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Drittes Kapitel.

Gegen vier Uhr nachmittags stattete Rougon der Gräfin Balbi zuweilen einen kurzen Besuch ab. Als Nachbar begab er sich zu Fuß dorthin. Die Gräfin bewohnte ein kleines Haus, wenige Schritte von der Marbeufstraße, in der Allee der Elyseischen Felder. Übrigens war sie selten zu Hause; und war es doch der Fall, so lag sie im Bett und ließ sich entschuldigen. Trotzdem widerhallte ihre Treppe stets vom Lärm der Besucher, und die Türen ihrer Zimmer standen nicht still. Ihre Tochter Clorinde empfing ihre Besucher in einer Galerie, einer Art Maleratelier, dessen großscheibige Fenster auf die Allee gingen.

Fast ein Vierteljahr lang hatte sich Rougon mit der Rücksichtslosigkeit des keuschen Mannes für das Entgegenkommen dieser beiden Frauen sehr unempfänglich gezeigt. Sie hatten sich ihm auf einem Ball beim Minister des Äußern vorstellen lassen, und er begegnete ihnen überall; beide lächelten ihm in derselben herausfordernden Weise zu, die Mutter immer stumm, die Tochter sehr laut redend und ihm keck in die Augen schauend. Doch er hielt sich tapfer, ging ihnen aus dem Wege, schlug die Augen nieder, um sie nicht zu sehen, und lehnte die ihm zugesandten Einladungen ab. Aber es half ihm nichts; er war gefangen, wurde bis in sein Haus verfolgt, vor dem Clorinde hoch zu Roß sich einfand. So entschloß er sich, Erkundigungen einzuziehen, ehe er es wagte, zu ihnen zu gehen.

Beim italienischen Gesandten erfuhr er über sie nur Günstiges: der Graf Balbi hatte wirklich gelebt, die Gräfin stand mit sehr hohen Personen zu Turin in Verbindung, die Tochter endlich war noch im letzten Jahre auf dem Punkte gewesen, einen kleinen deutschen Fürsten zu heiraten. Aber bei der Herzogin Sanquirino, wo er sich später erkundigte, erfuhr er ganz andere Dinge. Clorinde war zwei Jahre nach des Grafen Tode zur Welt gekommen; übrigens waren sehr verwickelte Geschichten über das Eheleben des gräflichen Paares in Umlauf. Beide hätten viele Abenteuer und Ausschweifungen hinter sich, in Frankreich seien sie in aller Form geschieden, in Italien sei es auf Grund eines neuerlichen Übereinkommens zu einer Art wilder Ehe zwischen ihnen gekommen. Ein junger Gesandtschaftsbeamter, der über die Verhältnisse an Viktor Emanuels Hofe sehr gut unterrichtet war, drückte sich noch deutlicher aus: nach ihm verdankte die Gräfin ihren dortigen Einfluß einer Liebschaft mit einer sehr hohen Persönlichkeit, und er ließ durchblicken, daß sie nur infolge eines ungeheuren Skandals, über den er sich nicht näher ausließ, Turin verlassen habe. Rougon, dessen Interesse durch die Ergebnisse dieser Nachforschungen allmählich erweckt worden, ging sogar zur Polizei, wo er jedoch nichts Genaueres erfuhr: nur, daß die beiden auf großem Fuße lebten, ohne daß man über ihr Vermögen etwas Bestimmtes wußte. Sie behaupteten, in Piemont Güter zu besitzen. In Wirklichkeit zeigten sich zuweilen klaffende Lücken in ihrem Reichtum; dann verschwanden sie plötzlich, um bald in neuem Glanze wieder aufzutauchen. Kurz, man wußte nichts Rechtes über sie, oder man zog es vor, nichts zu erfahren. Sie kamen in die beste Gesellschaft, ihr Haus galt als neutrales Gebiet, wo man die Absonderlichkeiten Clorindes als eine Art ausländischer Blume hingehen ließ. Rougon entschloß sich endlich, sie zu besuchen.

Als er zum drittenmal dort war, hatte die Neugier des großen Mannes noch bedeutend zugenommen. Sein Sinnenleben war nicht leicht zu erwecken. Was ihn zunächst in Clorindes Wesen anzog, war das geheimnisvolle Dunkel, das ihre Vergangenheit umhüllte, die fixe Idee von einer Zukunft, die er in ihren großen, herrlichen Augen zu lesen glaubte. Man hatte ihm allerdings haarsträubende Geschichtchen erzählt; ihre erste Liebe – ein Kutscher, darauf ein Verhältnis mit einem Bankier, der die falsche Jungferschaft des Fräuleins mit dem Palais, worin sie jetzt wohnten, bezahlt hatte. Aber zuweilen schien sie ihm so kindlich, daß er alles bezweifelte und sich vornahm, sie in die Beichte zu nehmen, um dahinter zu kommen, was an dieser Fremden sei, deren lebendiges Rätsel ihn schließlich so gefesselt hielt wie nur irgendeine schwierige Frage der hohen Politik.

Am Tage nachdem Clorinde auf ihrem gemieteten Reitpferde gekommen war, um ihm vor dem Tor des Staatsrats teilnahmsvoll die Hand zu drücken, machte er ihr den Besuch, den sie feierlich verlangt hatte. Sie hatte gesagt, sie werde ihm etwas zeigen, was ihm seine schlechte Laune vertreibe. Er nannte sie lachend »sein Laster« und vergaß sich und seine Sorgen gern bei ihr, unterhalten, gereizt, angeregt, um so mehr, als er in der Erkenntnis ihres Wesens noch nicht weitergekommen war als am ersten Tage. Wenn er um die Ecke seiner Straße bog, warf er einen Blick in die Kolosseumstraße, in die Wohnung Delestangs, den er schon mehrmals dabei überrascht hatte, wie er hinter halbgeöffneten Fensterläden zu Clorindes Fenstern hinüberspähte. Jetzt aber waren die Vorhänge niedergelassen; Delestang mußte nach seiner Musterwirtschaft gereist sein.

Die Haustür der Balbi stand immer weit offen. Am Fuße der Treppe begegnete Rougon einer kleinen, schwarzen Frau mit ungeordnetem Haar und in einem gelben Kleide. Sie biß in eine Apfelsine wie in einen Apfel.

»Antonie, ist Ihre Herrschaft zu Hause?« fragte er.

Sie antwortete nicht, sondern nickte vollen Mundes sehr lebhaft, wobei sie lachte, daß ihr der Saft vom Munde herunterlief. Ihre schwarzen Augen wurden so klein, daß sie auf ihrer braunen Haut zwei Tintenflecke schienen.

An die Nachlässigkeit des Dienstes in diesem Hause gewöhnt, stieg Rougon hinauf. Auf der Treppe kam er an einem Flegel von Bedienten vorbei mit einem Räubergesicht und langem, schwarzem Barte, der ihn ruhig ansah, ohne ihm Platz zu machen. Dann sah er sich auf dem Flur des zweiten Stockes allein drei offenen Türen gegenüber. Links lag Clorindes Zimmer, und er war neugierig genug, den Kopf hineinzustecken. Obgleich es vier Uhr geschlagen hatte, war drinnen noch nicht aufgeräumt; vor dem Bette stand eine spanische Wand, welche die herabhängenden Bettdecken zur Hälfte sehen ließ; über die spanische Wand waren die Röcke vom vorigen Tage mit kotigem Saum zum Trocknen hingeworfen. Am Fenster stand das Waschbecken voll Seifenwasser, während die graue Hauskatze auf einem Kleiderhaufen zusammengerollt schlief.

Clorinde hielt sich gewöhnlich im zweiten Stock auf in der Galerie, die sie nach und nach zum Atelier, zum Rauchzimmer, zum Wintergarten und zum Sommersalon eingerichtet hatte. Je weiter Rougon hinaufstieg, um so lauter wurden die Stimmen, das helle Gelächter und das Poltern umgestürzter Möbel. Als er vor der Türe stand, erkannte er endlich, daß ein schwindsüchtiges Piano, das eine Singstimme begleitete, den Lärm anführte. Er klopfte zweimal, und da dies unbeachtet blieb, entschloß er sich einzutreten.

»Ah bravo, bravo, da ist er!« rief Clorinde, in die Hände klatschend. Er, der sonst nicht leicht aus der Fassung zu bringen war, blieb doch einen Augenblick wie eingeschüchtert stehen. Ritter Rusconi, der italienische Gesandte, ein schöner, brauner Herr, zur rechten Zeit ein ernster Diplomat, hämmerte auf dem alten Klavier herum, um ihm weniger dünne Töne zu entlocken. In der Mitte des Gemaches walzte der Abgeordnete La Rouquette, einen Stuhl im Arme, dessen Lehne er mit verliebter Gebärde an seine Brust drückte, dermaßen toll, daß er den Boden mit umgestürzten Sesseln bedeckt hatte. Und im grellen Lichte des Fensters gegenüber einem jungen Manne, der sie auf weiße Leinwand zeichnete, stand auf einem Tische Clorinde als jagende Diana, die Schenkel nackt, die Arme nackt, den Busen nackt, ganz nackt, mit unbefangenem Gesichtsausdruck. Auf dem Sofa saßen drei Herren, welche dicke Zigarren rauchten und mit untergeschlagenen Beinen sich schweigend verhielten, ohne einen Blick von ihr zu wenden.

»Still, rühren Sie sich nicht!« rief Ritter Rusconi, als Clorinde Miene machte, vom Tische zu springen. »Ich werde die Herren miteinander bekannt machen!«

In Begleitung Rougons schritt er zunächst auf Herrn La Rouquette zu, der eben erschöpft in einen Sessel gesunken war, und sagte:

»Herr La Rouquette, Sie kennen ihn, ein künftiger Minister.«

Dann näherte er sich dem Maler und fuhr fort:

»Herr Luigi Pozzo, mein Sekretär, Diplomat, Maler, Musiker und Verliebter.«

Die drei Herren auf dem Sofa hatte er übersehen. Erst als er sich umwandte, gewahrte er sie, und seinen vertraulichen Ton ändernd, verneigte er sich, indem er mit feierlichem Ausdruck flüsterte:

»Herr Brambilla, Herr Staderino, Herr Viscardi, politische Flüchtlinge.«

Die drei Venezianer grüßten, ohne ihre Zigarren aus dem Munde zu nehmen. Ritter Rusconi wandte sich wieder zum Klavier, als Clorinde ihm lebhaft vorwarf, er sei ein schlechter Zeremonienmeister. Indem sie ihrerseits auf Rougon wies, sagte sie einfach, mit eigentümlichem, einschmeichelndem Klang und Ausdruck der Stimme:

»Herr Eugène Rougon.«

Man grüßte sich aufs neue. Rougon, der einen Augenblick befürchtet hatte, sie möge ihn durch einen Scherz bloßstellen, war von dem Takte und der Würde dieses großen, halbnackten Mädchens überrascht. Er setzte sich und fragte gewohnheitsmäßig nach dem Befinden der Gräfin; er tat sogar, als komme er nur um der Mutter willen, was ihm geziemender schien.

»Ich würde mich sehr gefreut haben, ihr selbst meine Aufwartung machen zu können«, sagte er, wie er unter solchen Umständen pflegte.

»Aber die Mutter ist ja da!« erwiderte Clorinde und wies mit ihrem Bogen von vergoldetem Holze in eine Ecke.

Wirklich lag die Gräfin dort hinter den Möbeln in einem großen Lehnstuhl. Allgemeines Erstaunen. Die drei politischen Flüchtlinge schienen von ihrer Anwesenheit ebenfalls nichts gewußt zu haben, denn sie erhoben sich und grüßten sie. Rougon eilte, ihr die Hand zu drücken. Er stand vor ihr, und sie, in ihrem Sessel liegend, antwortete ihm einsilbig mit jenem Lächeln, das sie beibehielt, auch wenn sie litt. Dann versank sie wieder in Schweigen und blickte zerstreut auf die Straße hinaus, auf der ein Wagenstrom vorüberflutete. Da sie sich ohne Zweifel zu diesem Zwecke dorthin gesetzt hatte, verließ Rougon sie wieder.

Inzwischen hatte Ritter Rusconi von neuem vor dem Klavier Platz genommen und suchte nach einem Liede, leise klimpernd und italienische Worte dazu summend. Herr La Rouquette fächelte sich mit dem Taschentuche. Clorinde hatte sehr ernst wieder ihre malerische Stellung eingenommen, und Rougon ging, nachdem die Ruhe wiederhergestellt war, langsam auf und ab und musterte das Zimmer. Es war mit einem erstaunlichen Wirrwarr von Sachen angefüllt: ein Sekretär, ein Koffer, mehrere Tische, die in die Mitte gestellt waren, bildeten ein Labyrinth von schmalen Gängen; auf der einen Seite lagen Treibhauspflanzen gegeneinandergelehnt, umgestürzt, mit geknickten, angefressenen Blättern, in den letzten Zügen; gegenüber ein großer Haufen trockener Tonerde, worin man noch die Arme und Beine einer Gestalt erkannte, die Clorinde geformt hatte, als ihr eines Tages einfiel, die Künstlerin zu spielen. Das ganze weite Gemach bot in Wirklichkeit nur einen kleinen freien Raum vor einem der Fenster, wo zwei Sofas und drei Sessel, die nicht zueinander paßten, eine Art Salon bildeten.

»Sie können rauchen«, wandte sich Clorinde an Rougon.

Er aber dankte, er rauche niemals. Sie rief, ohne sich umzuwenden:

»Herr Ritter, drehen Sie mir eine Zigarette!«

Während es geschah, trat wieder Stille ein. Rougon, verdrossen wegen der Anwesenheit so vieler Leute, wollte nach seinem Hute greifen. Vorher aber trat er noch auf Clorinde zu und fragte lächelnd, erhobenen Hauptes:

»Haben Sie mich nicht gebeten vorzusprechen, um mir etwas zu zeigen?«

Sie antwortete nicht sogleich, alle Aufmerksamkeit auf ihre Haltung wendend, so daß er nochmals fragen mußte:

»Was wollten Sie mir zeigen?«

»Mich selbst«, sagte sie.

Sie sagte es majestätisch, ohne ihre Haltung einer Göttin im geringsten zu verändern. Rougon trat sehr ernst einen Schritt zurück und hob langsam den Blick zu ihr empor. Sie war wirklich herrlich anzusehen, mit ihrem reinen Profil, ihrem schlanken Halse, den eine sanft geschwungene Linie mit den Schultern verband. Besonders hatte sie die königliche Schönheit, die eine vollendete Büste verleiht. Ihre runden Arme und Beine glänzten wie Marmor; ihre linke Hüfte, leicht hervortretend, gab ihrer Haltung Schwung, die erhobene Rechte enthüllte von der Achselhöhle bis zur Ferse eine lange, kraftvolle und geschmeidige Linie, an der Taille zurückweichend, am Schenkel anschwellend. Mit der Linken stützte sie sich auf ihren Bogen, mit dem ruhigen Kraftbewußtsein der antiken Jägerin, unbekümmert um ihre Nacktheit, menschliche Liebe verachtend, kalt, erhaben, unsterblich.

»Sehr hübsch, vorzüglich!« murmelte Rougon, da er kein anderes Wort fand.

In Wirklichkeit fühlte er sich unbehaglich angesichts ihrer statuenhaften Unbeweglichkeit. Sie schien so sieghaft, so sicher ihrer klassischen Schönheit, daß er sie, falls er es gewagt hätte, kritisiert haben würde wie ein Marmorbild, an dem gewisse Üppigkeiten seine spießbürgerlichen Blicke verletzten; er hätte die Taille etwas schlanker, die Hüften weniger breit, die Brust weniger tief sitzend gewünscht. Dann überkam ihn ein sinnliches Gelüste, sie in die Waden zu kneifen, und er mußte beiseite treten, um sich nicht dazu hinreißen zu lassen.

»Haben Sie genug gesehen?« fragte sie, noch immer ernst und selbstbewußt. Warten Sie, hier ist etwas Neues!«

Und plötzlich war sie nicht mehr Diana. Sie ließ den Bogen sinken und wurde zur Venus. Die Hände am Hinterkopfe gefaltet, den Busen ihm halb zugewandt, die Brüste hebend, lächelte sie mit halbgeöffneten Lippen, wobei ihre Blicke in die Ferne schweiften; das Gesicht war wie von Sonnenglanz übergossen. Sie schien kleiner geworden, ihre Gliedmaßen dicker, ganz von einem Schauer des Verlangens vergoldet, dessen warmen Glanz er über ihre Samthaut gleiten zu sehen glaubte. Sie saß zusammengekauert, bot sich ihm dar, machte sich begehrenswert in der Haltung einer demütigen Geliebten, die in einer einzigen Umarmung sich völlig hinzugeben bereit ist.

Die Herren Brambilla, Staderino und Viscardi klatschten gemessen Beifall, ohne ihre finstere Haltung von Verschworenen aufzugeben:

»Bravo! Bravo! Bravo!«

Herr La Rouquette brach in Begeisterung aus, während der Ritter Rusconi, der herangetreten war, ihr die Zigarette zu bringen, ganz in ihren Anblick versunken dastand, den Kopf leicht wiegend, als ob er zu seiner Bewunderung den Takt schlage.

Rougon sagte nichts. Er drückte nur die Hände so fest zusammen, daß die Finger knackten. Ein leichter Schauer rieselte ihm vom Hinterkopf bis zur Sohle herab. Jetzt dachte er nicht mehr ans Fortgehen, sondern ließ sich häuslich nieder. Aber sie hatte sich schon wieder aufgerafft, lachte laut, rauchte und stieß die blauen Wölkchen mit einem kavaliermäßigen Lippenkräuseln aus. Sie erzählte, daß sie für ihr Leben gern Schauspielerin geworden wäre; sie habe alles darstellen können: Zorn, Zärtlichkeit, Schamhaftigkeit, Schrecken. Mit einer Stellung, mit einem Mienenspiel vermöge sie Persönlichkeiten nachzuahmen. Dann fragte sie plötzlich:

»Herr Rougon, soll ich Ihnen nachahmen, wie Sie in der Kammer reden?«

Sie blies die Backen auf, räusperte sich, pustete und streckte die Fäuste vor mit so drolligen und naturgetreuen Gebärden, daß alle vor Lachen bersten wollten. Rougon lachte, daß ihm die Tränen in die Augen traten; er fand sie anbetungswürdig, sehr geistreich und sehr gefährlich.

»Clorinda, Clorinda!« flüsterte Luigi, auf seiner Staffelei trommelnd.

Sie war so unruhig, daß er nicht weiterarbeiten konnte. Er hatte den Malstab beiseite gesetzt, um mit dem Ernste eines fleißigen Schülers zarte Farben auf die Leinwand aufzutragen. Während die anderen lachten, blieb er ernst, erhob seine Flammenaugen zu dem Mädchen und schleuderte schreckliche Blicke auf die Männer, mit denen sie scherzte. Sein war der Gedanke, sie als jagende Diana zu malen in dem Kostüm, von dem ganz Paris seit dem letzten Gesandtschaftsballe sprach. Er nannte sich ihren Vetter, weil beide in derselben Straße zu Florenz geboren waren.

»Clorinda!« wiederholte er endlich zornig.

»Luigi hat recht«, sagte sie. »Sie sind nicht vernünftig, meine Herren. Sie machen einen Lärm!... Fleißig, fleißig sein!«

Und sie nahm ihre Stellung als Göttin wieder auf, wurde zu schönem Marmor. Die Herren blieben unbeweglich, wie angenagelt an ihren Plätzen. Nur Herr La Rouquette wagte auf der Lehne seines Stuhles einen leisen Wirbel zu trommeln. Rougon hatte sich umgewandt und sah Clorinde an, nachdenklich, wie in einem Traume befangen, in dem das junge Mädchen über die Maßen emporwuchs. Das Weib war doch ein wunderliches Ding. Niemals hatte er daran gedacht, es zu studieren. Er begann außerordentliche Verwickelungen zu ahnen. Einen Augenblick hatte er ein ganz bestimmtes Empfinden von der Macht dieser nackten Schultern, die imstande sein würden, eine Welt zu erschüttern. Clorinde wuchs vor seinen getrübten Bücken immer mehr an, so daß sie mit ihrem Leibe einer Riesenstatue ihm den Blick auf das Fenster ganz versperrte. Aber er zwinkerte mit den Augen und sah sie viel kleiner als er selbst auf dem Tische wieder. Da lächelte er; er hätte, wenn er es wollte, sie prügeln können wie ein Kind und war jetzt verwundert, daß er sie einen Augenblick habe fürchten können.

Inzwischen wurden am andern Ende des Gemaches leise Stimmen vernehmlich. Rougon horchte gewohnheitsmäßig auf, aber er verstand nichts von dem hastigen Geflüster der Italiener. Rusconi, der sich hinter den Möbeln herumgeschlichen, stützte sich mit einer Hand auf die Lehne des Sessels der Gräfin und schien, achtungsvoll über sie gebeugt, ihr irgend etwas eingehend zu berichten. Sie begnügte sich, beistimmend zu nicken; einmal jedoch schüttelte sie nachdrücklich den Kopf, worauf der Ritter sich noch weiter vorbeugte und sie mit seiner singenden, zwitschernden Stimme beruhigte. Endlich fing Rougon, dank seiner Kenntnis des Provenzalischen, einige Worte auf, die ihn nachdenklich machten.

»Mama!« rief da Clorinde, »hast du dem Cavaliere die Depesche gezeigt, die gestern angekommen ist?«

»Eine Depesche!« wiederholte der Cavaliere laut.

Die Gräfin zog aus der Tasche ein Päckchen Briefe hervor, worin sie lange herumsuchte. Endlich reichte sie ihm einen blauen, sehr zerknitterten Zettel hin. Kaum hatte er ihn durchflogen, so rief er erstaunt, zornig, seine Umgebung ganz vergessend, in französischer Sprache:

»Wie! Sie wußten das schon gestern? Ich selbst habe es ja erst heute früh erfahren!«

Clorinde brach in ein lautes Gelächter aus, was ihn vollends außer sich brachte.

»Und die Frau Gräfin läßt sich die Geschichte von mir lang und breit erzählen, als wisse sie kein Sterbenswörtchen davon! Nun, jetzt weiß ich, daß die eigentliche Gesandtschaft hier ist; ich werde künftig täglich kommen, um Ihre Briefe zu lesen.«

Die Gräfin suchte noch lächelnd in dem Päckchen und reichte ihm dann ein zweites Blatt zum Lesen. Diesmal schien er sehr befriedigt, und die Unterhaltung begann wieder in gedämpftem Tone. Er hatte sein achtungsvolles Lächeln wiedergefunden und küßte der Gräfin die Hand, als er sie verließ.

»So, die ernsten Angelegenheiten sind erledigt!« sagte er und ließ sich wieder vor dem Klaviere nieder.

Er hämmerte einen damals gerade sehr beliebten Gassenhauer herunter. Plötzlich sah er nach der Uhr und eilte nach seinem Hute, so daß Clorinde fragte:

»Sie wollen fort?«

Dann winkte sie ihn heran, lehnte sich auf seine Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er schüttelte den Kopf, lachte und flüsterte zurück:

»Zu toll, zu toll! Ich werde es berichten.«

Er grüßte und ging. Luigi mahnte durch Klopfen Clorinde, ihre Stellung wieder einzunehmen. Der ununterbrochene Wagenzug mußte die Gräfin endlich ermüdet haben, denn sobald sie den Landauer des Gesandten in der Menge der andern Wagen aus den Augen verloren hatte, zog sie eine Klingel, die sich hinter ihr befand. Der lange Bediente mit dem Räubergesicht kam und ließ die Türe offen; die Gräfin stützte sich auf seinen Arm und schritt langsam durch das Zimmer an den Herren vorüber, die sich tief verbeugten. Sie nickte lächelnd und wandte sich von der Schwelle aus an Clorinde mit den Worten:

»Ich habe meine Kopfschmerzen und werde mich ein wenig niederlegen.«

»Flaminio!« rief die Tochter dem Bedienten nach, »legen Sie ihr einen Wärmstem an die Füße!«

Die drei politischen Flüchtlinge setzten sich nicht wieder. Ein Weilchen blieben sie noch in einer Reihe stehen und kauten an ihren Zigarren, die sie dann mit derselben vornehmen und sicheren Bewegung hinter den Tonhaufen warfen. Dann zogen sie vor Clorinde vorbei und hinaus.

»Mein Gott!« sagte Herr La Rouquette, der sich eben mit Rougon in ein ernstes Gespräch eingelassen hatte, »ich weiß wohl, daß die Zuckerfrage von großer Bedeutung ist. Es handelt sich um einen wichtigen Zweig der französischen Industrie. Das Unglück ist, daß in der Kammer niemand sich gründlich mit dem Gegenstande beschäftigt zu haben scheint.«

Rougon antwortete nur mit einem gelangweilten Kopfschütteln. Der junge Abgeordnete kam ihm noch näher, und sein rundliches Puppengesicht wurde plötzlich ernst.

»Ich habe einen Oheim,« erzählte er, »der eine der größten Zuckerfabriken Marseilles besitzt... Ich habe drei Monate bei ihm zugebracht und sehr wertvolle Aufzeichnungen gemacht. Ich habe auch mit den Arbeitern gesprochen, um mich zu unterrichten, kurz, Sie begreifen, ich wollte in der Kammer reden.«

Mit großer Wichtigtuerei gab er sich alle Mühe, Rougon über die Sachen zu unterhalten, die nach seiner Ansicht ihn einzig interessieren konnten; und er wünschte dabei nichts mehr, als sich ihm im Lichte eines tüchtigen Politikers zu zeigen.

»Sie haben noch nicht geredet?« unterbrach ihn Clorinde, die durch seine Anwesenheit gelangweilt schien.

»Nein, ich habe noch nicht gesprochen, ich hielt es für besser zu schweigen«, versetzte er langsam... »Im letzten Augenblicke überkam mich die Besorgnis, meine Ziffern könnten ungenau sein.«

Rougon blickte ihn scharf an und fragte:

»Wissen Sie, wieviel Stücke Zucker täglich im Englischen Café verbraucht werden?«

Herr La Rouquette war einen Augenblick sprachlos und glotzte ihn an. Dann brach er in ein lautes Gelächter aus und rief:

»Ach, sehr gut, sehr gut! Ich verstehe, Sie scherzen... Ihre Frage ist die Frage nach dem Zucker; ich aber sprach von der Zuckerfrage. Sehr gut! Erlauben Sie mir, den Witz weiterzuerzählen, ja?«

Er hüpfte vor Vergnügen in seinem Sessel, nahm sein rosiges, gemächliches Aussehen wieder an und suchte nach schlüpfrigen Scherzen. Aber Clorinde fragte ihn nach seinen Eroberungen. Sie hatte ihn abends zuvor im Varietétheater mit einer kleinen sehr häßlichen Blonden gesehen, die zerzaust aussah wie ein Pudel. Anfangs leugnete er, dann verteidigte er, verdrossen über ihre unfeine Bemerkung über den »kleinen Pudel«, jene Frau als sehr ehrenwert und sprach von ihrem Haar, ihrem Wuchs, ihrem Bein. Clorinde wurde schrecklich, so daß er endlich ausrief:

»Sie erwartet mich, ich gehe hin!«

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als das junge Mädchen in die Hände klatschend ausrief:

»Den sind wir los! Glückliche Reise!«

Damit sprang sie lebhaft vom Tische, lief auf Rougon zu und reichte ihm beide Hände. Sie war äußerst liebenswürdig zu ihm und schien sehr verdrossen darüber, daß er sie nicht allein getroffen. Wie viele Mühe hatte sie gehabt, sich alle diese Leute vom Halse zu schaffen! Sie hatten wahrhaftig ein sehr dickes Fell! Dieser La Rouquette mit seinem Zucker war so lächerlich! Aber jetzt würde man sie vielleicht nicht mehr stören, und sie könnten gemächlich miteinander plaudern. Sie hatte ihm so viel mitzuteilen!

Während sie so schwatzte, geleitete sie ihn zu einem Sofa. Er hatte sich gesetzt, ohne ihre Hände loszulassen, als Luigi wieder klopfte und erzürnt rief:

»Clorinda! Clorinda!«

»Ach ja, das Bild!« sagte sie lachend. Sie entschlüpfte Rougon und ging zum Maler, an den sie sich mit liebkosender Geschmeidigkeit lehnte. Oh, wie hübsch war es, was er gemalt hatte! Es würde ihm sehr gut gelingen. Aber sie fühlte sich in der Tat ermüdet und bat um eine Viertelstunde Erholung. Inzwischen könne er das Kostüm malen, wozu sie nicht stehen müsse. Luigi schleuderte aus seinen Augen Blitze nach Rougon und fuhr fort, verdrossene Worte vor sich hinzubrummen. Da begann sie, sehr schnell italienisch mit ihm zu sprechen mit gerunzelten Brauen und dennoch lächelnd, worauf er schwieg und mit dünnen Strichen weitermalte.

»Ich habe nicht gelogen, mein linkes Bein ist ganz steif«, wandte sie sich an Rougon und setzte sich neben ihn.

Sie klopfte auf das linke Bein, um den Blutumlauf zu befördern, wie sie sagte. Durch die Gaze sah man die rosigen Knie; sie hatte vergessen, daß sie nackt war. Sie lehnte sich nachdenklich an ihn und rieb sich an dem groben Zeuge seines Überziehers die zarte Haut der Schulter rot. Doch der Druck eines Knopf es an ihre Brust ließ sie plötzlich erschauern. Sie sah hin, wurde sehr rot und nahm eilends einen schwarzen Spitzenschleier, in den sie sich einhüllte.

»Ich friere ein wenig«, sagte sie zu Rougon, indem sie einen Stuhl vor ihn rollte und sich darin niederließ.

Sie ließ unter den Spitzen nur noch ihre Handknöchel sehen; den Schleier hatte sie nach Art einer riesigen Krawatte so um den Hals geschlungen, daß sie das Kinn darin vergraben konnte. Von diesem Schwarz, das sie ganz umhüllte, hob sich ihr jetzt wieder blasses und ernstes Gesicht seltsam ab.

»Was ist Ihnen widerfahren?« fragte sie. »Erzählen Sie mir alles!«

Sie fragte ihn mit einer Art töchterlicher Neugier über seine Entlassung aus. Sie ließ sich die Umstände, die sie als Fremde nicht zu verstehen vorgab, dreimal wiederholen. Sie unterbrach ihn durch italienische Ausrufe, während er in ihren schwarzen Augen deutlich die Bewegung lesen konnte, die sein Bericht in ihr hervorrief. Warum hatte er sich mit dem Kaiser überworfen? Wie hatte er eine so hohe Stellung aufgeben können? Welche Feinde hatte er denn, daß er sich so aus dem Felde schlagen ließ? Wenn er zögerte, wenn sie ihn zu einem Geständnis drängte, das er nicht machen wollte, sah sie ihn mit einer so liebevollen Unschuld an, daß er sich gehen ließ und ihr alles haarklein erzählte. Bald wußte sie ohne Zweifel alles, was sie hatte erfahren wollen, und richtete dann noch einige seltsame Fragen an ihn, die ihn überraschten, weil sie mit der Sache in gar keinem Zusammenhange standen. Endlich schwieg sie und schien mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen tief nachzudenken.

»Nun?« fragte er lächelnd.

»Nichts!« murmelte sie, »es hat mich angegriffen...«

Er war gerührt, suchte ihre Hände wieder zu fassen; aber sie verbarg sie unter den Spitzen, und das Schweigen dauerte fort.

Nach zwei langen Minuten öffnete sie endlich wieder die Augen und fragte:

»Wissen Sie schon, was Sie jetzt anfangen werden?«

Er sah sie scharf an, und ein Verdacht keimte in ihm auf. Aber sie sah gerade jetzt, schmachtend in den Sessel hingegossen, als ob der Kummer ihres »guten Freundes« sie ganz gebrochen habe, so entzückend aus, daß er den leichten Schauer, den er im Nacken fühlte, nicht beachtete. Sie sagte ihm viele Schmeicheleien: er werde gewiß nicht lange abseits stehen, sondern eines Tages wieder der Herr werden. Sie war überzeugt, daß er große Pläne hege und auf seinen Stern vertraue; sie las es auf seiner Stirn. Warum mache er sie nicht zu seiner Vertrauten? Sie sei so verschwiegen und werde so glücklich sein, an seiner Zukunft Anteil zu haben! Trunken und bemüht, die kleinen Hände zu erhaschen, die sich immer wieder in den Spitzen verbargen, redete Rougon immer weiter, bis er ihr alles mitgeteilt hatte, was er wußte und was er hoffte. Sie trieb ihn nicht vorwärts weder mit Blicken noch mit Gebärden, sondern ließ seiner Rede freien Lauf aus Furcht, ihn aufzuhalten. Sie zerlegte und prüfte ihn Glied um Glied, untersuchte seinen Schädel, wog seine Schultern, maß seine Brust ab. Das war entschieden ein starker Mann, der sie trotz, ihrer Kraft mit einer Handbewegung auf den Rücken werfen und unbekümmert um alles sie so hoch emportragen könne, als sie nur wolle.

»Welch guter Freund!« rief sie plötzlich. »Ich habe nie daran gezweifelt!«

Sie hatte sich erhoben, breitete die Arme aus und ließ die Spitzen niedergleiten. Jetzt erschien sie nackter als zuvor, streckte den Busen vor und ließ ihre Schultern gleich einer verliebten Katze mit einer so anmutigen Bewegung aus der Gaze schlüpfen, daß sie aus ihrem Mieder zu springen schien. Es war ein schnell vorübergehender Anblick, gleichsam eine Belohnung und ein Versprechen für Rougon. Waren nicht die Spitzen von selbst hinabgeglitten? Sie nahm sie schon wieder auf und knüpfte sie fester, wobei sie flüsterte:

»St! Luigi grollt.«

Dabei lief sie zum Maler, beugte sich wieder zu seinem Nacken und redete ihm eifrig zu. Als Rougon ihre warme, belebende Nähe nicht mehr empfand, rieb er sich heftig die Hände, ernüchtert, fast unwillig. Sie hatte eine ganz außerordentliche Reizung an der Oberfläche seiner Haut hervorgerufen, und er schimpfte aus Leibeskräften auf sie. Mit zwanzig Jahren wäre er nicht so albern gewesen wie jetzt. Sie nahm ihn wie ein Kind in die Beichte, während er sich seit acht Wochen bemühte, sie zum Sprechen zu bringen, ohne ihr etwas anderes als ein helles Lachen zu entlocken. Sie hatte ihm nur einen Augenblick ihre Händchen zu entziehen brauchen, und er hatte, um sie wieder zu erlangen, sich soweit vergessen, daß er ihr alles sagte! Nachdem sie ihn erobert, überlegte sie ohne Zweifel, ob es noch die Mühe lohne, ihn zu verführen.

Rougon lächelte, wie ein Riese lächeln würde. Er konnte sie zerschmettern, wenn er wollte. Hatte sie ihn nicht herausgefordert? Er kam auf unredliche Gedanken, auf einen Verführungsplan; er wollte ihr Herr sein und sie dann im Stiche lassen. Wahrlich, er konnte vor diesem Mädchen, das ihm so die Schultern zeigte, nicht den Dummkopf spielen. Und doch war er nicht ganz sicher, ob sich die Spitzen nicht von selbst gelöst hätten.

»Finden Sie, daß ich graue Augen habe?« fragte Clorinde zurückkehrend.

Er erhob sich und sah sie in der Nähe an, was die Ruhe und Klarheit ihrer Augen nicht zu trüben vermochte. Doch als er die Hände vorstreckte, gab sie ihm einen Klaps. Er habe nicht nötig, sie zu berühren. Sie war jetzt sehr kalt. Sie hüllte sich in ihre Spitzen mit einer Schamhaftigkeit, die sich durch das kleinste Loch verletzt fühlte. Er hatte gut scherzen, sticheln, sich stellen, als wolle er Gewalt anwenden; sie hüllte sich immer mehr in die Spitzen ein und stieß leise Rufe aus, wenn er die Spitzen streifte. Auch wollte sie sich nicht mehr setzen und sagte:

»Ich möchte lieber ein wenig gehen, das macht mir die Beine wieder gelenkig.«

Er folgte ihr also, und sie schritten nebeneinander auf und ab. Er suchte sie jetzt seinerseits in die Beichte zu nehmen, aber gewöhnlich beantwortete sie seine Fragen gar nicht. Ihre Unterhaltung bewegte sich in Sprüngen, dazwischen Ausrufe und Geschichten, die kein Ende nahmen. Als er sie vorsichtig über eine vierzehntägige Reise befragte, die sie im vorigen Monate mit ihrer Mutter unternommen hatte, tischte sie ihm eine endlose Reihe von Reiseerlebnissen auf. Sie war überall gewesen, hatte alles gesehen, England, Spanien, Deutschland. Dann folgte ein Hagel kindischer Bemerkungen über das Essen, die Moden und über das Wetter. Zuweilen begann sie eine Erzählung, worin sie selbst mit bekannten Persönlichkeiten eine Rolle spielte; Rougon spitzte die Ohren in dem Glauben, ihr werde endlich eine vertrauliche Mitteilung entschlüpfen; aber entweder schloß sie die Geschichte mit Kindereien oder gar nicht, indem Clorinde zu etwas anderem überging. So erfuhr er an diesem Tage wieder nichts; sie lachte wie gewöhnlich, um ihr wahres Gesicht zu verbergen, und blieb undurchdringlich inmitten ihres Geschwätzes. Rougon, durch diese verblüffenden Aufklärungen, die einander widerlegten, betäubt, wußte schließlich nicht mehr, ob er ein zwölfjähriges Kind, unschuldig bis zur Dummheit, vor sich habe oder ein sehr schlaues Weib, das die Verstellung bis zur Kindlichkeit treibt.

Clorinde unterbrach die Erzählung eines Abenteuers, das ihr in einer kleinen spanischen Stadt zugestoßen war; es handelte sich um die Höflichkeit eines Reisenden, dessen Bett sie hatte annehmen müssen, während er sich mit einem Stuhle begnügte.

»Sie sollen nicht in die Tuilerien zurückkehren«, sagte sie dann ohne jeden Übergang. »Man soll dort Bedauern nach Ihnen fühlen.«

»Vielen Dank, Fräulein Macchiavell«, versetzte er lachend.

Sie lachte noch mehr, gab ihm aber nichtsdestoweniger Ratschläge. Wenn er noch versuchte, sie zum Scherz in den Arm zu kneifen, wurde sie unwillig und rief, man könne keine zwei Minuten ernst miteinander reden. Ach, wenn sie ein Mann wäre! Wie würde sie vorwärts kommen! Die Männer haben alle so wenig Witz!

»Bitte, erzählen Sie mir die Geschichte Ihrer Freunde«, nahm sie wieder das Wort und setzte sich auf den Tischrand, während Rougon vor ihr stehen blieb.

Luigi, der sie nicht aus den Augen ließ, schloß heftig seinen Malkasten und sagte:

»Ich gehe fort.«

Aber Clorinde lief auf ihn zu, führte ihn zurück und versicherte, sie werde gleich wieder ihre Stellung einnehmen. Sie schien sich davor zu fürchten, mit Rougon allein zu bleiben. Als Luigi nachgab, suchte sie Zeit zu gewinnen und bat:

»Sie werden mir wenigstens erlauben, etwas zu essen! Ich habe einen Hunger... Nur zwei Bissen!«

Sie rief zur Tür hinaus:

»Antonia! Antonia!«

Dann gab sie italienisch einen Befehl. Kaum hatte sie sich wieder am Tischrande niedergelassen, als Antonia eintrat, in jeder Hand ein Butterbrötchen. Sie reichte die Brötchen ihrer Herrin wie auf einer Platte mit dem Lachen eines gekitzelten Tieres, wobei ihr roter Mund in dem schwarzen Gesicht sich spaltete. Darauf ging sie und wischte die Hände am Rocke ab; Clorinde rief sie jedoch zurück und bestellte ein Glas Wasser.

»Wollen wir teilen?« fragte sie Rougon. »Die Butter ist sehr gut. Zuweilen streue ich Zucker darauf, aber man muß nicht immer so naschhaft sein.«

Das war sie wirklich nicht, denn Rougon hatte sie eines Morgens dabei getroffen, wie sie ein Stück kalten Eierkuchen vom Vorabend zum Frühstück verzehrte. Er hatte sie im Verdachte des Geizes, der bekanntlich ein Laster der Italiener ist.

»Drei Minuten, nicht wahr, Luigi?« rief sie, in das erste Brötchen beißend.

Dann kehrte sie sich wieder zu Rougon, der noch immer vor ihr stand, und fragte:

»Was ist zum Beispiel die Geschichte des Herrn Kahn? Wie ist er Abgeordneter geworden?«

Rougon unterzog sich auch diesem neuen Verhör in der Hoffnung, irgendeine vertrauliche Mitteilung von ihr zu erzwingen. Er wußte, daß sie sich sehr neugierig nach dem Leben eines jeden erkundigte, bei allen Mitteilungen die Ohren spitzte, unaufhörlich auf der Lauer lag nach den verwickelten Ränken, die sie umgaben. Die großen Vermögen interessierten sie besonders.

»Oh!« antwortete er auf ihre Frage, »Kahn ist der geborene Abgeordnete. Ihm müssen die Zähne auf den Kammerbänken gekommen sein. Unter Ludwig Philipp saß er schon im rechten Zentrum und stützte die verfassungsmäßige Monarchie mit jugendlichem Feuer. Nach 48 ging er mit demselben Feuer zum linken Zentrum über; er hatte ein republikanisches Glaubensbekenntnis in erhabenem Stile geschrieben. Heute ist er zum rechten Zentrum zurückgekehrt und verteidigt leidenschaftlich das Kaisertum. Seiner Herkunft nach ist er der Sohn eines jüdischen Bankiers aus Bordeaux und leitet jetzt die Hochöfen bei Bressuire, beschäftigt sich vorzugsweise mit industriellen und Finanzfragen und lebt ziemlich bescheiden in Erwartung des großen Vermögens, das ihm eines Tages zu erwerben glücken wird. Am letzten Kaisers-Geburtstage ist er zum Offizier der Ehrenlegion ernannt worden.«

Rougon saß, in Sinnen verloren, ein Weilchen still, dann fuhr er fort:

»Ich denke, ich habe nichts vergessen... Nein, er hat keine Kinder.«

»Wie, er ist verheiratet?« rief Clorinde mit einer Stimme, als frage sie jetzt nach Herrn Kahn nicht das geringste mehr. Er sei ein Duckmäuser, niemals habe er seine Frau der Welt gezeigt. Rougon erklärte darauf, daß Frau Kahn in Paris sehr zurückgezogen lebe. Er fuhr dann fort, ohne weitere Fragen abzuwarten:

»Wünschen Sie jetzt die Lebensgeschichte des Herrn Béjuin?«

»Nein, nein«, erwiderte sie.

Er fuhr trotzdem fort:

»Béjuin hat die polytechnische Schule besucht und Flugschriften verfaßt, die niemand kennt. Er leitet die Glasfabrik zu Saint-Florent, drei Meilen von Bourges... der Präfekt des Departements Cher hat ihn entdeckt...«

»Schweigen Sie doch!« rief sie aus.

»Ein würdiger Mann, stimmt pünktlich, redet niemals, wartet, daß man an ihn denke und sieht einen immer an, damit man seiner nicht vergesse... Ich habe ihn zum Ritter ernennen lassen.«

Sie mußte ihm die Hand auf den Mund legen und rief erzürnt:

»Der ist auch verheiratet und gar nicht drollig! ... Ich habe seine Frau bei Ihnen gesehen – ein Klotz! Sie hat mich eingeladen, ihre Glasfabrik bei Bourges zu besuchen.«

Dabei steckte sie den letzten Bissen des ersten Brötchens in den Mund und trank dann einen tüchtigen Schluck Wasser. Ihre Beine hingen vom Tische herab; sich ein wenig zurücklehnend, schwenkte sie diese in regelmäßigen Bewegungen hin und her, die Rougon mit den Augen verfolgte. Er sah durch die Gaze, wie die Waden bei jeder Krümmung des Beines anschwollen.

»Und Herr Du Poizat?« fragte sie nach einer Weile.

»Du Poizat ist Unterpräfekt gewesen«, versetzte er einfach.

Sie sah ihn an, erstaunt über diese kurze Geschichte, und bemerkte:

»Das weiß ich. Aber was weiter?«

»Später wird er Präfekt werden und einen Orden bekommen.«

Sie begriff, daß er ihr hierüber nicht mehr verraten wolle. Übrigens hatte sie den Namen Du Poizat ohne besondere Absicht hingeworfen. Nunmehr zählte sie die Herren an den Fingern her und murmelte:

»Herr d'Escorailles: nicht ernst zu nehmen, er ist in alle Weiber verliebt; Herr La Rouquette: unnütz, ich kenne ihn zu genau... Herr de Combelot, ebenfalls verheiratet.«

Da sie niemanden mehr fand und am Ringfinger innehielt, bemerkte Rougon, sie scharf ansehend:

»Sie vergessen Delestang.«

»Sie haben recht!« rief sie. »Erzählen Sie mir doch von ihm!«

»Er ist ein hübscher Mann«, erwiderte er, ohne die Blicke von ihr zu wenden, »und sehr reich. Ich habe ihm stets; eine glänzende Zukunft vorausgesagt.«

In diesem Tone fuhr er fort, seine Lobsprüche übertreibend, die Zahlen verdoppelnd. Die Musterfarm zu La Chamade war ihre zwei Millionen wert. Delestang werde es gewiß bis zum Minister bringen.

Sie aber hörte ihm mit geringschätzig gekräuselten Lippen zu und murmelte schließlich:

»Er ist sehr dumm!«

»Ja freilich!« entgegnete Rougon mit feinem Lächeln-

Er schien entzückt von diesem Worte, das sie sich hatte entschlüpfen lassen. Dann sprang sie, wie es ihre Art war, zu etwas anderem über und fragte, ihn nun auch ihrerseits scharf ansehend:

»Sie müssen Herrn de Marsy sehr genau kennen?«

»Gewiß, wir kennen uns«, antwortete er, ohne zu zucken, wie wenn diese Frage ihn noch mehr ergötze. Aber er wurde gleich wieder ernst, würdig und sehr gerecht, indem er erklärte:

»Es ist ein außerordentlich kluger Mann. Ich rechne es mir zur Ehre an, ihn zum Feinde zu haben... Er hat sich in allem versucht. Mit achtundzwanzig Jahren war er Oberst; dann stand er an der Spitze einer großen Fabrik und beschäftigte sich nacheinander mit Landwirtschaft, Finanzen und Handel. Er soll sogar malen und Romane schreiben.«

Clorinde vergaß zu essen und blickte träumerisch drein. Dann sagte sie halblaut:

»Ich habe ihn neulich eines Abends gesprochen. Er ist ein ausgezeichneter Mann, der Sohn einer Königin.«

»Mir«, versetzte Rougon, »macht sein Geist ihn unausstehlich. Ich habe ihn bei einer sehr ernsten Gelegenheit Witze reißen hören und habe einen andern Begriff von männlicher Kraft. Schließlich ist es ihm geglückt, er herrscht heute wie der Kaiser. Alle diese Bastarde haben Glück! ... Sein Vorzug ist nur seine Hand, eine eiserne, kühne, entschlossene, zugleich sehr feine und geschmeidige Hand.«

Unwillkürlich hatte das junge Mädchen den Blick auf die groben Fäuste Rougons gesenkt. Er bemerkte es und fuhr lächelnd fort:

»Ich habe rechte Tatzen, nicht wahr? Deshalb habe ich mich nie mit Marsy verständigen können. Er säbelt die Leute ritterlich nieder, ohne seine weißen Handschuhe zu beflecken. Ich schlage mit der Faust drein.«

Er hatte die Fäuste geballt, dicke, außen behaarte Fäuste, und schwenkte sie, erfreut über ihre Wuchtigkeit. Clorinde ergriff gedankenvoll das zweite Butterbrötchen und biß hinein. Endlich hob sie den Blick zu Rougon empor und fragte:

»Nun, und Sie?«

»Meine Geschichte wollen Sie auch hören? Nichts ist leichter zu erzählen. Mein Großvater war Gemüsegärtner. Ich trat bis zum achtunddreißigsten Jahre als kleiner Advokat das Pflaster eines Provinzstädtchens. Gestern war ich noch unbekannt. Ich habe nicht, gleich Herrn Kahn, meine Schultern damit abgenützt, alle Regierungen zu stützen. Ich habe nicht wie Béjuin die polytechnische Schule besucht. Ich habe weder den schönen Namen des kleinen d'Escorailles, noch das schöne Gesicht des armen Combelot. Ich habe keine solche einflußreiche Familie wie La Rouquette, der seinen Abgeordnetensitz seiner Schwester, der Witwe des Generals Llorentz, jetzigen Palastdame, verdankt. Ich habe nicht wie Delestang von meinem Vater fünf Millionen geerbt, die im Weinhandel erworben wurden. Ich bin nicht an den Stufen eines Thrones geboren wie der Graf de Marsy und nicht aufgewachsen, an den Röcken einer gelehrten Frau hangend und von Talleyrand geliebkost. Nein, ich bin ein neuer Mann, ich habe nur meine Fäuste...«

Er schlug die Fäuste zusammen und lachte laut, um der Sache eine scherzhafte Wendung zu geben. Er hatte sich wieder aufgerichtet und schien Steine zwischen seinen Fingern zu zermalmen. Clorinde bewunderte ihn. Er fuhr fort, wie mit sich selbst redend:

»Ich war nichts und werde jetzt sein, was mir beliebt. Ich bin eine Kraft. Und die anderen erregen bei mir nur ein Achselzucken, wenn sie ihre Anhänglichkeit an das Kaisertum beteuern. Lieben sie es etwa? Empfinden sie etwas dafür? Würden sie sich nicht allen Regierungen anbequemen? Ich bin mit dem Kaisertum gewachsen; ich habe es gemacht, und es hat mich gemacht... Nach dem 10. Dezember bin ich zum Ritter, im Januar 52 zum Offizier, am 15. August 54 zum Kommandeur, vor einem Vierteljahr zum Großoffizier der Ehrenlegion ernannt worden. Unter der Präsidentschaft war ich kurze Zeit Minister der öffentlichen Arbeiten; dann hat mich der Kaiser mit einer Sendung nach England betraut; hernach bin ich in den Staatsrat und in den Senat eingetreten.«

»Und wo werden Sie morgen eintreten?« fragte Clorinde mit einem Lachen, worunter sie ihre brennende Neugier zu verbergen suchte.

Er sah sie an, unterbrach sich plötzlich und sagte:

»Sie sind sehr neugierig, Fräulein Macchiavell!«

Sie schaukelte ihre Beine noch lebhafter. Als Rougon sie so in Gedanken versunken sah, glaubte er den Augenblick gekommen, sie ins Verhör zu nehmen, und begann:

»Die Weiber ...«

Aber sie unterbrach ihn und sagte halblaut, den Blick ins Weite gerichtet und wie über ihre Gedanken lächelnd:

»Oh, die Weiber, die haben etwas anderes!«

Das war ihr einziges Geständnis. Sie verzehrte ihr Brötchen vollends, leerte das Glas Wasser auf einen Zug und schwang sich mit einem Satz, der ihre Gewandtheit als Reiterin bezeugte, auf den Tisch, wo sie stehen blieb. Dann rief sie:

»Nun, Luigi!«

Der Maler hatte sich, vor Ungeduld an seinem Schnurrbart nagend, erhoben und trippelte um sie und Rougon herum. Dann setzte er sich mit einem Seufzer und nahm die Palette wieder zur Hand. Die drei Minuten Frist, die Clorinde erbeten hatte, waren zu einer Viertelstunde geworden. Inzwischen nahm sie ihre Stellung wieder ein, noch immer in die schwarzen Spitzen gehüllt. Als sie wieder dastand wie zuvor, ließ sie die Hülle mit einer einzigen Bewegung fallen. Sie wurde wieder zum Marmor, der nichts, von Schamhaftigkeit weiß.

In den Elyseischen Feldern nahm der Wagenverkehr allmählich ab. Die untergehende Sonne vergoldete den Staub, den die Räder aufwirbelten, daß die Bäume von einer Wolke roten Lichtes umhüllt schienen. Im sinkenden Lichte, das durch die hohen Fenster hereinfiel, erglänzten Clorindes Schultern in goldigem Schimmer. Allmählich ward der Himmel blaß und blässer.

»Ist die Heirat des Herrn von Marsy mit dieser walachischen Prinzessin noch immer beschlossene Sache?« fragte sie nach einem Weilchen.

»Ich denke ja«, versetzte Rougon. »Sie ist sehr reich, und Marsy leidet stets an Geldmangel. Übrigens soll er in sie rasend verliebt sein.«

Das Schweigen wurde nicht mehr unterbrochen. Rougon saß da, sich zu Hause wähnend, und ohne an den Abschied zu denken. Nachdenklich nahm er seine Wanderung wieder auf. Diese Clorinde war wirklich ein sehr verführerisches Mädchen. Er dachte an sie, als wenn er sie schon längst verlassen hätte, und mit gesenkten Blicken vertiefte er sich in unbestimmte, sehr süße Gedanken, deren inneren Kitzel er genoß. Er empfand eine wonnige Mattigkeit in den Gliedern, als ob er eben aus einem warmen Bade steige. Der eigentümliche Duft einer fast gezuckerten Herbheit durchdrang ihn. Gern hätte er sich auf eines der Sofas gelegt und wäre in diesem Dufte eingeschlummert.

Plötzlich riß ihn eine Stimme aus seiner Träumerei. Ein hochgewachsener Greis, den er nicht hatte eintreten sehen, küßte die Hände Clorindes, die sich lächelnd zum Rande der Tafel vorbeugte.

»Guten Tag, Herzchen«, sagte er. »Wie schön bist du! Du zeigst also alles, was du hast?«

Er sagte es mit einem spöttischen Lächeln; während Clorinde verwirrt ihre Spitzenzipfel wieder zusammenraffte, fuhr er lebhaft fort:

»Nicht doch, es ist sehr gut so; du kannst alles zeigen! Armes Kind, ich habe ganz andere Dinge gesehen.«

Dann wandte er sich an Rougon, den er als »lieben Kollegen« ansprach. Er drückte ihm die Hand und sagte:

»Das Mädel hat sich öfter als einmal auf meinen Knien vergessen, als es noch klein war. Und jetzt hat es eine Brust, die einem die Augen aussticht!«

Es war ein Herr von Plouguern, jetzt siebzig Jahre alt. Unter Ludwig Philipp von Finistere in die Kammer entsandt, war er einer der legitimistischen Abgeordneten, welche die Pilgerfahrt nach Belgrave-Square unternahmen. Infolge der Brandmarkung, die ihn und seine Genossen seitens der Kammer traf, legte er sein Mandat nieder. Nach den Februartagen zeigte er plötzlich große Vorliebe für die Republik, die er von den Bänken der Konstituante aus lebhaft begrüßte. Nachdem ihm der Kaiser jetzt im Senat eine wohlverdiente Zuflucht gesichert hatte, war er Bonapartist; jedoch als freier Edelmann. Seine große Ergebenheit gestattete sich zuweilen den Hochgenuß, der Regierung ein wenig entgegenzutreten. Die Undankbarkeit ergötzte ihn. Ungläubig wie Thomas, verteidigte er die Religion und die Familie, was er seinem Namen, einem der erlauchtesten der Bretagne, schuldig zu sein glaubte. Hin und wieder fand er das Kaiserreich unsittlich und sagte es laut heraus. Sein Leben war eine Kette von anrüchigen Abenteuern und Ausschweifungen gewesen; in der Kunst, jeden Genuß zu verfeinern, hatte er es außerordentlich weit gebracht. Man erzählte aus seinem Alter Geschichtchen, welche die Jugend in träumerisches Entzücken versetzten. Auf einer Reise in Italien hatte er die Gräfin Balbi kennengelernt und war dreißig Jahre ihr Liebhaber gewesen; nach Jahren der Trennung vereinigten sie sich wieder auf drei Nächte in den Städten, wo sie gerade zusammentrafen. Nach einer Überlieferung war Clorinde seine Tochter, in Wirklichkeit wußte weder er noch die Gräfin etwas Genaues darüber. Jetzt jedoch, da das Mädchen erwachsen, dick und begehrenswert geworden war, behauptete er, ehemals mit ihrer Mutter viel Umgang gehabt zu haben. Er schwelgte mit seinen noch sehr lebhaften Augen in ihrem Anblick und nahm sich als alter Freund bei ihr die größten Vertraulichkeiten heraus. Groß, hager, knochig, hatte er einige Ähnlichkeit mit Voltaire, den er im stillen verehrte.

»Pate, du siehst mein Bild nicht an?« rief Clorinde. So nannte sie ihn nämlich aus Freundschaft.

Er hatte sich hinter Luigi gestellt und kniff mit Kennermiene die Augen ein, wobei er murmelte:

»Köstlich!«

Rougon trat herzu, und Clorinde selbst sprang vom Tische herab, um besser zu sehen. Alle drei waren entzückt, denn das Bild war sehr gut getroffen. Der Maler hatte schon die ganze Fläche mit mattem Rosa, Weiß und Gelb bedeckt, und dazwischen heraus lächelte das Gesicht mit seinen geschwellten Lippen, gewölbten Brauen und rosig zarten Wangen wie eine niedliche Puppe. Es war eine Diana, die man sich auf einem Pastillendöschen nicht zierlicher gedacht hätte.

»Seht doch, da am Auge die kleine Linse!« sagte Clorinde, bewundernd in die Hände klatschend. »Dieser Luigi vergißt nichts!«

Rougon, den Bilder gewöhnlich langweilten, war hingerissen. In diesem Augenblicke ging ihm das Verständnis für die Kunst auf, und er urteilte im Tone festester Überzeugung:

»Das ist wundervoll gezeichnet!«

»Und die Farbe ist vorzüglich!« fügte Herr von Plouguern hinzu... Diese Schultern sind lebendiges Fleisch... Der Busen sehr angenehm. Besonders die linke Brust ist von rosiger Frische... Und diese Arme! Die Kleine hat erstaunliche Arme! Diese Rundung oberhalb der Pulsader gefällt mir sehr, sie ist vollendet.«

Dann wandte er sich zu dem Maler:

»Herr Pozzo, zu dieser Leistung wünsche ich Ihnen von Herzen Glück. Ich habe schon ein »badendes Mädchen« von Ihnen gesehen; aber dies Bild wird noch weit besser ... Warum stellen Sie nicht aus? Ich habe einen Diplomaten gekannt, der vorzüglich geigte und dennoch seinen Weg gemacht hat.«

Luigi verbeugte sich sehr geschmeichelt. Inzwischen hatte jedoch das Tageslicht stark abgenommen, und da er ein Ohr noch vollenden wollte, bat er Clorinde, ihre Stellung noch zehn Minuten einzunehmen. Herr von Plouguern und Rougon fuhren fort, über Kunst zu plaudern. Letzterer gestand, daß anderweitige Beschäftigungen ihn gehindert hätten, die Entwicklung der Kunst in den letzten Jahren zu verfolgen, aber er äußerte die lebhafteste Bewunderung dafür. Ja, er erklärte, die Farbe lasse ihn ziemlich kühl, eine schöne Zeichnung befriedige ihn vollkommen, eine Zeichnung, die fähig sei, den Geist zu großen Gedanken zu erheben. Herr von Plouguern seinerseits liebte nur die Alten; er hatte alle Museen Europas besucht und begriff nicht, wie man so kühn sein konnte, noch weiterzumalen. Vergangenen Monat jedoch habe er einen kleinen Salon durch einen Künstler ausschmücken lassen, den niemand kannte und der dennoch sehr begabt war.

»Er hat mir kleine Liebesgötter gemalt, Blumen und Blätterwerk, ganz vorzüglich! Man möchte wirklich die Blumen pflücken. Dazwischen Insekten, Schmetterlinge, Fliegen, Maikäfer, daß man glaubt, sie leben. Kurz, es ist sehr lustig, und ich für mein Teil liebe die heitere Malerei...«

»Die Kunst ist auch nicht da, um uns zu langweilen«, fügte Rougon hinzu.

Während sie so nebeneinander auf und ab gingen, trat Herr von Plouguern unversehens auf etwas, das mit dem Geräusch einer Knallerbse platzte, und er rief:

»Was ist denn das?«

Er hob einen Rosenkranz auf, der von dem Sessel herabgeglitten war, auf den Clorinde sicherlich den Inhalt ihrer Taschen geleert hatte. Eine der Glasperlen neben dem Kreuz war zermalmt; an dem Kreuze selbst, das ganz klein und aus Silber war, hatte sich der eine Arm verbogen und abgeplattet. Der Greis schwenkte es in der Luft und fragte mit spöttischem Lächeln:

»Höre, Schätzchen, was lassest du dieses Spielzeug hier herumliegen?«

Clorinde aber war purpurrot geworden. Mit geschwellten Lippen und zornfunkelnden Augen bedeckte sie sich hastig die Schultern, sprang vom Tisch herab und stammelte:

»Böser, böser Mann! Er hat meinen Rosenkranz zerbrochen!«

Damit entriß sie ihn seinen Händen und weinte wie ein Kind.

»Na, na«, sagte Herr von Plouguern noch immer lachend. »Seht die kleine Fromme! Neulich hätte sie mir beinahe die Augen ausgekratzt, weil ich in ihrem Schlafzimmer ein Buchsbaumzweiglein bemerkt hatte und sie fragte, was sie mit diesem kleinen Besen ausfege? ... Weine doch nicht, dickes Schaf! Ich habe dem lieben Herrgott nichts gebrochen!«

»Doch, doch, Sie haben ihm weh getan!« rief sie.

Sie duzte ihn nicht mehr. Mit zitternden Händen entfernte sie die Glassplitter und bemühte sich, immer heftiger schluchzend, das Kreuz wieder herzurichten, wischte es mit den Fingerspitzen ab, als habe sie Bluttropfen darauf gesehen, und murmelte:

»Der Papst selbst hat es mir geschenkt, das erstemal, als ich ihn mit Mama besuchte. Er kennt mich sehr genau und nennt mich seinen ›schönen Apostel‹, weil ich ihm eines Tages gesagt habe, ich würde gern für ihn sterben. Der Rosenkranz brachte mir Glück. Jetzt wird er keine Kraft mehr haben; er wird den Teufel anlocken...«

»Dann gib ihn mir, Schätzchen«, sagte Herr von Plouguern. »Du wirst dir die Nägel verderben, wenn du es wieder in Ordnung bringen willst... Silber ist hart, mein Schatz!«

Er hatte den Rosenkranz wieder an sich genommen und suchte vorsichtig, um ihn nicht zu zerbrechen, den Arm des Kreuzes geradezubiegen. Clorinde weinte nicht mehr, sondern sah ihm sehr aufmerksam zu. Auch Rougon streckte lächelnd den Kopf vor; er war ein beklagenswerter Gottloser und lief schon zweimal Gefahr, wegen übel angebrachter Scherze sich mit Clorinde zu entzweien.

»Alle Wetter!« sagte Herr von Plouguern halblaut. »Der liebe Gott ist hart, ich fürchte ihn zu zerbrechen... Du wirst einen andern Herrgott dafür bekommen, Kleine.«

Er strengte sich nochmals an – und das Kreuz brach mitten entzwei.

»Um so schlimmer! Diesmal ist es weg!« rief er.

Rougon brach in ein Gelächter aus.

Clorinde aber trat mit ganz schwarzen Augen und verzerrtem Gesicht zurück, sah ihnen starr ins Antlitz und ballte wütend die Fäuste gegen sie, als ob sie die beiden zur Tür hinauswerfen wolle. Dabei schimpfte sie italienisch aus Leibeskräften.

»Sie wird uns prügeln, sie wird uns prügeln!« frohlockte Herr von Plouguern; Rougon brummte:

»Das sind die Früchte des Aberglaubens!«

Da hörte der Greis auf zu scherzen, sein Gesicht wurde plötzlich ernst; und da der große Mann fortfuhr, über den verabscheuenswerten Einfluß der Geistlichkeit, die klägliche Erziehung der katholischen Frauen, über die Erniedrigung des den Priestern ausgelieferten Italiens zu jammern, erklärte er rundheraus:

»Die Religion macht die Staaten groß!«

»Wenn sie sie nicht zerfrißt wie ein Geschwür«, entgegnete Rougon. »Die Geschichte gibt mir recht. Wenn der Kaiser die Bischöfe nicht in Unterwürfigkeit erhält, hat er sie bald alle auf dem Halse.«

Jetzt wurde auch Herr von Plouguern erregt. Er verteidigte Rom, sprach von den Überzeugungen seines ganzen Lebens. Ohne die Religion würden die Menschen wieder zu Tieren herabsinken. Dann verteidigte er die heilige Sache der Familie. Die Zeit sei abscheulich; niemals habe das Laster sich so schamlos breit gemacht, noch niemals habe der Unglaube die Gewissen so verstört. Er schloß:

»Reden Sie mir nicht von Ihrem Kaiserreiche! Es ist nichts als ein Bastard der Revolution ... Wir wissen sehr gut, daß Ihr Kaiserreich die Kirche zu demütigen sucht. Aber wir sind noch da, wir lassen uns nicht abschlachten wie Hammel! ... Versuchen Sie nur, Ihre Ansichten im Senat vorzutragen, lieber Herr Rougon!«

»Ach was! Antworten Sie ihm doch nicht mehr!« ermahnte ihn Clorinde. »Wenn Sie ihn weiter drängen, wird er schließlich noch Christus anspeien. Er ist ein Verdammter!«

Rougon ließ überwältigt das Haupt sinken und schwieg. Das junge Mädchen suchte das vom Kreuze abgebrochene Stück; als sie es gefunden hatte, schlug sie es sorgfältig mit dem Rosenkranze in eine Zeitung, worauf sie beruhigt schien.

»Übrigens, mein Schätzchen,« rief Herr von Plouguern lebhaft, »habe ich dir noch nicht gesagt, weshalb ich heraufgekommen bin. Ich habe für heute abend eine Loge im Königspalast und nehme euch mit.«

»Der gute Pate!« rief Clorinde, ganz rot vor Freude. »Ich will Mama wecken.«

Sie umarmte ihn »für diese Mühe«, wie sie sagte. Dann wandte sie sich lächelnd zu Rougon und sagte, ihm mit einem allerliebsten Mäulchen die Hand reichend:

»Sie sind mir doch nicht böse, nicht wahr? Bringen Sie mich mit Ihren heidnischen Reden nicht mehr in Zorn ... Ich bin ganz aus dem Häuschen, wenn man mir die Religion stichelt. Ich könnte meine wertvollsten Freundschaften dadurch aufs Spiel setzen.«

Luigi hatte inzwischen eingesehen, daß er an diesem Tage das Ohr nicht mehr werde vollenden können, und stellte demgemäß seine Staffelei in die Ecke. Dann nahm er seinen Hut und tippte das junge Mädchen auf die Schulter zum Zeichen, daß er gehe. Sie begleitete ihn auf den Flur und schloß die Tür hinter sich; aber ihr Abschied war so ungestüm, daß man einen leichten Schrei Clorindes vernahm, der sich in einem erstickten Lachen verlor. Als sie wieder eintrat, sagte sie:

»Ich kleide mich um; es wäre denn, daß der Pate mich so ins Theater mitnehmen will.«

Dieser Einfall erheiterte sie alle drei gar sehr.

Die Dämmerung war hereingebrochen. Als Rougon sich verabschiedete, stieg Clorinde mit ihm die Treppe hinab und ließ Herrn von Plouguern einen Augenblick allein, bis sie ein Kleid übergeworfen habe. Sie ging schweigend und so langsam voran, daß er das Anstreifen ihrer Gazehülle an seinen Knien spürte. Sie trat durch die Kammertür und zwei Schritte in das Gemach: dann wandte sie sich um. Er war ihr gefolgt. Durch die beiden Fenster fiel ein bleiches Licht auf das geöffnete, noch ungeordnete Bett, das vergessene Waschbecken und die noch immer auf dem Kleiderbündel schlafende Katze.

»Also Sie sind mir nicht böse?« wiederholte sie mit gedämpfter Stimme und reichte ihm die Hände.

Er versicherte, daß es nicht der Fall sei. Er hatte ihre Hände ergriffen und tastete sich an ihren Armen bis oberhalb der Ellbogen hinauf, sehr vorsichtig, damit seine groben Finger die schwarzen Spitzen nicht zerrissen. Sie erhob leicht die Arme, als wollte sie ihm hierbei behilflich sein. Sie standen im Schatten des Wandschirmes, so daß der eine des andern Züge nicht erkennen konnte. Hier empfand er in dieser Kammer, deren eingeschlossene Luft ihm den Atem beengte, jenen Duft einer fast gezuckerten Herbheit wieder, der ihn vorhin schon betäubt hatte. Als seine Hände jedoch über die Ellbogen hinauf gelangt waren und zudringlich wurden, entschlüpfte ihm Clorinde gewandt, und er hörte sie durch die hinter ihnen offen gebliebene Tür hinausrufen:

»Antonia, bringen Sie Licht und mein graues Kleid!«

Als Rougon sich wieder auf der Straße befand, blieb er einen Augenblick betäubt stehen und atmete die frische Luft ein, die von den Höhen des Triumphbogens herabwehte. Auf der jetzt wagenleeren Allee wurde eine Gasflamme nach der andern angezündet, und ihr Glanz zog sich in einem Streifen lichter Funken durch die Dunkelheit. Es war ihm, als habe er eben einen Aderlaß bekommen, er strich sich mit der Hand über das Gesicht und sagte ganz laut:

»Nein, das wäre zu dumm!«


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