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Inzwischen hatten Madame de Sonnes und Klementine mich während meiner Krankheit oft besucht. Nicht wie einem Fremdling, sondern wie einem Bruder oder Blutsverwandten begegneten sie mir.
Madame de Sonnes war eine sehr edle Frau, von lebhaftem Geist und feiner Erziehung. Sie schien nicht für sich, sondern nur für andere zu leben. Immer nur darauf bedacht, andern Freude zu machen, andern Dienste zu erweisen, wußte sie es so einzurichten, daß die, welche durch sie beglückt zu werden nicht verschmähten, ihre eigenen Wohlthäter zu sein schienen.
Ihrer ganz würdig war Klementine, der Stolz ihres Geschlechts. Harmlose Unschuld und immerwährender Frohsinn waren ihr Wesen. Niemand konnte sich ihr nahen, ohne sie zu lieben. So schön hatte ich sie nie gesehen, nie geglaubt. Ihr Lächeln war begeisternd, ihr Blick sprach zum Herzen; die Anmut ihres Wesens war ideal. Vor allen ihren Freundinnen war sie durch so viel Liebenswürdigkeit ausgezeichnet, daß man immer nur sie bewunderte. Und von allen war sie die Bescheidenste; sie wußte von ihren eigenen Vorzügen nichts, und geriet in Entzücken, wenn sie dieselben an andern bemerkte. Man hätte wetten mögen, sie habe sich selbst noch in keinem Spiegel gesehen.
Seitdem ich im Hause war, spielte sie die Harfe nicht mehr; sie war schüchterner als jemals in der Ferne; sie kam seltener zu mir als alle andern im Hause; sie sprach weniger mit mir als mit jedem andern, und doch sorgte sie am eifrigsten für mich; doch forschte sie am emsigsten nach meinen kleinen Wünschen, und in ihren Augen lächelte mir Freundschaft.
Indem meine Liebe so zur unbesiegbaren Leidenschaft heranwuchs, wurden mir aber auch die tausend Hindernisse immer klarer, welche mir alle Hoffnung raubten, jemals durch sie glücklich zu werden. Ich war arm, und besaß nichts als einen guten Ruf, und das Vertrauen aller Redlichen. Wie wenig ist das in der großen Welt! Ich hatte zwar im Bertollon'schen Prozeß ein so allgemeines Ansehen gewonnen, daß die Zahl meiner Klienten täglich größer ward; allein wie lange hatte ich zu arbeiten, bis ich mir ein Vermögen erworben haben konnte, mit dem ich es wagen durfte, mich Klementinen zu nähern?
Und täglich sah ich das holde Wesen, in ihrem Zimmer, in ihrem Garten, bald einsam, bald in Gesellschaften. Ach! sie konnte es wissen, wie sehr ich sie liebte! Mein Schweigen und mein Reden, mein Kommen und mein Gehen waren lauter Verräter meines Herzens.
Immer beklommener, immer unruhiger ward ich mit jedem Tage. Nichts blieb mir übrig, als die Entfernung von ihr, um nicht namenlos unglücklich zu werden. Ich entschloß mich schnell zur Ausführung, mietete eine Wohnung und entdeckte Herrn de Sonnes meine Absicht.
Er und seine Tante widersetzten sich vergebens; ich blieb standhaft gegen ihre Wünsche und Bitten. Nur Klementine erschien nicht und bat nicht, aber sie ward ernster und, wie ich zu bemerken glaubte, trauriger.
»Sie sind sehr grausam!« sagte eines Tages Madame de Sonnes zu mir. »Was haben wir Ihnen Leides gethan, daß Sie uns so betrüben wollen? Sie nehmen den Frieden unseres sonst so glücklichen Hauses mit sich. Wir lieben Sie alle. Verlassen Sie uns nicht, ich beschwöre Sie!«
Alle Ursachen, welche ich vorgab, um meine Entfernung zu rechtfertigen, reichten nicht aus, Madame de Sonnes zu beruhigen. Die einzige und die wichtigste durfte ich ihr freilich nicht entdecken. Sie sah in meinen Weigerungen nur hartnäckigen Eigensinn.
»Wohlan!« sagte sie endlich. »Wir müssen uns wohl in Ihren Willen ergeben. Wir sind Ihnen gleichgültiger, als ich glaubte. Warum ist es nicht allen Menschen gegeben, die Freundschaft im Herzen nie tiefer wurzeln zu lassen als es eben nötig ist, um sie zu jeder Stunde, ohne Schmerz, wieder ausreißen zu können? . . . Klementine wird eben darum einst sehr unglücklich sein. Ich zittere, daß sie mir erkrankt.«
Diese Worte trafen mich hart. Ich ward blaß und zitterte. »Klementine!« stammelte ich. »Erkranken?
»Kommen Sie mit mir in mein Zimmer!« sagte Madame de Sonnes, ohne zu ahnen, was in mir vorging.
Wir gingen. Sie öffnete die Thür und sagte zu ihrer Tochter: »Er will nicht. Überrede Du ihn!« Sie ließ uns allein, und ich näherte mich Klementinen.
O welch ein Bild schöner Wehmut! Nie wird es in meinem Gedächtnis erlöschen. Die Schrecken eines endlosen Elends, welche mich in fremden Weltgegenden umgaben, konnten dem Andenken seinen Zauber und seine Frische nicht rauben. Da saß sie, in ihrem einfachen Hausgewande, reizend wie ein Engel des Paradieses, und die welkende Blüte blauen Flieders in ihrem Haare sah zwischen dem einfachen Schleier, der es umhüllte, hervor, als sollte sie das Sinnbild dessen sein, was sie am meisten bedurfte, des Schlummers – der Ruhe.
Und als ich nun zu ihr trat, sah sie auf, und ihre freundlichen Augen lächelten mich unter Thränen an. Ich nahm ihre Hand, kniete vor ihr nieder, und seufzte: »Klementine!«
Sie schwieg und lächelte nicht mehr.
»Fordern Sie auch daß ich bleiben soll? Gebieten Sie nur, und ich will ja gern gehorchen, und würde ich auch noch unglücklicher.«
»Noch unglücklicher?« entgegnete sie, und blickte mich fragend an. »Sind Sie denn bei uns unglücklich?«
»Das wissen Sie nicht! Sie wollen nur Glück um sich verbreiten. Aber, Klementine, Sie gewöhnen mich zu früh an den Himmel. Wenn ich nun einmal früher oder später . . . dies alles, Ihren Umgang . . . verlieren sollte, Klementine, und es könnte doch die Zeit kommen . . . wie stände es dann um mich?« sagte ich, indem ich ihre Hand an mein laut pochendes Herz zog.
»Trennen Sie sich nie von uns, so verlieren wir uns ja nicht!« antwortete sie.
»Wollte Gott, daß ich mich nie von Ihnen trennen dürfte als im Tode!« rief ich.
Sie sah gen Himmel, seufzte, bog sich über mich, und von ihrer Wange fiel eine heiße Thräne auf meine Hand.
»Zweifeln Sie an der Dauer meiner Freundschaft?« fragte sie.
»Habe ich ein Recht auf Ihre Freundschaft, Klementine? Und dies schöne Herz, ach! wird es nicht einst für einen andern lauter schlagen müssen als für mich? Und dann, Klementine, dann?«
»Nie, Alamontade!« antwortete sie, stand schnell auf, und wandte sich ab, mit einem Antlitz, welches eine sanfte Röte überzog. Ich erhob mich. Ein unnennbares Entzücken berauschte mich. Ich zog sie in meine Arme. Ihr Busen flog im Sturme des Gefühls. Ihre Wangen glühten. Ihr Blick nannte mir das Wort, welches ihre Lippen nicht zu sprechen wagten.
Unsere Seelen verschwisterten sich, und schlossen den ewigen Bund. Ein zitternder Seufzer war unser Schwur. Die Welt schwand um uns, wie ein Schatten. Im Kusse wechselten wir Leben um Leben.
O, welche Seligkeit hat die Güte des unendlichen Weltordners selbst dem Staube gewährt, und wie sehr dem Geiste das Los versüßt, mit dem Irdischen vermählt zu sein!
Als wir aus der heiligen Trunkenheit erwachten, und ich Klementinens Namen lallen und sie mir den meinigen zulispeln konnte, war rings umher die Natur wie verwandelt, und alles nicht mehr die vorige Welt. Feierlich und schöner prangte alles; das tote Zimmer glich einem Tempel, und ein holder Geist sprach aus allem, vom Gemälde bis zum Teppich. Das Flüstern der Zweige vom Garten war bedeutungsvoll, und in dem gaukelnden Schatten des Laubes lag ein geheimer lieblicher Sinn.
»Ich bleibe!« rief ich.
»Und ewig!« setzte sie hinzu.
Einige Stunden nachher sah ich Madame de Sonnes. Eine stille Furcht wandelte mich an. Sie ging mir lachend entgegen und sagte: »Was haben Sie aus Klementinen gemacht? Sie ist begeistert; sie spricht in Versen; sie geht nicht mehr, sie schwebt, wie beflügelt! . . . Und wie, Alamontade, warum erröten Sie? Ich weiß Ihnen Dank . . . aber, wie soll ich danken?«
Indem sie dies sprach, nahm sie mich in ihren Arm und küßte mich.
»Sie sind ein guter Mensch!« fuhr sie fort. »Ich kannte wohl die geheimen Gründe, warum Sie uns verlassen wollten.«
»Madame!« stammelte ich immer verwirrter.
»Ich glaube, Sie möchten gern noch läugnen, wenn Sie könnten!« sagte sie in scherzhaftem Tone. »Ich stand neben Euch Beiden, als Ihr in der Fülle Eures Glücks die ganze Welt vergaßet, selbst mich, und da fühlte ich wohl, daß ich bei Eurer Verlobung sehr überflüssig sei. Meine Tochter lebt nur für Sie . . . machen Sie sie glücklich, dann bin ich es auch.«
Welch eine Frau! Ich sank zu ihren Füßen und küßte ihre gütige Hand, ohne ein Wort hervorbringen zu können.
»Nicht doch!« sagte sie. »Ein Sohn kniet nicht vor der Mutter.«
»Madame,« rief ich, »Sie geben mehr, als die verwegenste Hoffnung . . .«
»Ich gebe nichts!« entgegnete sie. »Nein, mein Lieber, Sie sind es, der uns den Frieden giebt. Ich bin zwar Mutter, aber ohne Recht über meiner Tochter Herz. Klementine kennt Sie schon länger als ich. Um Ihretwillen schlug sie manche Hand aus. Sie hoffte nur auf Sie. Klementinens Glück zu befestigen, ist meine Pflicht. Ich lernte Sie nun auch näher kennen und segne Klementinens Wahl.«
»Es ist zuviel!« rief ich. »Mein Entschluß war es freilich, einst, wenn ich mir Vermögen genug . . . ich bin arm, Madame . . .«
»Was thut das Vermögen zur Sache?« antwortete die edle Frau. »Sie haben ein anständiges Auskommen, und Klementine, ohnehin schon begütert, ist meine Erbin. Daß Sie Klementinen ohne Rücksicht auf Reichtum lieben, war mir wohl bekannt! Und wahrlich, das Mädchen hat inneren Wert genug, um seiner selbst willen geliebt zu werden! Ihr Zartgefühl, mein Lieber, bleibt aber unverletzt. Konnten Sie Klementinens Herz bekehren und nehmen, wahrlich, so dürfen Sie nicht erröten, wenn sie Ihnen eine reiche Aussteuer zubringt! Das Herz, welches Sie beherrschen, ist mehr wert als das elende Geld, bei dem Sie, als dem Zuviel, Bedenklichkeit empfinden. Meine Tochter kann nicht glücklicher werden, wenn sie eine Million heiratet, an die ein ungeliebter Mann geknüpft ist; sie wird es nur durch den Geist, durch den Edelsinn, durch die treue Liebe, durch die Sorgfalt des Geliebten um sie.«
»Und?« . . . sagte Klementine, indem sie in ihrer reizenden Unschuld hereinschwebte, meine Hand nahm und ihrer edlen Mutter freundlich ins Auge sah.
»Du hast wohl gewählt!« sagte Madame de Sonnes, indem sie uns beide umarmte. »Du sorgst immer für das Glück Deiner Mutter mehr als für Dich.«
Klementine war meine Verlobte. Die ganze Familie trug mich auf Händen. Ich war im Palast de Sonnes der geliebte Sohn. Die Achtung der ganzen Stadt wurde mir zuteil. Ich hatte mein höchstes Ziel errungen, und es würde ermüdend sein, wenn ich die Mannigfaltigkeiten meiner Freuden ausmalen wollte.
Ich eilte auf einige Tage nach Nismes zum Marschall, infolge seines Befehls.
»Kommen Sie zu mir,« sagte er, »und nehmen Sie die erste Stelle in der Kanzlei des Gouvernements an! Doch eine Bedingung muß ich hinzufügen: Sie dürfen nirgends anders als in meinem Schlosse wohnen. Ich muß Sie täglich sehen! Meiner Geschäfte sind viele und Ihr Rat ist mir zu wichtig.«
Ich dankte dem Marschall für die ehrenvollen Gnadenbezeugungen. Ich bat nur um Bedenkzeit, eine Stelle anzunehmen, deren Wichtigkeit meine Kenntnisse nicht gewachsen waren.
Mein Oheim und die liebenswürdige Familie, in deren Kreis nur eine Tochter fehlte, die verheiratet war, und alle seine Freunde, die sämtlich geheime Protestanten waren, ließen nicht ab, mir die dringendsten Vorstellungen zu machen. Ich mußte halb und halb geloben, die Stelle anzunehmen. Es war mir nur noch darum zu thun, den Wunsch Klementinens und ihrer Mutter zu erforschen. Beide aber, sobald ich sie mit dem Antrage des Marschalls bekannt gemacht hatte, stimmten sogleich dafür, daß ich mir nicht die Gelegenheit entgehen lassen dürfe, einen größeren Wirkungskreis für mich zu gewinnen. »Und wir begleiten Sie nach Nismes!« sagte Klementine.
Und so geschah es. Wir reisten mit einander nach Nismes. Ich trat meine Stelle an, und in Klementinens Armen durfte ich von den Geschäften ausruhen.
Der Marschall von Montreval behandelte mich in den ersten Monaten mit ausgezeichneter Gnade, aber nie konnte ich mir's abgewinnen, ihm mit Vertraulichkeit zu begegnen oder seine gütigen Gesinnungen mit einiger Herzlichkeit zu erwidern. Sein freundliches Wesen hatte etwas Fürchterliches, sein Lächeln immer etwas Drohendes an sich.
Ich ward gewahr, wie wenig Gutes ich unter den obwaltenden Verhältnissen überhaupt wirken konnte, und wie schädlich hingegen meine Gegenwart in Nismes, mein Amt und der Wahn von meinem Einfluß den Anhängern Calvins werden mußte, die sich mit allzu großem Vertrauen auf mich stützten. Dies bewog mich zu dem Entschluß, meine Entlassung zu begehren.
Es war am Palmsonntage des Jahres 1703. Der Marschall, welcher vor kurzem von Montpellier zurückgekommen war, hatte mich zu einem festlichen Schmause im Schlosse eingeladen. Mir war nicht wohl, doch beschloß ich dahin zu gehen.
»Und morgen verlang ich meine Entlassung,« sagte ich lächelnd des Morgens zu Klementinen, »mag auch die Mutter dagegen einwenden, was sie will, morgen geschieht's! Und dann, Klementine, nicht länger unsere Verbindung am Altare verzögert! Also in acht Tagen bist Du meine Gattin.«
So ward es beschlossen und mit einem Kuß besiegelt.
Da rief man mich von ihr hinweg. Ich ging hinaus. Mein Oheim, Herr Etienne, war gekommen; er begehrte eine geheime Unterredung mit mir in meinem Zimmer.
»Colas,« sagte er, »heute ist Palmsonntag. Du mußt mit mir kommen!« – »Unmöglich kann ich das,« war meine Antwort, »denn ich bin beim Marschall zum Essen geladen.«
»Und ich,« sagte er mit feierlicher Stimme, »und ich lade Dich zum heiligen Abendmahl ein! Kein Großer dieser Erde wird dort mit uns zu Tische sitzen, aber wir sind daselbst in Jesu Namen versammelt, und er wird mitten unter uns sein. Wir alle, einige Hundert mit Weib und Kindern, feiern diesen Morgen das heilige Abendmahl in meiner Mühle beim Karmeliterthor.«
»Welche Verwegenheit?« rief ich. »Wisset Ihr nicht, daß der Marschall in Nismes ist?«
»Wir wissen es, und der allmächtige Gott ist auch da!«
»Wollt Ihr Euch denn mit Vorsatz in Elend und Kerker stürzen? Das Gesetz verbietet auf's Strengste alle Versammlungen dieser Art. Es drohet mit dem Tode.«
»Welches Gesetz? Das Gesetz des sterblichen Königs? Du sollst Gott mehr gehorchen denn den Menschen!«
So wußte mein Oheim jede meiner Einwendungen mit biblischen Sprüchen zu beseitigen, je mehr ich das Unerlaubte und Gefährliche solcher Zusammenkünfte einsah, je lebhafter ich ihm die möglichen Folgen davon schilderte, desto eifriger ward mein Oheim. Er hieß mich einen Abtrünnigen, einen Heuchler, einen Papisten und verließ mich im Zorn.
Ich kehrte zu Klementinen zurück. Sie hatte meinen Oheim und Verdruß in allen seinen Geberden gesehen. Sie forschte nach den Ursachen; ich wagte nicht, sie ihr zu entdecken. Unter ihren unschuldigen Liebkosungen verlor sich allmälich meine Furcht und Unruhe. Sie erzählte mir von der Einwilligung ihrer Mutter in alle meine Wünsche. Dies erheiterte mich noch mehr. An Klementinens Busen schwärmte ich vom Glück der stillen Zukunft.
Da trat mein Bedienter herein, bleich wie die Wand und atemlos.
»Herr,« stammelte er, »die Hugenotten sind draußen am Karmeliterthor in der Mühle des Herrn Etienne zum verbotenen Gottesdienste . . .«
Ich erschrak heftig. Also war's verraten. »Und weiter?« rief ich.
»Die Mühle ist von Dragonern umringt. Alle drinnen sind gefangen. Denken Sie nur, der Herr Marschall von Montreval ist daselbst in eigener Person. Der Prediger und noch andere von den eingeschlossenen Ketzern wollten sich durchs Fenster retten; da winkte der Marschall und die Dragoner gaben Feuer.«
»Gaben Feuer?« schrie ich »Wurde einer getötet?«
»Ihrer vier liegen tot auf dem Platze!« antwortete der Bediente.
Ohne weiter zu fragen, ergriff ich Stock und Hut.
Ich kam vor's Thor. Ungestüm drängte ich mich durch das in ungeheurer Zahl zusammenströmende Volk, welches mit brennender Neugier, und mit Schaudern, Freude und Erwartung, Kopf an Kopf, gaffend dastand.
Kalt vor Entsetzen sah ich über die Menge die blitzenden Gewehre der Dragoner emporragen, welche in dreifachen Reihen die Mühle meines lieben Oheims umstellt hatten. Erhaben über alle, auf seinem Pferde, von einigen vornehmen Herren umringt, sah ich den Marschall von Montreval.
Er wandte sich um, sah mich an, und indem er mit dem Krückstock auf die Mühle zeigte, sagte er, ohne eine Miene zu verändern: »Die Elenden! Nun sind sie ertappt!«
»Was denken Sie zu thun, gnädigster Herr?« fragte ich.
»Darüber sinne ich schon seit einer Viertelstunde nach.«
»Seien Sie großmütig, gnädigster Herr, und die Irrenden werden reuig zu Ihren Füßen sinken und nie wieder . . .«
»Was?« unterbrach mich der Marschall. »Die Menschen sind unbekehrbar! Rebellen sind sie, wütige, tollkühne Rebellen.«
»Nein, gnädigster Herr,« sagte ich und ergriff flehend des Marschalls herabhängende Hand, »Sie sind allzu gerecht, als daß Sie diesen Unglücklichen dort eine Greueltat anrechnen könnten, die vor beinahe anderthalbhundert Jahren geschehen ist!«
»Es ist Zeit, ein warnendes Beispiel aufzustellen« sagte der Marschall, welcher bisher unentschlossen gewesen. Er entzog mir seine Hand, ritt einige Schritte vor, ohne auf mich zu achten, und rief mit lauter Stimme: »Steckt die Mühle in Brand!«
Halb erstarrt wankte ich ihm nach. Ich ergriff die Zügel seines Pferdes und schrie: »Um Gotteswillen, Barmherzigkeit!«
Ich hörte das Rasseln und Knistern der Flamme, sah die dicken Rauchwolken sich über das Dach der Mühle wälzen, und hörte das dumpfe Zetergeschrei der Eingesperrten.
Bald verklang meine Stimme unter dem wilden Getöse weit umher, unter dem kläglichen Geschrei der dem Tode Geweihten, und unter dem Donner der Flinten. Was den Flammen entrinnen wollte, wurde von den Dragonern niedergeschossen.
Da raffte ich mich auf und stürzte zur Mühle hin. In demselben Augenblicke warf sich ein Mädchen aus dem Fenster. Ich fing es auf. Es war Antonie, meines Oheims jüngste Tochter.
»Der Hund!« schrie der Marschall. »Ich sagt's doch immer, er sei einer von ihnen!«
»Nieder mit ihr!« brüllte er wieder. Zwei Dragoner rissen mir die ohnmächtige Antonie aus den Armen, und indem sie am Boden lag, erschossen die Henkersknechte das unschuldige Geschöpf zu meinen Füßen.
»O Du abscheuliches Ungeheuer! Wie willst Du diese That verantworten vor Deinem und unserm König, vor Deinem und unserm Gott?« schrie ich.
Er sprengte gegen mich, gab mir einen Stockstreich über den Kopf und ritt mich nieder. Ich glaubte im Taumel, er habe Befehl gegeben, mich umzubringen. Ich raffte mich auf, riß einem Dragoner die Flinte vom Arm, um mein Leben zu schützen. Niemand wagte sich an mich, ungeachtet der Marschall mehrmals hintereinander schrie: »Packt ihn! Packt ihn!«
Indem ich wild um mich her sah, erblickte ich – o entsetzliches Schauspiel! – über Antoniens Leiche meinen Oheim, Herrn Etienne, mit blutigem Haupte. Ich erkannte ihn nur noch an der Gestalt und an den Kleidern. Er stieß einen schrecklichen Schrei gen Himmel aus und sank unter Flintenschüssen über dem Leichnam seines geliebten Kindes zusammen.
Ich wollte zum Marschall reden, aber meine Zunge war gelähmt! Ich hob nur die Augen und den Arm mit der Flinte gen Himmel. Da fühlte ich mich getroffen und sank in dumpfe Empfindungslosigkeit nieder.
Als ich wieder zu helleren Vorstellungen genesen war und die Dinge um mich her deutlicher erkannte, sah ich mich unter fremden Händen und mein verwundeter Kopf war verbunden.
»Wo bin ich denn?« fragte ich. Ich erinnerte mich nun erst des unglücklichen Ereignisses wieder, dem ich wahrscheinlich mein Hiersein zu danken hatte. »Bin ich denn ein Gefangener?«
»Allerdings, und das von Rechtswegen!« antwortete mein Wärter.
»Weiß Madame de Sonnes davon? Hat sie nicht hergesandt?«
»Kennst Du die Leute hier? Wo wohnt sie?«
»In der Martinsgasse, im Hause Albertas.«
»Du Narr! In ganz Marseille ist keine Martinsgasse.«
»In Marseille? Wie? Seit wann bin ich hier?«
»Es mögen drei Wochen sein, Du armer Teufel. Ich glaube es wohl, daß Du nicht drum weißt. Hast bis gestern Nacht in hitzigen Fiebern gerast.«
»Was soll ich hier in Marseille?«
»Wenn Du gesund bist, ziehst Du da den Kittel an.«
»Das ist ein Galeerenkittel. Wieso denn? Sagt mir doch, bin ich denn . . . ich will, ich kann nicht glauben . . . hat man mich verurteilt?«
»Wahrscheinlich! Wie man sagt, nur für neunundzwanzig Jahre an die Ruderbank.«
Der Kerl sprach leider nur zu wahr. Sobald ich genesen war, eröffnete man mir das schreckliche Urteil. Wegen ausgestoßener Drohungen und mörderischen Angriffs auf das Leben des Marschalls von Montreval, ungerechnet, daß ich erwiesenermaßen ein geheimer Protestant sei und zum besten der Ketzer in der Kanzlei und wo ich vermöge Amtes Einfluß gehabt manchen Unterschleif begangen hätte, war ich zu neunundzwanzigjähriger Galeerenstrafe verdammt worden.
Ich seufzte, doch im stolzen Gefühl meiner Unschuld zog ich ohne Schmerz den Sklavenkittel an. Meine Thränen flossen nur dem Schicksale Klementinens. Ich bemühte mich, ihr einige Zeilen zukommen zu lassen. Mit einer geborgten Bleifeder schrieb ich ihr auf einem halb zerrissenen Blättchen meinen Abschied. Ach, ich war zu arm, meinen Wächter zu bestechen! Er nahm meinen Brief, las ihn, und riß ihn lachend durch, indem er sagte: »Hier ist keine Post zu Liebesbriefen!«
Man legte mir die Ketten an, und führte mich, nebst andern Unglücksgefährten, zum Hafen und auf die mir bestimmte Galeere.
So sind nun neunundzwanzig Jahre vergangen! Was sind sie?
Der Tod, mein oft, mein heiß ersehnter Freund, kommt mich zu erlösen. Ach, mein Herr, und Sie haben die Barmherzigkeit für mich gehabt, die letzten meiner Stunden noch angenehm zu machen! Unsere Geister sind verwandt, und berühren sich vielleicht wieder.
Hier legte der Abbé Dillon sein Heft nieder. »Dies waren Alamontades Schicksale!« sagte er.
Wir schwiegen. Unsere Seelen waren allzu sehr mit dem Unglück des edeln Mannes beschäftigt.
»Aber, lieber Abbé,« sagte ich, »noch eins müssen wir wissen! Kam Klementine de Sonnes nach Marseille? Wie glücklich muß unser Alamontade beim Anblick dieses geliebten Wesens nach so langer Trennung geworden sein!«
»Als ich ihm, erzählte Dillon, die Nachricht mitteilte, daß Klementine, sobald sie erfahren habe, er sei noch am Leben und in Marseille, den Entschluß gefaßt hätte, ihn zu sehen, war er tief erschüttert. Er schwieg lange. »So hat sie mich denn nicht vergessen!« rief er endlich innig bewegt. »Nun wünsche ich meinem Leben nur so lange Frist, bis ich sie noch einmal gesehen habe.«
Das Wiedersehen seiner Klementine schien dem liebenswürdigen Dulder die schönste Ausgleichung aller seiner überstandenen Leiden zu werden. Er hoffte mit Sehnsucht ihrer Ankunft entgegen. Er, dem bei so vieler Tugend so wenig Freude zuteil geworden war, sollte aber auch diese Seligkeit nicht genießen.
Er starb. Ich ward eines Morgens in der Frühe zu ihm gerufen. Als ich zu ihm trat, war er schon verblichen. Auf seinem blassen Antlitze ruhte ein sanftes Lächeln. Er schien mit dem Gedanken an Klementinen entschlummert und in ein besseres Leben übergegangen zu sein. Ich warf mich weinend zu den Füßen seines Bettes auf die Kniee nieder und war trostlos, wie um einen verstorbenen Vater.
Einen Tag später, nachdem er begraben war, kam Klementine. Sie war sehr krank, und in ihrem Wagen vom Arzte begleitet. Sie mußte sogleich wieder das Bett hüten. Ich ward zu ihr gerufen. Sie war schwach und abgezehrt, trug aber unverkennbar noch die Spuren ehemaliger Schönheit.
Als sie den Tod des geliebten Sklaven erfahren hatte, hob sie ihre matten Augen stumm, mit einem sehnsuchtsvollen Blick gen Himmel. Ich zeigte ihr Alamontades Bild. Sie küßte es und ließ es für sich abzeichnen. Auch mußte ich ihr aus Alamontades Nachlaß sein Messer und den blechernen Löffel geben, aus welchem sie von nun an allein die Arznei und die wenige Speise nahm, die sie genoß.
Sie sprach selten, doch schien sie heiter zu sein. Ich mußte ihr von ihm erzählen. Ihre Augen hingen unverwandt an Alamontades Bild, bis sie im Tode brachen. Auf ihren ausdrücklichen Befehl ward die Dulderin an der Seite ihres Freundes begraben, dem sie treu bis zum Tode war, und welchen sie, durch falsche Nachrichten getäuscht, schon längst tot geglaubt hatte.
Jetzt sind schon über fünfzig Jahre verflossen, seitdem dies alles geschah, aber Alamontades Andenken blieb mir gleich heilig und frisch.
Lasset uns, Ihr Lieben, leben, wie er! Lasset uns die Selbstständigkeit unseres Geistes, seine Befreiung von der Gewalt des Vergänglichen, als seine Bestimmung erkennen und in der Stunde der Versuchung die wankende Hoheit desselben durch den Blick auf die Ewigkeit und den Gedanken retten. Sei rein, wie Gott!