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Gervaise wollte die Hochzeit nicht feiern. Wozu Geld ausgeben? Dann schämte sie sich auch ein wenig; es erschien ihr unnötig, ihre Heirat dem ganzen Viertel anzuzeigen. Aber Coupeau wollte nicht: man könne doch nicht nur gerade so heiraten, ohne einen Bissen zusammen zu essen. Ihm könne das ganze Viertel gestohlen bleiben! Ganz einfach nur, ein kleiner Spaziergang am Nachmittag, bevor man in der ersten besten Garküche einem Kaninchen den Hals brechen würde. Und keine Musik zum Nachtisch, sicher nicht, keine Klarinette.
Nur zum Anstoßen etwas, bevor jeder nach Hause geht, schlafen ...
Der Zinkarbeiter lachte, machte Dummheiten und überzeugte die junge Frau, nachdem er ihr versprochen hatte, daß man sich unterhalten würde. Er würde schon sein Augenmerk auf den Gläsern haben, damit es keinen Sonnenstich gäbe. Dann bestellte er ein Picknick bei Augustin im Moulin d'Argent auf dem Boulevard de la Chapelle zu hundert Sous das Gedeck. Das war ein kleiner Weinhändler mit bescheidenen Preisen, der eine Kneipe in seiner Hinterstube hatte, hinter den drei Akazien des Hofes. Im ersten Stock würde man sich sehr wohl fühlen. Zehn Tage lang suchte er seine zu ladenden Gäste zusammen, im Hause seiner Schwester, in der Rue de la Goutte d'Or: Herrn Madinier, Fräulein Remanjou, Frau Gaudron und ihren Mann. Gervaise mußte noch zum Schluß zwei Kameraden annehmen, Bibi-la-Grillade und Mes-Bottes; zweifellos, Mes-Bottes trank tüchtig, er hatte aber so einen Mordsappetit, daß man ihn immer zu solchem Picknick einlud, nur um das Gesicht zu sehen, das der Suppenverkäufer macht, wenn er durch dieses hohle Loch zwölf Pfund Brot verschwinden sah. Die junge Frau versprach ihrerseits ihre Auftraggeberin, Frau Fauconnier, zu bringen und die Boches, sehr anständige Leute. Alle zusammen, das sind fünfzehn Personen zu Tisch. Das war genug. Sind es zuviel Leute, endet das immer mit Streit.
Coupeau hatte jedoch keinen Sous. Er wollte nicht schwindeln, sondern wie ein ehrlicher Mann handeln. Er lieh fünfzig Francs von seinem Meister. Damit kaufte er zuerst den Trauring, einen goldenen Ring zu zwölf Francs, den ihm Lorilleux aus der Fabrik um neun Francs verschaffte. Er bestellte darauf einen Gehrock, eine Hose und eine Weste bei einem Schneider aus der Rue Myrrha, dem er nur eine Anzahlung von zwanzig Francs machte. Seine Lackschuhe und der Hut, das konnte noch so getragen werden. Wenn er nun die zehn Francs für das Picknick, seine Zeche und diejenige von Gervaise, die Kinder mußten drein gehen, auf die Seite legte, so blieben ihm noch gerade sechs Francs für eine Messe beim Altar der Armen. Sicherlich liebte er die Schwarzröcke nicht, das Herz blutete ihm, daß er seine sechs Francs diesen Pfaffen bringen sollte, die sie nicht nötig hatten, um ihren Schlund feucht zu erhalten. Aber eine Hochzeit ohne Messe ist fast so gut wie keine Hochzeit. Er ging selbst in die Kirche, um zu handeln. Eine Stunde lang stritt er sich mit einem kleinen alten Priester in schmutziger Soutane herum, nannte ihn diebisch wie eine Obsthändlerin. Er hatte Lust, ihm eins hinaufzugeben. Um ihn zu hänseln, fragte er ihn, ob er nicht eine Gelegenheitsmesse finden könnte in seiner Boutique, nicht zu stark verdorben, wovon ein gutes Paar noch leben könnte. Der alte kleine Priester zankte mit ihm, Gott würde gar keine Freude daran haben, seine Verbindung zu segnen, aber er erließ ihm die Messe für fünf Francs. Das waren immerhin zwanzig Sous Ersparnis. Es blieben ihm also zwanzig Sous.
Gervaise wollte auch sauber daherkommen. Sobald die Hochzeit beschlossen war, machte sie Überstunden am Abend und es gelang ihr, dreißig Francs auf die Seite zu legen. Sie hatte große Lust, sich einen kleinen Umhang aus Seide zu kaufen, der mit dreizehn Francs in der Faubourg-Poissonnière am Schaufenster ausgezeichnet war. Das leistete sie sich, kaufte dann für zehn Francs einen dunkelblauen Wollrock vom Manne einer Büglerin, die im Hause der Fauconnier gestorben war, und änderte ihn auf ihre Taille. Mit den übrigen sieben Francs kaufte sie ein paar Baumwollhandschuhe, eine Rose für ihr Häubchen und ein paar Stiefel für Claude, ihren Ältesten. Glücklicherweise hatten die Kleinen noch gute Blusen. Vier Nächte verbrachte sie damit, alles zu reinigen und alle, selbst die kleinsten Löcher ihrer Strümpfe und des Hemdes zu flicken.
Endlich, am Freitagabend noch, am Vorabend des großen Tages, hatten Gervaise und Coupeau, als sie von der Arbeit heimkamen, noch zu tun bis elf Uhr. Dann verbrachten sie noch eine Stunde zusammen im Zimmer der jungen Frau, ehe jeder bei sich schlafen ging, froh, endlich am Ende dieser Verlegenheit zu sein. Trotzdem sie sich vorgenommen hatten, sich ihrer Umgebung wegen nicht die Beine auszureißen, nahmen sie sich die Sache doch zu Herzen und waren nun erschöpft. Als sie sich Gutenacht sagten, schliefen sie fast im Stehen. Sie stießen beide einen großen Seufzer der Erleichterung aus. Jetzt war alles geordnet. Coupeau hatte Herrn Madinier und Bibi-la-Grillade zu Zeugen; Gervaise rechnete mit Lorilleux und Boche. Man wollte ruhig aufs Bürgermeisteramt und dann in die Kirche gehen, alle sechs, ohne hinter sich den langen Schwanz der Leute nachzuziehen. Die beiden Schwestern des Bräutigams hatten erklärt, sie blieben zu Hause, weil ihre Gegenwart nicht nötig wäre. Mama Coupeau fing an zu weinen und erklärte, sie wolle vorausgehen und sich in einen Winkel stellen, um von dort aus zuzusehen. Man mußte ihr versprechen, sie mitzunehmen. Die Zusammenkunft der ganzen Gesellschaft war auf ein Uhr im Moulin d'Argent festgesetzt. Man würde mit der Eisenbahn hinfahren und zu Fuß auf der Landstraße zurückkommen; dabei würde man dann Hunger bekommen. Das Fest versprach hübsch zu werden. Kein großes Gelage, aber voll Lustigkeit und wo es liebenswürdig und anständig zugeht.
Am Samstag früh, während Coupeau sich anzog, packte ihn Unruhe beim Gedanken an seine zwanzig Sous. Es fiel ihm ein, daß er aus Höflichkeit seinen Zeugen doch ein Glas Wein und eine Schnitte Schinken anbieten müßte. Dann könnten noch unerwartete Ausgaben dazukommen. Sicher würden zwanzig Sous nicht ausreichen. Er hatte sich erboten, Claude und Etienne zu Frau Boche zu führen, die sie am Abend zum Essen mitbringen sollte, dann lief er in die Rue de la Goutte d'Or, stieg entschlossen zu Lorilleux hinauf, um sich zehn Francs zu borgen. Das zog ihm schon ein wenig den Hals zu, denn er erwartete eine Grimasse seines Schwagers. Dieser brummte und höhnte wie ein böses Tier, doch schließlich rückte er mit den zwei Fünffrancsstücken heraus. Coupeau hörte aber noch, wie seine Schwester zwischen den Zähnen hervorpreßte, daß »das schon gut anfinge«.
Die Trauung am Standesamt war auf halb elf Uhr festgesetzt. Es war sehr schönes Wetter, eine Gewittersonne brütete in den Straßen. Um nicht aufzufallen, trennten sich das junge Paar, die Mama und die vier Zeugen in zwei Gruppen. Vorn ging Gervaise am Arm Lorilleux', Herr Madinier führte Mama Coupeau; zwanzig Schritte weiter auf dem andern Gehweg gingen Coupeau, Boche und Bibi-la-Grillade. Diese drei waren in schwarzen Gehröcken, ihre Rücken waren gekrümmt und die hängenden Arme schlenkerten. Boche hatte eine gelbe Hose an; Bibi-la-Grillade war bis zum Hals zugeknöpft, ohne Weste und zeigte nur einen Zipfel der Krawatte, die wie ein Strick war. Nur Herr Madinier trug einen Frack, einen schönen Frack mit viereckigem Schweif; und die Vorübergehenden blieben stehen und schauten sich diesen Herrn an, der die dicke Mutter Coupeau in ihrem grünen Schal, schwarzer Haube mit roten Bändern daran spazierenführte. Gervaise, sehr sanft, heiter, in ihrem Kleid von harter blauer Farbe, mit den Schultern eingezwängt in das enge Mäntelchen, hörte verbindlich den Scherzen Lorilleux' zu, der trotz der großen Wärme in einem weiten sackartigen Paletot verschwand; von Zeit zu Zeit drehte sie sich an den Straßenkreuzungen nach Coupeau um, dessen neuer Anzug in der Sonne leuchtete und ihn genierte, und lächelte ihm zu.
Trotzdem sie langsam gingen, kamen sie eine halbe Stunde zu früh an. Und da der Bürgermeister sich verspätet hatte, kamen sie erst um elf Uhr daran. Sie setzten sich in einer Ecke des Saales auf Stühle und warteten. Sie schauten zur hohen Decke hinauf und auf die kahlen Wände, leise sprechend und aus Höflichkeit jedesmal ihre Stühle rückend, wenn ein Bureauangestellter vorüberging. Doch schimpften sie mit leiser Stimme den Bürgermeister einen Faulenzer; sicher sei er bei seiner Blondine, sich die Gicht reiben zu lassen; vielleicht habe er auch seine Schärpe verschluckt. Als aber die Magistratsperson eintrat, standen sie sehr respektvoll auf. Man hieß sie sich wieder setzen. Dann wohnten sie drei Trauungen bei, mit Bräuten in Weiß, die Mädchen mit Locken, die Fräuleins mit rosa Gürtel, ein langer Zug von Herren und Damen, die alle sehr vornehm aussahen. Als man sie endlich aufrief, konnte die Trauung fast nicht stattfinden, denn Bibi-la-Grillade war verschwunden. Boche fand ihn unten, er rauchte vor dem Hause seine Pfeife. Sie wären aber auch schön dumm, wenn sie drinnen blieben in dieser Kiste! Sich um diese Leute zu kümmern, weil man nicht selbst cremefarbene Handschuh hatte, sie jenen unter die Nase zu stecken! Die Formalitäten, das Vorlesen des Gesetzbuches, die Fragen, die Unterschriften, alles wurde so schnell erledigt, daß sie glaubten, um einen guten Teil der Zeremonie betrogen worden zu sein. Gervaise, betäubt, das Herz geschwellt, drückte ihr Taschentuch an die Lippen. Mama Coupeau weinte heiße Tränen. Alle hatten sich über das Pult gebeugt und ihre Namen mit großen stolpernden Buchstaben hingeschrieben, nur der Gatte hatte ein Kreuz gemacht, er konnte nicht schreiben. Jeder gab vier Sous für die Armen. Als der Angestellte Coupeau den Trauungsschein überreichte, mußte ihn Gervaise am Ellbogen stoßen, worauf er sich entschloß, noch fünf Sous herauszurücken.
Der Gang vom Bürgermeisteramt zur Kirche verlief gut. Unterwegs tranken die Männer Bier, Mama Coupeau und Gervaise Cassis mit Wasser. Es war ein langer Weg, die Sonne brannte scharf und nirgends war Schatten. Der Kirchendiener erwartete sie mitten in der leeren Kirche; er stieß sie in eine kleine Kapelle hinein, indem er sie wütend fragte, ob sie sich denn über die Kirche lustig machen wollten, da sie so spät kämen. Ein Priester kam mit langen Schritten, verdrießlichem Gesicht und blaß vor Hunger, mit ihm kam ein Ministrant in schmutzigem hängendem Chorhemd. Er beeilte sich mit dem Lesen der Messe, fraß die lateinischen Sätze förmlich vor Eile und sah dabei die Eheleute und deren Zeugen scheel an. Die Verheirateten vor dem Altar waren sehr verlegen, sie wußten nie, wann sie niederknien, aufstehen oder sich setzen sollten, sie warteten immer auf das Zeichen des Geistlichen. Die Zeugen wollten vornehm sein, sie standen die ganze Zeit; Mama Coupeau fing wieder an in ihr Gebetbuch zu weinen, das sie von einer Nachbarin entliehen hatte. Zwölf Uhr hatte geschlagen, die letzte Messe war gelesen, die Kirche widerhallte vom Hin- und Hergehen der Sakristane und dem Lärm, den das Wiederaufstellen der Stühle machte. Man lichtete den Hauptaltar für ein Fest her, die Hammerschläge der Tapezierer, welche die Behänge annagelten, hallten durch die Kirche. Im Winkel der Kapelle, mitten im Staub, den der Besen des Kirchendieners aufwirbelte, bewegte der schlechtgelaunte Priester seine Hände über den gebeugten Köpfen von Gervaise und Coupeau; er schien sie während eines Umzugs zu vereinen und in Abwesenheit des lieben Gottes zwischen zwei ernsten Messen.
Als die Hochzeitsleute sich auch in der Sakristei eingetragen hatten und nun wieder in voller Sonne unter dem Portal waren, blieben sie stehen; sie mußten sich verschnaufen wie Leute, die man gehetzt und in Galopp gejagt hatte.
»Schon fertig!« sagte Coupeau mit geniertem Lächeln.
Er drehte sich und fand gar nichts Spaßiges, worauf er meinte:
»Ja, ja, das braucht nicht lange! Man macht euch das in vier Handbewegungen ... Ganz wie beim Zahnarzt: man hat keine Zeit, Au zu schreien! Sie verheiraten ohne Schmerzen.«
»Ja, ja, schöne Arbeit,« höhnte Lorilleux lachend. »Das tut sich zusammen in fünf Minuten und hält das ganze Leben lang! Ach, dieser arme Cadet-Cassis!«
Und die vier Zeugen schlugen ihm auf die Schultern, während er einen runden Rücken machte. Währenddessen umarmte Gervaise Mama Coupeau, sie lächelte mit feuchten Augen. Sie antwortete auf die unterbrochene Rede der alten Frau:
»Haben Sie keine Angst, ich werde mein möglichstes tun. Wenn es schlecht ausgeht, ist es nicht meine Schuld. Nein, gewiß nicht, ich habe solche Lust, glücklich zu werden... Nun, jetzt ist's geschehen, nicht wahr? Jetzt ist es an ihm und an mir, uns zu verstehen und das unsere zu tun.«
Daraufhin ging man geradeswegs nach Moulin d'Argent. Coupeau hatte den Arm seiner Frau genommen. Sie gingen schnell, lachten, in gehobener Stimmung. Sie gingen zweihundert Schritte den andern voraus und sahen weder die Häuser noch die Vorübergehenden oder Wagen. Der betäubende Lärm der Vorstadt machte ihnen Ohrensausen. Als sie beim Weinhändler ankamen, bestellte Coupeau sofort zwei Liter, Schinkenaufschnitt ohne Teller und Tischtuch, gleich unten im hintern Glasraum, um einfach etwas zu essen. Als er sah, daß Boche und Bibi-la-Grillade ernstlich hungrig waren, ließ er einen dritten Liter und ein Stück Käse kommen. Mama Coupeau war nicht hungrig, sie war noch zu gerührt, um essen zu können. Gervaise, die sehr durstig war, trank große Gläser Wasser mit etwas Wein darin.
»Das geht mich an«, sagte Coupeau, indem er sofort ans Büfett ging und vier Francs und fünf Sous bezahlte.
Jetzt war es ein Uhr und die geladenen Gäste kamen an. Frau Fauconnier, eine dicke Frau, noch ganz hübsch, kam als erste; sie hatte ein grobstoffiges Kleid an, mit aufgedruckten Blumen, eine rosa Krawatte und eine Haube, überladen mit Blumen. Dann kamen zusammen Fräulein Remanjou, ganz schmächtig in ihrem ewigen schwarzen Kleid, das sie auch zum Schlafen anzubehalten schien, und das Paar Gaudron, der Mann von brutalem Schwergewicht, dessen braune Weste bei der kleinsten Bewegung krachte; die Frau, enorm, mit dem vorgestreckten Bauch der Schwangeren, dessen Rundung durch ein schreiend violettes Kleid noch mehr hervortrat. Coupeau erklärte, daß man auf Mes-Bottes nicht zu warten brauche; der Kamerad würde die Hochzeit auf der Straße nach Saint-Denis erwarten.
»Sehr gut!« rief Frau Lerat eintretend, »wir werden schön getauft werden! Seht nur das an!« Und sie rief die Gesellschaft zusammen vor die Türe des Weinhändlers, damit sie die schwarzen Wolken betrachten sollten, ein Gewitter von einer Schwärze wie Tinte, das im Süden von Paris aufstieg. Frau Lerat, die älteste Schwester Coupeaus, war eine große Frau, trocken, männlichen Charakters, durch die Nase sprechend, eingehüllt in ein braunes Kleid. Es war zu weit, mit langen Fransen, und sie sah darin aus wie ein nasser Pudel. Sie spielte mit ihrem Sonnenschirm wie mit einem Stock. Als sie Gervaise umarmt hatte, sagte sie:
»Sie machen sich keinen Begriff, es trifft einen fast der Schlag vor Hitze... Man meint, jemand wirft einem Feuer ins Gesicht.«
Alle erklärten darauf, daß sie das Gewitter schon längst gespürt hätten. Schon als man zur Kirche herauskam, hatte Herr Madinier gesehen, was kommen würde. Lorilleux erzählte, daß seine Hühneraugen ihn am Weiterschlafen verhindert hätten seit drei Uhr in der Früh. Das konnte doch nicht so weitergehen; seit drei Tagen wäre es doch wirklich zu heiß gewesen.
»Oh, es wird ordentlich gießen,« wiederholte Coupeau unter der Tür stehend, indem er den Himmel mit beunruhigten Blicken musterte. »Wir warten nur noch auf meine Schwester, man könnte gehen, wenn sie nur da wäre.«
Frau Lorilleux war wirklich verspätet. Frau Lerat war gerade bei ihr gewesen, um sie mitzunehmen; da sie aber erst dabei war, ihr Korsett anzuziehen, hatten sie sich gestritten. Die große Witwe raunte dem Bruder noch ins Ohr:
»Ich hab sie einfach stehen lassen. Die ist in einer Laune! Na, du wirst ja sehen!«
Und die Hochzeiter mußten noch eine gute Viertelstunde warten; sie gingen in der Kneipe herum, wurden gestoßen und hin und her geschoben von den Männern, die hereinkamen, um am Schanktisch einen Krug zu trinken. Von Zeit zu Zeit traten Boche oder Frau Fauconnier oder Bibi-la-Grillade hinaus auf den Rand des Gehweges, die Nase in der Luft. Es regnete noch nicht; der Tag wurde dunkler, Windstöße kamen, den Boden fegend und weißen Staub aufwirbelnd. Beim ersten Donnerschlag bekreuzigte sich Fräulein Remanjou. Aller Augen drehten sich ängstlich nach der runden Uhr über dem Spiegel; es war schon zwei Uhr weniger zwanzig Minuten.
»Nun haben wir's!« schrie Coupeau. »Jetzt weinen die Engel.«
Ein Platzregen fegte die Straße, die Frauen flohen und hielten ihre Röcke mit beiden Händen hoch unter diesem ersten Guß. Endlich kam Frau Lorilleux an, wütend, atemlos stürzte sie sich auf den Eingang mit ihrem Regenschirm, der nicht gleich zugehen wollte.
»Hat man je sowas gesehen!« stotterte sie. »Gerade bei meiner Türe hat es mich erwischt, ich hatte Lust, wieder hinaufzugehen, mich auszuziehen. Das wäre doch besser gewesen ... Schöne Hochzeit das! Ich sagte es ja, ich wollte alles auf den kommenden Samstag verschieben. Und jetzt regnet's, weil man nicht auf mich hören wollte. Um so besser, um so besser, soll der Himmel darüber bersten!«
Coupeau versuchte sie zu trösten. Sie sagte ihm aber, er solle schlafengehen. Er würde doch nicht ihr Kleid bezahlen, wenn es verdorben ist. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, in dem sie fast erstickte; die Taille war zu eng und zog an den Knopflöchern, schnitt sie an der Achsel ein, und der Rock war so eng, daß sie nur in kleinen Schritten gehen konnte. Doch schauten sie die Damen der Gesellschaft mit verkniffenen Lippen an und beneideten sie um ihre Toilette. Sie schien Gervaise gar nicht zu sehen, die neben Mama Coupeau saß. Sie rief nach Lorilleux und verlangte sein Taschentuch; dann wischte sie mit demselben in einer Ecke der Kneipe sorgfältig jeden Tropfen ab, der auf die Seide gekommen war.
Dieser Platzregen hörte ganz plötzlich auf. Der Tag neigte sich mehr und mehr, es wurde fast Nacht, eine Nacht, die hin und wieder durch Blitze erhellt wurde. Bibi-la-Grillade sagte lachend, daß gleich Pfaffen herunterfallen würden. Da löste sich das Gewitter mit großer Heftigkeit. Wahrend einer halben Stunde regnete es wie aus Kübeln und es donnerte ohne Unterlaß. Die Männer standen vor der Türe und schauten in diesen grauen Regenschleier, auf die angeschwollenen Bäche und die plätschernden Pfützen. Die Frauen saßen erschreckt beisammen und hielten sich die Augen zu. Sie sprachen nichts mehr, der Hals war ihnen wie zugeschnürt. Eine spaßhafte Bemerkung Boches über den Donner, daß der heilige Petrus da oben heftig niese, fand keine Beachtung. Als nun endlich das Blitzen aufhörte und der Donner ferner rollte, wurde die Gesellschaft wieder ungeduldig, sie waren böse gegen das Gewitter, fluchten und ballten die Fäuste gegen die Wolken. Jetzt fiel nur noch ein feiner Regen aus diesem Aschenhimmel.
»Es ist zwei Uhr vorüber,« rief Frau Lorilleux. »Wir wollen doch nicht hier übernachten!« Fräulein Remanjou meinte, man solle trotzdem auf das Land gehen, man könne in dem Festungsgraben anhalten, aber alle schrien: das werden schöne Wege sein, man könne sich doch nicht ins Gras legen, auch schien nicht alles vorüber, es könnte noch einmal eine Sauce kommen. Coupeau, der mit den Augen einen Arbeiter verfolgte, der ganz durchnäßt war und ruhig im Regen dahinging, murmelte:
»Wenn Mes-Bottes, dieses Tier, uns jetzt auf dem Wege nach Saint-Denis erwartete, wird ihn auch gerade kein Sonnenstich treffen.«
Darüber lachten alle. Die schlechte Laune nahm jedoch zu. Am Ende war es schon zum Zerplatzen. Man mußte sich zu etwas entscheiden. Man konnte sich doch bis zur Essenszeit nicht gegenseitig in den Magen schauen. Eine Viertelstunde lang zerbrach man sich den Kopf über den eigensinnig fortdauernden Regen. Bibi-la-Grillade schlug vor, man solle Karten spielen; Boche, der spaßig und tückischen Temperaments war, schlug ein kleines drolliges Spiel vor, das Beichtvaterspiel. Frau Gaudron wollte, daß man Zwiebelkuchen essen gehe, in der Chaussee Clignancourt; Frau Lerat wünschte, jemand solle eine Geschichte erzählen; Gaudron langweilte sich nicht, er befand sich ganz wohl hier, er schlug vor, man solle sich gleich zu Tisch zum essen setzen. Bei jedem Vorschlag stritt man und ärgerte sich; das eine war dumm, dies wieder einschläfernd, man würde sie für Göhren halten. Lorilleur meinte auch etwas sagen zu müssen und schlug vor, einen Spaziergang über die äußeren Boulevards bis zum Père-Lachaise zu machen, wo man das Grab von Abélard und Héloise anschauen würde, wenn man Zeit hatte. Da konnte Frau Lorilleur nicht mehr an sich halten und schrie: sie würde überhaupt heimgehen! Das würde sie tun! Mache man sich denn lustig über die Leute? Sie ziehe sich an, lasse sich verregnen, um dann in einer Kneipe zu sitzen! Nein, nein, von so einer Hochzeit habe sie genug, da ziehe sie ihr Daheimsein vor. Coupeau und Lorilleux mußten ihr die Türe verstellen. Sie rief:
»Geht weg von da! Wenn ich euch sage, daß ich gehe!«
Als es ihrem Gatten gelang, sie zu beruhigen, ging Coupeau zu seiner Frau, die immer noch ruhig in ihrem Winkel saß und mit ihrer Schwiegermama und Frau Fauconnier plauderte.
»Sie schlagen ja gar nichts vor?« sagte er; er wagte es noch nicht, ihr du zu sagen.
»Oh, mir ist alles recht,« antwortete sie lachend. »Ich bin nicht wählerisch. Gehen oder dableiben, das ist mir gleich. Ich befinde mich sehr wohl und verlange nichts mehr.«
Sie hatte in Wirklichkeit ein ganz verklärtes Gesicht voll friedlicher Freude. Seitdem die Gäste alle da waren, sprach sie zu jedem mit leiser und etwas bewegter Stimme, vernünftig und ohne sich in den Streit zu mischen. Während des Gewitters hielt sie ihre Augen offen und schaute in die Blitze, als sehe sie ernste Dinge, fern, in der Zukunft, in diesem jähen Schein.
Herr Madinier hatte noch nichts vorgeschlagen. Er lehnte am Büfett, die Rockschöße auseinander, seine Gewichtigkeit als Meister bewahrend. Er spuckte hin und wieder ausgiebig auf den Boden und rollte seine dicken Augen.
»Eigentlich«, sagte er, »könnte man in das Museum gehen ...«
Er streichelte sein Kinn, indem er die Gesellschaft durch Augenzwinkern befragte.
»Es gibt dort Antiquitäten, Bilder, Gemälde, alles mögliche zu sehen. Es ist sehr lehrreich... Vielleicht kennen Sie das nicht. Oh, das kann man jedenfalls einmal ansehen.«
Die Hochzeitsgäste schauten sich an. Nein, Gervaise kannte das nicht; Frau Fauconnier auch nicht, Boche und auch die andern nicht. Coupeau glaubte einmal an einem Sonntag hinaufgestiegen zu sein, doch erinnerte er sich nicht mehr gut. Man zögerte noch, doch hatte Herrn Madiniers Gewichtigkeit einen großen Eindruck auf Frau Lorilleur gemacht, die nun diesen Vorschlag sehr gut und anständig fand. Weil man nun schon den Tag geopfert habe, angezogen sei, wäre es ebenso gut, etwas für seine Bildung zu tun. Alle bejahten es. Da es aber immer noch regnete, borgte man sich Regenschirme beim Weinhändler, alte Schirme, die stehen geblieben waren, in blau, grün, braun; und man machte sich auf den Weg ins Museum. Die Gäste bogen rechts ab und gingen nach Paris durch die Vorstadt Saint-Denis. Coupeau und Gervaise gingen wieder allen voran. Herr Madinier gab seinen Arm nun Frau Lorilleur, Mama Coupeau ließ man ihrer schwachen Beine wegen beim Weinhändler. Dann kamen Lorilleur und Frau Lerat, Boche und Frau Fauconnier, Bibi-la-Grillade und Fräulein Remanjou, endlich das Ehepaar Gaudron. Man war zu zwölf. Das gab einen netten Schweif auf dem Gehweg.
»Oh! Wir haben nichts damit zu tun, ich schwöre es Ihnen,« gab Frau Lorilleur Herrn Madinier zur Erklärung. »Wir wissen nicht, woher er sie genommen hat, vielmehr wissen wir es nur zu gut; aber wir haben dabei doch nichts zu sagen, nicht wahr?... Mein Mann mußte den Ehering bezahlen. Diesen Morgen, als wir aufstanden, mußte man ihnen zehn Francs borgen, sonst wäre die Heirat gar nicht zustande gekommen... Eine Braut, die gar keinen Verwandten zur Hochzeit mitbringt! Sie sagt, sie habe in Paris eine Schwester, die Schweinemetzgerin ist. Warum hat sie sie denn dann nicht eingeladen?«
Sie zeigte nun auf Gervaise, die infolge des abschüssigen Pflasters arg hinken mußte.
»Schauen Sie sie an! Ist das erlaubt! ... So eine hinkende Ente!« Und dies Wort machte die Runde durch die Gesellschaft. Lorilleur krächzte, sagte, man müsse sie immer so nennen. Aber Frau Fauconnier nahm Gervaise in Schutz; man tat unrecht, sich über sie lustig zu machen, sie war so sauber wie ein Sous und war tüchtig in der Arbeit. Frau Lerat, die immer zum scherzen aufgelegt war, nannte das Bein der Kleinen »einen Liebeskegel«; sie fügte hinzu, daß viele Männer das liebten, ohne sich näher erklären zu wollen.
Die Hochzeit kam aus der Rue Saint-Denis und überquerte den Boulevard. Sie mußte der Wagen wegen warten; dann kreuzten sie die Straße, die durch das Gewitter in ein Meer von Dreck verwandelt war. Der Guß setzte neuerdings ein und sie mußten die Regenschirme öffnen; die Frauen, am Arme der Männer hängend, stapften im Dreck von einem Gehweg zum andern. Zwei Straßenjungen schrien »Bettscheißer«; Spaziergänger liefen herbei, Geschäftsleute schauten belustigt hinter ihren Ladenfenstern hervor; mitten unter dem Johlen der Menge bildeten diese Paare, in Prozession gehend, lebhafte Farben auf dem grauen und nassen Hintergrund des Boulevards; das stark blaue Kleid Geroaises, das grobgeblumte Kleid der Frau Fauconnier, die kanariengelbe Hose von Boche, der leuchtende Gehrock von Coupeau und Madiniers karierter Anzug, die ganze Steifheit dieser sonntäglich geputzten Leute sah aus wie ein Karnevalswitz. Die schöne Toilette der Frau Lorilleux, die Fransen der Frau Lerat, die zerknitterten Röcke des Fräulein Remanjou vereinten alle Moden und waren der reinste Trödlerladen, der Luxus der Armen. Aber besonders die Herrenhüte waren es, die so belustigten; alte, aufbewahrte Hüte, verschossen in der Dunkelheit der Schränke, mit allen möglichen Formen, spitz, breit oder mit außergewöhnlichen Rändern; aufgestülpte Hüte, flache, zu weite und zu enge. Das Lachen nahm noch zu, als zum Schluß Frau Gaudron kam in ihrem schreiend violetten Kleid, ihren schwangeren Bauch vor sich hertragend. Die Hochzeitsgäste jedoch beeilten sich nicht deshalb, sie waren stolz und glücklich, angesehen zu werden, und erheiterten sich über die Scherze.
»Oh, schaut! Die Braut!« schrie ein Gassenjunge, indem er auf Frau Gaudron zeigte. »Oh, welches Unglück! Sie hat einen harten Kern geschluckt!«
Die ganze Gesellschaft platzte vor Lachen. Bibi-la-Grillade drehte sich um und meinte, das habe der Junge gut gesagt. Die Gaudron lachte am stärksten, sie spreizte sich; das war nicht entehrend, im Gegenteil; es gab mehr wie eine Dame, die im Vorbeigehen nach ihr schielte und die wie sie hätte sein mögen.
Man kam endlich in die Rue de Cléry und dann in die Rue du Mail. Auf der Place des Victoires gab es einen Halt: der Braut war das linke Schuhband aufgegangen; während sie es am Fuße der Statue Ludwig XIV. zuband, trafen die Paare eng hinter ihr zusammen, warteten und machten Witze über das Stück Wade, das sie sehen ließ. Endlich, nachdem man die Rue Croix-des-Petits-Champs heruntergegangen war, kam man an den Louvre.
Herr Madinier fragte sehr höflich um Erlaubnis, ob er den Zug anführen dürfe. Er war sehr groß, man könnte sich verlieren; und er kenne die schönen Sachen, denn er wäre oft mit einem Künstler da gewesen, einem intelligenten Jungen, dem eine große Pappschachtelfabrik Zeichnungen abkaufte, um sie auf ihre Schachteln zu kleben. Unten im Unterstock, im assyrischen Museum, wurde die Gesellschaft etwas von Frost geschüttelt. Verflucht! Es war nicht sehr warm hier; aus dem Saal hätte man einen famosen Keller machen können. Langsam bewegten sich die Paare, das Kinn hochgestreckt, mit blinzelnden Augenlidern zwischen diesen Steinkolossen, den schwarzen Marmorgöttern, die stumm in ihrer hierarchischen Steifheit dastanden, diesen ungeheuren Tieren, halb Frauen, halb Katzen, mit toten Gesichtern, breiten Nasen und geschwollenen Lippen. Sie fanden das alles sehr häßlich. Man bearbeitete doch heute den Stein bedeutend besser. Eine phönizische Inschrift versetzte sie in Erstaunen. Das war doch nicht möglich, niemand konnte doch dies Gekritzel lesen. Herr Madinier war bereits mit Frau Lorilleur auf der Stufe des ersten Stockes und rief nach ihnen:
»Kommt doch. Das ist doch nichts, diese Maschinen da ... Im ersten Stock muß man schauen.«
Die strenge nackte Treppe wirkte bedrückend auf sie. Ein prächtiger Diener in roter Weste, die Livree ganz in Gold gefaßt, der auf sie auf der Treppe zu warten schien, erhöhte noch ihre Verlegenheit. Mit größtem Respekt, auf leisen Sohlen betraten sie den französischen Saal.
Dann gingen sie ohne stehenzubleiben an vielen Gemälden vorbei, die zu zahlreich waren, um sie genau betrachten zu können. Das Gold der Rahmen gefiel ihnen. Vor jedem Bild hätten sie eine Stunde lang stehen müssen, wenn sie nur irgend etwas davon verstehen wollten. Wie viele Bilder, Donnerwetter! Das hörte ja nicht mehr auf. Da muß viel Geld darin stecken. Dann plötzlich am Ende hielt sie Herr Madinier auf und zeigte »Das Floß der Meduse« und erklärte ihnen die Darstellung. Alle waren ergriffen, standen still und sagten kein Wort. Als man sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, faßte Boche das allgemeine Empfinden in die Worte: »Das ist gelungen.«
In der Galerie des Apollo bewunderte die Gesellschaft insbesondere das Parkett, das glänzend wie ein Spiegel war und wo sich die Füße der Stühle spiegelten. Fräulein Remanjou schloß die Augen, sie glaubte auf Wasser zu gehen. Man rief Frau Gaudron zu, sie möge ihre Schuhe platt stellen wegen ihrem Umfang. Herr Madinier wollte ihnen die Vergoldung und Malerei der Decke zeigen; aber das brach ihnen den Hals ab, sie konnten nichts unterscheiden. Bevor sie nun in den viereckigen Saal kamen, zeigte er auf ein Fenster mit einer Geste und sagte:
»Das ist der Balkon, von welchem Karl IX. auf das Volk geschossen hat.«
Er gab aber auf den Schwanz seines Zuges acht. Mit einer Bewegung kommandierte er halt, mitten im viereckigen Salon. »Hier sind Meisterwerke«, sagte er mit halblauter Stimme, ganz wie in einer Kirche. Man ging im Saal herum. Gervaise fragte nach der Bedeutung der »Hochzeit von Kanaan«; das war doch dumm, daß man das nicht auf die Bilder schrieb. Coupeau hielt vor der Joconde an, er fand sie einer Tante von ihm sehr ähnlich. Boche und Bibi-la-Grillade stießen sich lachend an und zeigten auf die nackten Frauen; besonders die Schenkel der Antiope verursachten ihnen Gänsehaut. Ganz am Ende das Ehepaar Gaudron, der Mann mit offenem Munde, die Frau ihre Hände auf dem Bauche gefaltet, waren erschüttert und stupide bewegt vor der Jungfrau von Murillo.
Als der Rundgang einmal gemacht war, wollte Herr Madinier, daß man nochmals von vorn anfinge; aber es war nicht der Mühe wert. Er beschäftigte sich zuvorkommend mit Frau Lorilleux, ihres seidenen Kleides wegen; jedesmal wenn sie ihn etwas fragte, gab er eine ernste und sichere Antwort. Als sie sich für die Freundin Tizians interessierte, deren gelbe Haarfarbe sie der ihrigen verglich, sagte er, es wäre die La Belle Ferronnière, eine Mätresse Heinrichs IV., worüber man im Theater Ambigu ein Drama spielte.
Dann ging man in die lange Galerie der italienischen und flämischen Schule. Wieder Bilder, immer Bilder, Heilige, Männer und Frauen mit Gesichtern, die man nicht verstand, Landschaften, die schwarz waren, gelbgewordene Tiere, eine Anordnung von Leuten und Dingen, deren heftiger Farbenlärm ihnen endlich Kopfweh verursachte.
Herr Madinier sprach nichts mehr, er führte den Zug langsam weiter, dieser folgte in bester Ordnung, alle mit gestrecktem Hals, die Augen in der Luft. Ganze Jahrhunderte der Kunst gingen an ihrer verdutzten Unwissenheit vorüber, die feine Trockenheit der Primitiven, die Pracht der Venezianer, das satte Leben und das herrliche Licht der Holländer. Was sie aber noch am meisten interessierte, waren die Kopisten, die mit ihren Staffeleien mitten unter all den Leuten saßen und ungeniert malten; eine alte Dame saß auf einer großen Leiter und strich einen Pinsel voll Mauergelb in den zarten Himmel einer großmächtigen Leinwand, das machte einen großartigen Eindruck. Nach und nach hatte sich das Gerücht verbreitet, daß eine Hochzeit den Louvre besichtige; Maler kamen gelaufen und lachten; Neugierige setzten sich im voraus auf die kleinen Bänke, um bequem dieses Schauspiel zu genießen; während die Wärter mit verbissenen Lippen Geistesblitze auffingen. Aber die Hochzeitsleute waren schon müde, sie verloren schon an ihrem Respekt, schleiften ihre genagelten Schuhe, stießen mit den Absätzen auf die Parkette, mit dem Gestampf einer losgelassenen Herde, inmitten der Sauberkeit der Säle.
Nur Madinier schwieg, er wollte sich für einen Effekt vorbereiten. Schnurgerade ging er auf die »Kermesse« von Rubens zu. Da sagte er immer noch nichts, er begnügte sich damit, auf die Leinwand zu deuten, mit schelmischem Augenzwinkern. Die Damen stießen kleine Schreie aus, als sie die Nasen auf der Leinwand hatten; dann drehten sie sich, rot geworden, um. Die Männer hielten sie zurück, lachend, nach anzüglichen Details suchend.
»Seht doch her!« wiederholte Boche, »das ist doch das Geld wert. Da ist einer, der sich erbricht, und dieser schlägt sein Wasser ab. Und dieser hier! Oh, dieser da ... Na, diese hier sind sauber, das muß man sagen!«
»Gehen wir jetzt,« sagte Herr Madinier, entzückt über seinen Erfolg, »auf dieser Seite gibt es nichts mehr zu sehen.«
Die Leute kamen zurück, gingen nochmals durch den viereckigen Saal, die Galerie und den Saal des Apollo. Frau Lerat und Fräulein Remanjou beklagten sich, daß ihnen die Beine in den Magen wüchsen. Der Pappdeckelmacher wollte Lorilleux den alten Schmuck zeigen. Er befinde sich gleich nebenan, am Ende eines kleinen Raumes, er finde das mit geschlossenen Augen. Doch täuschte er sich, verirrte die Gesellschaft durch sieben bis acht Säle, die ganz verlassen, nur mit Vitrinen bestellt waren, voll von unzähligen kaputten Töpfen und häßlichen Männchen. Sie froren und langweilten sich sehr. Als er endlich eine Türe suchte, kamen sie zu den Zeichnungen. Wieder mußten sie einen langen Weg machen, die Zeichnungen hörten nicht auf, Saal kam auf Saal, ohne etwas Lachhaftes, nur Blätter, die beschmiert waren und eingerahmt an den Wänden hingen. Herr Madinier verlor ganz den Kopf, wollte es aber doch nicht eingestehen und ließ die Gesellschaft eine Treppe höher steigen. Diesesmal langten sie mitten im Museum für die Marine an, unter lauter Modellen für Instrumente und Kanonen, Reliefplänen, spielzeuggroßen Schiffen. Eine andere Treppe begegnete ihnen erst sehr entfernt, nach einer Viertelstunde Marsch. Als sie hinuntergestiegen waren, befanden sie sich wieder mitten unter den Zeichnungen. Dann wurden sie verzweifelt, sie trotteten aufs Geratewohl durch die Säle, die Paare immer zuerst, Herrn Madinier folgend, der sich den Schweiß von der Stirn wischte, ganz außer sich und wütend auf die Administration, die er anklagte, sie habe die Türen versetzt. Die Wärter und Besucher schauten ihnen mit Staunen zu. Innerhalb zwanzig Minuten sah man sie dreimal im viereckigen Saal, in der französischen Galerie, längs der Vitrinen, in denen die kleinen orientalischen Götter schliefen. Niemals mehr würden sie den Ausgang finden. Mit gebrochenen Beinen, sich ganz gehen lassend, machte diese Hochzeit einen entsetzlichen Lärm; immer am Ende des Zuges blieb Frau Gaudron mit dem Bauch zurück.
»Es wird geschlossen! Es wird geschlossen!« riefen die mächtigen Stimmen der Wärter.
Und sie wurden beinahe eingesperrt. Ein Wärter mußte sich an die Spitze stellen und sie zu einer Türe führen. Endlich im Hofe des Louvre angekommen, als sie ihre Regenschirme geöffnet hatten, bekamen sie Atem. Herr Madinier bekam wieder seine Festigkeit; er tat unrecht daran, nicht zur Linken gegangen zu sein; jetzt erinnerte er sich, daß die Schmucksachen zur Linken waren. Doch die ganze Gesellschaft tat so, als wenn sie zufrieden wäre, das alles gesehen zu haben.
Es schlug vier Uhr. Man hatte also noch zwei Stunden hinzubringen vor dem Essen. Man beschloß spazierenzugehen, um die Zeit totzuschlagen. Die ermüdeten Damen hätten sich lieber gesetzt; da aber niemand etwas zum essen anbot, setzte man sich längs des Kais wieder in Bewegung. Da kam aber ein neuer Gußregen, und zwar so heftig, daß die Regenschirme nichts mehr nutzten und die Toiletten der Damen ernstlich gefährdet waren. Frau Lorilleux, der das Herz stillstand bei jedem Tropfen, der auf ihr Kleid fiel, schlug vor, man solle sich unter die Pont Royal stellen; wenn man ihr aber nicht folgen wolle, so ginge sie ganz allein hinunter. Und der Zug steuerte unter die Brücke. Da war man gut aufgehoben. Das konnte man eine gelungene Idee nennen! Die Damen legten ihre Taschentücher auf das Pflaster, setzten sich mit gespreizten Knien darauf, rissen mit beiden Händen das Gras ab, das zwischen den Steinen wuchs, gerade als wenn sie auf dem Lande wären. Die Männer amüsierten sich damit, sehr laut zu schreien, um das Echo gegenüber am andern Bogen zu wecken; Boche und Bibi-la-Grillade fluchten nacheinander ins Leere, indem sie so stark sie konnten »Schwein!« schrien, und lachten sich halbtot, wenn ihnen das Echo das Wort zurückwarf.
Schließlich wurden sie ganz heiser, worauf sie platte Steine suchten und damit Butterbrot warfen. Der Regen hatte aufgehört, aber der Gesellschaft war so wohl, daß sie nicht ans Aufbrechen dachte. Die Seine führte schmutziges Wasser, alte Korke, Gemüsereste, einen Wust von Abfall, der von einem Wirbel einen Augenblick lang aufgehalten und vom Schatten des Gewölbes verdunkelt wurde, wahrend auf der Brücke die Omnibusse und Wagen vorüberrollten, der ganze Verkehr von Paris, von dem man nur rechts und links die Dächer wie aus dem Grunde eines Loches sah. Fräulein Remanjou seufzte: wenn nun noch Laub zu sehen gewesen wäre, würde ihr das vorkommen, als wäre sie an einem Platz an der Marne, wo sie 1817 mit einem jungen Mann spazierenging, den sie noch heute beweinte.
Herr Madinier gab das Zeichen zum Aufbruch. Man durchquerte den Tuileriengarten, mitten durch das kleine Volk der Kinder, deren Reifen und Balle die schöne Ordnung der Paare störte. Als sie auf der Place Vendôme ankamen, schauten sie nach der Säule. Da wollte Herr Madinier besonders galant gegen die Damen sein; er bot ihnen an, die Säule zu besteigen und Paris anzusehen. Sein Anerbieten schien sehr spaßig. Ja, ja, man muß da hinauf und man lachte herzlich. Das war doch sehr interessant für die Leute, die niemals die Erde verlassen hatten.
»Wenn ihr glaubt, daß die Hinkende mit ihrem Kegel sich da hinauf wagt«, flüsterte Frau Lorilleux.
»Ich gehe sehr gern da hinauf,« sagte Frau Lerat, »ich will aber nicht, daß ein Mann hinter mir hinaufsteigt.«
Alle stiegen hinauf. In dieser engen Spirale der Treppe kletterten die zwölf, stießen gegen die abgenutzten Stufen und hielten sich an den Wänden. Als dann die Dunkelheit vollkommen war, fingen die Damen an zu kreischen. Die Herren kitzelten sie und kniffen sie in die Beine. Wie dumm aber von ihnen, daß sie es ausschwatzten! Wie leicht hätten es Mäuse sein können ... Im übrigen blieb alles ohne Konsequenzen, ihre Ehrbarkeit sagte ihnen, wie weit sie gehen durften. Dann fiel Boche ein dummer Scherz ein, den die ganze Gesellschaft wiederholte. Man rief nach Frau Gaudron, so als ob sie unterwegs geblieben wäre, und fragte sie, ob ihr Bauch durchgehe. Bedenkt doch! wenn sie da stecken bleiben würde, ohne vorwärts noch rückwärts zu können, sie hätte das ganze Loch verstellt und man hätte nicht mehr hinuntergehen können. So lachte man über diese schwangere Frau, und lachte so stark, daß die Säule zitterte. Boche war ganz ausgelassen, er erklärte, daß man in diesem Turm alt würde; wird denn das kein Ende nehmen, kommt man denn in den Himmel? Er versuchte die Frauen zu erschrecken, er schrie, der Turm bewege sich. Coupeau jedoch sagte gar nichts; er kam hinter Gervaise, er hielt sie um die Taille und fühlte, wie sie ihm ergeben war. Als sie plötzlich ins Licht traten, war er gerade im Begriff, ihr den Hals zu küssen.
»Na! Ihr seid mir zwei, geniert euch bloß nicht!« bemerkte spitz Frau Lorilleux.
Bibi-la-Grillade stellte sich wütend. Er wiederholte:
»Ihr habt soviel Lärm gemacht! Ich konnte nicht einmal die Stufen zählen.«
Herr Madinier zeigte indessen schon die Hauptgebäude auf der Plattform. Frau Fauconnier und Fräulein Remanjou wollten nicht heraustreten; der Gedanke allein schon an das Pflaster unten machte sie schwindlig; sie wagten nur Blicke von der kleinen Türe aus. Frau Lerat war schon mutiger, sie machte den Rundgang über die kleine Terrasse, indem sie sich an der Bronze der Kuppel festhielt. Es war aber doch etwas schauerlich, wenn man bedenkt, daß man nur hätte mit einem Fuß darübersteigen müssen. Was für ein Sturz, Donnerwetter! Die Männer schauten, etwas blaß geworden, über den Platz. Man glaubte in der Luft zu schweben, von allen getrennt. Nein, wirklich, da wird einem kalt bis auf die Knochen. Herr Madinier jedoch empfahl die Augen aufzumachen und sie vor sich hin in weite Entfernung zu dirigieren; das verhindere den Schwindel. Und er fuhr fort mit der Hand zu deuten, nach den Invalides, dem Panthéon, Notre-Dame, dem Turm von Saint-Jacques und den Höhen Montmartres. Dann fragte Frau Lorilleux, ob man auf dem Boulevard de la Chapelle wohl den Weinhändler von Moulin d'Argent sehen könne, wo man essen wollte. Zehn Minuten lang suchte man und stritt sich sogar darüber; jeder verpflanzte den Weinhändler in eine andere Gegend. Paris, um sie herum, breitete seine graue Weite mit blauen Fernen aus, seine tiefen Täler mit seinem Meer von Dächern; das ganze rechte Ufer lag im Schatten, unter kupferroten Wolken; der Rand dieser Wolken war wie mit goldenen Fransen behangen, von denen ein breiter Strahl ausging, der Tausende von Fenstern des linken Ufers gleich Sternen erzittern ließ, und diese Ecke der Stadt war in Licht gebadet und vom Gewitter gereinigt.
»Das war nicht der Mühe wert, da heraufzusteigen«, sagte Boche, wütend die Treppen heruntergehend.
Die Gäste stiegen hinab, stumm, schlechter Laune, sie spektakelten mit den Schuhen auf den Stufen. Unten wollte Herr Madinier bezahlen. Aber Coupeau wollte das nicht, er beeilte sich dem Wärter vierundzwanzig Sous zu geben, zwei Sous die Person. Es war nahe fünfeinhalb Uhr; man hatte gerade Zeit zu gehen. Man kam über die Boulevards und die Vorstadt Poissonière zurück. Coupeau fand, daß dieser Spaziergang nicht damit enden sollte; er trieb alle zu einem Weinhändler hinein und bestellte Vermouth.
Die Mahlzeit war auf sechs Uhr bestellt.
Man hatte schon zwanzig Minuten im Moulin d'Argent auf sie gewartet. Frau Boche hatte ihre Loge einer Frau des Hauses anvertraut, sie sprach mit Mama Coupeau im Saale des ersten Stockes, gegenüber dem gedeckten Tisch; und die zwei Buben, Claude und Etienne, von Frau Boche hergeführt, spielten Fangen unter dem Tisch mitten unter all den Stühlen. Als Gervaise eintrat und die Kinder sah, die sie den ganzen Tag nicht gesehen hatte, nahm sie sie auf ihren Schoß und küßte sie ab.
»Waren sie brav?« fragte sie Frau Boche. »Haben sie Ihnen wenigstens nicht zuviel Mühe gemacht?«
Als ihr diese alle lachhaften Worte wiedererzählte, die diese Würmer den ganzen Nachmittag gesprochen hatten, bekam sie einen Zärtlichkeitsanfall, indem sie die Kinder neuerdings hochnahm und an sich preßte.
»Das ist doch eigentümlich immerhin für Coupeau«, sagte Frau Lorilleux zu den Damen am andern Ende des Zimmers.
Gervaise hatte ihre freundliche Ruhe des Tages behalten. Seit dem Spaziergang wurde sie jedoch auf Augenblicke traurig, sie schaute ihren Mann und die Lorilleux mit ihrer nachdenklichen und vernünftigen Art an. Sie fand, daß Coupeau vor seiner Schwester feige war. Noch am Abend bevor schrie er sehr, er schwur, daß er diese Schlangenzungen schon auf ihren Platz weisen würde, falls sie sich gegen ihn verfehlten. Aber sie sah es nur zu gut, ihnen gegenüber duckte er sich wie ein Hund, hörte auf ihre Worte und war besessen, wenn er glaubte, daß sie böse seien. Und das allein beunruhigte sie für die Zukunft.
Man erwartete nur noch Mes-Bottes, der noch nicht gekommen war.
»Setzen wir uns nur ruhig zu Tisch. Ihr werdet ihn hereintorkeln sehen: er hat eine eingedrückte Nase, er riecht schon von weitem nach Lebensmitteln. Er wird nicht lachen, wenn er noch immer auf der Straße von Saint-Denis wartet!« Darüber waren alle sehr belustigt; sie setzten sich unter viel Lärm und Stuhlrücken. Gervaise saß zwischen Lorilleux und Herrn Madinier, und Coupeau zwischen Frau Fauconnier und Frau Lorilleux. Die andern Eingeladenen setzten sich wie sie wollten, denn das endet immer mit Eifersüchteleien und Streitigkeiten, sobald man ihnen das Gedeck bestimmte. Boche schlüpfte neben Frau Lerat. Bibi-la-Grillade saß zwischen Fräulein Remanjou und Frau Gaudron. Frau Boche und Mama Coupeau saßen ganz am Ende mit den Kindern, sie übernahmen es, ihnen das Fleisch zu schneiden und zu trinken zu geben, aber ja nicht viel Wein.
»Sagt niemand das Tischgebet«, fragte Boche, während die Damen ihre Röcke unter dem Tischtuch ordneten, aus Angst vor Flecken.
Aber Frau Lorilleux liebte solche Späße nicht. Und die Nudelsuppe war beinahe kalt, sie wurde sehr rasch und geräuschvoll hineingeschlürft. Zwei Kellner bedienten in fettigen Westen und mit Schürzen von zweifelhaftem Weiß. Durch die vier offenen Fenster, die auf die Akazien des Hofes gingen, kam der Tag herein, das Ende eines Gewittertages voll Wärme und Reinheit. Der Widerschein der Bäume in diesem feuchten Winkel ließ den verrauchten Saal grün erscheinen. Schatten der Blätter tanzten über dem Tischtuch, das von leichtem Schimmelgeruch feucht war. Zwei Spiegel voll Fliegenschmutz waren über den beiden Enden des Tisches, ihn in die Unendlichkeit verlängernd, angebracht, auf dem Tische stand grobes Geschirr, ins Gelbliche schimmernd, wo in den Tellern die Messer schwarze Rillen von Fett kratzten. Im Hintergrund knallte jedesmal die Türe an, sooft ein Kellner aus der Küche herauskam und einen Fettgeruch mitbrachte.
»Reden wir doch nicht alle auf einmal«, sagte Boche, als alle schwiegen und die Nasen auf dem Teller hielten.
Man trank das erste Glas Wein und verfolgte mit den Augen zwei mit Fleisch gefüllte Pasteten, die von den Kellnern serviert wurden; Mes-Bottes trat ein.
»Na! Ihr seid schöne Gauner allemiteinander!« schrie er. »Ich habe meine Beine während drei Stunden spazierengetragen auf dieser Landstraße, so daß ein Schutzmann mich nach meinen Papieren fragte ... Macht man solche Schweinereien einem Freunde? Hätte man mir nicht jemanden schicken können? Alles was recht ist! Dabei regnete es so, daß mir das Wasser in den Taschen stand ... Wirklich, man könnte noch einen Fisch darin fangen.«
Die Gesellschaft lachte in einem fort. Dieser Mes-Bottes, dieses Tier, war schon betrunken; er hatte gewiß schon seine zwei Liter hinter sich; doch sich nur nicht die Laune verderben lassen durch diesen Kerl, dem das Gewitter auf sein Gänseklein gespuckt hat.
»Hier, du Freßsack!« rief Coupeau, »setz dich da unten hin, neben Frau Gaudron. Du siehst, man hat dich erwartet.«
»Oh, das wird mich nicht in Verlegenheit bringen, ich werde euch schon noch einholen«, und er verlangte dreimal Suppe, Teller voll Nudeln, in die er große Schnitten Brot hineinschnitt. Als man die Fleischpastete angegriffen hatte, rief er die Bewunderung sämtlicher Gäste hervor. Wie er stopfte! Die bestürzten Kellner bildeten eine Kette, um ihm das Brot zu reichen, Stücke, die so fein geschnitten waren, daß er sie mit einem Male aufaß. Aber dann ärgerte er sich; er wollte ein ganzes Brot neben sich haben. Der sehr beunruhigte Weinwirt zeigte sich einen Augenblick auf der Schwelle des Saales. Die Gesellschaft, die darauf gewartet hatte, bog sich vor Lachen.
Das tat ihm weh, dem Garküchenbesitzer! Was für ein verfluchter Kamerad, dieser Mes-Bottes! Hatte er nicht eines Tages zwölf harte Eier gegessen und zwölf Gläser Wein dazu getrunken während der zwölf Glockenschläge des Mittags! Man wird nicht viele dieser Sorte treffen. Fräulein Remanjou schaute bewegt, wie Mes-Bottes kaute, während Herr Madinier nach Worten suchte, sein außergewöhnliches Erstaunen auszudrücken; er erklärte diese Kapazität für ungewöhnlich.
Dann trat Schweigen ein. Ein Kellner hatte soeben ein Kaninchenfrikassee auf den Tisch gestellt, in einer großen Platte, tief wie eine Salatschüssel. Coupeau, ein Spaßmacher, wollte nun einen Scherz machen.
»Sag' mal, Kellner, das ist ein Kaninchen aus der Dachrinne, es miaut ja noch.«
Und wirklich, ein leises Miauen hörte man, das aus der Schüssel zu kommen schien. Das war Coupeau, der bauchreden konnte, ohne die Lippen dabei zu rühren; ein Gesellschaftstalent, das nie ohne Effekt blieb, deshalb bestellte er immer ein Kaninchenfrikassee, wenn er auswärts aß. Darauf knurrte er so, daß die Damen ihre Servietten vor das Gesicht hielten, weil ihnen vor Lachen sonst das Essen aus dem Munde gefallen wäre.
Frau Fauconnier verlangte den Kopf; sie liebte nur den Kopf. Fräulein Remanjou betete Speckschnitten an. Und als Boche nur die Nieren wollte, falls sie gut ausgewachsen wären, spitzte Frau Lerat die Lippen, indem sie sagte:
»Ich kann das verstehen.«
Sie war trocken wie eine Hopfenstange, führte das Leben einer eingeschlossenen Arbeiterin im ewigen Einerlei, sah keine männliche Nase bei sich seit ihrer Witwenschaft, doch ließ sie immer herausfühlen, wie sehr sie sich um diese Dinge kümmerte; sie hatte die Manie der doppelsinnigen Worte und Anspielungen, von einer Tiefe oft, die sie nur selbst verstand. Boche beugte sich denn so nahe wie möglich an ihr Ohr und verlangte eine Erklärung; worauf sie erwiderte:
»Zweifellos die kleinen ... Das genügt, denke ich.«
Die Unterhaltung wurde jetzt ganz ernst. Jeder sprach von seinem Gewerbe. Herr Madinier lobte die Pappenmacherkunst, da gab es wahre Künstler dabei; er hob die Bonbonsschachteln hervor, von denen er Modelle kannte, wahre Wunder an Luxus. Lorilleux lachte; er war so stolz darauf, Gold zu verarbeiten, er sah den Schein auf seinen Fingern und an seiner ganzen Person haften. »Ja,« wiederholte er des öftern, »auch haben die Goldarbeiter ehemals den Degen getragen;« und er zitierte Bernard Palissy, ohne weiteres Wissen darüber. Coupeau erzählte von einer Wetterfahne, die ein Freund gemacht hatte, ein wahres Meisterstück; es bestand aus einer Säule, einer Garbe, einem Früchtekorb und dann der Fahne; alles glänzend dargestellt, das alles nur aus Stücken Zink ausgeschnitten und gelötet. Frau Lerat zeigte Bibi-la-Grillade, wie man einen Stiel von der Rose macht, indem sie das Heft des Messers zwischen ihren knochigen Fingern drehte. Die Stimmen hoben und kreuzten sich, durch den Lärm hörte man die Stimme der Frau Fauconnier, die sich über die Arbeiterinnen beklagte und erzählte, daß so ein Fetzen von Lehrmädchen ihr am Abend zuvor ein paar Leintücher verbrannt habe.
Lorilleux schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Ihr könnt sagen, was ihr wollt: Gold ist Gold.«
Und mitten im Schweigen, das diese Wahrheit verursachte, hörte man die schwächliche Stimme von Fräulein Remanjou die weitererzählte:
»Dann stülpe ich ihnen die Röcke auf, ich nähe darunter ... Ich stecke ihnen eine Stecknadel in den Kopf, damit das Häubchen hält ... Damit ist's getan, man verkauft sie für dreizehn Sous.«
Sie erklärte ihre Puppen Mes-Bottes, dessen Kiefer langsam wie Mühlsteine mahlten. Er hörte nicht zu, zuckte mit dem Kopf, schaute nach den Kellnern, damit sie die Platten nicht hinaustrugen, ehe er sie ausgeleckt hatte. Man hatte ein Frikandeau mit Sauce und Erbsen gegessen. Man brachte den Braten, zwei magere Hühner, die auf einem Bett von verwelkter Kresse lagen und im Ofen gebacken waren. Draußen starb die Sonne auf den Zweigen der Akazienbäume. Im Saal verdickte sich der grünliche Schimmer durch den Dampf, der von den Speisen am Tische aufstieg. Das Tischtuch war voller Wein- und Sauceflecken, in wüster Unordnung lagen die Gedecke durcheinander. Längs der Mauer hatten die Kellner schmutzige Teller und leere Literflaschen aufgestellt, die aussahen wie der Kehricht, der vom Tischtuch heruntergefallen und zusammengekehrt war. Es war sehr heiß. Die Männer zogen ihre Überröcke aus und aßen hemdärmelig weiter.
»Frau Boche, ich bitte Sie, stecken Sie ihnen nicht so viel hinein«, sagte Gervaise, die sehr wenig sprach und von der Ferne Claude und Etienne überwachte.
Sie stand auf, trat hinter die Stühle der Kleinen und sprach stehend mit ihnen. Die Kinder hatten keine Vernunft, die aßen den ganzen Tag hindurch, ohne ein Stück zurückzuweisen; und sie gab ihnen selbst etwas vom weißen Fleisch der Hühner. Aber Mama Coupeau meinte, einmal könnten sie sich wohl etwas den Magen verderben. Frau Boche klagte leise über ihren Mann, daß er Frau Lerat die Knie kitzele. Oh, das war ein Duckmäuser, er trieb Narrenpossen. Sie sah, wie seine Hand verschwand. Wenn er nochmals anfinge, Donnerwetter! sie war Frau genug, ihm eine Karaffe an den Kopf zu werfen.
Im Schweigen hörte man Herrn Madinier über Politik reden.
»Ihr Gesetz vom 31. Mai ist eine Abscheulichkeit. Jetzt braucht man zwei Jahre Ansässigkeit. Drei Millionen Bürger sind von den Listen gestrichen. Man hat mir gesagt, daß Bonaparte im Grunde darüber wütend ist, denn er liebt das Volk, er hat Proben davon gegeben.« Er – er war Republikaner; aber er bewundere den Prinzen seines Onkels wegen, ein solcher käme nie mehr wieder. Bibi-la-Grillade wurde böse: er habe im Elysee gearbeitet und Bonaparte gesehen, so wie er jetzt Mes-Bottes sähe, hier, ihm gegenüber; nun, gut! dieser Tölpel von einem Präsidenten sähe aus wie ein Hengst! Man sagte, er wollte eine Reise in die Gegend von Lyon unternehmen. Wenn er sich den Hals in einem Graben brechen würde, wäre das eine große Erlösung. Und da die Unterhaltung ins Häßliche sich wendete, kam Coupeau dazwischen.
»Ach! Sie sind noch sehr unschuldig, daß Sie noch für Politik zu haben sind! ... Das ist eine Dummheit, die Politik! Existiert denn das noch für uns? ... Man kann hinstellen was man will, einen König, einen Kaiser oder gar nichts, das wird mich nicht hindern meine fünf Francs zu verdienen, essen und schlafen, ist es nicht wahr?... Nein, das ist doch zu dumm.«
Lorilleux nickte mit dem Kopfe. Er war an demselben Tage geboren wie der Graf von Chambord, am 29. September 1820. Dieses Zusammentreffen beschäftigte ihn sehr, beeinflußte sogar seine Träume, in denen er die Rückkehr des Königs nach Frankreich sah und damit sein persönliches Glück verband. Er sagte nicht deutlich, was er erhoffte, aber er gab zu verstehen, daß ihm dann etwas ganz außerordentlich Schönes passieren würde. Auch schob er alle seine ganz großen Wünsche, die nicht befriedigt werden konnten, auf später, »wenn der König wieder zurückgekehrt ist«.
»Übrigens,« erzählte er weiter, »ich habe den Grafen von Chambord eines Abends gesehen.«
Alle Gesichter drehten sich gegen ihn.
»Ja, wirklich. Ein dicker Herr, in einem Paletot, sah aus wie ein guter Junge ... Ich war bei Péquignot, einem meiner Freunde, der Möbel verkauft in der Grande-Rue de la Chapelle. Der Graf von Chambord hatte am Abend zuvor da einen Regenschirm stehen lassen. Da kam er herein und sagte ganz einfach: ›Wollen Sie mir bitte meinen Regenschirm zurückgeben?‹ Mein Gott, ja, Péquignot hat mir sein Ehrenwort gegeben, daß er es gewesen wäre.«
Keiner der Gäste zweifelte daran. Man war beim Nachtisch. Die Kellner räumten mit großem Lärm das Geschirr ab. Und Madame Lorilleux, die bis dahin sehr Dame, sehr anständig gewesen war, ließ plötzlich ein: »Verfluchtes Schwein!« hören. Einer der Kellner hatte, indem er eine Schüssel hob, ihr etwas Nasses in den Hals laufen lassen.
Ganz sicher war ihr seidenes Kleid beschmutzt. Herr Madinier mußte ihr den Rücken entlang schauen, er versicherte aber, daß gewiß nichts zu sehen wäre. Jetzt stand mitten auf dem Tische eine Salatschüssel mit Schneeeiern gefüllt, rechts und links davon je zwei Teller mit Käse und Obst. Diese Schneeeier, deren Eiweiß zu stark gekocht war und die auf der gelben Creme schwammen, verursachten eine allgemeine Beschaulichkeit; man hatte nicht damit gerechnet, man fand das sehr vornehm. Mes-Bottes aß immer noch. Er hatte wieder ein Brot verlangt. Er verzehrte die beiden Käse; und als noch Creme übrigblieb, ließ er sich die Salatschüssel reichen, in die er große Schnitten Brot schnitt wie zu einer Suppe.
»Der Herr ist bewundernswert«, sagte Herr Madinier wieder voller Staunen.
Dann standen die Männer auf, um ihre Pfeifen zu holen. Sie blieben etwas hinter Mes-Bottes stehen, klopften ihn auf die Schultern und fragten, ob ihm jetzt besser wäre. Vibi-la-Grillade versuchte, ihn mit dem Stuhle aufzuheben; aber verflucht! dieses Tier war um die Hälfte seines Gewichtes schwerer geworden. Coupeau sagte aus Spaß, daß der Kamerad jetzt erst recht anfinge zu essen, er würde so die ganze Nacht hindurch Brot essen. Die entsetzten Kellner verschwanden. Boche, der vorher hinuntergegangen war und jetzt gerade heraufkam, erzählte von dem Gesicht, das der Wirt unten mache. Er säße ganz bleich an seinem Büfett, die entsetzte Wirtin habe gerade zu den Bäckern geschickt, nachfragen, ob sie noch offen hätten; das Haus schien ruiniert. Ja, das wäre zu dumm, das wäre das Geld wert für dieses Gastmahl! Man konnte kein Picknick abhalten ohne diesen Mes-Bottes, diesen Fresser! Die Männer, ihre Pfeifen im Munde, blickten eifersüchtig zu ihm hin; wahrhaftig, man müßte schon sehr solide gebaut sein, um so viel essen zu können!
»Ich möchte Sie nicht ernähren müssen,« sagte Frau Gaudron, »nein! ganz gewiß nicht!«
»Na, na, junge Mama, reden Sie keine Dummheiten,« sagte Mes-Bottes mit bezeichnender Gebärde auf den Bauch der Nachbarin. »Sie haben mehr geschluckt als ich.«
Man klatschte und schrie bravo. Das saß! Es war schon Nacht geworden; drei Gasflammen brannten im Saal und verbreiteten ein starkes, aber durch den Rauch der Pfeifen etwas getrübtes Licht. Die Kellner trugen, nachdem sie den Kaffee und den Kognak serviert hatten, die letzten schmutzigen Teller übereinandergehäuft hinaus. Unten, unter den drei Akazienbäumen, fing der Tanz an, eine Klappentrompete und zwei Violinen spielten kreischend auf, vermischt mit heiserem Frauenlachen: es war eine heiße Nacht.
»Man muß einen Punsch machen!« schrie Mes-Bottes. »Zwei Liter Schnaps, viel Zitrone und wenig Zucker!«
Als aber Coupeau das ängstliche Gesicht Gervaises gesehen hatte, stand er auf und sagte, daß jetzt genug getrunken sei. Man hätte fünfundzwanzig Liter geleert, auf den Kopf also anderthalb Liter, wenn man die Kinder wie Erwachsene zählte; das wäre mehr als vernünftig. Man habe gerade miteinander gegessen, in guter Freundschaft, weil man Achtung voreinander habe und weil man unter sich ein Familienfest feiern wollte. Alles sei sehr schön verlaufen, man wäre fidel, aber man solle sich jetzt nicht schweinisch betrinken, wenn man die Frauen respektieren wolle. Mit einem Wort, man wäre schließlich beieinander, um den Eheleuten eine gute Gesundheit zuzutrinken, und nicht, um sich total zu besaufen. Diese kleine Rede, mit überzeugender Stimme von Coupeau gehalten, wobei er bei jedem Satz mit der Hand auf die Brust klopfte, wurde von Frau Lorilleux und Herrn Madinier sehr gebilligt. Aber die andern, Boche, Gaudron, Bibi-la-Grillade, am meisten aber Mes-Bottes, die alle vier schon sehr voll waren, lachten und lallten, daß sie einen verfluchten Durst hätten, den man doch begießen müßte.
»Diejenigen, die Durst haben, haben Durst, die keinen haben, haben keinen,« erklärte Mes-Bottes. »Deshalb wird man den Brautpunsch bestellen ... Man zwingt niemand. Die Aristokraten sollen sich Zuckerwasser bringen lassen.«
Und als der Zinkarbeiter wieder predigen wollte, stand der andere auf, klopfte sich auf den Hintern und schrie:
»Du kannst mich am Arsch lecken! Kellner, zwei Liter vom Alten!«
Darauf Coupeau: »Gut, nur wollen wir doch zuvor die Rechnung machen. Damit kein Streit entsteht. Die anständigen Leute brauchen nicht für die Trunkenbolde zu bezahlen.« Und da Mes-Bottes, der lange alle seine Taschen durchsucht hatte, nur drei Francs und sieben Sous fand, sagte er, man habe ihn auf der Landstraße von Saint-Denis stehen lassen, er konnte sich dort doch nicht ertränken, er mußte sein ganzes Stück Geld, die hundert Sous, angreifen. Die andern hatten sich gedrückt! Dann gab er die drei Francs her, die sieben Sous behielt er für seinen Tabak am nächsten Tag. Coupeau hätte geboxt, wäre nicht Gervaise gewesen, die ihn erschrocken an seinem Rock festhielt. Er entschloß sich, bei Lorilleux zwei Francs zu borgen; der weigerte sich erst, gab sie dann heimlich doch, damit seine Frau, die nie eingewilligt haben würde, es nicht sehen sollte.
Inzwischen hatte Herr Madinier einen Teller genommen. Die Fräuleins und die einzelnen Frauen legten sehr bescheiden jede ihre hundert Sous auf den Teller; es waren Frau Lerat, Frau Fauconnier und Fräulein Remanjou. Daraufhin gingen die Männer an das andere Ende des Saales, um die Abrechnung zu machen. Man war zu fünfzehn, und das machte also fünfundsiebenzig Francs aus. Als die fünfundsiebzig Francs auf dem Teller lagen, fügte jeder der Männer noch fünf Sous bei für die Kellner. Man brauchte eine gute Viertelstunde lang, um zu jedermanns Zufriedenheit diese Abrechnung zu machen.
Als aber dann Herr Madinier den Wirt verlangte, mit dem er verhandeln wollte, war die Gesellschaft starr vor Schrecken, als dieser lächelnd erklärte, daß das gar nicht seine Rechnung ausmache. Denn da gäbe es noch Darübergegebenes. Als dieses Wort fiel, gab es wütendes Geschimpfe, und so detaillierte der Wirt: fünfundzwanzig Liter statt zwanzig, wie vorher ausgemacht; die Schneeeier, die er beigefügt hätte, als er merkte, daß der Nachtisch etwas mager aussah; endlich eine Karaffe mit Rum zum Kaffee, für den Fall, daß jemand gern Rum dazu trinken möchte. Daraufhin brach ein großer Streit aus. Coupeau mischte sich ein und verteidigte sich: er hätte niemals von zwanzig Litern gesprochen; und was die Schneeeier beträfe, so ginge das doch mit ins Dessert, um so schlimmer, wenn der Wirt sie von sich aus dazugegeben habe; bliebe nur der Rum, und das sei nur ein Vorwand, um mehr aufschreiben zu können, indem man Schnäpse auf den Tisch stelle, die man nicht verlangt habe.
»Es stand auf dem Tablett bei dem Kaffee,« schrie er, »so muß er also dem Kaffee eingerechnet werden! Lassen Sie uns in Frieden. Nehmen Sie Ihr Geld, und da sei Gott vor, daß wir jemals wieder den Fuß in Ihre Bude setzen!«
»Es macht sechs Francs mehr aus,« bestand der Wirt. »Gebt mir meine sechs Francs, und ich rechne dabei noch nicht einmal die drei Brote für den Herrn da!«
Die ganze Gesellschaft hatte sich um den Wirt gestellt und gestikulierte und schrie wütend auf ihn ein. Besonders die Frauen, sie traten ganz aus ihrer bisherigen Reserviertheit und weigerten sich, auch nur einen Centime mehr zu geben. Das war ja eine schöne Hochzeit! Fräulein Remanjou würde sich nie mehr zu einem solchen Essen hergeben! Frau Fauconnier erklärte, sehr schlecht gegessen zu haben; zu Hause hätte sie für vierzig Sous eine Platte gehabt, nach der sie sich die Finger abgeleckt hätte. Frau Gaudron beklagte sich darüber, daß sie an das schlechte Ende des Tisches gesetzt worden wäre, neben Mes-Bottes, der gar keine Rücksicht auf sie genommen habe. Ja, ja, solche Partien gingen immer schlecht aus. Wenn man Leute bei seiner Hochzeit haben wolle, müsse man sie einzuladen verstehen! Gervaise hatte sich an das eine Fenster zu Mama Coupeau geflüchtet und sprach kein Wort; sie war beschämt und fühlte wohl, daß all diese Reden gegen sie gerichtet waren.
Herr Madinier ging endlich mit dem Wirt hinunter, wo man sie noch weiter streiten hörte. Nach einer halben Stunde kam der Pappdeckelfabrikant wieder herauf; er hätte den Kerl mit drei Francs abgefunden. Aber die Gesellschaft blieb verärgert und kam immer wieder auf diese unverschämten Extras zurück. Der Lärm verstärkte sich durch einen Gewaltstreich der Frau Boche. Sie hatte die ganze Zeit ihren Gatten beobachtet. Als sie nun sah, wie er in einem Winkel die Frau Lerat um die Taille packte, warf sie eine Flasche in die Gegend; sie zerschellte an der Mauer.
»Man merkt, daß Ihr Mann Schneider ist, Madame,« sagte die große Witwe mit verzogenen, verständnisvollen Lippen. »Das ist ein erstklassiger Rockschneider. Ich habe ihm aber doch gutgezielte Fußtritte unter dem Tisch gegeben.«
Der Abend war verdorben. Man wurde immer verbitterter. Herr Madinier meinte, man solle singen. Aber Bibi-la-Grillade, der eine schöne Stimme hatte, war eben verschwunden; Fräulein Remanjou, an ein Fenster gelehnt, sah, wie er unter den Akazien ein dickes Mädchen ohne Hut im Tanze drehte. Das Horn und die Violinen spielten gerade eine Quadrille, bei der man in die Hände klatschte wie zur Pastourelle. Das gab das Signal zum Aufbruch: Mes-Bottes und das Ehepaar Gaudron gingen hinunter; Boche verzog sich. Vom Fenster aus sah man unter den Bäumen die Paare sich drehen, beschienen von den Laternen an den Asten der Bäume. Die Nacht schlief, ohne Atem, wie erschlagen durch die große Hitze. Im Saal war ein ernstes Gespräch zwischen Lorilleux und Madinier im Gang. Die Damen wußten nicht, wie ihrem Zorn Luft zu machen; sie untersuchten ihre Kleider, ob sie keine Flecken bekommen hatten.
Die Fransen der Frau Lerat mußten in Kaffee getaucht worden sein. Das Kleid der Frau Fauconnier war voller Sauce. Der grüne Schal der Mama Coupeau mußte vom Stuhl heruntergefallen sein, denn man fand ihn in einem Winkel zertreten und zerdrückt. Besonders aber traf es Frau Lorilleux: sie habe einen Fleck auf dem Rücken, man könnte schwören so viel man wollte, sie spüre ihn. Endlich sah sie ihn, als sie sich vor dem Spiegel wand.
»Habe ich es nicht gesagt?« schrie sie. »Es ist Hühnersauce. Der Kellner muß mir das Kleid bezahlen! Sonst mache ich ihm einen Prozeß! Das war mir wahrhaftig ein schöner Tag! Ich hätte besser getan, im Bett zu bleiben ... Ich gehe, ich hab genug von dieser jämmerlichen Hochzeit!«
Wütend stieg sie hinunter, daß die Treppe unter ihren Sohlen krachte. Lorilleur sprang hinter ihr drein. Alles was er aber von ihr erreichen konnte war, daß sie fünf Minuten auf dem Gehweg warte, damit man zusammen gehen könne. Sie hätte gleich nach dem Gewitter gehen sollen, wie sie die Lust dazu hatte. Coupeau muß ihr diesen Tag bezahlen. Als der hörte, wie geärgert sie war, schien er entsetzt; um ihm Unannehmlichkeiten zu ersparen, willigte Gervaise ein, sofort nach Hause zu gehen. Daraufhin küßte man sich leichthin. Herr Madinier bot sich an, Mama Coupeau heimzubringen. Frau Boche mußte für diese erste Nacht Claude und Etienne zu sich nehmen; ihre Mutter könne ganz unbesorgt sein, sie würden gut schlafen auf Stühlen, denn sie hätten sich durch eine Übelkeit, die sie sich an den Schneeeiern geholt hätten, sehr beschwert. Endlich ging das junge Paar mit Lorilleux, die übrige Gesellschaft beim Weinwirt zurücklassend, als eine Schlacht zwischen ihrer und einer andern Gesellschaft in der Kneipe anhub. Boche und Mes-Bottes hatten eine Dame geküßt und wollten sie den beiden Soldaten nicht zurückgeben, zu denen sie gehörte; sie drohten alles hinauszuschmeißen, unter dem Lärmen des Hornes und der zwei Violinen, die gerade die Perlenpolka spielten.
Es war kaum elf Uhr. Auf dem Boulevard de la Chapelle und im ganzen Viertel der sonst so friedlichen Goutte d'Or war ein Mordsspektakel Betrunkener an diesem Samstag der vierzehntägigen Löhnung. Frau Lorilleux wartete einige Schritte weit vom Moulin d'Argent unter einer Laterne. Sie nahm Lorilleux' Arm und lief so schnell voraus, daß Gervaise und Coupeau kaum folgen konnten. Einige Male mußten sie vom Gehweg heruntergehen, um einem Betrunkenen Platz zu lassen, der alle Viere von sich streckte. Lorilleux drehte sich um, er wollte wieder Friede stiften.
»Wir werden euch bis an eure Türe begleiten«, sagte er.
Aber Frau Lorilleux erhob ihre Stimme, fand es komisch, die Hochzeitsnacht in diesem schmutzigen Loch da oben im Hotel Boncoeur zu verbringen. Hätten sie nicht warten können und erst sich vier Sous ersparen, sich Möbel kaufen, um am ersten Abend ein Heim zu haben? Mein Gott, sie werden es gut haben da oben unter dem Dach alle beide, in einem Loch zu zehn Francs, wo nicht einmal Luft genug zum Atemholen war.
»Ich habe das Zimmer oben aufgegeben,« verteidigte sich Coupeau schüchtern. »Wir behalten das Zimmer von Gervaise, das größer ist.«
Jetzt vergaß sich Frau Lorilleux vollständig. Sie drehte sich plötzlich um.
»Was? Das ist doch zu stark!« schrie sie. »Du schläfst im Zimmer des Hinkebeins?«
Gervaise wurde ganz blaß. Dieser Spitzname, den sie zum erstenmal direkt ins Gesicht bekam, war ihr wie eine Ohrfeige. Sie verstand jetzt ganz deutlich dieses Wort ihrer Schwägerin: das Zimmer des Hinkebeins, das war das Zimmer, in dem sie mit Lantier einen Monat lang gelebt hatte, wo noch die Fetzen ihres vergangenen Lebens herumlagen. Coupeau verstand nichts davon, er hörte nur den Spitznamen.
»Du tust unrecht, andere zu taufen,« sagte er lachend. »Du weißt wohl nicht, daß man dich im ganzen Viertel »Kuhschweif« nennt, deines gelben Haares wegen. Das macht dir wohl leine Freude, nicht wahr? Warum sollten wir denn das Zimmer im ersten Stock nicht behalten? Diesen Abend werden die Kinder nicht darin schlafen, wir werden es sehr gut haben.«
Frau Lorilleux sagte nun nichts mehr; sie schloß sich in ihre Würde ein, sehr verletzt darüber, Kuhschweif zu heißen.
Um Gervaise zu trösten, mußte Coupeau ihren Arm drücken; es gelang ihm sogar sie zu erheitern, als er ihr ins Ohr flüsterte, sie fingen ihre Ehe mit sieben ganzen Sous an, drei große Stücke und ein kleines, die er in der Tasche seines Überziehers klingen ließ. Als man vor dem Hotel Boncoeur ankam, sagte man sich gute Nacht mit hartem Gesicht. Im Augenblick, als Coupeau die beiden Frauen zueinander drängen wollte, damit sie sich umarmten: seit doch nicht so dumm! – kam ein Betrunkener, der erst rechtshin ausweichen wollte; es gab ihm aber einen Ruck nach links, so daß er gerade zwischen die beiden Frauen taumelte.
»Schau, da ist Vater Bazouge! Der hat genug für heute.«
Gervaise lehnte sich erschreckt an die Türe des Hotels. Der etwa fünfzigjährige Vater Bazouge, ein Leichenträger, hatte eine dreckige Hose an und trug einen schwarzen, auf der Schulter geknöpften Mantel. Sein schwarzer Lederhut hatte ein paar Beulen.
»Fürchten Sie sich nicht, er ist harmlos,« sagte Lorilleux, »es ist ein Nachbar, das dritte Zimmer auf dem Gang, ehe man zu uns kommt ... Das würde ihm gut gehen, wenn seine Direktoren ihn so erblickten!«
Vater Bazouge lachte über den Schrecken der jungen Frau.
»Was denn,« lallte er, »man frißt niemanden in unserm Geschäft ... Ich bin so viel wert wie ein anderer, meine Kleine ... Ja, ich habe wohl ein wenig zu viel getrunken? Wenn man viel zu tun hat, muß man schmieren. Weder ihr noch die Kompaniedirektoren hätten diesen Rentner sechs hundert Pfund schwer zu zweien vom vierten Stock auf die Straße heruntergetragen, ohne ihn kaputt zu machen ... Ich liebe die lustigen Brüder, jawohl, immer lustig!«
Aber Gervaise drückte sich nur noch mehr in den Winkel der Türe; sie war nahe daran zu weinen, die schöne Freude des ganzen Tages war verdorben.
Sie dachte nicht mehr daran, ihre Schwägerin zu küssen. Sie bat nur immer Coupeau, den Betrunkenen wegzuschicken. Bazouge torkelte und hatte nur noch eine Geste voll philosophischer Verachtung.
»Das wird Sie nicht hindern, da hindurch zu gehen, meine Kleine ... Vielleicht sind Sie eines Tages ganz froh, durch zu sein ... Ja, ich kenne Frauen, die Danke sagen würden, wenn ich sie nur schon davontragen würde.«
Als die Lorilleux' sich endlich entschlossen, ihn mit ins Haus zu nehmen, drehte er sich nochmals um und stotterte zwischen zwei Schlucksern:
»Wenn man tot ist... passen Sie gut auf... wenn man tot ist, ist es auf lange.«