Jenny, daß sie dem Reisenden die Gabe brächte.

Ich mag nicht gern das leidige Danken mit anhören, weil es mich demütigt. Undank erhöht mich. Auch wollte ich mich nicht in der Ausarbeitung meiner Predigt stören lassen.

An demselben Tage abends.

Der Komödiant ist gewiß ein guter Mensch. Als Jenny vom Wirtshause zurückgekommen war, wußte sie viel von ihm zu erzählen, nicht minder auch die Wirtin. Diese Frau hat es sogleich herausgebracht, daß ihr Gast einen leeren Beutel habe, und Jenny konnte es ihr nicht läugnen, daß ich ihm etwas Reisegeld schicke. Da mußte Jenny eine lange Strafpredigt anhören über den Leichtsinn des Gebens, wenn man selbst nichts habe; über die Gefahr, Landstreicher zu unterstützen, wenn man die eigenen Kinder nicht kleiden könne; das Hemd sei näher, als der Rock; selber essen mache satt u. s. w.

Ich war eben wieder an meiner Predigt, als Herr Fleetmann hereintrat. Er wollte, sagte er Crekelade nicht verlassen, ohne seinem Wohltäter zu danken, durch welchen er aus der peinlichsten Verlegenheit gerissen sei.

Jenny war daran, den Tisch zu decken. Wir hatten Rüben und einen Eierkuchen. Ich lud den Reisenden ein, mit uns zu Mittag zu essen; er schlug es nicht aus. Er mochte es wohl nötig haben, denn er hatte sich im Wirtshause an seinem Frühstück schwerlich satt gegessen. Polly mußte Bier holen. Wir hatten lange nicht so gut gelebt.

Herr Fleetmann schien sich bei uns zu gefallen; er hatte sein voriges Kummergesicht ganz verloren, doch blieb ihm das, unglücklichen Leuten eigene, schüchterne, verlegene Wesen. Er meinte, wir wären sehr glücklich, und das bestätigten wir auch; daß ich aber wohlhabender und reicher sei, als ich zu sein das Ansehen haben wollte, darin irrte er sich. Ohne Zweifel täuschte den guten Menschen die Ordnung und Reinlichkeit unserer Zimmer, die Klarheit der Fenster, die Sauberkeit der Vorhänge, des Tischgeräts, des Fußbodens, der Firniß unserer Tische und Stühle. In den Hütten der Armut pflegt man gewöhnlich den Unflath überall zu sehen, weil arme Leute nicht zu sparen wissen. Ordnung und Reinlichkeit aber, das predigte ich meiner seligen Frau und meinen Töchtern immer, sind die ersten aller Sparmittel. Jenny ist darin Meisterin.

Unser Gast war mit uns allen bald sehr bekannt und traulich; doch sprach er weniger von seinem, als von unserm Schicksale. Der arme Mensch muß einen schweren Kummer auf dem Herzen haben, ich will nicht glauben, auf seinem Gewissen. Ich bemerkte, daß er oft plötzlich im Gespräch abbrach und sich verfinsterte, dann sich anstrengte, wieder heiter zu sein.

Seine letzten Worte waren: »Es ist unmöglich, Ihnen kann es in dieser Welt nicht übel gehen; Sie haben den Himmel in der Brust und zwei Engel Gottes neben sich.«

Bei den letzten Worten deutete er auf Polly und Jenny.

Am 20. Dezember.

Der Tag verstrich sehr ruhig, doch kann ich nicht sagen, angenehm. denn der Krämer Loster schickte mir die Jahresrechnung. Sie war für die bei ihm genommenen Waren größer, als wir erwartet hatten, obgleich wir nichts genommen, was nicht auch von uns aufschrieben worden wäre. Allein er hatte bei allen Artikeln im Preise aufgeschlagen; sonst traf seine Rechnung redlich mit der unsrigen zusammen.

Das schlimmste ist der Rückstand meiner Schuld vom vorigen Jahre bei ihm. Er bat um Zahlung derselben, weil er in größter Geldverlegenheit sei. Die Gesamtsumme aber betrug achtzehn Schilling.

Ich begab mich zu Herrn Loster. Es ist ein sehr höflicher und billiger Mann. Ich hoffte ihn mit einer Zahlung auf Rechnung zu beruhigen und versprach den Rest auf Ostern abzutragen. Er war aber nicht zu bewegen und bedauerte, daß ihn die Not zwingen könne, zu den äußersten Mitteln zu greifen. Wenn er es vermöchte, würde er gerne warten; allein binnen drei Tagen habe er einen Wechsel, der auf ihn ausgestellt sei, zu zahlen. Einem Kaufmanne gehe der Kredit über alles.

Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden, nachdem meine wiederholten Bitten eitel gewesen waren. Hätte ich es sollen gegen mich zu richterlicher Beitreibung kommen lassen, wie er drohte? Ich schickte ihm das Geld und zahlte ihm die ganze Schuld ab. Nun aber ist auch mein ganzes Vermögen auf elf Schilling herabgeschmolzen. Gebe der Himmel, daß mir der Komödiant den Vorschuß bald zurückschicke; sonst weiß ich nicht, wie mir helfen!

Am 24. Dezember.

Man kann doch auch beim wenigsten recht froh sein. Wir haben tausend Freuden an Jennys neuem Rock. Sie steht darin, schön wie eine Braut. Aber sie will ihn erst zum Neujahrstage das erstemal öffentlich in der Kirche tragen.

Sie rechnet mir jeden Abend vor, mit wie geringen Unkosten sie den Tag die Haushaltung bestritten hat. Freilich müssen wir schon abends sieben Uhr ins Bett, um Lampenöl und Kohlen zu sparen. Daran liegt auch nicht viel. Die Mädchen sind am Tage desto fleißiger und plaudern im Bette bis Mitternacht. Wir haben von Rüben und Gemüse schönen Vorrat. Jenny meint, sechs bis acht Wochen wolle sie uns durchhelfen, ohne Schulden zu machen. Das wäre nun wohl ein Kunststück ohne gleichen, und bis dahin hoffen wir alle, werde Herr Fleetmann als ehrlicher Mann Wort halten und mein Darlehn zurückzahlen. Wenn ich zu der Hoffnung eine bedenkliche Miene mache, kann Jenny wahrhaftig in Eifer geraten. Sie läßt auf den Komödianten nichts kommen.

Er ist unser Gespräch; besonders machen sich die beiden Mädchen mit ihm zu schaffen. Seine Erscheinung brachte in die Einförmigkeit unseres Lebens etwas neues, ein halbes Jahr lang giebt er uns wohl zur Unterhaltung Stoff. Lustig ist besonders Jennys Zorn, wenn die mutwillige Polly sagt: »Aber er ist ein Komödiant!« Dann erzählt Jenny von den berühmten Schauspielern in London, die sogar bei den Prinzen des königlichen Hauses essen dürfen, und will sogar beweisen, Fleetmann werde einer der besten Schauspieler von der Welt werden. Er habe große Anlagen, vielen Anstand und wohlgewählte Redensarten. »Ja freilich,« sagte die schelmische Polly heute sehr witzig, »schöne Redensarten! Er hat Dich ja einen Engel Gottes genannt.«

»Und Dich auch!« rief Jenny ärgerlich.

»Ganz gut: ich ging mit in den Kauf,« erwiderte ihr Polly, »aber Dich sah er dazu an.«

Die Plaudereien und kindischen Neckereien meiner Kinder erwecken mir doch Besorgnis. Polly wächst heran, Jenny ist achtzehnjährig. Welche Aussichten habe ich, die armen Kinder versorgt zu sehen? Jenny ist ein wohlerzogenes, hübsches Mädchen, aber ganz Crekelade kennt unsere Armut; daher sind wir wenig geachtet und es wird sich schwerlich ein Mann für Jenny finden. Ein Engel ohne Geld ist heutiges Tages nicht halb so viel wert, als ein Teufel mit einem Sack von Guineen. Das einzige hat Jenny von ihrem zarten Gesicht, es sieht sie jedermann freundlicher an. Hat ihr doch sogar der Krämer Loster, als sie ihm das Geld brachte, ein Pfund Rosinen und Mandeln zum Geschenk gegeben und die Versicherung, er bedaure sehr, von mir das Geld nehmen zu müssen; aber er wolle mir wieder, wenn ich bei ihm Ware nehme, bis Ostern kreditieren. So viel versprach er mir selbst nicht einmal.

Wenn ich mit Tode abginge, wer würde sich meiner verlassenen Kinder annehmen? Wer? . . . Nun doch ihr Vater im Himmel! Sie sind zum Glück soweit, daß sie irgendwo in Dienst treten können. Ich will mich nicht um das Künftige härmen.

Am 26. Dezember.

Das waren zwei saure Tage Das Weihnachtsfest ist mir noch nie so schwer geworden. Ich hielt meine zwei Predigten in zwei Tagen fünfmal, in vier verschiedenen Kirchen. Der Weg in die Dörfer war abscheulich, Wind und Wetter fürchterlich. Das Alter läßt sich allmälich in mir verspüren. Es geht nicht mehr so frisch und kräftig wie ehemals. Freilich, Kohl und Rüben täglich, mager geschmalzt . . . das Glas frischen Wassers dazu . . . geben nicht viel Nahrung.

Ich habe aber beide Tage beim Pächter Hurst zu Mittag gespeist. Die Leute sind doch auf dem Lande bei weitem gastfreundlicher, als hier im Städtchen, wo seit einem halben Jahre niemand daran gedacht hat, mich zu sich einzuladen.

Ach, hätte ich meine Töchter bei mir am Tische haben dürfen! Welch ein Überfluß! Hätten sie am Weihnachtsfeste nur haben können, was von dem Überreste der Mahlzeit des Pächters Hunde bekamen! Nun, sie haben ja doch am Ende noch Kuchen bekommen und ergötzen sich jetzt, während ich schreibe, recht herrlich daran. Es war gut, daß ich den Mut hatte, als mir der Pächter und seine Frau noch mehr zu essen aufdrangen, ihnen zu sagen: wenn sie es erlauben wollten, möchte ich meinen Töchtern das Schnittchen Kuchen mitbringen. Die herzensguten Leute packten mir ein Säckchen voll und ließen mich, weil es erbärmlich regnete, in ihrem Wagen nach Crekelade fahren.

Am Essen und Trinken ist zwar im grunde wenig gelegen, wenn man nur hat, den Hunger und Durst notdürftig zu stillen, doch läßt sich nicht läugnen, daß auch die behagliche Pflege des Leibes eine angenehme Sache ist. Man denkt klarer, man fühlt wärmer.

Ich bin sehr müde. Meine Gespräche mit dem Pächter Hurst waren merkwürdig, ich will sie morgen anschreiben.

Am 27. Dezember.

Da haben wir nun die volle Freude erlebt . . . aber man muß sich auch in der Freude mäßigen. Die Mädchen müssen das auch lernen und sich darin üben. Darum lege ich das angekommene Geldpäckchen unentsiegelt hin, das mir der Herr Fleetmann schickt. Ich mache es nicht auf, bis nach dem Mittagessen.

Meine Töchter sind Evenstöchter; sie sterben bald vor Neugier, zu wissen, was Herr Fleetmann schreibt. Nun lesen sie die Aufschrift und das Päckchen läuft in einer Minute dreimal von der Hand der einen in die der andern.

In der That, ich bin mehr bestürzt, als erfreut. Ich habe Herrn Fleetmann nicht mehr als zwölf Schilling geliehen und er schickt mir fünf Pfund Sterling zurück. Gott sei Dank! Er muß eine gute Anstellung haben.

Wie doch Freud' und Leid wechseln! . . . Ich war diesen Morgen zum Alderman, Herrn Fieldson, gegangen, weil man mir gestern als Gewißheit erzählt hatte, der Fuhrmann Brook zu Wotton-Basset habe sich Schulden halber um's Leben gebracht. Ich hatte ihm vor elf oder zwölf Jahren wegen weitläufiger Verwandtschaft mit meiner seligen Frau um hundert Pfund Sterling bei einem Kauf, den er gemacht, Bürgschaft leisten müssen. Nun habe ich die Bürgschaft noch nicht zurück. Der Mann hat in den letzten Jahren viel Unglück gehabt und sich dem Trunk ergeben.

Der Herr Aldermann beruhigte mich aber sehr. Er sagte, daß er zwar auch von dem bösen Gerüchte vernommen, doch sei es sehr unwahrscheinlich, daß sich Brook entleibt habe, auch wäre noch keine Nachricht eingelaufen. So ging ich getrost nach Hause und betete unterwegs, Gott solle mir ferner gnädig sein.

Da sprang mir Polly schon von weitem auf der Straße entgegen und sagte ganz atemlos: »Ein Brief von Herrn Fleetmann, Vater, mit fünf Pfund Sterling! Das Päckchen hat aber auch sieben Pence gekostet.«

Jenny überreichte mir mit feuerrotem Angesicht das Geldpäckchen, ehe ich noch Stock und Hut ablegen konnte, die Kinder waren vor lauter Seligkeit halb närrisch. Da schob ich ihre Messer und Scheren zurück und sagte:

»Nun sehet Ihr wohl, Kinder, daß es weit schwerer ist, eine große Freude mit Gleichmut und Gelassenheit zu ertragen, als ein großes Übel. Ich habe Euern Frohsinn oft bewundert, wenn wir in der tiefsten Not lebten und nicht wußten, wovon wir uns den andern Tag ernähren sollten. Nun seid Ihr beim ersten Lächeln des Glückes ganz außer Fassung. Zur Strafe öffne ich das Päckchen und den Brief erst nach dem Mittagessen.«

Jenny wollte mir zwar behaupten, sie freue sich nicht sowohl über das viele Geld, ob es uns gleich not thue, als über Herrn Fleetmanns außerordentliche Dankbarkeit, über seine Rechtschaffenheit; sie wünsche nur zu wissen, was er schreibe, wie es ihm ergangen sei. Ich blieb bei meinem Ausspruche: die kleine Neugier soll sich in Geduld üben lernen.

An demselben Tage abends.

Die Lust hat sich in Traurigkeit verwandelt; der Brief mit dem Gelde kam nicht von Herrn Fleetmann, sondern vom Herrn Doktor Snart. Er kündigte mir laut unseres bestehenden Vertrages, als Antwort auf meinen Brief, meine Stelle bis Ostern auf, womit unsere Rechnung für immer abgethan sei. Er meldete, ich könne mich bis dahin nach einer anderen Versorgung umsehen und er habe deswegen mir nicht nur das Gehalt zu etwaigen Reisen vorausbezahlt, sondern auch dem neuen Vikar, als meinem Nachfolger befohlen, falls ich nichts dawider hätte, meine kirchlichen Verrichtungen zu besorgen.

Also war das Geschwätz der Leute hier im Flecken doch nicht ungegründet, und so mag auch wahr sein, daß man sagt, der neue Vikar habe seine Anstellung darum so geschwind erhalten, weil er eine nahe Verwandte des Doktors Snart, die, man wisse nicht von wem, schwanger sei, geheiratet habe. So verliere ich denn Amt und Brot wegen des Leichtsinnes eines Mädchens und werde mit meinen armen Kindern auf die Straße getrieben, weil sich ein Mann gefunden, der meine Stelle mit einer Ehrvergessenheit erkaufen konnte.

Jenny und Polly wurden totenbleich, als sie statt Herrn Fleetmann den Rektor reden hörten und im Päckchen statt des reichen Geschenks der Erkenntlichkeit den bittern, letzten Gnadenlohn meiner vieljährigen Amtsgeschäfte fanden. Polly warf sich schluchzend auf den Stuhl und Jenny ging hinaus. Meine Hand, in der ich den Brief und die förmliche Entlassung hielt, zitterte. Ich aber ging in mein Kämmerlein, schloß es hinter mir zu, fiel auf meine Kniee und betete, während Polly laut weinte.

Ich stand erquickt und beruhigt vom Gebete auf und nahm die Bibel. Und die ersten Worte, welche mir in die Augen fielen, waren: »Fürchte Dich nicht, denn ich habe Dich erlöset; ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen; Du bist mein!« Jesaias, Kap. 43, V. 1.

Da verschwand alle Furcht aus meiner Brust; ich sah empor und sagte: »Ja, Herr, ich bin Dein!«

Weil ich Polly nicht mehr weinen hörte, ging ich in die Stube zurück. Da ich aber sah, daß sie auf den Knieen lag, betend, ihre gefalteten Hände auf den Stuhl gesetzt, zog ich mich wieder zurück ins Kämmerchen und machte die Thür leise zu, um die liebe Seele ja nicht zu stören.

Nach einiger Zeit hörte ich Jenny kommen. Nun begab ich mich zu meinen Töchtern; sie saßen beide am Fenster; ich sah an Jennys verweinten Augen, daß sie ihrem Schmerz in der Einsamkeit Luft gemacht hatte. Sie blickten beide schüchtern zu mir auf. Ich glaube, sie fürchteten sich, in meinem Gesichte eine Spur der Verzweiflung wahrzunehmen. Wie sie aber sahen, daß ich ganz getrost und heiter kam und sie lächelnd anredete, wurden beide wohlgemut. Ich nahm den Brief und das Geld, indem ich dazu ein Liedchen pfiff, und trug es in mein Pult. Sie sprachen den ganzen Tag kein Wort von der Begebenheit, ich mochte sie auch nicht berühren. Bei ihnen war es ein schonendes Zartgefühl; bei mir Furcht, mich vor meinen Kindern schwach zu zeigen.


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