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Am folgenden Tage hatte sich Claude wieder an die Arbeit gemacht; die Tage flössen dahin, der Sommer ging in schwüler Ruhe vorüber. Er hatte eine Beschäftigung gefunden: kleine Blumenstücke für England; das dadurch erworbene Geld genügte für die täglichen Bedürfnisse. Alle seine freien Stunden waren abermals seiner großen Leinwand gewidmet; es erfolgten dabei nicht mehr die früheren Zornesausbrüche, er schien sich in diese ewige Arbeit gefügt zu haben mit ruhiger Miene, beharrlichem, hoffnungslosem Fleiße. Seine Augen jedoch behielten den irren Ausdruck; man sah in ihnen gleichsam das Licht erstorben, wenn sie starr auf das verfehlte Werk seines Lebens gerichtet waren.
Um jene Zeit wurde auch Sandoz von einem schweren Kummer heimgesucht. Seine Mutter starb, und sein ganzes Leben ward dadurch verstört, dieses so gemütliche Leben zu dreien, das nur wenigen Freunden zugänglich war. Das Gartenhäuschen in der Nollet-Straße war ihm fortan verhaßt. Übrigens war in dem bisher schwierigen Verkauf seiner Bücher ein plötzlicher Erfolg eingetreten, und das Ehepaar Sandoz hatte dank dem ihm gewordenen Reichtum in der Londoner Straße eine große Wohnung gemietet, deren Einrichtung sie monatelang beschäftigte. Seine Trauer hatte Sandoz noch mehr seinem Freunde Claude genähert, mit dem er den Ekel gegen alle Dinge teilte. Nach dem furchtbaren Schlage im Salon war der Schriftsteller um seinen alten Kameraden besorgt geworden; er vermutete in ihm einen nicht wiedergutzumachenden Riß, eine Wunde, durch welche das Leben unsichtbar entfloh. Als er ihn aber so kühl und so ruhig sah, beruhigte er sich schließlich ein wenig.
Sandoz kam oft nach der Tourlaque-Straße, und wenn er zufällig Christine allein zu Hause traf, fragte er sie aus; denn er begriff, daß auch sie in dem Schrecken vor einem Unglück lebe, von dem sie niemals sprach. Sie hatte das gequälte Antlitz, das nervöse Erbeben einer Mutter, die über ihr Kind wacht und bei dem leisesten Geräusche zittert, daß der Tod kommen könne.
An einem Julimorgen fragte er sie:
»Sind Sie zufrieden? Claude ist ruhig und arbeitet wacker.«
Sie warf ihren gewohnten Blick voll Haß und Schrecken auf das Bild und antwortete:
»Ja, ja, er arbeitet ... Er will alles Übrige beendigen, bevor er die weibliche Figur wieder in Angriff nimmt.
Ohne die Furcht zu gestehen, die sie in ihrer Gewalt hielt, setzte sie leise hinzu:
»Aber seine Augen ... Haben Sie seine Augen bemerkt? ... Er hat noch immer seine bösen Augen. Ich weiß sehr wohl, daß seine ruhige Miene nur geheuchelt ist ... Ich bitte Sie, holen Sie ihn zuweilen ab, führen Sie ihn hinweg, um ihn zu zerstreuen. Er hat niemanden außer Ihnen; helfen Sie mir; ach, helfen Sie mir!«
Fortan ersann Sandoz allerlei Vorwände zu Spaziergängen, kam am Morgen zu Claude und entführte ihn gewaltsam der Arbeit. Fast immer mußte man ihn von der Leiter reißen, auf der er sitzen blieb, selbst dann, wenn er nicht arbeitete. Es kam zuweilen eine Müdigkeit über ihn, die ihn in der Arbeit innehalten ließ, eine Erstarrung, die ihn minutenlang gefangen hielt, so daß er keinen Pinselstrich machen konnte. In solchen Augenblicken stummer Betrachtung kehrte sein Blick mit einer Art frommen Eifers zu der weiblichen Figur zurück, die er jetzt nicht berührte; es war wie das brennende Verlangen einer tödlichen Wollust, die unendliche Zärtlichkeit und die heilige Scheu einer Liebe, die er sich versagte in der Gewißheit, daß er das Leben dabei lasse. Dann machte er sich von neuem an die anderen Figuren, an den Hintergrund des Gemäldes, wußte sie dennoch stets gegenwärtig, mit flimmerndem Auge, und bezwang, wenn er ihr begegnete, nur so lange seinen Taumel, als er nicht zu ihrem Fleische zurückkehren wollte und sie nicht die Arme um ihn schloß.
Christine, die jetzt im Hause Sandoz' empfangen wurde und keinen Donnerstag fehlte in der Hoffnung, dort ihr großes, krankes Künstlerkind aufgeheitert zu sehen, nahm eines Abends den Herrn des Hauses beiseite und bat ihn, am nächsten Morgen zu ihnen zu kommen. Sandoz, der auf der andern Seite der Höhen von Montmartre eben Notizen für einen Roman suchte, überfiel Claude, führte ihn hinweg und trieb sich mit ihm bis zum sinkenden Abend herum.
Als sie an jenem Tage zum Tor von Clignaucourt hinabstiegen, wo ein ständiger Jahrmarkt war mit Ringelspielen, Bolzenschießständen, fliegenden Schänken, sahen sie zu ihrem maßlosen Erstaunen plötzlich Chaine vor sich, der mitten in einer großen reich ausgestatteten Bude saß. Es war eine Art bunt ausgeschmückter Kapelle; darin waren vier Ringelspiele, deren Mittelpfosten reich mit allerlei Tand von Glas und Porzellan behängt waren, mit Spielzeugen, deren Firnis und Vergoldung grell schimmerten und die ein helles Geklingel vernehmen ließen, wenn ein Spieler seine Wurfscheibe hinüberschleuderte. Selbst ein lebendes Kaninchen war da – als Haupttreffer – mit rosa Bändchen; das Tierchen in seinem tollen Schreck, tanzte und kreiste ohne Ende herum. Den Rahmen dieser Reichtümer bildeten rote Vorhänge und Teppiche, hinter denen im Hintergrunde der Bude wie im Allerheiligsten drei Bilder hingen, die drei Meisterwerke Chaines; diese folgten ihm von Markt zu Markt, von einem Ende der Hauptstadt bis zum andern; in der Mitte hing die Ehebrecherin, links die Kopie von Mantegna, rechts der Ofen Mahoudeaus. Wenn am Abend die Petroleumlampen angezündet wurden und die Ringelspiele wie Sterne erstrahlten, war nichts schöner als diese Gemälde mitten in dem blutigen Purpur der Stoffe, und das Volk sammelte sich gaffend davor an.
Dieser Anblick erpreßte Claude den Ausruf: »Aber, mein Gott! die Bilder sind ganz gut! sie waren dazu gemacht!«
Besonders der Mantegna mit seiner so kindlichen Trockenheit sah aus wie ein entfärbtes Bild von Epinal, das zum Vergnügen der einfältigen Leute hier angebracht wäre, während der mit so genauer Sorgfalt gemalte, aber schief aufgefaßte Ofen als Seitenstück zu dem Lebkuchen-Christus einen unvermutet heitern Anblick bot.
Doch Chaine, der die beiden Freunde bemerkt hatte, reichte ihnen die Hand, als habe er sie gestern verlassen. Er war ruhig, ohne Stolz und ohne Scheu wegen seiner Bude; er war nicht gealtert, noch derselbe hartgegerbte Kerl, dessen Nase zwischen den beiden Wangen vollständig verschwand, dessen Mund schweigsam im Barte sich verlor.
»Man trifft sich doch wieder!« rief Sandoz heiter. »Ihre Bilder machen einen prächtigen Eindruck.«
»Der Spaßvogel hat seine kleine Ausstellung für sich allein,« setzte Claude hinzu; »das ist sehr schlau.«
Das Antlitz Chaines erstrahlte, und er sprach sein gewohntes Wort:
»Ganz sicher!«
In einem Wiedererwachen seines Künstlerstolzes ließ er, von dem man sonst nur ein Grunzen hören konnte, jetzt einen ganzen Satz los.
»Ganz sicher ist, daß ich gleich euch ans Ziel gekommen wäre, wenn ich Geld gehabt hätte wie ihr.«
Dies war seine Überzeugung. Niemals hatte er Zweifel in sein Talent gesetzt, er hatte das Spiel einfach aufgegeben, weil es seinen Mann nicht nährte. Wenn er im Louvre vor den Meisterwerken stand, war er innerlich überzeugt, daß man nur Zeit brauche, um ähnliche zu schaffen.
»Ach, Sie müssen es nicht bedauern,« sagte jetzt Claude, der wieder ernster geworden war; »Sie allein haben einen Erfolg ... Das Geschäft geht, nicht wahr?«
Doch Chaine brummte bittere Worte. Nichts wolle gehen, selbst die Ringelspiele nicht. Das Volk spiele nicht mehr, alles Geld wandere in die Wirtshäuser. Vergebens kaufe er wohlfeile Ladenhüter als Gewinste, vergebens auch wende er allerlei kleine Kniffe an, damit die bessern Stücke nicht gewonnen werden: er verdiene kaum das Wasser; als einige Leute sich näherten, schrie er mit einer lauten Stimme, welche die beiden andern an ihm gar nicht kannten, und die sie daher in helle Verwunderung versetzte:
»Herbei, herbei, meine Herren! jeder Zug gewinnt.«
Ein Arbeiter, der ein kleines, kränkliches Mädchen mit gierigen Augen auf den Armen hatte, wagte zwei Züge. Die Rundplatte setzte sich in kreisende Bewegung, die Spielzeuge tanzten in einem blendenden Schimmer, das Kaninchen kreiste so schnell, daß es nur mehr wie ein runder, weißer Fleck aussah. Die Aufregung war groß, das kleine Mädchen hatte fast gewonnen.
Die beiden Freunde drückten dem noch zitternden Chaine die Hand und entfernten sich.
»Er ist glücklich,« sagte Claude, nachdem sie eine Strecke still nebeneinander hingegangen waren.
»Er?« rief Sandoz, »er glaubt, er werde sicher ins Institut gelangt sein, und an diesem Kummer geht er zugrunde.«
Einige Zeit hernach ersann um die Mitte des Monats August Sandoz die Zerstreuung einer wirklichen Reise, einen Ausflug, der einen ganzen Tag in Anspruch nehmen sollte. Er hatte Dubuche getroffen, einen düstern, leidenden Dubuche, der sich freundschaftlich und kläglich gestimmt zeigte, von der Vergangenheit zu sprechen begann und die beiden alten Freunde zu einem Frühstück auf dem Landgute Richaudière einlud, wo er mit seinen zwei Kindern für vierzehn Tage allein war. Warum sollte man ihm nicht einen Besuch machen, da er so sehr verlangte, die alte Freundschaft wieder anzuknüpfen? Doch vergebens wiederholte ihm Sandoz, daß jener ihm das Versprechen abgenommen habe, auch den alten Freund Claude mitzubringen; dieser lehnte beharrlich ab, als sei er von Furcht ergriffen bei dem Gedanken, Bennecourt wiederzusehen, die Seine und die Inseln, jene ganze Landschaft, wo glückliche Jahre eingesargt waren. Christine mußte sich einmengen, und er gab schließlich widerstrebend nach. Am Abend vor dem vereinbarten Tage hatte er, von einem fieberhaften Eifer ergriffen, lange an seinem Gemälde gearbeitet. Darum ging er am folgenden Tage, einem Sonntag, von verzehrender Arbeitslust zurückgehalten, nur ungern fort. Es war geradezu ein schmerzliches Losreißen. Was frommte es, dorthin zurückzukehren? Es war tot, existierte nicht mehr. Nichts existierte als Paris und in Paris nichts als ein Horizont, die Spitze der Altstadt, jenes Bild, das ihn immer und überall gefangen hielt, jener einzige Winkel, wo er sein Herz ließ.
Im Eisenbahnwagen war Claude nervös und wandte kein Auge von dem Fenster, als solle er für viele Jahre die Stadt verlassen, die immer kleiner wurde und sich im Nebel verlor. Sandoz suchte ihn zu zerstreuen und erzählte ihm, was er von der wirklichen Lage Dubuches wußte. Anfänglich hatte der Vater Margaillan, stolz auf den dekorierten Schwiegersohn, ihn überall herumgeführt und als Gesellschafter und Nachfolger vorgestellt. Das ist einer, der versteht, die Geschäfte zu führen, und baut wohlfeiler und schöner; denn der Junge hat was Rechtes gelernt! Allein, der erste Gedanke Dubuches mißlang; er ersann einen Ziegelofen und errichtete ihn in der Bourgogne auf einer Besitzung seines Schwiegervaters, aber unter so unglücklichen Bedingungen und nach einem so mangelhaften Plane, daß der Versuch mit einem Verluste von rund zweimalhunderttausend Franken endete. Dann warf er sich wieder auf die Bauten, bei denen er seine eigenen Ansichten anwenden zu wollen vorgab, ein wohldurchdachtes Ganze, das die Baukunst umgestalten sollte. Es waren die alten Ansichten, die er von den umstürzlerischen Kameraden seiner Jugend hatte, alles, was er zu verwirklichen verheißen hatte, wenn er einst frei sein werde, aber schlecht verdaut, zur Unzeit angewandt und mit der Schwerfälligkeit eines fleißigen Schülers ohne schöpferische Begeisterung: die Verzierungen von Terrakotta und Halbporzellan, die großen, glasgedeckten Seitenausgänge, vor allem die Anwendung des Eisens, eiserne Balken, eiserne Treppen, eiserne Dächer. Da diese Materialien die Baukosten vergrößerten, hatte er abermals eine Katastrophe heraufbeschworen, umsomehr, als er nichts von der Verwaltung verstand und seit der glücklichen Wendung in seinem Leben den Kopf verloren hatte. Das Geld hatte ihn noch schwerfälliger gemacht, noch mehr verdorben, aus der Richtung gebracht, so daß er es in der Arbeit nicht anzuwenden wußte. Diesmal wurde Vater Margaillan zornig, der seit dreißig Jahren Bauflächen kaufte, Häuser baute und verkaufte, mit einem Blick die Kostenanschläge der Zinshäuser festzustellen wußte: soviele Meter Bau zu so und so viel der Meter, müssen so und soviele Wohnungen mit so und sovielem Zinserträgnis liefern. Wer hat ihm diesen Kerl auf den Hals geladen, der sich irrt in der Berechnung des Kalkes, der Ziegel, der Steine, der Eichenholz verwendet, wo weiches Holz genügen muß, der sich nicht damit begnügt, ein Stockwerk – wie eine geweihte Oblate – in so viele kleine Vierecke zu zerlegen, wie notwendig ist! Nein, nein, das war nicht mehr sein Fall! Er war empört gegen die Kunst, nachdem er den Ehrgeiz gehabt, ein wenig davon in seine Mache einzuführen, um einen lang gehegten Wunsch zu befriedigen, den er als Unwissender hatte. Seither gingen die Dinge immer schlechter; es gab furchtbares Gezänk zwischen Schwiegersohn und Schwiegervater; der eine verschanzte sich voll Verachtung hinter seiner Wissenschaft; der andere schrie, der letzte Handlanger verstehe mehr als ein Baumeister. Die Millionen nahmen ab, Margaillan warf Dubuche eines Tages aus seinen Büros hinaus und verbot ihm, einen Fuß dahin zu setzen, da er nicht einmal dazu tauge, einen Werkplatz mit vier Arbeitern zu leiten. Es war ein jämmerlicher Zusammenbruch, der Bankerott der Schule vor einem Maurer!
Claude hatte aufgehorcht und diese Erzählung angehört.
»Was treibt Dubuche jetzt?« fragte er.
»Ich weiß nicht; er macht wohl gar nichts. Er sagte mir, daß der Gesundheitszustand seiner Kinder ihn beunruhige und daß er sie überwache.
Frau Margaillan, die bleiche, hagere Frau, war tot; ein Lungenleiden hatte sie hinweggerafft. Es war das Erbübel, die Entartung; ihre Tochter Regine hustete ebenfalls seit ihrer Verheiratung; in diesem Augenblick machte sie eine Kur in den Heilbädern von Mont-Dore durch, wohin sie ihre Kinder mitzunehmen nicht gewagt hatte, weil diese im vorangegangenen Sommer in der dortigen, für ihre schwächliche Beschaffenheit zu starken Luft sich nicht wohlbefunden hatten. Dies erklärte die Zerstreuung der Familie; die Mutter war im Heilbade, bloß von einem Kammermädchen begleitet; der Großvater in Paris, wo er seine großen Arbeiten wieder aufgenommen hatte, sich unter seinen vierhundert Arbeitern abmühte, die trägen und unfähigen Leute mit seiner Verachtung strafend. Der Vater hatte in der Richaudière Zuflucht gefunden, mit der Beaufsichtigung seiner Tochter und seines Sohnes betraut, seit dem ersten Kampfe mit dem Schwiegervater hierher verbannt wie ein Invalide des Lebens. In einem Augenblicke der Mitteilsamkeit hatte Dubuche sogar durchblicken lassen, daß, nachdem seine Frau bei der zweiten Entbindung fast das Leben eingebüßt und überdies bei der geringsten lebhafteren Berührung ohnmächtig zu werden drohte, er es sich zur Pflicht gemacht habe, allen ehelichen Verkehr mit ihr abzubrechen. Nicht einmal diese Zerstreuung hatte er.
»Eine schöne Ehe!« sagte Sandoz zum Schluß.
Es war zehn Uhr, als die zwei Freunde am Gartengitter der Richaudière läuteten. Die Besitzung, die sie bisher nicht gekannt hatten, erregte ihre Bewunderung: ein prächtiger Wald, ein französischer Garten mit Rampen und Perrons, drei riesige Gewächshäuser, ein kolossaler, künstlich zugeleiteter Wasserfall über künstlich aufgebauten Felsen; der Wasserfall hatte ein Vermögen verschlungen, es war eben eine Laune des ehemaligen Maurers. Noch mehr überraschte sie die traurige Verlassenheit dieses Herrensitzes; auf den sauber geglätteten Wegen war keine Spur von Schritten; der weite Garten war menschenleer, nur selten ein Gärtner zu sehen; das Haus war wie ausgestorben, alle Fenster geschlossen mit Ausnahme von zweien, die man auch nur zur Hälfte geöffnet hatte.
Ein Kammerdiener, der endlich erschien, fragte die Herren; als er erfuhr, daß sie zu dem Herrn kamen, war er unverschämt und erwiderte, der Herr sei auf dem Turnplatze hinter dem Hause. Dann kehrte er ins Haus zurück.
Sandoz und Claude durchschritten eine Allee, die sie zu einem Rasenplatze führte. Was sie da sahen, ließ sie einen Augenblick innehalten. Dubuche stand vor einem Trapez mit erhobenen Armen, um daselbst seinen Sohn Gaston festzuhalten, ein armes, schwächliches Wesen, das mit zehn Jahren noch die kleinen, weichen Glieder der ersten Kindheit hatte; während das Mädchen, Alice, in einem Wägelchen wartete, bis an sie die Reihe komme. Die Kleine war vorzeitig zur Welt gekommen, so wenig entwickelt, daß sie mit sechs Jahren noch nicht gehen konnte. In seine Arbeit versunken, fuhr der Vater fort, die schwachen Glieder des kleinen Jungen zu stärken, schaukelte ihn, suchte vergebens ihn zu bewegen, daß er sich auf den Handknöcheln erhebe; nachdem diese geringe Anstrengung genügt hatte, den Knaben in Schweiß zu versetzen, trug er ihn fort und wickelte ihn in eine Decke: alles still und einsam unter dem weiten Himmel, ein Bild des Jammers inmitten dieses schönen Parkes.
»Wie, ihr seid es? ... An einem Sonntag und ohne mich vorher benachrichtigt zu haben!«
Er hatte dies mit einer trostlosen Gebärde gesagt und erklärte sogleich, daß am Sonntag die Kammerfrau, die einzige, der er die Kinder anzuvertrauen wage, nach Paris gehe, und daß es ihm dann unmöglich sei, Gaston und Alice auch nur einen Augenblick zu verlassen.
»Ich wette, ihr seid zum Frühstück gekommen?«
Auf einen flehenden Blick Claudes beeilte sich Sandoz zu antworten:
»Nein, nein. Wir konnten nur knapp soviel Zeit erübrigen, um dir in aller Eile guten Tag zu sagen ... Claude hat Geschäfte halber in diese Gegend kommen müssen. Du weißt ja, er hat in Bennecourt gelebt. Da ich ihn begleitet habe, sind wir auf den Einfall gekommen, dich aufzusuchen. Aber wir werden erwartet; lasse dich nicht weiter stören.«
Dubuche atmete erleichtert auf; doch machte er den Versuch, die alten Freunde zurückzuhalten. Sie würden doch eine Stunde Zeit haben! So plauderten die drei ein wenig. Claude betrachtete Dubuche und war erstaunt, ihn so alt wiederzufinden; das aufgedunsene Gesicht hatte sich gerunzelt, war gelb, mit roten Adern durchzogen, als sei die Haut von der Galle gefleckt, während Haupt- und Barthaare schon grau wurden. Der Körper schien überdies sich gesetzt zu haben, eine dumpfe Mattigkeit lastete auf jeder Gebärde. Die Mißerfolge des Geldes waren also ebenso drückend wie die der Kunst? Die Stimme, der Blick, alles kündete bei diesem Besiegten die schimpfliche Abhängigkeit, in der er leben mußte, den Zusammenbruch seiner Zukunft, den man ihm ins Gesicht schleuderte, den ewigen Vorwurf, daß er in den Ehevertrag ein Talent gesetzt habe, das er nicht besaß, das Geld, das er heute der Familie stahl, was er aß, die Kleider, die er trug, das Taschengeld, das er haben mußte, kurz, das ewige Gnadenbrot, das er genoß wie ein gemeiner Betrüger, dessen man sich nicht entledigen konnte.
»Erwartet mich, ich habe noch fünf Minuten mit dem andern armen Püppchen zu tun; dann gehen wir ins Haus.«
Sachte mit der unendlichen Vorsicht einer Mutter nahm er die kleine Alice aus dem Wägelchen, hob sie zum Trapez empor; hier redete er ihr zu; machte allerlei Spaße, um sie zu erheitern und zu ermutigen; er ließ sie da zwei Minuten hängen, um ihre Muskeln zu stärken, doch folgte er mit offenen Armen jeder ihrer Bewegungen, aus Furcht, daß sie sich zerschmettern könne, wenn ihre dünnen, wachsgelben Händchen ermüdeten und das Trapez losließen. Sie sagte nichts, sie hatte große, blasse Augen, gehorchte trotz ihres Schreckens vor dieser Übung; sie war so erbärmlich leicht, daß sie die Stränge nicht zur Spannung brachte, gleich einem jener schwindsüchtigen Vöglein, die von den Zweigen fallen, ohne sie auch nur zu beugen.
Dubuche, der einen Blick auf Gaston geworfen hatte, schrie jetzt entsetzt auf; er hatte bemerkt, daß die Decke herabgeglitten war und die Beine des Kindes entblößt waren.
»Mein Gott! mein Gott! er wird sich in dem Grase erkälten! Und ich kann mich jetzt nicht vom Fleck rühren! ... Gaston, mein Püppchen! Jeden Tag treibst du es so; du wartest nur, bis ich mit deiner Schwester beschäftigt bin ... Sandoz, ich bitte dich, bedecke ihn! So, danke; schlage die Decke noch etwas tiefer herab.«
Das hatte seine schöne Ehe aus dem Fleische seines Fleisches gemacht, diese beiden unfertigen, wankenden Wesen, die das leiseste Lüftchen zu töten drohte gleich Fliegen. Von seinem erheirateten Glück war ihm nichts geblieben, als der ewige Kummer, sein Blut verkümmern zu sehen in diesen erbarmungswürdigen Kindern, die der schlimmsten Entartung der Skrofel und der Schwindsucht verfielen. Aus diesem plumpen, eigennützigen Jungen war ein wunderbarer Vater geworden mit einem Herzen, das in einer einzigen Leidenschaft entbrannte. Er hatte nur mehr den einen Willen, seine Kinder am Leben zu erhalten; er kämpfte Stunde um Stunde, rettete sie jeden Morgen in der Furcht, sie jeden Abend zu verlieren. Jetzt existierten sie allein für ihn inmitten seines verfehlten Daseins unter den bitteren, schimpflichen Vorwürfen seines Schwiegervaters, den mürrischen Tagen und eisigen Nächten, die sein trübseliges Weib ihm bereitete; und er rieb sich dabei auf, durch immer neue Wunder der Zärtlichkeit diese Kinder dem Leben zu erhalten.
»So, mein Püppchen; es ist genug, nicht wahr? Du sollst sehen, wie groß und schön du wirst!«
Er setzte Alice wieder in das Wägelchen, nahm den eingehüllten Gaston auf einen Arm; als seine Freunde ihm beistehen wollten, lehnte er dies ab und schob das kleine Mädchen mit seiner frei gebliebenen Hand.
»Ich danke euch, ich bin schon gewöhnt daran. Die lieben Kleinen sind nicht schwer; auf die Diener aber ist kein Verlaß.«
Als sie das Haus betraten, sahen Sandoz und Claude den Kammerdiener wieder, der sich ihnen gegenüber unverschämt benommen hatte; sie bemerkten, daß Dubuche vor ihm zitterte. Das Dienstgesinde teilte die Verachtung des Schwiegervaters, der den Haushalt bestritt, und behandelte den Gatten der Hausfrau wie einen aus Mitleid geduldeten Bettler. Bei jedem Hemde, das für ihn hergerichtet wurde, bei jedem zweiten Stück Brot, das er zu verlangen wagte, fühlte er das Almosen in den unhöflichen Gebärden der Dienstboten.
»Lebe wohl, wir verlassen dich«, sagte Sandoz, dem all dies wehe tat.
»Nein, nein, wartet einen Augenblick! ... Die Kinder werden frühstücken, hernach will ich mit ihnen euch das Geleit geben; sie müssen ihren Spaziergang machen.«
So war jeder Tag Stunde für Stunde geregelt. Am Morgen die Dusche, das Bad, das Turnen, dann das Frühstück, das eine wichtige Angelegenheit war, denn sie mußten eine besondere, reiflich besprochene und abgewogene Nahrung bekommen; man ging so weit, selbst ihr mit Rotwein gemengtes Wasser lauwarm machen zu lassen aus Furcht, daß ein allzu kalter Tropfen sie verschnupft machen könne. Heute bekamen sie eine Kraftbrühe mit einem Eidotter darin und ein Kotelett, das der Vater ihnen ganz klein schnitt. Dann kam der Spaziergang vor dem Mittagsschläfchen.
Draußen auf den breiten Gartenwegen fanden sich die drei wieder zusammen; Dubuche schob das Wägelchen der kleinen Alice, während Gaston jetzt neben seinem Vater herging. Die Herren sprachen von dem Landgute, während sie ihre Schritte nach dem Gitter lenkten. Der Herr des Hauses warf scheue, unruhige Blicke auf den weiten Park, als fühle er sich nicht zu Hause. Übrigens wußte er nichts, kümmerte sich um nichts. Er schien alles vergessen zu haben, selbst seinen Baumeisterberuf, den er – wie man ihn beschuldigte – niemals gekannt hatte; er war völlig aus dem Geleise, durch den Müßiggang zugrunde gerichtet.
»Wie geht es deinen Eltern?« fragte Sandoz.
Eine Flamme leuchtete in den erloschenen Augen Dubuches auf.
»Meine Eltern sind glücklich. Ich habe ihnen ein Häuschen gekauft, wo sie die Rente verzehren, die ich ihnen im Ehevertrage sichergestellt habe ... Meine Mutter hat genug für meine Ausbildung geopfert; ich mußte ihr alles zurückerstatten, wie ich es versprochen. Das kann ich sagen: meine Eltern haben mir keinen Vorwurf zu machen.«
Man war am Gartengitter angekommen und stand da noch eine Weile. Endlich drückte Dubuche mit trauriger Miene seinen alten Kameraden die Hände; dann hielt er die Claudes einen Augenblick fest und schloß ohne Zorn, gleichsam, um eine Wahrheit festzustellen:
»Lebe wohl!! Trachte, davon loszukommen... Ich habe mein Leben verfehlt.«
Sie sahen ihn zurückkehren, Alice schiebend, den schon wankenden Gaston stützend, er selbst mit gekrümmtem Rücken und dem schweren Gange eines Greises.
Es schlug ein Uhr; die beiden Freunde eilten traurig und hungrig nach Bennecourt hinab. Dort harrten ihrer noch andere Betrübnisse, ein mörderischer Wind war hier hindurchgezogen: die Faucheur, Mann und Frau, Vater Poirette – sie waren tot; die Herberge, der blöden Melie in die Hände gefallen, war ekelhaft unsauber und ungastlich geworden. Ein abscheuliches Frühstück wurde ihnen vorgesetzt, Haare im Pfannkuchen, Koteletten, die nach Ruß rochen; durch die weit offene Tür des Gastzimmers drang der Gestank des Misthaufens herein; das Gastzimmer selbst war dermaßen voll Fliegen, daß die Tische davon ganz schwarz waren. Mit dem Gestank drang auch die sengende Augusthitze ein; sie hatten nicht den Mut, Kaffee zu bestellen, und flüchteten.
»Wo ist die Zeit, als du die Pfannkuchen der Mutter Faucheur rühmtest!« sagte Sandoz. »Aus ist's mit der Herberge... Wollen wir noch einen Spaziergang machen?«
Claude wollte zuerst ablehnen. Schon seit dem Morgen drängte es ihn, rascher zu gehen, als kürze jeder Schritt seine Frone ab und bringe ihn Paris näher. Sein Herz, sein Kopf, sein ganzes Wesen war dort geblieben. Er schaute weder rechts noch links, schritt rasch dahin, ohne einen Blick auf die Felder, auf die Bäume zu werfen, mit der einen fixen Idee im Kopf, von einem solchen Wahn gefangen, daß zuweilen und für Augenblicke die Spitze der Altstadt vor ihm aus der weitgedehnten Landschaft sich aufzurichten und ihn herbeizurufen schien. Indes hatte der Vorschlag Sandoz' Erinnerungen in ihm geweckt; eine Wehmut überkam ihn, und er erwiderte:
»Ja, meinetwegen!«
Doch in dem Maße, als er am Flußufer fortging, ward er eine Beute schmerzlicher Empörung. Er erkannte die Gegend kaum wieder. Man hatte eine Brücke gebaut, um Bonnières mit Bennecourt zu verbinden; eine Brücke, mein Gott, an Stelle der alten Fähre, die, wenn sie an der Kette knarrend über den Strom schwamm, mit ihrer schwarzen Farbe sich so schön vom Wasser abhob! Überdies war durch den weiter unten bei Port-Villez errichteten Damm die Wasserfläche des Flusses gehoben worden; infolgedessen war die Mehrzahl der Inseln überflutet, die kleinen Arme waren breiter geworden. Weg waren die schönen Winkel, die beweglichen Gäßchen, wo man sich verlieren konnte! Ein wahres Unglück; er hätte alle Stromingenieure erwürgen mögen!
»Jenes Weidendickicht, das links noch aus dem Wasser hervorragt, war die Barreux-Insel, wo wir im Grase plauderten. Erinnerst du dich noch? Ach, die Elenden!«
Sandoz, der keinen Baum fällen sehen konnte, ohne dem Köhler die Faust zu zeigen, war ebenfalls bleich vor Zorn und Entrüstung darüber, daß man die Natur so zu schänden gemacht.
Als Claude sich seinem ehemaligen Wohnhause näherte, ward er stumm und preßte die Zähne zusammen. Das Haus war an Bürgersleute verkauft worden, die es mit einem eisernen Gitter umgeben hatten, an welches Claude sein Antlitz preßte. Die Rosenstöcke waren erstorben, die Aprikosenbäume verdorrt; der sehr sauber gehaltene Garten mit seinen schmalen Wegen und seinen mit Buchs eingesäumten Blumen- und Gemüsebeeten spiegelte sich in einer großen gebrochenen Glaskugel, die mitten im Garten auf einem Pfosten saß; und das frisch getünchte Haus, an den Ecken und Einfassungen mit einer Nachahmung von behauenen Steinen bemalt, zeigte eine plumpe Ausschmückung im Geschmack eines emporgekommenen Bauern, die den Maler zur Verzweiflung brachte. Nein, nein, nichts war von ihm da geblieben, nichts von Christine, nichts von ihrer großen Jugendliebe. Er wollte noch mehr sehen, stieg hinter dem Hause den Hügel hinan, suchte das kleine Eichengehölz, dieses grüne Nest, wo sie das lebendige Beben ihrer ersten Umarmung zurückgelassen; doch das Gehölz war tot wie alles andere, gefällt, verkauft, verbrannt. Da machte er eine Gebärde des Fluches, schleuderte seinen Kummer über diese ganze so veränderte Landschaft, wo er keine Spur ihres Daseins wiederfinden konnte. Einige Jahre hatten also genügt, den Platz auszulöschen, wo man gearbeitet, genossen und gelitten hatte! Was nützt alles eitle Streben, wenn der Wind hinter uns her alles hinwegfegt, selbst die Spuren unserer Schritte verwischt? Er habe gefühlt, daß er nicht habe wiederkommen sollen; denn die Vergangenheit sei nichts als der Kirchhof unserer Träume; man läuft Gefahr, an Gräbern die Beine zu brechen.
»Fort, rasch fort von hier!« rief er. »Es ist blöd, sich so das Herz schwer zu machen.«
Als sie auf der neuen Brücke angekommen waren, suchte Sandoz ihn zu beruhigen, indem er ihm ein Motiv zeigte, das ehemals nicht dagewesen war: den Strom der breiter gewordenen Seine, die bis zu den Ufern randvoll mit majestätischer Langsamkeit dahinrollte. Allein dieses Wasser interessierte Claude nicht mehr; er hatte dabei nur einen Gedanken: es war das nämliche Wasser, das in Paris die Ufer der Altstadt bespült hatte; fortan fesselte es seine Aufmerksamkeit, er beugte sich einen Augenblick hinab und glaubte daselbst herrliche Bilder zu bemerken, die Türme der Liebfrauenkirche und den Blitzableiter auf der heiligen Kapelle, Bilder, welche der Strom nach dem Meer entführte. Die beiden Freunde versäumten den Drei-Uhr-Zug. Es war eine Marter für sie, in dieser Landschaft, die so schwer auf ihrem Gemüte lastete, noch zwei Stunden zu verbringen. Glücklicherweise hatten sie ihre Familien verständigt, daß sie mit einem Nachtzuge heimkehren würden, falls man sie in der Richaudière zurückhalte. Sie beschlossen daher, als Junggesellen in einem Restaurant auf dem Havre-Platze zu essen, um beim Nachtisch plaudernd – wie sie es ehemals getan – sich von der Reise zu erholen.
Als Claude den Bahnhof verließ und die Füße wieder auf das Pariser Pflaster setzte, hatte seine nervöse Aufregung ein Ende; er fühlte sich endlich wieder zu Hause. Er hörte mit der kühlen, nachdenklichen Miene, die er jetzt gewöhnlich annahm, das Geschwätz an, womit ihn Sandoz aufheitern wollte. Dieser behandelte ihn wie eine Geliebte, die er betäuben wollte; er ließ feine, gewürzte Speisen und starke Weine kommen. Allein die Heiterkeit versagte, Sandoz selbst ward schließlich ernst. Diese undankbare Landschaft, dieses teure und vergeßliche Bennecourt, wo sie nicht einen Stein gefunden hatten, der ihr Andenken bewahrt, erschütterte in ihm alle Hoffnungen auf Unsterblichkeit. Wenn die Dinge, welche die Ewigkeit haben, so schnell vergessen werden, konnte man da auch nur eine Stunde auf das Gedächtnis der Menschen zählen?
»Siehst du, das treibt mir zuweilen den kalten Schweiß auf die Stirn... Hast du jemals daran gedacht, daß die Nachwelt vielleicht nicht jene unfehlbare Richterin ist, von der wir träumen? Man tröstet sich, wenn man beschimpft und verleugnet wird; man rechnet auf die Gerechtigkeit kommender Jahrhunderte; man ist wie der Gläubige, der den Jammer dieser Erde erträgt in dem festen Glauben an ein anderes Leben, wo jeder nach seinem Verdienste behandelt wird. Wenn es für den Künstler ebensowenig ein Paradies geben sollte wie für den Katholiken; wenn die künftigen Geschlechter sich irren sollten wie die zeitgenössischen, das Mißverständnis fortsetzen und den starken Werken die kleinen, liebenswürdigen Torheiten vorziehen sollten?... Welch ein Hohn! Welch ein Sträflingsdasein, an die Arbeit gefesselt für einen Wahn! Merke es dir: es ist schließlich sehr wohl möglich. Es gibt durch die Überlieferung geheiligte Gegenstände der Bewunderung, für die ich nicht zwei Heller geben würde. Natürlich; der klassische Unterricht hat alles aus der Form gebracht, hat uns feine und leichte Kerle als Genies aufgehalst, Kerle, denen man die freien Temperamente, die stets gleichmäßig schaffen und den Gelehrten allein bekannt sind, vorziehen könnte. Sollte die Unsterblichkeit dem Durchschnittsbürgertum gehören, jenen, die man uns gewaltsam in den Schädel treibt zu einer Zeit, wo wir uns noch nicht wehren können?... Nein, nein; man sollte sich so etwas nicht sagen; ich erschrecke davor. Würde ich bei solchen Gedanken den Mut zur Arbeit bewahren; würde ich die Beschimpfungen ertragen, wenn ich nicht den tröstenden Wahn hätte, eines Tages geliebt zu werden?«
Claude hatte ihm mit seiner traurigen Miene zugehört; dann sagte er mit einer Gebärde bittern Gleichmutes:
»Was liegt daran?... Es gibt gar nichts... Wir sind noch törichter als die Schwachköpfe, die sich für eine Frau töten. Wenn die Erde im Räume platzt wie eine taube Nuß, dann werden unsere Werke ihrem Staube nicht ein Atom hinzufügen.«
»Das ist wahr«, schloß Sandoz sehr bleich. »Was nützt es, den klaffenden Abgrund des Nichts ausfüllen zu wollen? Wenn man bedenkt, daß wir es wußten und daß unser Stolz nicht ablassen will!...«
Sie verließen das Restaurant, irrten in den Straßen umher und machten schließlich wieder bei einem Kaffeehause halt. Sie philosophierten, sie waren zu den Erinnerungen ihrer Kinderzeit zurückgekehrt, was ihr Herz vollends mit Traurigkeit erfüllte. Es schlug ein Uhr nach Mitternacht, als sie sich entschlossen heimzukehren.
Allein Sandoz sprach davon, Claude bis zur Tourlaquestraße zu begleiten. Die Augustnacht war herrlich, warm, sternenhell. Als sie auf einem Umwege durch das Europaviertel hinanstiegen, kamen sie bei dem ehemaligen Café Baudequin auf der Batignolles-Promenade vorüber. Es hatte seither dreimal den Eigentümer gewechselt; der Saal war nicht mehr derselbe, frisch gemalt, anders eingerichtet, mit zwei Billards auf der rechten Seite. Neue Gäste waren daselbst einander gefolgt, die einen bedeckten die anderen, so daß die alten vollständig verschwunden waren wie vergrabene Völker. Die Neugier und die Erregung über alle toten Dinge, die sie zusammen aufgerüttelt hatten, bewogen sie, quer über die Promenade zu gehen, um durch die weit offene Tür einen Blick in das Kaffeehaus zu werfen. Sie wollten ihren ehemaligen Stammtisch im Hintergrunde links wiedersehen.
»Oh, schau!« sagte Sandoz betroffen.
»Gagnière!« murmelte Claude.
Es war in der Tat Gagnière ganz allein an jenem Tische im Hintergrunde des leeren Saales. Er mußte aus Melun gekommen sein, um ein Sonntagskonzert anzuhören, – ein Vergnügen, das er sich seit langer Zeit gönnte. Als er am Abend in Paris nichts anzufangen wußte, hatten ihn seine Füße – gleichsam in alter Gewohnheit – nach dem Café Baudequin getragen. Kein einziger der Kameraden setzte mehr einen Fuß in dieses Kaffeehaus; er aber, der Zeuge einer andern Zeit, ließ sich in seinem Eigensinn hier einsam nieder. Noch hatte er seinen Schoppen nicht berührt; er betrachtete ihn in Gedanken, während die Kellner schon die Sessel auf die Tische zu stellen begannen, um den Saal für den folgenden Tag reinzukehren, ohne daß er sich bewegte.
Die beiden Freunde eilten hinweg, geängstigt durch dieses ausdruckslose Gesicht, von kindischer Gespensterfurcht ergriffen. In der Tourlaquestraße trennten sie sich.
»Dieser trübselige Dubuche hat uns den Tag verdorben«, sagte Sandoz, während er Claude die Hand drückte.
Als im November alle Freunde wieder nach Paris zurückgekehrt waren, wollte Sandoz sie bei einem seiner Donnerstagessen vereinigen, deren Gewohnheit er beibehalten hatte. Es war noch immer seine schönste Freude; der Absatz seiner Bücher nahm immer mehr zu und bereicherte ihn. Die Wohnung in der Londoner Straße war sehr prächtig eingerichtet im Vergleiche zu. der spießbürgerlichen Behausung in Batignolles. Sandoz aber blieb unveränderlich derselbe. In seiner Gutmütigkeit plante er übrigens diesmal für Claude eine Überraschung, die diesen sicher zerstreuen sollte; die Freunde sollten zu einem der lieben, frohen Abende von ehemals versammelt werden. Er selbst überwachte die Einladungen: Claude und Christine natürlich; Jory und seine Frau, die man empfangen mußte, seitdem sie geheiratet hatten; ferner Dubuche, der stets allein kam; Fagerolles, Mahoudeau und Gagnière. Eine Gesellschaft von zehn Personen, nur Kameraden der alten Schar, kein Fremder, damit das Einvernehmen und die Fröhlichkeit vollständig seien.
Henriette, bedächtiger als er, zögerte, als sie diese Liste festgestellt hatten.
»Fagerolles! Du glaubst: Fagerolles mit den übrigen? Sie lieben ihn nicht... Auch Claude nicht; ich glaubte, eine gewisse Kälte zu bemerken...«
Doch er unterbrach sie, wollte es nicht zugeben.
»Wie? Eine gewisse Kälte? Es ist drollig: die Frauen können nicht begreifen, daß Freunde untereinander Spaß treiben und dennoch das Herz auf dem rechten Flecke haben.«
An jenem Donnerstag wollte Henriette selbst den Küchenzettel überwachen. Sie hatte jetzt ein kleines Gesinde zu leiten: eine Köchin und einen Diener; wenngleich sie selbst jetzt nicht mehr kochte, führte sie dennoch eine sehr feine Küche aus Liebe für ihren Mann, dessen Leckerheit sein einziges Laster war. Sie begleitete die Köchin in die Halle und ging selbst zu den Kaufleuten. Das Ehepaar liebte Besonderheiten im Essen, die aus aller Herren Länder kamen. Diesesmal entschloß man sich zu einer Rindfleischbrühe, geschmorten Meerbarben, einem Filet mit Schwämmen, Ravioli nach italienischer Art zubereitet, russischen Haselhühnern, Trüffelsalat, ungerechnet den Kaviar und Kilkis als Vorspeisen, Fruchteis, einen feinen ungarischen Käse von smaragdgrüner Farbe, Früchte, Gebäck. Als Getränk: alter Bordeaux vom Fasse, zum Braten Chambertin, zum Nachtisch einen schäumenden Moselwein anstatt des Champagners, den man gewöhnlich fand.
Um sieben Uhr erwarteten Sandoz und Henriette ihre Gäste, er in einfachem Jackett, sie sehr elegant in einem glatten Kleide aus schwarzem Samt. Man kam zu ihnen im Leibrock ganz ungezwungen. In dem Salon, dessen Einrichtung sie eben erst beendet hatten, stand eine Menge alter Möbel und Teppiche, Kunstsachen aller Völker und aller Zeiten; sie hatten die Sammlung noch in Batignolles mit einem alten Rouener Topfe begonnen, den sie ihm einmal zu seinem Namensfeste geschenkt hatte. Sie suchten zusammen alle Trödler ab in frohem Eifer, solche Seltsamkeiten anzukaufen. Er befriedigte alte Wünsche seiner Jugend, einen romantischen Ehrgeiz, der noch aus der Zeit stammte, als er seine ersten Bücher gelesen; so daß dieser durch und durch moderne Schriftsteller mitten in dem wurmstichigen Mittelalter wohnte, das er mit fünfzehn Jahren erträumt. Er entschuldigte es lachend damit, daß die schönen Möbeln von heute zu teuer seien, während man mit alten. Sachen, selbst gewöhnlichen, sogleich Farbe und Vornehmheit in einen Salon bringe. Er hatte nichts vom Sammler; er war ganz für die Ausschmückung, für die Gesamtwirkung. Beleuchtet durch zwei Lampen von altem Delft, zeigte der Salon in der Tat verblaßte Töne von sehr milder und warmer Wirkung: das matte Gold der frisch aufgelegten Dalmatiken auf den Sesseln, die vergilbte Einlegearbeit der italienischen Kabinettstücke und der holländischen Glasschränke, die verschwommenen Farben der orientalischen Vorhangteppiche, die hundert kleinen Töne der Elfenbein-, Halbporzellan- und Emaillegegenstände, die verblaßt durch das Alter von dem Dunkelrot der Tapete des Gemaches sich abhoben.
Claude und Christine kamen zuerst. Die letztere hatte ihr einziges Kleid von schwarzer Seide angelegt, ein abgetragenes Stück, das sie für ähnliche Gelegenheiten mit außerordentlicher Sorgfalt instandhielt. Henriette ergriff sogleich ihre beiden Hände und zog sie auf ein Sofa. Sie liebte sie sehr und befragte sie sogleich, als sie Christine so eigentümlich aussehend fand, die Augen so unruhig in dem rührend blassen Gesichte. Was hatte sie denn? War sie leidend? Nein, nein; sie erwiderte, sie sei sehr heiter und glücklich, daß sie habe kommen können. Ihre Blicke wanderten jeden Augenblick zu Claude, wie um ihn zu prüfen, und wandten sich dann wieder weg. Er schien fieberhaft erregt in Worten und Gebärden, wie er es seit mehreren Monaten nicht gezeigt. Allein zuweilen verschwand für Augenblicke diese Erregung, und er blieb still, mit offenen Augen in die Leere starrend auf etwas, das ihn zu rufen schien:
»Lieber Freund,« sagte er zu Sandoz, »ich habe heute nacht dein Buch beendet. Es ist gewaltig, du hast ihnen diesmal den Schnabel vernagelt.«
Sie plauderten vor dem Kamin, wo die Klötze lustig flackerten. Der Schriftsteller hatte in der Tat soeben einen neuen Roman beendigt; obgleich die Kritik noch immer nicht die Waffen streckte, hatte endlich das letzte Buch jenen Ruf des Erfolges errungen, der einen Mann unter den beharrlichen Angriffen seiner Gegner in die Höhe bringt. Er gab sich übrigens keinem Wahn hin; er wußte sehr wohl, daß die gewonnene Schlacht mit jedem seiner Bücher neu beginnen werde. Das große Werk seines Lebens schritt fort, jene Romanreihe, jene Bände, die er Stück für Stück mit beharrlichem und regelmäßigem Wurf auf den Büchermarkt schleuderte, indem er geradeaus auf das Ziel losging, das er sich gesteckt, ohne sich besiegen zu lassen, der Hindernisse, der Mühsal, der Schmähungen nicht achtend.
»Es ist wahr, sie werden schwächer«, sagte er heiter. »Einer unter ihnen gibt sogar zu, daß ich ein ehrlicher Mann sei. So legt sich alles. Doch sei ruhig, sie werden das Versäumte nachholen. Ich kenne unter ihnen einige, deren Schädel zu sehr verschieden ist von dem meinen, als daß sie jemals meine literarische Formel annehmen, die Kühnheit meiner Sprache, meine menschlichen Figuren, die sich unter dem Einflüsse ihrer Umgebung entwickeln; ich spreche da von den Kollegen, die sich gegenseitig achten, und lasse die Schwachköpfe und Schurken ganz beiseite. Um tüchtig zu arbeiten, ist das beste, weder guten Glauben noch Gerechtigkeit zu erwarten. Man muß erst sterben, um recht zu behalten.«
Claudes Blicke richteten sich plötzlich nach einem Winkel des Salons; sie durchbohrten die Mauer und eilten in die Ferne, wo etwas sie zu rufen schien. Dann trübten sich diese Blicke und kehrten zurück, während er sagte:
»Du sprichst für dich. Wenn ich krepiere, werde ich unrecht haben ... Gleichviel, dein Buch hat ein riesiges Feuer in mir entzündet. Ich wollte heute malen, es war unmöglich! Es ist gut, daß ich auf dich nicht eifersüchtig sein kann, du würdest mich sonst zu unglücklich machen.«
Doch die Tür hatte sich geöffnet; Mathilde trat ein und hinter ihr Jory. Sie trug eine reiche Toilette, eine Tunika von kapuzinerbraunem Samt auf einem Rock von strohgelbem Satin mit Brillanten in den Ohren und einem großen Rosenstrauß am Leibchen. Claude war erstaunt, daß er sie nicht wiedererkannte; sie war eine sehr dicke, runde, blonde Person geworden aus einer mageren, schwarzen, die sie gewesen. Ihre beunruhigende Häßlichkeit einer Dirne löste sich in eine spießbürgerliche Anschwellung des Gesichtes auf, ihr Mund mit den schwarzen Löchern zeigte jetzt allzu weiße Zähne, wenn sie mit einem verächtlichen Verziehen der Lippen lächeln wollte. Sie gab sich ein übertrieben achtbares Aussehen; ihre fünfundvierzig Jahre verliehen ihr Bedeutung neben dem jüngeren Gatten, der ihr Neffe zu sein schien. Das einzige, das sie aus der Vergangenheit behalten hatte, waren ihre aufdringlichen Parfüms; sie übergoß sich mit den stärksten Wässern, als wolle sie aus ihrer Haut die Gerüche des Kräuterladens vertreiben; doch die Bitterkeit des Rhabarbers, die Herbheit des Wachholders, die Schärfe der Pfeffermünze – sie dauerten fort, und der Salon füllte sich, als sie ihn durchschritt, mit einem unerklärlichen Apothekengeruch, gemildert durch einen scharfen Zug von Moschus.
Henriette hatte sich erhoben und ließ sie gegenüber Christine Platz nehmen.
»Die Damen kennen sich, nicht wahr? Sie müssen sich hier schon getroffen haben.«
Mathilde warf einen kühlen Blick auf die bescheidene Toilette dieser Frau, die – wie man sagte – lange Zeit mit einem Manne gelebt hatte, ehe sie geheiratet. Sie war in diesem Punkte äußerst streng, seitdem sie selbst dank der Duldsamkeit der literarischen und künstlerischen Kreise in einigen Salons empfangen wurde. Henriette, die sie verabscheute, setzte übrigens nach dem Austausche der unerläßlichen Höflichkeiten ihre Unterhaltung mit Christine fort.
Jory hatte inzwischen Claude und Sandoz die Hände gedrückt. Er stand mit ihnen vor dem Kamin und entschuldigte sich bei Sandoz wegen eines Artikels, der in seiner Zeitschrift gerade an diesem Tage erschienen war, und in dem der neue Roman des Schriftstellers sehr schlecht wegkam.
»Du weißt ja, mein Lieber, man ist zu Hause niemals der Herr ... Ich müßte alles selbst machen, aber ich habe so wenig Zeit! Denke dir: ich habe den Artikel gar nicht gelesen, sondern den Angaben vertraut, die man mir darüber gemacht. Du begreifst denn auch meinen Zorn, als ich vorhin rasch den Artikel las. Ich bin trostlos, trostlos ...«
»Sei ruhig; es ist ganz in der Ordnung«, erwiderte Sandoz freundlich. »Meine Feinde loben mich jetzt, also müssen meine Freunde mich angreifen.«
Von neuem öffnete sich die Tür, und Gagniere schlüpfte herein mit seiner verschwommenen Miene eines schwankenden Schattens. Er kam geradeswegs von Melun ganz allein; denn er zeigte seine Frau niemandem. Wenn er zum Essen kam, behielt er den Provinzstaub auf seinen Schuhen, den er an demselben Abend auf der Rückfahrt mit dem Nachtzuge wieder mitnahm. Er veränderte sich übrigens nicht; die Jahre schienen ihn zu verjüngen, mit zunehmendem Alter ward er blond.
»Gagnière ist da!« rief Sandoz.
Während Gagnière die Damen begrüßte, kam auch Mahoudeau. Er war schon weiß geworden mit seinem hohlen, rauhen Gesichte, aus dem zwei Kinderaugen blickten. Er trug noch ein zu kurzes Beinkleid und einen schlecht sitzenden Leibrock, trotzdem er jetzt Geld verdiente. Der Bronzehändler, für den er arbeitete, hatte reizende Statuetten von ihm in die Mode gebracht, die man allmählich auf den Kaminsimsen und Konsolen der Bürgerhäuser zu sehen bekam.
Sandoz und Claude hatten sich umgewandt, um die Begegnung Mahoudeaus mit Mathilden und Jory zu sehen. Allein die Sache ging sehr einfach vor sich. Der Bildhauer verneigte sich respektvoll vor ihr, als der Gatte mit seiner ruhig-unbewußten Miene sie ihm vorstellen zu sollen glaubte – vielleicht zum zwanzigsten Male.
»Das ist meine Frau, Kamerad! Reicht euch die Hände!«
Sehr ernst reichten sich als Leute von Welt, die man zu einer allzu raschen Vertraulichkeit nötigt, Mathilde und Mahoudeau die Hände. Allein sobald dieser es überstanden und Gagnière in einer Ecke des Salons wiedergefunden hatte, begannen beide spöttisch zu lächeln und sich der Scheußlichkeiten von einst zu erinnern! Was! jetzt hatte sie gar Zähne, die ehemals nicht beißen konnte – glücklicherweise!
Man erwartete Dubuche, denn er hatte in aller Form versprochen, zu dem Essen zu erscheinen.
»Ja,« erklärte Henriette laut, »wir werden nur unser Neun sein. Fagerolles hat uns heute morgen geschrieben und sich entschuldigt; er müsse an einem offiziellen Essen teilnehmen, werde aber gegen elf Uhr kommen.«
In diesem Augenblicke brachte man eine Depesche. Dubuche telegraphierte: »Unmöglich zu kommen; Alice hustet in beunruhigender Weise.«
»Gut wir werden nur unser Acht sein«, sagte Henriette mit der betrübten Ergebung einer Hausfrau, die ihre Gäste immer weniger werden sieht.
Als der Diener eben die Tür des Speisezimmers öffnete, um zu melden, daß das Essen angerichtet sei, setzte sie hinzu:
»Wir sind alle beisammen ... Claude, reichen Sie mir den Arm.«
Sandoz hatte den Mathildens genommen, Jory führte Christine, Mahoudeau und Gagnière folgten unter derben Scherzen über das, was sie die frische Auspolsterung der schönen Kräuterhändlerin nannten.
Der Speisesaal, den man betrat, war sehr groß und im Vergleich zur gedämpften Helle des Salons sehr lebhaft beleuchtet. Die mit alten Fayencen bedeckten Wände boten den frohen Farbenreichtum Epinalscher Bilder. Zwei Schränke – der eine für Glasgeschirr, der andere für Silberzeug – funkelten wie Juwelenkästen. In der Mitte des Gemaches schimmerte der Tisch wie eine beleuchtete Kapelle unter der mit Kerzen besteckten Lampe mit dem schneeweißen Tafeltuch, von dem sich die schön geordneten Gedecke abhoben, die bemalten Teller, die geschnittenen Gläser, die weißen und roten Weinkaraffen, die gleichmäßig aufgestellten Zwischengerichte, die rings um den in der Mitte stehenden Rosenkorb geordnet waren.
Man setzte sich zu Tische, Henriette zwischen Claude und Mahoudeau, Sandoz zwischen Mathilde und Christine, Jory und Gagnière an den beiden Enden des Tisches. Der Diener hatte soeben die Suppe verteilt, als Frau Jory einen unglückseligen Satz losließ. Um liebenswürdig zu sein und weil sie die Entschuldigungen ihres Gatten nicht gehört hatte, sagte sie dem Herrn des Hauses:
»Sie waren doch wohl zufrieden mit dem Artikel von heut abend. Eduard selbst hat mit großer Sorgfalt die Korrektur gelesen.«
Jory stammelte in arger Verlegenheit:
»Aber nein, aber nein, der Artikel ist sehr schlecht; du weißt, daß er neulich in meiner Abwesenheit ins Blatt gelangt ist.«
An dem verlegenen Schweigen, das jetzt entstand, merkte sie ihren Mißgriff. Doch sie verschlimmerte die Lage noch; sie warf ihm einen scharfen Blick zu und sagte sehr laut, um ihn zu beschuldigen und sich selbst zu entlasten:
»Wieder eine deiner Lügen! Ich wiederhole, was du mir gesagt hast ... Ich will nicht, daß du mich lächerlich machst; verstehst du?«
Diese Szene brachte eine eisige Stimmung in den Beginn des Essens. Vergebens empfahl Henriette die Kilkis; Christine allein fand sie sehr gut. Sandoz, dem die Verlegenheit Jorys Spaß machte, erinnerte ihn fröhlich, als die geschmorten Barben erschienen, an ein Frühstück, das sie ehemals zusammen in Marseille eingenommen. Marseille! die einzige Stadt, wo man zu essen versteht!
Claude, der eine Weile nachdenklich dagesessen, schien jetzt aus einem Traume zu erwachen und fragte ohne jeden Übergang:
»Ist's entschieden? Sind die Künstler für die Ausschmückung des Rathauses schon gewählt?«
»Nein,« sagte Mahoudeau; »das wird erst geschehen ... Ich bekomme nichts, denn ich kenne niemanden ... Auch Fagerolles ist sehr besorgt. Wenn er heute nicht da ist, beweist es, daß die Sache nicht recht geht ... Seine Glanzzeit ist vorüber; die Malerei, die Millionen eingetragen, scheint im Niedergange zu sein!«
Er ließ ein Lachen endlich befriedigten Grolls vernehmen, und Gagnière, am andern Ende der Tafel, grinste ebenfalls. Sie machten nun ihrem Herzen in bösen Worten Luft; sie freuten sich des Zusammenbruches, der die Welt der jungen Meister in Bestürzung versetzte. Es war fatal; die vorausgesagten Zeiten kamen, die übertrieben hohen Bilderpreise endeten mit einer Katastrophe. Seitdem die Panik unter den Kunstliebhabern eingerissen, die von der Kopflosigkeit der Börsenmänner bei einem Preissturz ergriffen wurden, gingen die Preise von Tag zu Tag zurück, man konnte nichts mehr verkaufen. Man mußte den berühmten Naudet in diesem Krach sehen! Anfänglich hatte er standgehalten, hatte den Kniff mit dem Amerikaner ersonnen. Er verbarg ein einziges Gemälde in der Tiefe einer Galerie, einsam wie einen Gott, ein Gemälde, dessen Preis er nicht angeben wollte mit der verächtlichen Gewißheit, daß er keinen Mann finden werde, der reich genug sei, dieses Bild zu kaufen. Schließlich verkaufte er das Bild um zwei–dreimalhunderttausend Franken an einen Schweinehändler aus Neuyork, der stolz darauf war, das teuerste Bild des Jahres erstanden zu haben. Allein solche Kniffe wiederholten sich nicht, und Naudet, dessen Ausgaben mit seinen Gewinsten gestiegen waren, den die wahnsinnige Bewegung, die sein eigenes Werk war, mit sich fortriß und verschlang, hörte jetzt seinen königlichen Palast in allen Fugen krachen und mußte ihn gegen den Ansturm der Gerichtsvollzieher verteidigen.
»Mahoudeau, nehmen Sie noch ein Filet mit Schwämmen?« unterbrach Henriette freundlich.
Der Diener bot das Filet an; man aß, man leerte die Weinkaraffen; allein die Verstimmung war derart, daß die guten Sachen vorübergingen, ohne recht gewürdigt zu werden, was die Frau und den Herrn des Hauses trostlos machte.
»Wie? Filet mit Schwämmen?« wiederholte der Bildhauer schließlich. »Nein, ich danke.«
Dann fuhr er fort.
»Das Drolligste ist, daß Naudet jetzt Fagerolles verfolgt. Ja, ja; er ist dabei, ihn pfänden zu lassen ... Mir macht das vielen Spaß! Wir werden das Schauspiel erleben, daß alle kleinen Maler, die ihre Häuser in der Villiers-Allee haben, hinweggefegt werden. Fagerolles' Haus wird im Frühjahr für einen Pappenstiel zu haben sein. Naudet also, der Fagerolles gezwungen hat zu bauen und ihn eingerichtet hat wie eine ausgehaltene Dirne, wollte seine Kunstsachen und Teppiche zurücknehmen. Allein der andere scheint Geld darauf entlehnt zu haben. Sie begreifen die Geschichte: der Kaufmann beschuldigt ihn, sein Geschäft dadurch verdorben zu haben, daß er als eitler, unbesonnener Mensch die Ausstellung beschickte; der Künstler antwortet darauf, daß er nicht länger bestohlen werden will; und sie werden einander auffressen, wie ich hoffe.«
Jetzt ließ die Stimme Gagnières sich vernehmen, die unerbittliche, sanfte Stimme eines erwachten Träumers.
»Fagerolles ist fertig! ... Er hat übrigens niemals Erfolg gehabt.«
Dem wurde widersprochen. Er habe jährlich Bilder für hunderttausend Franken verkauft und habe Medaillen und das Kreuz der Ehrenlegion. Doch er blieb hartnäckig, lächelte geheimnisvoll, als vermöchten die Tatsachen nichts gegen seine Überzeugung, die er aus dem Reich der Träume geholt. Er schüttelte voll Verachtung das Haupt.
»Laßt mich in Frieden. Niemals wußte er die Werte in der Malerei abzuschätzen.«
Jory wollte das Talent Fagerolles' verteidigen, den er als sein Werk betrachtete, als Henriette um ein wenig Aufmerksamkeit für die Ravioli bat. Es trat eine kurze Ruhe ein, und man vernahm das kristallhelle Klirren der Gläser und das leichte Klappern der Gabeln. Die Tafel, deren schöne Gleichmäßigkeit schon einigermaßen gelitten hatte, schien sich in dem hitzigen Streit belebt zu haben. Sandoz war unruhig und erstaunt; was hatten sie denn, daß sie so hart über Fagerolles herfielen? Hatte man denn nicht zusammen begonnen? Mußte man nicht zum nämlichen Siege gelangen? Zum erstenmal trübte ein Unbehagen seinen Traum von der Ewigkeit, diese Freude seiner Donnerstage, die er einander folgen sah, alle gleich, alle glücklich bis in die fernsten Zeiten. Doch es war nur ein Frösteln auf der flachen Haut. Er sagte lachend:
»Claude, spare deinen Appetit auf, da sind die Haselhühner. He, Claude, wo bist du?«
Seitdem Stille eingetreten, war Claude mit verlorenen Blicken wieder in seinen Traum versunken; er nahm immer wieder von den Ravioli, ohne zu wissen, was er tat. Christine, die nichts sprach, traurig und liebreizend dasaß, ließ ihn nicht aus den Augen. Er fuhr jetzt auf, nahm Schenkel aus der Schüssel mit Hühnern, deren würziger Dampf das Gemach mit einem Harzgeruch erfüllte.
»Riecht Ihr das?« rief Sandoz heiter. »Man glaubt alle Wälder Rußlands zu verschlucken.«
Doch Claude kam wieder auf den Gegenstand seines Nachdenkens zurück.
»Ihr sagt also, Fagerolles werde den großen Saal des Gemeinderates bekommen?«
Dieses Wort genügte, Mahoudeau und Gagnière, wieder auf die Spur gebracht, brachen von neuem los. Das wäre eine schöne Tünche mit klarem Wasser, wenn man ihm diesen Saal überlasse! Er treibe übrigens häßliche Sachen genug, um ihn zu erlangen. Ehemals habe er getan, als gebe er nichts auf die Bestellungen als großer Künstler, den die Kunstliebhaber schier zerreißen, und jetzt bestürme er die Regierung in gemeiner Weise, seitdem seine Bilder keinen Absatz mehr fanden. Gab es etwas Gemeineres als einen Maler, der vor einem Beamten in Bücklingen und feigen Zugeständnissen sich erschöpfe? Diese Abhängigkeit der Kunst von der blöden Willkür eines Ministers sei eine Schmach, eine Schule der Knechtschaft! Fagerolles sei bei diesem offiziellen Diner sicherlich dabei, irgendeinem Amtsvorstande, einem Tölpel zum Ausstopfen, gewissenhaft die Stiefel abzulecken!
»Mein Gott,« sagte Jory, »er betreibt seine Angelegenheiten und hat recht ... Ihr bezahlt seine Schulden nicht.«
»Habe ich etwa Schulden, trotzdem ich gehungert habe?« rief Mahoudeau unwirsch. »Darf man einen Palast bauen, darf man Geliebte halten wie diese Irma, die ihn ruiniert?«
Gagnière unterbrach ihn von neuem mit seiner eigentümlich gebrochenen, wie von fernher kommenden Orakelstimme. »Irma? Aber sie bezahlt ihn doch!«
Man scherzte und ereiferte sich, der Name Irmas flog über den Tisch hin und her, als Mathilde, die bisher still und zurückhaltend dagesessen hatte, um ein gutes Benehmen zu bekunden, sehr entrüstet tat und mit dem Unwillen einer genotzüchtigten Betschwester ausrief:
»Aber, meine Herren, um des Himmels willen! Sprechen Sie nicht in unserer Gegenwart von dieser Dirne!«
Jetzt sahen Sandoz und Henriette betroffen, wie ihr schönes Essen in die Brüche ging. Der Trüffelsalat, das Fruchteis, der Nachtisch, alles wurde ohne Freude verschlungen in der steigenden Erregung des Gezänks; der Chambertin, der Moselwein wurden hinabgegossen wie reines Wasser. Vergebens lächelte sie, vergebens bemühte er sich in seiner Gemütlichkeit, Ruhe zu stiften, indem er die menschlichen Schwächen betonte. Keiner wollte nachgeben; ein Wort genügte, um sie von neuem aufeinander losstürzen zu lassen. Es war heute nicht die schleichende Langeweile, die schläfrige Sattheit, die ehemals zuweilen einen trübseligen Ton in diese Zusammenkünfte brachte; es war die Wildheit des Kampfes, das Bedürfnis, sich gegenseitig zu vernichten. Die Leuchter der Lampe brannten sehr hoch; die Fayencen an den Wänden schimmerten in der Farbenpracht ihrer Blumen; der Tisch schien sich entzündet zu haben in dem Zusammenbruch des Gedecks, in der Heftigkeit der Unterhaltung, in dieser Schlacht, die sie seit zwei Stunden in fieberhafter Aufregung hielt.
Mitten in dem Lärm sagte in dem Augenblicke, als Henriette sich erhob, um die Herren zu beruhigen, Claude schließlich:
»Wenn ich das Rathaus bekäme und wenn ich könnte! ... Das war mein Traum, die Mauern von Paris bedecken!«
Man kehrte nach dem Salon zurück, wo der kleine Hängeleuchter angezündet worden. Man fror daselbst fast nach dem Schwitzbade, aus dem man eben gekommen, und der Kaffee beruhigte einen Augenblick die Gäste. Außer Fagerolles wurde niemand mehr erwartet. Es war ein sehr verschlossener Salon; das Ehepaar Sandoz versammelte daselbst keine literarischen Gäste, suchte nicht die Presse durch Einladungen zu ködern. Die Frau wollte keine Gesellschaft; der Gatte sagte oft lachend, sie brauche zehn Jahre, um jemanden liebzugewinnen, dann liebe sie ihn immer. War das nicht das unerreichbar scheinende Glück? Einige zuverlässige Freundschaften, ein trauliches Familiennest. Es wurde daselbst niemals Musik gemacht, niemals Literatur getrieben.
In der dumpfen Gereiztheit, die an jenem Donnerstag herrschte, schien der Abend lang. Die Damen hatten vor dem erlöschenden Kaminfeuer eine Unterhaltung angeknüpft, als der Diener, nachdem er den Tisch abgeräumt, die Tür zum Eßzimmer wieder öffnete, blieben sie allein, weil die Männer hinübergingen, um zu rauchen und Bier zu trinken.
Sandoz und Claude, die nicht rauchten, kamen bald wieder zurück und nahmen Seite an Seite auf einem Sofa neben der Tür Platz. Glücklich darüber, seinen alten Freund angeregt und gesprächig zu sehen, erinnerte ihn Sandoz an Plassans. Anlaß dazu bot eine gestern vernommene Nachricht: Pouillaud, der ehemalige Spaßvogel im Schlafsaale der Schule, der ein so ernster Advokat geworden, hatte Verdrießlichkeiten, weil man ihn mit kleinen Gassenmädchen von zwölf Jahren erwischt hatte. Dieser Teufelskerl Pouillaud! Aber Claude antwortete nicht; er hatte im Speisezimmer seinen Namen nennen hören und spitzte die Ohren, um zu verstehen.
Jory, Mahoudeau und Gagnière hatten ungesättigt mit langen Zähnen den Streit wieder aufgenommen. Ihre zuerst flüsternden Stimmen waren allmählich lauter geworden, und zuletzt schrien sie.
»Ich überlasse euch den Mann, er taugt nicht viel«, sagte Jory, von Fagerolles sprechend. »Er hat euch alle plattgedrückt, indem er mit euch brach und auf eurem Rücken sich einen Erfolg aufbaute. Ihr wäret aber auch wenig schlau!«
Mahoudeau erwiderte wütend:
»Meiner Treu! Es genügte, mit Claude zu sein, um überall vor die Tür gesetzt zu werden.«
»Ja, Claude hat uns umgebracht«, bekräftigte Gagnière rundheraus.
Sie fuhren fort, ließen Fagerolles fallen, dem sie seine Kriecherei vor den Zeitungen, seine Verbindung mit ihren Feinden, seine Schöntuerei vor alten Baroninnen vorwarfen, und hieben fortan auf Claude los, der der große Sünder geworden. Mein Gott! der andere war einfach eine Dirne, wie es unter den Künstlern so viele gibt, die das Publikum an den Straßenecken anhalten, die Kameraden verlassen und zerreißen, um die Spießbürger an sich zu locken. Aber Claude, dieser verfehlte große Maler, dieser Unvermögende, der trotz seines Stolzes nicht fähig war, eine Figur auf die Beine zu stellen, hatte sie bloßgestellt, ordentlich eingetunkt. Ach ja, im Bruche mit Claude lag der Erfolg. Hätten sie von neuem beginnen können, sie würden sich nicht eigensinnig mit unmöglichen Geschichten aufgehalten haben! Sie beschuldigten ihn, sie lahmgelegt und ausgebeutet, jawohl ausgebeutet zu haben, und dies mit einer so ungeschickten, schwerfälligen Hand, daß er selbst keinen Vorteil davon hatte.
»Hat er mich nicht einen Augenblick ganz blöd gemacht?« hub Mahoudeau wieder an. »Wenn ich daran denke, greife ich mir an den Puls und verstehe nicht, weshalb ich mich an ihn hängte. Gleiche ich ihm denn? Gab es etwas Gemeinsames zwischen uns? Es ist zum Verzweifeln, wenn man dessen so spät inne wird!«
»Mir«, fuhr Gagnière fort, »hat er meine Eigenart gestohlen! Glaubt ihr, es mache mir Vergnügen, seit fünfzehn Jahren bei jedem meiner Bilder hinter meinem Rücken wiederholen zu hören: Das ist ein Claude! ... Nein, ich bin dessen satt und will lieber nichts mehr machen! ... Hätte ich ehemals klar gesehen, ich hätte seine Gesellschaft gemieden.«
Es war die allgemeine Flucht, das Zerreißen der letzten Bande in der Verblüffung darüber, nach einer langen, in Brüderlichkeit vollbrachten Jugend plötzlich fremd und feindselig einander gegenüberzustehen. Auf dem Lebenswege waren sie zerstreut worden, die tiefgehenden Verschiedenheiten kamen zum Vorschein; sie behielten nichts in der Kehle als die Bitternis ihres ehemaligen begeisterten Traumes, die Hoffnung, zusammen zu kämpfen und zu siegen, die jetzt ihren Groll nur noch verschärfte.
»Tatsache ist,« höhnte Jory, »daß sich Fagerolles nicht plündern ließ wie ein Einfaltspinsel.«
Doch Mahoudeau war dadurch verletzt.
»Du tust unrecht zu lachen, denn du bist gerade so ein falscher Freund ... Ja, du sagtest uns immer, daß du uns unterstützen würdest, wenn du erst ein eigenes Blatt hättest.
»Erlaube ...«
Doch Gagnière kam Mahoudeau zu Hilfe.
»Es ist wahr! Du kannst uns jetzt nicht mehr erzählen, daß man dir wegstreicht, was du über uns schreibst; du bist ja der Herr ... Aber ein Wort; in deinem letzten Ausstellungsberichte hast du uns nicht einmal erwähnt.«
Jory stammelte verlegen und ereiferte sich auch seinerseits.
»Das ist die Schuld dieses Claudel ... Ich habe keine Lust, meine Abonnenten zu verlieren, bloß um euch angenehm zu sein. Ihr seid unmöglich, versteht ihr? Du, Mahoudeau, kannst dich aufreiben, kleine reizende Sachen zu bilden; dir, Gagnière, nützt es nicht, wenn du fortan nichts mehr machst: Ihr habt einen Zettel auf dem Rücken, und es bedarf zehn Jahre Anstrengung, um ihn fortzubringen – wenn es euch überhaupt gelingt. Das Publikum lacht, damit ihr's nur wißt; ihr allein glaubtet an das Genie dieses lächerlichen Narren, den man über kurz oder lang sicher ins Irrenhaus stecken wird.«
Jetzt ward der Streit furchtbar; alle drei redeten zugleich, erhoben abscheuliche Vorwürfe mit so wütenden Stimmen, wobei sie den Mund so weit aufrissen, als wollten sie einander verschlingen.
Sandoz auf seinem Sofa mußte, gestört in den frohen Erinnerungen, die er erweckt, bei dem Lärm, der durch die offene Tür hereindrang, selbst aufhorchen.
»Du hörst es, wie sie mich zurichten«, sagte Claude leise mit schmerzlichem Lächeln. »Nein, nein, bleibe da; ich will nicht, daß du sie zum Schweigen bringst. Ich habe es verdient, da ich keinen Erfolg habe.«
Erbleichend fuhr Sandoz fort, diesen wütenden Kampf um das Leben mit anzuhören, diesen Groll der aneinander geratenen Persönlichkeiten, der seinen Traum von ewiger Freundschaft hinwegführte.
Glücklicherweise war Henriette wegen der lauten Stimmen unruhig geworden. Sie erhob sich und machte den Tabak rauchenden Herren Vorwürfe, weil sie die Damen im Stiche ließen, um miteinander zu zanken. Alle kehrten in den Salon zurück, schwitzend, keuchend, noch völlig erschüttert von ihrer Wut. Als die Hausfrau mit einem Blick auf die Uhr bemerkte, Fagerolles werde heut' wohl kaum mehr kommen, begannen sie von neuem zu lächeln und Blicke auszutauschen. Der hatte eine gute Nase; den werde man nicht mit alten Freunden sehen, die ihm unbequem geworden, und die er verabscheute.
In der Tat kam Fagerolles nicht. Der Abend verfloß in sehr peinlicher Stimmung. Man war in das Eßzimmer zurückgekehrt, wo Tee bereit stand auf einem russischen Tafeltuche, das in roter Stickerei eine Hirschjagd zeigte. Die Kerzen waren wieder angezündet, und man sah auf dem Tische einen Kuchen, Zuckerwerk, kleines Gebäck, eine Anzahl Liköre, Whisky, Wachholder, Kümmel, Raki. Der Diener brachte noch Punsch und ordnete eifrig den Tisch, während die Hausfrau am dampfenden Samowar die Teekanne füllte. Allein, dieses Wohlbehagen, diese Augenweide, der feine Duft des Tees: sie vermochten die Herzen nicht mehr zu beruhigen. Das Gespräch drehte sich wieder um den Erfolg der einen und das Mißgeschick der anderen. Diese Medaillen, diese Kreuze, alle diese Belohnungen, die die Kunst entehrten, weil sie an die unrechten Leute verteilt wurden – waren sie nicht eine Schande? Sollten sie denn ewig Schulknaben bleiben? Alle Plattheiten kamen daher, von diesem Gehorsam und dieser Feigheit vor den Aufsehern, um gut angeschrieben zu werden.
Als sie wieder in den Salon zurückgekehrt waren und der trostlose Sandoz nichts sehnlicher wünschte, als seine Gäste aufbrechen zu sehen, bemerkte er Mathilde und Gagnière beisammen auf einem Sofa sitzen und mit schmachtenden Mienen über Musik sprechen inmitten der anderen, die erschöpft, mit trockenen Lippen dasaßen. Gagnière war begeistert, philosophierte und erging sich in poetischer Schwärmerei. Mathilde, diese alte, feist gewordene Schlampe, die einen verdächtigen Apothekengeruch verbreitete, verdrehte die Augen und verging schier wie unter dem Gekitzel eines unsichtbaren Flügels. Sie hatten sich am letzten Sonntag im Konzert gesehen und teilten sich nun ihre genußreichen Eindrücke in abwechselnden, flüchtig hingehauchten Redensarten mit.
»Ach, mein Herr, dieser Meyerbeer! Diese Ouvertüre zu Struensee, dieser Totentanz, dann der fröhliche, farbenreiche Tanz der Bauern und abermals der Totensatz, das Dur der Violoncellen! ... Ach, mein Herr, die Violoncellen ...«
»Und Berlioz, Gnädigste, der Festgesang aus Romeo ... Ach, das Solo der Klarinetten, der ›geliebten Frauen‹, mit der Harfenbegleitung! Ein Entzücken, ein weißer Schimmer, der emporsteigt ... Das Fest erstrahlt, ein Bild von Veronese, die geräuschvolle Pracht der Hochzeit zu Kana; und der Liebesgesang beginnt von neuem, so lieblich, und lauter, immer lauter ...«
»Und haben Sie, mein Herr, in Beethovens A-Moll-Symphonie das Totenläuten gehört, das immer wiederkehrt und einem gleichsam ans Herz pocht? ... Ja, ich sehe es wohl, Sie fühlen wie ich: die Musik ist eine Kommunion ... Beethoven! Mein Gott, wie traurig und wie schön ist es, wenn in dem Verständnis seiner Musik zwei sich vereinigen und in Wonne schier vergehen ...«
»Und Schumann, Gnädigste; und Wagner ... Die Träumerei von Schumann, nichts als die Saiteninstrumente, ein feiner, warmer Regen auf Akazienblätter, ein Strahl trocknet sie wieder, kaum eine Träne im unendlichen Räume ... Wagner, ach, Wagner! Die Ouvertüre zum »Fliegenden Holländer«! Sie lieben sie; sagen Sie, daß Sie sie lieben! Mich schmettert es nieder. Es gibt nichts mehr, nichts mehr; man stirbt daran ...«
Ihre Stimmen erstarben; sie sahen einander an, saßen Ellbogen an Ellbogen wie im Nichts aufgegangen, das wonnetrunkene Gesicht nach oben gekehrt.
Sandoz fragte sich überrascht, woher Mathilde dieses Kauderwelsch genommen. Vielleicht aus einem Artikel Jorys. Er hatte übrigens die Bemerkung gemacht, daß die Frauen sehr gut über Musik zu sprechen wissen, selbst wenn sie nicht eine Note kennen. Und er, den die Mißstimmung der anderen nur betrübt hatte, war entrüstet wegen dieser schmachtenden Miene. Nein, nein, es war genug; daß sie sich gegenseitig zerfleischten, mochte noch hingehen, aber diese alte Metze, die sich mit Beethoven und Schumann kitzelte und girrte, verdarb ihm den Rest des Abends.
Glücklicherweise erhob sich Gagnière plötzlich. Seine Begeisterung ließ ihn die Abfahrtsstunde nicht vergessen; er wußte, daß er knapp noch Zeit habe, den Nachtzug zu erreichen. Nachdem er stumme, weiche Händedrücke ausgeteilt, fuhr er nach Melun schlafen.
»Welch ein Verfehlter!« brummte Mahoudeau. »Die Musik hat die Malerei totgeschlagen. Nie mehr wird er etwas machen.«
Auch er mußte fort, und kaum hatte die Tür sich hinter ihm geschlossen, als Jory erklärte:
»Haben Sie seinen letzten Briefbeschwerer gesehen? Er wird schließlich noch Manschettenknöpfe schnitzen ... Das ist einer, der hart an der Mache vorübergegangen!«
Doch schon hatte Mathilde sich erhoben, grüßte Christine mit einer kurzen, trockenen Gebärde, heuchelte eine vornehme Vertraulichkeit gegenüber Henriette und führte ihren Gatten hinweg, der sie im Vorzimmer in ihren Mantel hüllte, untertänig und erschreckt durch die strengen Augen, mit denen sie ihn ansah, weil sie eine Rechnung mit ihm zu ordnen hatte.
Als sie fort waren, rief Sandoz außer sich:
»Das ist das Ende! Unglücklicherweise ist es der Journalist, der die anderen als verfehlte Leute behandelt, dieser Artikelschreiber, der die öffentliche Dummheit ausbeutet! .. Mathilde als Vergelterin!«
Es waren nur mehr Claude und Christine da. Seitdem der Salon sich leerte, saß Claude in einem Lehnsessel zurückgesunken und sprach nicht mehr; ihn hatte jener magnetische Schlummer wieder ergriffen, der ihn erstarrte, die Augen blickten stier in nebelhafte Ferne jenseits der Mauern. Sein Antlitz spannte sich, eine krampfhafte Aufmerksamkeit riß es vorwärts: er sah sicherlich das Unsichtbare, er hörte aus der Stille einen Ruf.
Christine hatte sich ebenfalls erhoben und entschuldigte sich, daß sie als die letzten gingen. Henriette hatte ihre Hände ergriffen und wiederholte ihr, wie sehr sie sie liebe; sie bat sie, oft zu kommen, sie als ihre Schwester zu betrachten. Die betrübte Frau mit dem schmerzlichen Reiz in ihrem schwarzen Kleide schüttelte nur mit einem matten Lächeln den Kopf.
»Sie müssen nicht so verzweifelt sein«, flüsterte ihr Sandoz ins Ohr, nachdem er einen Blick auf Claude geworfen ... Er hat viel gesprochen und war heute heiterer. Es geht ganz gut.«
Doch sie erwiderte im Tone des Schreckens:
»Nein, nein, schauen Sie seine Augen ... Solange er solche Augen hat, zittere ich ... Sie haben getan, was Sie konnten; ich danke Ihnen. Was Sie nicht tun konnten, wird niemand zu tun vermögen. Wie leide ich dadurch, daß ich nicht mehr zähle, nichts mehr vermag!«
Dann sagte sie laut:
»Claude, kommst du?«
Zweimal mußte sie diese Aufforderung wiederholen.
Er hörte sie nicht; schließlich fuhr er zusammen, stand auf und sagte, gleichsam auf einen aus weiter Ferne kommenden Ruf antwortend:
»Ja, ich komme, ich komme.«
Als Sandoz und seine Frau sich in dem Salon mit der erstickenden, überhitzten, nach dem häßlichen Gezänk gleichsam in der trüben Stille schwerer gewordenen Luft endlich allein befanden, sahen sich beide an und ließen die Arme sinken in ihrem Kummer über den unglückselig verfehlten Abend. Die Gattin suchte indes die Sache ins Heitere zu ziehen und erklärte lächelnd:
»Ich habe dich gewarnt; ich hatte die Lage wohl begriffen ...«
Doch er unterbrach sie abermals mit einer verzweifelten Gebärde. Ei was! Sollte dies das Ende seines langen Wahnes sein, dieses Traumes von der Ewigkeit, der ihn das Glück in einigen Freundschaften suchen ließ, die er in der Kindheit erkoren hatte und bis in das späteste Alter genießen wollte. Die traurige Schar! Welch ein tiefgehender Bruch, welche bedauerliche Bilanz nach diesem Herzens-Bankerott! Er war erstaunt, längs seines Lebensweges so viele Freunde verstreut, so viele Zuneigung verloren zu haben; er war erstaunt über die ewige Veränderung der anderen rings um sein Wesen, das er sich nicht ändern sah. Seine armen Donnerstagempfänge erfüllten ihn mit Erbarmen: so viele trauernde Erinnerungen! Ein langsames Hinsterben all dessen, was man geliebt hat! Sollten sie – er und seine Frau – sich entschließen müssen, in der Wüste zu leben, eingemauert in ihrem Hasse gegen die Welt? Sollten sie ihre Tür der Flut der Unbekannten und Gleichgültigen öffnen? Allmählich bildete sich eine Gewißheit auf dem Grunde seines Kummers: Alles endete im Leben, ohne wiederzubeginnen. Er schien sich dieser offenkundigen Wahrheit zu fügen und sagte mit einem tiefen Seufzer:
»Du hattest recht ... Wir werden sie nicht mehr zusammen zum Essen einladen; sie würden einander verschlingen.«
Draußen auf dem Dreifaltigkeitsplatze ließ Claude den Arm Christines fahren. Er habe einen Gang zu machen, sagte er, und sie möge allein nach Hause gehen. Sie fühlte ihn am ganzen Körper zusammenschauern und ward von Überraschung und Schrecken erfaßt. Einen Gang zu dieser Stunde nach Mitternacht! Wohin? Wozu? Er wandte ihr den Rücken und wollte davoneilen; doch sie holte ihn ein und bat ihn, indem sie Furcht vorschützte, sie nicht allein in so später Nacht zum Montmartre hinaufsteigen zu lassen. Diese Erwägung allein schien ihn zurückzuführen. Er nahm ihren Arm wieder, sie stiegen die Weiße Straße und die Lepicstraße hinan und erreichten endlich die Tourlaquestraße. Hier, vor ihrer Haustür, verließ er sie wieder, nachdem er angeläutet.
»Du bist jetzt zu Hause; ich will meinen Gang machen.«
Schon eilte er mit langen Schritten davon, gestikulierend wie ein Verrückter. Die Tür hatte sich geöffnet; aber sie schloß sie nicht wieder, sondern stürzte ihm nach, um ihm zu folgen. In der Lepicstraße holte sie ihn ein; allein in ihrer Furcht, ihn noch mehr aufzuregen, begnügte sie sich, ihn fortan nicht aus den Augen zu lassen, ging etwa dreißig Meter hinter ihm, ohne daß er wußte, daß sie ihm auf den Fersen folge. Aus der Lepicstraße stieg er die Weiße Straße wieder hinab, dann durcheilte er die Chaussee nach Antin und die Straße des vierten September, bis zur Richelieustraße. Als sie ihn in die letztere einbiegen sah, ward sie von tödlicher Kälte erfaßt: er ging zur Seine. Dies war die furchtbare Angst, die sie nachts keinen Schlaf finden ließ. Mein Gott, was sollte sie machen? Sollte sie mit ihm gehen und sich dort unten an seinen Hals hängen? Sie kam nur mehr wankend vorwärts und fühlte bei jedem Schritte, der sie dem Flusse näher brachte, immer mehr das Leben aus ihren Gliedern schwinden. Ja, er begab sich geradesweges dorthin über den Theaterplatz und Karusselplatz zur Brücke der heiligen Väter. Auf dieser ging er eine Weile fort, dann näherte er sich dem Geländer und beugte sich über das Wasser; sie glaubte, er wolle sich hinabstürzen, und ein furchtbarer Schrei erstickte in ihrer gepreßten Brust.
Doch nein, er blieb unbeweglich stehen. War es denn nicht die Altstadt dort gegenüber, die ihn in ihrem Banne erhielt, dieses Herz von Paris, dessen Zauber er überallhin mit sich nahm, das er mit seinen starren Augen selbst durch die Mauern suchte, das ihm selbst in meilenweiter Entfernung seinen Ruf zusandte, für ihn allein hörbar? Sie wagte es noch nicht zu hoffen; sie war weiter hinten stehen geblieben, überwachte ihn in furchtbarer Unruhe; jeden Augenblick glaubte sie seinen furchtbaren Sprung zu sehen, widerstand aber dem Bedürfnis, sich zu nähern, weil sie die Katastrophe zu beschleunigen fürchtete, wenn sie sich zeigte. Mein Gott! da zu sein mit ihrer zerstörten Liebe, mit ihrer blutenden mütterlichen Zärtlichkeit; da zu sein, alles mitanzusehen, ohne eine Bewegung wagen zu dürfen, um ihn zurückzuhalten!
Er stand noch immer auf der Brücke, sehr groß, unbeweglich, in die Nacht hinausstarrend.
Es war eine Winternacht mit trübem, rußschwarzem Himmel; vom Westen her blies ein eisig kalter Wind. Das beleuchtete Paris war zur Ruhe gegangen; es brannten in den Straßen nur noch die Gaslaternen, runde, flimmernde Flecke, die immer kleiner wurden, um sich in der Ferne zu fixen Sternen zu zerstäuben. Zunächst dehnten sich die Ufer dahin, mit ihrer Doppelreihe von leuchtenden Perlen, deren Widerschein die im Vordergrunde stehenden Häuser beleuchtete, links die des Louvre-Ufers, rechts zwei Flügel des Instituts, verschwommene Massen von Denkmälern und Bauten, die sich dann in noch dichterer, von fernen Pünktchen durchbrochenen Finsternis verloren. Diese schier endlosen Zeilen waren durch die hellen Gerippe der Brücken verbunden, je ferner, desto dünner, jede einen Zug von Lichtern bildend, Gruppe auf Gruppe, gleichsam in der Luft schwebend. Vorn in der Seine erstrahlte der nächtliche Glanz des im Bereiche der Städte lebendigen Stromes; jede Gaslaterne spiegelte ihre Flamme wieder: ein Kern, der sich in einem Kometenschweif verlängerte. Die nächsten schwammen ineinander und entzündeten den Fluß in breiten, regelmäßigen Lichtfächern; die entfernteren unter den Brücken waren nur kleine, unbewegliche Feuerpunkte. Die langen Lichtschweife aber lebten und bewegten sich in dem Maße, wie sie sich ausbreiteten, schwarz und golden, in einem fortwährenden schuppenartigen Zittern, das den unendlichen Fluß des Wassers verriet. Die ganze Seine war davon erhellt wie von einem geheimnisvollen, tief unter dem Wasser gefeierten Feste, bei dem die tanzenden Paare sich hinter den rötlich schimmernden Fenstern des Flusses im Walzer drehten. Oberhalb dieses Brandes und oberhalb der gestirnten Ufer zog am sternenlosen Himmel ein rotes Gewölk dahin, die heiße, phosphoreszierende Aushauchung, die jede Nacht – wie der Kamm eines Vulkans – über der schlafenden Stadt schwebt.
Der Wind blies scharf, und Christine fröstelte; ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie hatte das Gefühl, als drehe sich die Brücke unter ihren Füßen und reiße sie in einem Zusammenbruch des ganzen Horizontes mit sich. Hatte Claude sich nicht bewegt? Hatte er nicht einen Fuß über das Geländer gesetzt? Nein; alles ward immer wieder unbeweglich, sie fand ihn auf dem nämlichen Platze in seiner dauernden Starrheit, die Augen auf die Spitze der Altstadt gerichtet, die er doch nicht sehen konnte.
Er war gekommen, gerufen von »ihr«, und sah sie nicht in der Tiefe der Finsternis. Er sah nur die Brücken, ihr feines Gerippe, das sich schwarz über dem schillernden Wasser abhob. Darüber hinaus verschwamm alles, die Insel versank im Nichts; er würde nicht einmal ihre Stelle wiedergefunden haben, wenn nicht von Zeit zu Zeit verspätete Droschken die Fünkchen ihrer Laternen im Fluge über die Neue Brücke geführt hätten, den Funken gleichend, die noch über die erlöschende Kohle huschen. Eine rote Laterne am Schlagbaum bei der Münze warf einen blutigen Strich in das Wasser. Irgendein ungeheuerliches, schwarzes Ding, ein im Strome treibender Körper, ohne Zweifel ein vom Anker losgelöster Kahn, schwamm langsam inmitten der Lichtreflexe hinab, zuweilen auftauchend und gleich wieder im Dunkel verschwindend. Wo war denn die siegesstolze Insel untergegangen? War's in der Tiefe dieser flammenden Fluten? Er schaute noch immer, allmählich völlig gefangengenommen von dem mächtigen Dahinströmen des Flusses in der Nacht. Er neigte sich über diesen breiten Graben, aus dem die Kühle eines Abgrundes aufstieg, und wo diese Flammen geheimnisvoll tanzten.
Christine fühlte an einem Ruck ihres Herzens, daß er jetzt den furchtbaren Gedanken hatte. Sie streckte die bebenden Hände aus, die der Nachtwind peitschte. Allein Claude war stehen geblieben; er kämpfte gegen die Süßigkeit des Sterbens; so stand er noch eine Stunde unbeweglich, ohne Bewußtsein von der Zeit, die Blicke immer nach der Altstadt gerichtet, als ob durch ein Wunder seine Augen Helle verbreiten und ihr Bild heraufzaubern könnten, um sie wiederzusehen.
Als Claude endlich strauchelnd die Brücke verließ, mußte Christine ihm laufend vorauseilen, um vor ihm zu Hause zu sein.