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In einem tiefen Thale an hohem Felsen liegt im schweizerischen Kanton Waadt ein altes, kleines, doch wohlgebautes Städtchen mit einem freiherrlichen Schlosse. Das Städtchen heißt La Sarraz. Hier lebt ein gutmütiges, frohes Völkchen, und ist es nicht durch seine Reichtümer oder Altertümer, durch seine Wissenschaft oder Trauben berühmt, so ist es doch durch die Treue und Freundschaft unter sich und mit den Nachbarn, wenigstens ehemals, im besten Rufe gewesen.
Einen Beweis geben zwei kleine, artige Knaben, Cugny und Olivier.
Cugny war der jüngste Sohn eines armen, alten Mannes, der unweit des Städtchens in einer Bauernhütte unter seinem Strohdache vergnügt lebte. In Cugnys Hause herrschte jederzeit die beste Ordnung, die größte Eintracht, die strengste Arbeitsamkeit. Selbst der jüngste Sohn mußte schon Geld verdienen und zur Bestreitung häuslicher Bedürfnisse beitragen. Aber der alte Vater hatte an diesem jüngsten wenig Freude, denn er war ein kleiner Bube, der tausend tolle Streiche machte, zu denen es jeden Tag Gelegenheit gab. Freilich wurde der kleine Taugenichts dafür tüchtig gezüchtigt, allein was half's? Die Strafen des Abends waren am nächsten Morgen jedesmal richtig verschlafen und vergessen.
Dabei fehlte es jedoch dem kleinen quecksilbernen Jungen nicht an liebenswürdigen Eigenschaften. Er war nicht nur ein schöner Knabe, den die Dichter seiner Zeit, wäre er ihnen als Prinz und nicht im Zwillichkittel und barfuß erschienen, ohne Umstände mit einem Ganymed oder Liebesgott verglichen haben würden; sondern er hatte auch die Gabe, sich, wenn er wollte, jedem angenehm zu machen.
Der Schullehrer hielt viel auf ihn, denn keiner seiner Schüler schrieb eine so zierliche Hand, las mit so lebendigem Ausdruck, rechnete so fertig. Der Lehrer hatte sogar dem alten Cugny einmal gesagt. »Euer Knabe sollte nach Lausanne auf die hohe Schule; der versteht beinahe schon so viel als ich. Der sollte Pfarrer werden!« Der Alte hingegen zuckte die Achseln und sagte: »Wir Bauern brauchen auch gute Köpfe, und eher als die Reichen, denn wenn diese keinen Kopf haben, setzen sie den Geldsack zwischen ihre Schultern. Das können wir armen Leute nicht.«
Der kleine Cugny mußte also trotz seiner Liebenswürdigkeit und seiner vom Lehrer gepriesenen Geistesgaben die Ziegen hüten. Das that er nun auch und hätte es wohl besser thun können, wenn ihm nicht das Amt zu langweilig gewesen wäre. Er legte indessen so viel Anmut hinein und suchte so viel Kurzweil darin, als er konnte.
Als um dieselbe Zeit ein Vetter ins Land zurückkam, der sich im Kriegsdienste bis zur Würde eines Feldwebels emporgeschwungen und gute Beute gemacht hatte, änderte sich alles, denn der alte Schnurrbart brachte den Winter in Cugnys Hause zu und erzählte jeden Abend von seinen und des Marschalls Guebriant Heldenthaten, unter dessen Fahnen er gefochten.
Da hörte man von Gustav Adolf, dem Schwedenkönig; von Bernhard von Weimar, von Tilly, Pappenheim und Wallenstein; da von den Schlachten bei Lützen und Wittstock, von der Zerstörung Magdeburgs und dergleichen. Der Kriegsmann erzählte so lebendig, daß man die Schlachtfelder, die Heere, die Helden vor Augen sah und den Donner des Geschützes sehr deutlich hörte. Er zeichnete die Schlachtordnungen auf den Tisch und schwur und fluchte dazwischen, daß allen Menschen angst und bange wurde.
Keiner im Hause horchte aufmerksamer als Cugny, dem kein Wort, keine Geschichte einer Schlacht, kein Name entging oder seinem Gedächtnisse entschlüpfte.
Sobald das Frühjahr kam und er wieder zum Ziegenhirten ernannt wurde, sah er diese Ernennung als Feldhauptmanns-Installation an und erhob auf der Stelle seinen Hund, der im vorigen Jahre bei der Herde nur Küsterdienste verrichtet hatte, zum Generaladjutanten. So zog er aus, immerdar siegreich. Er eroberte viele Thäler, Hügel und Wälder und hatte beinahe, wie Wallenstein, der Ehrgeizige, Lust, die Eroberungen wie sein Eigentum zu betrachten und sich zum Herzog von La Sarraz zu machen.
Eines Tages, als er unweit des Städtchens beim Steinbruch auf einem Marmorblocke saß und, während die Armee im Freien lag, auf Belagerung und Eroberung des schroffen Felsens sann, an welchem einige Ziegen rekognoszierend emporkletterten, vernahm er auf der Felshöhe das klägliche Geschrei von Kindern, die um Hilfe riefen.
Alsbald wurde beschlossen, die Festung mit Sturm zu nehmen und die Gefangenen droben zu befreien. Der Generaladjutant vereinigte bellend die ganze gehörnte Kriegsmacht; der Felsen wurde von der Seite erstiegen, erobert und den Rufenden Hilfe gebracht.
Es waren ein paar Kinder aus dem Städtchen: ein Knabe, Samens Olivier, ungefähr fünfzehn Jahre alt, und ein Mädchen von acht Jahren, das Helene hieß.
Die beiden, Kinder angesehener Leute in La Sarraz, des Kletterns ungewohnt, hatten sich auf dem Berge im Spazierengehen verlaufen und verirrt. Um wieder herabzukommen, waren sie zwischen Felsen und Klippen niedergestiegen, bis sie einen schauerlichen Abgrund vor sich erblickten und nicht weiter konnten.
Der kleine barfüßige Feldmarschall nahm sich ihrer sehr dienstfertig an, zog beide über die Klippen zurück, zeigte ihnen durch sein Vorschreiten, wo sie festen Fuß fassen könnten, brachte sie glücklich auf die Bergebene und von da auch glücklich ins Thal hinab.
Die Geretteten wußten nicht, was sie ihrem Erlöser alles Schönes aus Dankbarkeit sagen sollten, und bald war unter ihnen Freundschaft geschlossen.
Cugny erzählte von seinen Schlachten, Siegen und Eroberungen. Dem kleinen Olivier war das schon recht. Er nahm sofort eine Stelle bei der Armee an, die Cugny sogleich in zwei Hälften teilte. Dieser behielt den Oberbefehl über die eine, Olivier wurde der andere Anführer, als Feind gegen Cugny. Helene aber mußte sich gefallen lassen, bald bei dem einen, bald bei dem andern Heere als Marketenderin zu dienen. Man verteilte das Gebiet von La Sarraz; man setzte Regeln fest, und das Spiel gefiel allen so wohl, daß man einander versprach, den folgenden Tag wieder zusammenzutreffen.
Olivier, ein lebhafter Knabe, hatte für das Soldatenwesen und Kriegführen nicht minder Neigung, als Cugny. Beide, obwohl sie bei ihren Heeren immer als Feinde gegen einander standen, schlossen dabei unvermerkt die allerinnigste Freundschaft. Tag für Tag, so oft Olivier aus dem väterlichen Hause oder von der Schule abkommen konnte, war er bei seinem Cugny, und ihre gemeinschaftliche Freundin Helene erschien die Woche wenigstens ein paarmal mit Brot, Kastanien und einem Fläschchen Wasser, die Rolle der Zeltkrämerin zu spielen. Mit Olivier kam sie zwar, erhielt auch bei ihm gewöhnlich ihre Anstellung, denn beide waren Nachbarskinder, allein am Ende des Spieles stand sie gewöhnlich als Kriegsgefangene bei Cugny, und es schien beinahe, als ließe sie sich gern von ihm gefangen nehmen.
Darüber gab es denn zuweilen gegenseitige Vorwürfe, doch entzweiten sich Cugny und Olivier um ihre Helene nie, aber Olivier zankte desto öfter mit dieser, daß sie sich von dem Paris so oft fangen ließe. Helene hatte nun zwar ihren Mitbürger und Nachbar recht lieb, er war in der That ein artiger Knabe und hatte den wichtigen Vorzug, daß er hübscher gekleidet war, als Cugny.
Indessen hatte das kleine Mädchen doch bemerkt, daß die Natur den schwarzlockigen Cugny noch weit zierlicher geschmückt habe, als irgend ein Schneider jemanden schmücken könne.
Unter Krieg und Liebe, Zank und Versöhnung verstrich der Sommer und Herbst, und bald sollte der Winter die Feldzüge auf immer enden.
Noch ehe aber der Winter kam, setzte sich Olivier eines Tages zu Cugny und sagte mit wichtiger Miene:
»Anno 1644. haben wir mit Ziegen Krieg geführt; Anno 1645 aber wird's Ernst. Denke nur, Cugny, mein Vater hat diesen Morgen einen Brief von meinem Oheim, dem Obersten bei der kaiserlichen Armee, bekommen und die Zusage darin, daß, wenn ich im Frühling zur Armee komme, soll ich als Unterleutnant angestellt werden! Ich bin im Frühjahr sechzehn Jahre alt, mein Vater will mich nicht länger in La Sarraz lassen; er meint, hier würde aus mir nichts als ein Ziegenhirt. Freust Du Dich nicht?«
»Warum denn?« sagte Cugny und ließ das Köpfchen hängen.
»Ei, daß ich Soldat, daß ich Leutnant werde! Es ist Krieg. Ich bringe es bald zum Hauptmann und Oberstwachtmeister. Du sollst noch von mir hören! . . . Ja, Wunderdinge sollst Du von mir hören, das sage ich Dir!«
»Nun ja, Olivier, das glaub' ich, und es freut mich Deinetwegen, obgleich ich bitterlich weinen möchte! Denn bist Du fort, bin ich ganz verlassen, und wen hab' ich, wenn Du, lieber Freund, mir fehlst?«
»Glaube, Cugny, es thut mir auch weh', Dich zu verlassen! Allein Du hast ja doch künftigen Sommer noch Helenen. Das Mädchen hat viel Kopf, Du kannst ihr Deine halbe Armee geben.«
»Was denkst Du auch, Olivier? Ich führe mit keinem Mädchen Krieg. Ohnedies wird sie nicht mehr kommen, wenn Du fort bist, und wird eine Stadtjungfer werden, die sich um unsereins wenig bekümmert.«
»Sei nur ruhig, Cugny, und weine nicht. In ein paar Jahren komme ich zum Besuch wieder nach La Sarraz. Da sollst Du Deinen Augen nicht trauen, wenn Du mich siehst . . . ein Knebelbart . . . ein Schlachtschwert . . . hier eine Narbe . . . da eine Narbe. Du wirst mich kaum kennen.«
»Das glaub' ich, Olivier! Und Du mich noch weniger! Was fragt denn der Kriegsmann nach dem armen Ziegenhirten? Ich weiß das wohl.«
»Pfui, Cugny! Das ist schlecht von Dir gesprochen. Sieh', Cugny, und wenn ich Feldmarschall wäre und käme nach La Sarraz, meine erste Frage wäre nach Dir . . . das schwör' ich Dir . . . da hast Du meine Hand darauf. Hier hast Du mein Taschenmesser mit der Perlmutterschale zum Pfand darauf! Nimm hin! Nimm's zum Andenken!«
»Weißt Du, Olivier . . . Freunde sollen sich keine Messer schenken! Man sagt, das zerschneide die Freundschaft. Aber ich glaub' es nicht und nehme es, und wenn Du mich einst nicht mehr kennen willst, dann nehm' ich es wieder und halte es Dir vor die Augen. Olivier, unsere Freundschaft ist zerschnitten!«
»Dann wäre ich wert, das Messer im Herzen zu haben. Nun aber freue Dich mit mir! Denke, ich habe auch schon Pläne für Dich gemacht!«
»Sage doch!«
»Wenn ich nach einigen Jahren Hauptmann oder noch mehr bin und nach La Sarraz komme, nehm' ich Dich mit zur Armee.«
»Nein, ich will lieber im Frühjahr mit Dir gehen und Soldat werden. Weil Du vornehmer Leute Kind bist, macht man Dich sogleich zum Leutnant. Ich aber will tapfer sein und durch meine Kriegsthaten Leutnant werden, da verlaß Dich darauf, ich will es!«
»Das geht nicht, Cugny! Du bist erst vierzehn Jahre alt und viel zu jung. Du kannst die Muskete noch nicht tragen.«
»Aber die Trommel; auch weiß ich mit den Pferden umzugehen, ich kann Troßbube werden.«
»Das geht nicht, Cugny! Als Troßbube kommst Du nie in die Schlacht, kannst Dich nirgends hervorthun. Warte lieber, bis ich zum Besuch nach La Sarraz komme und Dich mitnehme! Da stell' ich Dich gleich als Feldwebel an. Du kannst schön schreiben, gut rechnen, ich will Dich schon gebrauchen und dem Obersten empfehlen. Sei ohne Sorgen!«
Da hob Cugny bitterlich an zu weinen, und Olivier hatte genug zu trösten.
Cugny schwor, er wolle nicht länger Ziegenhirt bleiben, sondern im Frühjahr mit in den Krieg gehen.
Die Sache kam anders, als beide Freunde berechnet hatten.
Cugny ward von Tag zu Tag trauriger und nachdenkender. Oliviers Gesellschaft und die Scherze der schmeichelnden Helene heiterten den armen Jungen nur sehr vorübergehend auf.
Eines Tages saß er am Abhang eines Hügels in Träumereien verloren; seine Herde weidete um ihn her; der Herbststurm fegte das abgefallene Laub. Da hörte er seinen Hund gewaltig bellen. Cugny sah sich kaum danach um, bis der Hund bellend herbei und wieder davon sprang, Endlich aufmerksam, stand er auf und ging einige Schritte vorwärts. Da erblickte er in der Tiefe, vor der Schlucht eines bewaldeten Berges, eine seiner Ziegen von einem Wolf überfallen, der das arme Tier zerriß.
Hastig griff Cugny zu seinem Stabe und sprang, von seinem Hunde begleitet, den Hügel hinab, dem Räuber entgegen. Der Wolf entflog; aber die Ziege war tot und zerfleischt.
Mit Entsetzen stand der junge Hirt da, doch faßte er sich bald. Er bedeckte das getötete Tier mit dürrem Laub, Reisern und Steinen, ging wieder zu seiner Herde und trieb sie abends zur gewohnten Zeit heim. Dann begab er sich ins väterliche Haus, legte, sobald es dunkel wurde, seine Sonntagskleider an, machte aus dem besten, was er hatte, ein Bündel und wanderte davon.
Er wurde schon am Abend vermißt, als der Eigentümer der verlorenen Ziege erschien und großen Lärm machte. Nachdem der Bursche sich auch am folgenden Morgen nicht im Hause gezeigt hatte und überall vergebens gesucht worden war, erhob sein alter Vater ein großes Jammergeschrei.
Untröstlicher noch als der Alte, waren Olivier und Helene, als sie die Nachricht von Cugnys Flucht vernahmen.
Man konnte sich nicht genug über Helenens Schmerz um den Hirtenknaben verwundern und Oliviers Thränen wurden von seinen Eltern umsonst verlacht oder gescholten.
Nach einigen Tagen empfing Olivier durch einen Bauer aus der Nachbarschaft von Romainmontier einen Brief. Cugny schrieb ihm das Schicksal der vom Wolf zerrissenen Ziege, dann, daß er, teils aus Furcht vor der Strafe, teils aus Ekel vor dem Hirtenleben, davongelaufen, um sein Glück in der weiten Welt zu suchen.
»Fürchte Dich nicht, Olivier!« schrieb Cugny. »Ich werde nicht verhungern. Ich habe arbeiten gelernt. Sag es nur Helenen, sie solle sich nicht ängstigen, und meinem Vater sag es, ich wolle ihn aus der Fremde noch unterstützen, wenn ich einmal etwas verdient habe. Dein Messer hab ich mit mir genommen. Ich will es zeitlebens aufbewahren zur Erinnerung an Dich. Vielleicht finden wir uns im Kriege irgendwo wieder.«
Olivier sprang närrisch vor Freude umher, las allen Menschen den Brief von Cugny vor und hatte sogar nichts dagegen, daß Helene das Papier laut weinend an ihre Brust drückte.
Indessen war es für Olivier doch ein trauriger Winter, denn er hatte sich allzu sehr an Cugny gewöhnt; der Freund mit dem zärtlichen, geistvollen Geplauder fehlte ihm überall.
Zum Glück mußten nach einigen Monaten schon die Vorbereitungen zur Abreise getroffen werden. Unter mancherlei Zerstreuungen wurden Abschiedsbesuche in Romainmontier, in Vevay, in Nyon bei Verwandten und Freunden des väterlichen Hauses gemacht. Man rüstete das Gepäck und mit Ostern ging es nach Deutschland zur kaiserlichen Armee.
Der junge Olivier traf seinen Oheim erst zu Wien, und dieser nahm ihn mit ins ungarische Lager bei Preßburg. Der Oheim hatte wohl anfangs ein wenig Mitleiden mit dem jungen Burschen, aber schon nach dem ersten Vierteljahr ließ er ihn, wie er es nannte, »Pulver riechen«, und nach dem ersten Feldzuge wurde Olivier wirklich als Leutnant angestellt, denn er hatte sich als Freiwilliger bei verschiedenen Gelegenheiten so brav, oder vielmehr so verwegen gezeigt, daß er die Freude aller Soldaten geworden. Anfangs nannten sie ihn nur das Milchgesicht, hinterher den kleinen Teufel.
Bei diesen Eigenschaften stieg er schnell empor. Er wurde in den Stab des Feldherrn gezogen, und blieb auch nach dem Dreißigjährigen Kriege im kaiserlichen Heere angestellt. Unter dem Grafen von Hatzfeld machte er den Feldzug in Polen gegen die Schweden mit und führte hier als Hauptmann eine Abteilung schwerer Reiterei. Mit allen seinen Kriesgefährten lebte er in bester Eintracht. Jeder hielt den jungen, geistvollen Mann hoch. Nur ein einziger Offizier schien einen angeborenen Widerwillen gegen ihn zu haben, und das war noch dazu ein Schweizer, ein Herr von Asperlin aus Raron, Sohn des Oberherrn zu Bavois. Dieser, weil er kein anderes Verdienst hatte, als seine etwas vornehmere Herkunft, machte es, wie es dergleichen Menschen zu machen pflegen. Er warf sich in die Brust, praßte viel, hielt alles neben sich für Kleinigkeit, und haßte ohne Umstände jeden, der sich um ihn nicht bekümmerte.
Unter denen, die sich um Herrn von Asperlin wenig bemühten, war auch Olivier. Daher verursachte ihm Asperlin hinter seinem Rücken allen möglichen Verdruß und schwor, er wolle nicht eher ruhen, als bis er vom Regiment verjagt wäre. Olivier achtete dergleichen Drohungen wenig. Er hatte einst, vielleicht bei übler Laune, in Gesellschaft anderer Kriegsgefährten über die Langsamkeit der Unternehmungen der kaiserlichen Oberfeldherren geklagt, über Mangel an Gelegenheit, sich auszeichnen zu können, am Ende über Ungerechtigkeiten bei Beförderungsfällen im Heere, wo nur Geburt und Herkunft berücksichtigt würden, hingegen Verdienste nichts gälten. Erhitzt durch Widerspruch ging er immer weiter und behauptete zuletzt, es gehe selbst bei den Türken vernünftiger und billiger zu. Er wollte wetten, daß er sich binnen drei Jahren im Dienste des Großsultan zum Pascha von drei Roßschweifen emporschwingen wollte. Das erfuhr Asperlin. Er riß Oliviers Worte aus dem Zusammenhang und hinterbrachte sie mit allerlei beigefügten Auseinandersetzungen und Betrachtungen dem Oberfeldherrn, in dessen Gefolge er war und bei dem er viel galt. Olivier wurde zur Verantwortung gezogen und hatte wegen seiner Behauptung, Pascha von drei Roßschweifen werden zu können, vielen Verdruß. Manche nannten ihnen seit jener Zeit den »Pascha«.
Er nahm es eben nicht übel; desto mehr aber ärgerte es ihn, als sich unter den Hauptleuten seines Regiments das Gerücht verbreitete, er habe sich im Städtchen seiner Heimat durch nichts bemerkbar gemacht, als daß er die Ziegen gehütet. Olivier entdeckte endlich die Quelle dieser Gerüchte. Sie rührten von keinem andern, als dem Herrn von Asperlin her, und in dem Augenblicke, als er darüber Gewißheit empfing, beschloß er den Lästerer zu züchtigen. Angekommen in dessen Quartier, erfuhr er. Asperlin sei mit Urlaub nach der Schweiz gereist und erst am Morgen dahin aufgebrochen. Schnell warf er sich aufs Pferd, ihn einzuholen. Der Weg, den Asperlin eingeschlagen hatte, war leicht zu erfahren und Olivier sparte die Sporen nicht. Mittags erreichte er ein Städtchen. Vor dem Wirtshause sah er die Diener und Pferde seines Feindes reisefertig und ihres Herrn gewärtig. Er sprang vom Gaul, gab seinen ihn begleitenden Dienern einige Aufträge und eilte ins Haus. Man führte ihn ins Gastzimmer. Da saß Herr von Asperlin mit einem andern jungen Offizier wohlgemut am Tische bei vollen Weinbechern. Beide sprachen Französisch. Asperlin war eben im Begriff, dem Jünglinge freundlich über den Tisch die Hand zu reichen und Abschied zu nehmen, als Olivier eintrat. Dieser, ohne sich um den Fremden zu bekümmern, ging kurzweg auf Asperlin zu, und begrüßte ihn mit dem lakonischen Gruße, der alles Vergangene und Nachfolgende erklären mußte: »Verleumder, Ehrendieb!« – hob sodann die Hand, und versetzte seinem Landsmanne eine so gewaltige Maulschelle, daß dieser samt dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, rücklings zu Boden fiel, den Tisch vor sich mit den Beinen hoch in die Luft hob, so daß er selbst, der Stuhl unter und der Tisch samt Tischgerät über ihm, mit entsetzlichem Krachen zu Boden stürzten.
Das ganze Haus erdröhnte, als wäre ein Erdbeben eingetreten. Olivier, wie er den Ehrenmann unter den Trümmern aller seiner Freuden am Erdboden liegen sah, konnte sich des Lachens nicht erwehren. Wirtsleute, Knechte, Mägde liefen erschrocken zusammen. Asperlin entwickelte sich mühsam aus Tischtuch, Tisch und allem Wirrwarr; stand verblüfft auf, sah mit stieren Augen umher, erkannte Olivier, von dem der zermalmende Streich gekommen war, und rief: »Bösewicht, das zahlst Du mir mit Deinem Blute!« und ging eilig davon. Nach einer Weile hörte man Pferdegetrappel auf der Straße; Asperlin, in seinen Mantel gehüllt, ritt mit seinen Dienern von hinnen.
Olivier stand noch lachend am Fenster und sah dem Gedemütigten nach, als der fremde Offizier ihn mit der Hand auf die Schulter schlug und sagte:
»Mein Herr, was auch die Ursache Ihres tollen Betragens sei, oder welche Ursachen auch mein Freund haben mag, daß er Ihre Grobheit nicht auf der Stelle züchtigte: Sie haben mich in ihm beleidigt, er ist mein Landsmann, mein Freund. Ich will ihm eine Arbeit ersparen, kommen Sie mit mir vor's Thor.«
»Warum nicht hier auf der Stelle?« rief Olivier, schickte die Wirtsleute mit dem Befehl hinweg, ihm in einem andern Zimmer eine gute Mahlzeit bereit zu stellen, verschloß hinter ihnen die Thür, zog den Säbel und erwartete seinen Mann.
Der Fremde stand bereit. Indem Olivier ihn betrachtete – einen schönern Mann hatte er sein Leben lang nicht gesehen – senkte jener plötzlich den Degen und sagte mit scharfem, spähendem Blicke:
»Mein Herr, damit ich auch meinen Gegner kenne, wie heißen Sie?«
»Olivier von La Sarraz!«
»Teufel! Dacht ich's doch!« rief der Fremde. »Ich bin Cugny!«
Die bloßen Säbel in den Fäusten, umarmten sich die entzückten Jünglinge mit einer Innigkeit, als wollten sie auf immer zusammenwachsen.
Ihre Lippen tönten nur von ihren Namen, und sie hingen aneinander, als wollte jeder die Seele des andern in sich saugen.
Erst, wie sie mit den Bechern in der Hand bei Tische einander gegenüber saßen, betrachteten sie sich ruhiger, mit zärtlichem Wohlgefallen.
Da war unter den beiden Jugendgespielen des Fragens viel und kein Ende.
Einer bewunderte den andern, wie er so gewachsen, so männlich und schön geworden. Jeder wollte wissen, wie alt der andere sei, was doch so leicht war zu berechnen.
Es waren volle zehn Jahre, seit sie sich das letzte Mal am Steinbruche bei La Sarraz gesehen. So hatte Olivier ein Alter von sechsundzwanzig, Cugny ein Alter von vierundzwanzig Jahren erreicht. Olivier mußte aufs genaueste von allen seinen Abenteuern berichten; mußte erzählen, was er indessen vom väterlichen Hause vernommen, von allen Vorfällen in La Sarraz.
Natürlich wurde auch der kleinen Marketenderin Helene angelegentlich gedacht, doch von dieser hatte keiner erfahren, ob sie noch lebe, oder schon bei den lieben Engeln im Himmel sei.
Endlich erzählte auch Cugny, der nur immer fragen und hören wollte:
»Du weißt, Olivier, wie ich von La Sarraz meinem Vater entlief. Unterwegs, obgleich ich selbst nicht wußte, wohin ich wollte, war ich unbekümmert um mein Schicksal. Ich war ja ein starker Bursch; man sah mir meine vierzehn Jahre kaum an und arbeiten hatte ich gelernt und alle Wetter ertragen. An Leckerbissen war ich nicht gewöhnt. Was brauchte ich viel? Ich konnte mich schon durchschlagen und war bei meinen paar Schillingen reich. Aber als ich mich – denn ich lief die ganze Nacht hindurch – im Mondschein hinsetzte, mein Brot zu verzehren, und ich Dein Andenken, Dein Messer, hervorzog, um das Brot zu schneiden, da weinte ich bitterlich, denn nun erst warst Du mir gegenwärtig, nun erst fühlte ich, was Du mir gewesen und was ich verloren und verlassen hatte.«
Bei diesen Worten zog Cugny das Taschenmesser mit der Perlmutterschale hervor, hielt es seinem Freunde vor und sagte:
»Siehst Du, Olivier, es lebt noch!«
Olivier konnte sich nicht halten, sprang auf und küßte den Jüngling herzlich.
Cugny erzählte weiter:
»Nun höre! Wie ich so da saß und weinte, dachte ich, wie Du nun als ein vornehmer Herr zur Armee gingest, da sogleich Leutnant werden würdest, und wie ich als ein armer Bauernknabe nur Troßbube werden, höchstens zum Stallknecht oder zum gemeinen Soldaten vorrücken könnte. Das schmerzte mich. Ich machte allerlei Pläne, reich zu werden, Geld zu verdienen und mich dann als Sohn von einem guten Hause, wohlgekleidet bei einem General zu melden. Ich träumte allerlei, und aus den Träumen wurde zuletzt doch etwas. Ich kam nach Pontarlier. Hier nahm mich ein angesehener Mann in seinen Dienst. Weil ich ihm gefiel, zog er mich aus dem Stall und vom Holzspalten nach wenigen Wochen in sein Wohnzimmer. Da, besser gekleidet, spielte ich erst seinen Aufwärter, und als er zufällig meine Handschrift bemerkte, machte er mich ohne weiteres zu seinem Schreiber und Rechner, weil er selbst, wie ich bald bemerkte, im Schreiben und Rechnen nicht recht bewandert war. Ich empfing ein schönes Wochengeld. Frau und Kinder meines Herrn hatten mich lieb; ich hätte sehr glücklich sein können, und doch war ich es nicht. Die Thaten des großen Condé ließen mich nicht schlafen. Man erzählte in Pontarlier nichts anderes, als von seinen Siegen am Rhein. Ich las mit Begier alle Zeitungen, alle Flugblätter, Geschichtsbücher alt und neu, soviel deren mein Herr hatte und ich bekommen konnte. Früher, als ich selbst beschlossen, führte mich das Schicksal zur Armee. Ein Schlagfluß raubte meinem guten Herrn im Frühling 1645 das Leben. Die Witwe verabschiedete mich mit einem ansehnlichen Geschenk. Nun schrieb ich meinem Vater noch einmal, erzählte ihm meine Glücksgeschichte, um ihn zu beruhigen, bat noch einmal wegen meiner Flucht um Verzeihung und meldete ihm meinen Entschluß, fortan im Kriege mein Heil zu versuchen. Ich verließ Pontarlier und begab mich über Basel jenseits des Raines, Condés Heer aufzusuchen. Als ich bei den Vorposten der Franzosen erschien, verlangte ich zum befehlshabenden Offizier geführt zu werden. Man brachte mich zum Marquis de Bellefonds. – Was giebt's, junger Mensch? fragte dieser mit barscher Stimme. Ich sagte ihm ganz unbefangen, ich sei ein Schweizer, von guter Familie, habe von meinem Vater aber nichts geerbt, als Mut und Ehrgefühl; ich wünsche als Freiwilliger unter den siegreichen Fahnen des Prinzen Condé zu dienen und hoffe, durch mein Betragen sein Wohlwollen zu erwerben. Sei es, daß meine Jugend oder die Art, wie ich alle Fragen des Marquis beobachtete, oder mein schwärmerischer Ungestüm, Kriegsmann zu werden, den Marquis rührte – genug, nach einer langen Unterredung behielt er mich bei sich und versprach, mich zu versorgen. Ich bekam Degen und Kriegsrock und wurde als Freiwilliger bei der Adjutantur angestellt. Es gab täglich Gefechte, bei welchen ich nicht fehlte. Marquis de Bellefonds gewann mich lieb, er brauchte mich viel und ich mußte ihm überall folgen. Bald erfolgte die mörderische Schlacht bei Nördlingen, in welcher der baierische Feldherr Mercy fiel. Da fand ich Gelegenheit, mich, trotz meiner Jugend, meinem Gönner einmal zu zeigen. Als unsere Schar im Begriff war, die Flucht zu nehmen, der Kugelhagel mörderisch wütete und der Fahnenträger sank, sprang ich vom Pferde. Teufel, wohin? rief Bellefonds. – Zum Sieg oder Tod! schrie ich, ergriff die Fahne und ging mutig vorwärts. Einige beherzte Soldaten, die ihre Fahne nicht verlassen, oder sich von einem Knaben nicht beschämen lassen wollten, folgten mir; diesen mehrere andere, darauf eine ganze Kompanie, endlich links und rechts die Übrigen, und wir drangen durch. »Du bist ein braver Junge!« sagte der Marquis, als wir Ruhe hatten, und umarmte mich vor allen Soldaten. Ohne Zweifel hatte er mit dem Prinzen Condé von mir gesprochen, denn folgenden Tages wurde ich zum Prinzen berufen. Der Marquis und mehrere Obersten und Generale waren zugegen Der Marquis stellte mich dem großen Helden vor. Ah, sieh da! rief der Prinz, indem er mich verwundert und freundlich ansah; ist das der Freiwillige von Nördlingen? Er lobte mich und ernannte mich zum Offizier. Man hieß mich seitdem bei der Armee nur den Freiwilligen von Nördlingen. Ich gab mir Mühe, dem Namen Ehre zu machen, der mich ehrte. Nach dem Frieden in Deutschland diente mein Regiment unter Turennes Befehl in Flandern gegen die Spanier. Ich hatte die Ehre, vom Marschall gekannt und hervorgezogen zu sein und habe jetzt eine Sendung von ihm an den Grafen Hatzfeld. Da hast Du meine Geschichte.«
Beide reisten mit einander ins Lager zurück. Cugny war so glücklich, durch sein Fürwort beim Grafen Hatzfeld dem wackeren Olivier einen halbjährigen Urlaub zu erwirken, um nach zehnjähriger Trennung seine Verwandten in La Sarraz besuchen zu können.
»Ich eile zu meinem Marschall zurück,« sagte Cugny, »und bitte ihn ebenfalls um Erlaubnis, auf einige Monate in die Schweiz zu gehen. Da wollen wir denn himmlische Tage mit einander in der Heimat verleben. Da wollen wir Hütten bauen über dem Steinbruche, Dir eine, mir eine und der kleinen Marketenderin eine. Da wollen wir alle die alten süßen Erinnerungen der Kindheit wieder aufleben lassen.«
Man schied nun mit den frohsten Hoffnungen des baldigen Wiedersehens von einander, Olivier packte ein, und begleitet von zwei Dienern reiste er durch Deutschland und die Schweiz. Ich brauche nicht zu sagen, welchen Jubel Oliviers Erscheinen im Hause der Eltern, welches Aufsehen es im ganzen Städtchen machte. Jeder wollte den kleinen Olivier sehen, der nun so groß und kaiserlicher Hauptmann geworden war. Schon des andern Tages machte er die Runde bei allen Verwandten und Bekannten. Natürlich! Die kleine Marketenderin und Nachbarin Helene wurde auch nicht vergessen. Aber wie erstaunte er, als er im Zimmer bei ihren Eltern stand, und sie hereintrat! Es ging ihm heiß vom Wirbel bis zur Sohle. Die Jungfrau nahte sich ihm errötend. Eine frische, blühende Gestalt, von aller Anmut der Jugend umflossen, fähig, mit ihren flammenden, schönen Blicken Herzen von Eis zu schmelzen. Olivier hatte kein Herz von Eis, aber geschmolzen war es doch. Er küßte schüchtern und zitternd ihre zarte Hand und wußte nicht, was er stammeln sollte. Helene, weit unbefangener, musterte den alten Spielgenossen von oben bis unten, sagte ihm viel Verbindliches und brachte ihn durch ihr vertrauliches Gespräch bald wieder zu sich selbst.
Von diesem Augenblick an entzündete sich in Olivier eine unbesiegbare Leidenschaft. Täglich besuchte er Helenens Eltern, eigentlich nicht um die Eltern, sondern um Helene zu sehen, deren immer gleiche rosenfarbene Laune, deren Mutwille ihn abwechselnd bald unter die Seligen des Paradieses, bald unter die Verdammten und in die Qualen der Hölle versetzte, denn das hübsche Mädchen schien alles zu verstehen, nur kein Wort von Liebe. Es war noch immer gegen ihn so traulich und harmlos, wie vor zehn Jahren bei den Ziegenherden; aber mehr als damals schien das neunzehnjährige Mädchen auch jetzt noch nicht zu fühlen. Ja, wenn Helene recht aufgeräumt war, fing sie ihn sogar zu duzen an, aber auch in dem Du lag nichts von Annäherung, sondern mehr etwas Komisches, das den armen Liebeskranken peinigte.
So vergangen einige Wochen, einige Monate. Manches hübsche Mädchen von La Sarraz, Vevay und Lausanne lächelte den schönen, kriegerischen Jüngling bedeutsamer an als Helene; ja, Olivier war sogar boshaft genug, Versuche anzustellen, ob er Helenen nicht ein wenig eifersüchtig machen könne. Allein umsonst.
Olivier fing an, sich seines Zustande zu schämen. Er kämpfte mächtig mit sich selbst und unternahm kleine Reisen in die Nachbarschaft. Allein er fühlte wohl, so lange er im Zauberkreise der schönen Helene atmete, wäre für ihn keine Genesung zu erwarten. Um diese Zeit erfuhr er durch ein Gerücht, was man ihm im Hause von Helenens Eltern sorgfältig verschwiegen hatte. Herr von Asperlin aus Raron, der Helenen in Lausanne kennen gelernt und ihr den Hof gemacht hatte, war durch Erbschaft zu beträchtlichen Reichtümern gelangt. Der Kriegsdienste satt, war er nun entschlossen, im Vaterlande zu bleiben, und hatte bei Helenens Eltern förmlich um die Hand ihrer Tochter geworben. Die Eltern fanden sich durch den Antrag sehr geehrt, und hatten ihn genehmigt; Helene aber, die auch ihr Köpfchen hatte, lachte über Herrn von Asperlin und seinen Reichtum, wollte nicht Oberherrin von Bavois werden, und setzte den Beschwörungen ihrer stolzen Mutter und dem Drohen ihres gestrengen Vaters ein festes, entschiedenes Nein entgegen. Nun wußte wohl Olivier um Asperlins Bewerbung, aber nicht von Helenens Widerwillen gegen dieselbe. Er fiel auf den Gedanken, Asperlin sei ein beglückter Nebenbuhler, und er schwor ihm tausendmal den Tod. Wenn er es aber recht vernünftig überlegte, fand er doch, mit dem Tode des Nebenbuhlers sei ihm am Ende auch wenig geholfen, und dieser quälende Gemütszustand machte ihn ganz niedergeschlagen und traurig. Helene bemerkte es und gab sich alle Mühe, ihren Freund zu erheitern.
»Wie soll ich denn heiter sein, da ich unglücklich bin?« sagte er. »Ich liebe Sie, ich bete Sie an, Fräulein, und Sie sind schon einem andern versprochen! Sie sind die Braut des Herrn von Asperlin.«
Helene lächelte unbefangen und erwiderte:
»Ich bin niemandes Braut. Herr von Asperlin ist mir unausstehlich geworden, seit er um mich wirbt. Bleiben Sie mein Freund, aber beten Sie mich nicht an. Ich habe ein Herz, das von jeher der Freundschaft fähig war. Aber das Lieben und was man sich darunter denkt, halte ich für eine wahre Narrheit, die, wie ich es bei andern gesehen habe, in wahre Tollheit ausarten kann. Ich hoffe, Sie sind ein vernünftiger Mann, lieber Olivier, und werden es bleiben! Ich habe zum Ehestande einstweilen herzlich wenig Lust. Wir sprechen also nicht weiter darüber, und somit ist die Sache jetzt abgethan!«
Dabei blieb es. Bei Helenen war die Sache nun wirklich abgethan, aber nicht so geschwind bei Olivier; doch mußte er sich in sein Schicksal fügen. Zum Glück gab es für ihn bald Zerstreuungen, die ihm wohl thaten.
Unerwartet – denn schon lange hatte Olivier vergebens gehofft – trat eines Tages sein Freund Cugny zu ihm ins Zimmer. Olivier war berauscht vor Freude und all sein Kummer verflog. Er stellte den Freund seinen Eltern vor, der bei ihnen Wohnung nehmen mußte. Das ganze Städtchen sprach vom Glücke des ehemaligen Ziegenhirten, und wo er durch die Straßen ging, riß man die Fenster auf. Wer hätte dies je denken sollen! rief jeder, der ihn sah. Seine stolze Haltung, das kühne Wesen, die feine Gewandtheit und die Anmut seiner Gesichtszüge nahmen jedermann für ihn ein.
Cugny besuchte der Reihe nach seine noch lebenden Verwandten – der Vater war schon tot –, dann mußte ihn Olivier auch zu ihrer ehemaligen Zeltkrämerin Helene führen.
»Sie ist ein bildschönes Mädchen geworden,« sagte Olivier zu ihm, »aber kalt und spröde wie Eis. Bewahre Dein Herz!«
Helene hatte Cugny's Ankunft schon durch das Gerücht vernommen. Sie erinnerte sich noch ziemlich klar des hübschen Ziegenknaben und fand das Gerede, wie schön er nun geworden, ganz natürlich. Als er aber an Olivier's Seite zu ihren Eltern in's Zimmer trat, schien sie wie von einem angenehmen Schrecken gelähmt; kaum konnte sie die ersten allgemeinen Höflichkeiten erwidern. – Cugny's Blick ruhte, unter angenehmen Erinnerungen, mit Wohlgefallen auf dem reizenden Bilde. Ihre Augen glänzten ihm in einem helleren Lichte, und wenn sie ein Wort zu ihm sprach, erglühten ihre Wangen in einer fieberhaften Röte. Zum Glück beachtete das niemand als Cugny, der das für des hübschen Mädchens Art nahm und während seines kurzen Aufenthalts in La Sarraz fleißig wiederzukommen versprach.
Das verstand sich unter Nachbarsleuten von selbst, denn wohin sollte man in der kleinen Stadt gehen, ohne beständig auf einander zu treffen? Man gab sich gegenseitige Mahlzeiten, machte miteinander gemeinschaftliche Spaziergänge und kleine Lustfahrten. Natürlich, die Gegenden, wo einst der Krieg mit den Ziegenherden geführt worden war, blieben dabei nicht vergessen. Auch Helene machte diesen Gang zur Feier angenehmer Erinnerungen mit, jedoch fein ehrbar in Gesellschaft von Vettern und Basen.
Merkwürdig war, daß bei diesen Spaziergängen sich das alte Verhältnis gewöhnlich wiederholte, welches schon in den Kinderjahren stattgefunden. Wenn nämlich Olivier Helenen hinausführte, geriet sie zuletzt durch eine Verkettung von Zufällen immer an Cugny's Arm. Wandelten die beiden aber nebeneinander, so vergaßen sie Olivier, Gesellschaft, Weg und Steg und es war ihnen zu Mut, als gingen sie beide allein über den Erdball spazieren.
Acht Tage waren bald vorbei und Cugny rüstete zur Abreise. Helene bat dringend, noch acht Tage zuzugeben, dann wolle sie zufrieden sein. Cugny gehorchte der zauberischen Gebieterin ohne Widerstand. Aber sie lohnte es ihm auch süß. Es wurde ewige und unwandelbare Treue geschworen und die Unterhaltung eines regen Briefwechsels beschlossen; alles, um sich über den Schmerz des Scheidens zu trösten. Daß Cugny gelobte, in einem oder in zwei Jahren zu kommen, seine Braut zu fordern, oder, wenn man sie verweigern würde, sie mit Gewalt wegzunehmen, versteht sich von selbst.
Die zweite Woche verstrich noch schneller als die erste. Cugny flog über die Alpen nach Italien.