Heinrich Zschokke
Der Flüchtling im Jura
Heinrich Zschokke

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7.
Die Kette.

Florian eilte dem Wagen nach. Der Morgen war frisch und anmuthig, die Gegend ihm neu, sein Herz voll. Er ging langsamer, um sein Glück so recht zu genießen; denn mit solcher Herzlichkeit und Zutraulichkeit, wie Georg und dessen Vater, war ihm Niemand in Bünden begegnet. Er hatte im heimathlichen Thale wohl Umgang mit Jagdgenossen und alten Spielgefährten gehabt; doch keiner von allen hätte sich ihm, er sich keinem so offen hingegeben, wie es hier geschehen war. Dort hatten Partei- und Familien-Zerwürfnisse das Reinste befleckt und in das Leben eine gewisse Gezwungenheit hineingetragen; dort hatte er in der Freundschaft Vorsicht und beim vollen Becher kalte Ueberlegung beobachten müssen; hier hingegen fand er eine Welt, wo man mehr mit dem Herzen, als mit dem berechnenden Verstande lebte.

In der stillen Freude wurde sein Gang ein tanzendes Schweben durch die grünen Wiesen zu beiden Seiten, die sich rechts und links bis auf lang ausgedehnte Höhen erhoben; hin und wieder von vereinzelten ländlichen Wohnungen mit Gärten belebt, alle in der Bauart von Staffard's Hause. Die Höhen rechts und links zogen sich bald vor ihm zusammen und schlossen das Thal. Er stieg an ihnen hinauf; es war ihm ein Weg, wie zum Himmel.

Auf der Bergstraße kam ihm eine lange Reihe einspänniger Güterfuhren entgegen, jedes Pferdes Kummet, nach Landessitte, mit einer Decke von blaugefärbten Schaffellen behangen, die Fuhrleute mit Gesang nebenher schreitend. Von droben, wo die zerstreuten Kühe am Rande des Tannenwaldes weideten, tönte der Klang ihrer Geläute anmuthig hernieder. Kleine Hirtenknaben jauchzten und liefen schwankend auf den niedern Mauern, welche, ohne Mörtel, nur von künstlich geschichteten Rollsteinen erbaut, die weiten Triften umhägten. Alles in dieser lieblichen Wildniß, von deren Höhe man rechts die zerstreuten Hütten der Bayards, vor sich das Thal von Verrieres sah, schien dem Flüchtling reizender, als Alles, was er je in der ganzen Schweiz Paradiesisches erblickt hatte. Alle Welt schien hier mit ihrem Loose zufriedener, Alle frommer, Alle glücklicher.

Nachdem er auf der Höhe, links der Landstraße, an einem Bauernhofe vorübergegangen war, erblickte er abermals Fels und Wald vor sich zusammentreten, als würde ihm der Ausweg verrammelt. Als sich jedoch das Gebirge zu einer Schlucht öffnete, breit genug, die Straße hindurchlaufen zu lassen, wurde er in derselben zwei weißgekleidete junge Mädchen gewahr, welche ihn zu beobachten und sich lachend von ihm zu unterhalten schienen.

So ernst auch, als er näher trat, beide gern werden wollten, konnte sich eines der Mädchen zuletzt des lauten Gelächters nicht erwehren; die andere verbarg ihr Gesicht unter dem breiten Strohhut. Sie standen neben einer ungeheuern eisernen Kette, die, links an den Felsen festgeschmiedet, in einen schmalen Graben niederhing und vor Zeiten bestimmt gewesen sein mochte, das Thal zu verschließen.

Verzeihen Sie, sagte die schöne Lacherin, indem sie sich gegen Florian anmuthig neigte; verzeihen Sie, daß ich Ihre männliche Kraft in Anspruch nehmen möchte, um mit der Kette hier das Land zuzusperren. Sehen Sie, meine liebe Freundin droht, unser Thal zu verlassen; aber, gleichviel ob Scherz oder Ernst, sie gab doch das Wort zu bleiben, wenn ich den Ausgang mit der Kette verschließen würde. Ich armes Kind, ich mühte mich vergebens; da sandte Sie der Himmel. Helfen Sie mir! Doch ich fürchte, man muß zu der Riesenkette Riesen haben, denn ich kann nicht zwei Ringe derselben in die Höhe heben.

Um den Preis, in Ihnen eine Freundin zu erhalten, kann ich zum Riesen werden, sagte Florian, ergriff die rasselnden, großen Ringe, gab der Lachenden das Außenende in die kleine, zarte Hand, und spannte die Kette über die Straße.

Ich habe gesiegt, ich habe gewonnen, Hermione! rief die frohe Lacherin, klatschte in die Hände und tanzte, wie eine lustige Sylphide, vor der Kette; Dein Wort muß Dich nun stärker fesseln, als diese Bande, die kein Gigant sprengen würde.

Die überwundene Hermione erhob ihr Köpfchen und sah zur Kette und zu dem herüber, der sie wie einen leichten Faden hielt; betroffen und starr sah sie den Fremdling an, und eine Röthe, wie der Abglanz eines brennenden Abendrothes, überflog ihr feines, geistvolles Antlitz.

Auch Florian war wie verzaubert von der Jungfrau, welche in holder Verwirrung vor seinem Auge stand. Er wußte nicht, ob sie ihm irgend schon einmal begegnet, oder aus Träumen zum Leben gekommen war.

Du hast gesiegt, Mädchen! sagte Hermione mit leiser, anmuthvoller Stimme; aber nicht durch eigene Stärke.

Ich bin stolz, Fräulein! Ihnen zu solchem Siege verholfen zu haben, sagte Florian, denn Besseres hat diese Kette seit Jahrhunderten nicht an dieses glückliche Land gebunden.

Dem Sieger rechnet man nie die Mittel nach; rief die Fröhliche, indem sie ihren Arm um Hermione schlang; Du bist meine Gefangene, und Ihnen, mein Herr! danke ich für die theure Beute.

In diesem Augenblick rollte ein leichter Reisewagen herbei und hielt vor der Kette. Die beiden Mädchen, von Florian unterstützt, stiegen ein. Ach, sagte er leise, und sein Ton klang wie ein Seufzer, nun erst sollte ich die Kette spannen; mir bleibt von der Beute nichts, als die Erinnerung.

Sie sind großmüthig! rief die Siegesfrohe mit einem verbindlichen Neigen. Hermione blieb stumm, heftete jedoch auf Florian einen langen, sinnigen Blick, den sie, sobald er seine Augen zu ihr wandte, schnell und verschämt zurück wendete. Der Reisewagen fuhr davon, den Berg hinab. Florian sah ihm lange nach, bis er hinter Gebüschen und Felsen verschwand.

Mein Gott! es ist keine Andere, sie ist's selbst! ausrufend, versank er in ein stilles Sinnen und seufzte: sie ist's selbst; – er meinte Hermione. Er erinnerte sich, in seinem bündnischen Vaterlande diese Gestalt, dieses Madonnenantlitz, von hellkastanienbraunen Locken umschattet, gesehen zu haben. Auf der oberen Terrasse im Schloßgarten von Reichenau war es gewesen, von wo einst eine Gesellschaft französischer Stabsoffiziere und einige Frauen das Zusammenströmen des vorderen und hinteren Rheins am Fuße der Felsen, betrachtet hatten. Dort mußte er den wißbegierigen Fremdlingen die Namen der Gebirge und Ortschaften nennen, während die Frauen aufmerksam horchten: den wilden, felsigen Kalanda rechts; das von feinen Obstbäumen beschattete Tamins auf der Höhe unter den Felswänden; die Hütten von Bonaduz im Hintergrunde einer weiten Wiese, und weiterhin, gegen die finstern Bergschlünde, aus denen die schwarzgrauen Rheinwellen hervorrollen, die alterthümlichen Mauern der Burg Rhäzüns. Noch waren seitdem kaum drei Monate verflossen.

Er hatte damals Hermione nicht gesprochen, nicht sprechen hören; nur gesehen hatte er sie, in winterliche Reisekleider gewickelt, der halbverhüllten Schönheit einer aufbrechenden Moosrose ähnlich. Als sie damals mit ihren Begleitern schnell abreiste, doch sich noch einmal umwandte und zu ihm aufsah, durchschauerte ihn ihr Blick. Er fühlte, daß an dieser Wundergestalt seine Ruhe verloren gehen müsse, wenn er sie öfter sehen sollte. Es zog ihn oftmals, seine Heimath zu verlassen, eine Reise nach Reichenau und die Stadt Chur zu machen, wo er sie, wenn auch nur aus der Ferne, wenn auch nur flüchtig, doch noch einmal zu erblicken hoffte – er machte aber vergebliche Wanderungen. Bei der Heimkehr war er jedesmal in den Schloßgarten gegangen, und hatte sich auf der Stelle des Rasens niedergelegt, den ihr Fußtritt geweiht hatte. Er wußte selbst nicht, war sein Herz oder seine Einbildungskraft krank geworden. Er hatte sich um seine geheime Thorheit Vorwürfe gemacht, und doch war ihm diese Thorheit lieb gewesen.

Gewiß, sie ist's, seufzte er, verließ die Kette und setzte unruhig und bewegt seine Wanderung fort, den Berg auf der andern Seite abwärts; wie spielt sie mir der Zufall wieder zu und doch so hartherzig, nur auf einen Augenblick. Da eilt sie hin und ahnet nichts von den Gefühlen, die sie mir erregt hat. Sie geht in ihr Vaterland zurück, in's nahe Frankreich.

Am Fuße des Berges, vor dem freundlichen städtischen Flecken St. Sulpice, fand er seinen Wagen wartend und setzte sich hinein. Die Lieblichkeit des vom Gebirg eng umzäunten Thales zerstreute ihn nicht; nicht die heitere Umgebung von Motiers, wo rechts, auf umbüschtem Hügel, die Ruinen der Burg Chatelard trauern. Erst nach einigen Stunden, da der Kutscher Mittags im Dorfe Travers anhielt, erwachte er aus seinen Träumereien.

Während er hier auf der hölzernen Bank vor dem Wirthshause saß und den Spielen der Kinder in einer gegenüber gelegenen Scheune zusah, erblickte er seitwärts eine lange weibliche Gestalt, die aus der Werkstätte des benachbarten Schmiedes hervortrat und den Weg zum Dorfe hinaus wählte, welchen er eben gekommen war. Obgleich er sie nur von hinten und in der Ferne sah, erkannte er doch an der ungewöhnlichen Größe des Weibes, an den schnellen, weitgestreckten Schritten und dem Krückstock in der Hand diejenige, welche ihm auf dem Gipfel des Gros-Taureau erschienen war.


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