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In diesen schweren Stunden, wo jeder von uns mit dem tiefsten persönlichen Schmerz erdrückend empfindet, daß ein Unersetzlicher von uns gegangen, steigt leuchtend, lebensfrisch die Erinnerung an einzelnes empor, das blitzartig in dem großen Führer den großen Menschen zeigt. Das harmonische Zusammenklingen der Größe des Führers und des Menschen prägte Lenins Gestalt und hat ihn für immer eingeschreint in dem großen Herzen des Weltproletariats, wie dies Marx als ruhmvolles Los der Kommunekämpfer pries. Denn die Werktätigen, die dem Reichtum Geopferten, die wie des Dichters Seume Kanadier »Europens übertünchte Höflichkeit« nicht kennen – lies: die konventionellen Lügen und Heucheleien der bürgerlicheIhr Lenin n Welt –, unterscheiden mit feinem, instinktivem Empfinden zwischen Echtem und Unechtem, zwischen schlichter Größe und protziger Aufgeblasenheit, zwischen ihnen zugewendeter, aufopferungsvoller, tatgebärender Liebe und dem Haschen nach einer Popularität, in dem sich hohle Eitelkeit spiegelt.
Es widerstrebt mir, Persönliches in die Öffentlichkeit zu tragen. Es deucht mich jedoch Pflicht, einiges aus dem Schatz meiner persönlichen Erinnerungen an den unvergeßlichen Führer und Freund mitzuteilen. Pflicht gegen ihn, der uns durch Theorie und Tat gelehrt hat, daß der revolutionäre Wille das geschichtlich Nötige und Vorbereitete bewußt zu formen vermag. Pflicht gegen die, denen seine Liebe und sein Handeln galt: die Proletarier, die Schaffenden, Ausgebeuteten, Unfreien der ganzen Welt, die sein mitfühlendes Herz als Leidende umfaßte und die sein stolzer Gedanke als revolutionäre Kämpfer, als Erbauer einer höheren Gesellschaftsordnung wertete.
Es war im Frühherbst 1920, als ich Lenin zum ersten Male wiedersah, seit die russische Revolution begonnen hatte, »die Welt zu erschüttern«. Unmittelbar nach meiner Ankunft in Moskau, bei einer Parteitagung im Swerdlow-Saal des Kreml, wenn ich mich recht erinnere. Lenin erschien mir unverändert, kaum gealtert. Ich hätte Eide schwören mögen, daß er den gleichen bescheidenen, sauber gebürsteten Rock trug, in dem ich ihn 1907 bei dem Weltkongreß der II. Internationale zu Stuttgart zum ersten Male gesehen hatte. Rosa Luxemburg, der das Auge eines Künstlers für das Charakteristische eignete, zeigte mir Lenin mit der Bemerkung: »Schau den da gut an! Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen, hartnäckigen Schädel! Ein echt russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, daß er daran zerschmettert. Nachgeben wird er nie.«
In Haltung und Auftreten war Lenin ebenfalls ganz der alte. Die Debatten wurden ab und zu sehr lebhaft, ja stürmisch. Wie früher auf den Kongressen der II. Internationale zeichnete sich Lenin dabei durch aufmerksames Beobachten und Verfolgen der Verhandlungen aus, durch die große, selbstsichere Ruhe, die zusammengeballte innere Anteilnahme, Energie und Elastizität war. Das bewiesen seine gelegentlichen Zwischenrufe und Bemerkungen, seine längeren Ausführungen, wenn er das Wort ergriff. Seinem scharfen Blick, seinem klaren Geist schien nichts Bemerkenswertes zu entgehen. Als hervorragendsten Wesenszug Lenins empfand ich während der Sitzung – wie stets später – die Schlichtheit und Herzlichkeit, die Selbstverständlichkeit seines Verkehrs mit allen Genossen. Ich sage Selbstverständlichkeit, denn ich hatte den starken Eindruck: Dieser Mann kann sich nicht anders geben, als er sich gibt. Es ist natürlicher Ausdruck inneren Wesens, wie er sich zu den Genossen verhält.
Lenin hatte die unbestrittene Führung in einer Partei, die zielsetzend und wegweisend den russischen Proletariern und Bauern im Kampf um die Macht vorangeschritten war und die nun, von ihrem Vertrauen getragen, regierte, die Diktatur des Proletariats ausübte. Soweit ein einzelner das sein kann, war Lenin der Schöpfer und Leiter des großen Reiches, das zum ersten Arbeiter- und Bauernstaat der Welt umgewälzt ward. Seine Gedanken, sein Wille lebten in Millionen, auch außerhalb Sowjetrußlands. Seine Auffassung war hier für jede wichtige Entscheidung maßgebend, sein Name ein Symbol der Hoffnung und Befreiung, wo immer es Ausgebeutete und Unterdrückte gibt. »Genosse Lenin führt uns zum Kommunismus, wir halten durch, wie schwer es auch sei«, erklärten die russischen Arbeiter, die, ein ideales Reich höchster Menschlichkeit vor der Seele, hungernd, frierend an die Fronten eilten oder sich unter unsäglichen Schwierigkeiten um die Wiederaufrichtung der Industrie mühten. »Was brauchen wir zu fürchten, daß die Herren wiederkommen und uns die Äcker wegnehmen? Iljitsch und die Bolschewiki mit den Rotarmisten werden uns erretten.« So meinten die landgesättigten Bauern. »Eviva Lenin!« stand auf der Mauer mehr als einer Kirche in Italien, der Ausdruck enthusiastischer Bewunderung irgendeines Proletariers, der in der russischen Revolution die Bahnbrecherin seiner Befreiung grüßte. Unter Lenins Namen sammelten sich in Amerika wie in Japan und Indien Rebellen wider die versklavende Macht der Besitzer.
Wie einfach, wie bescheiden trat Lenin auf, der schon auf ein historisches Riesenwerk zurückblicken konnte und auf dem eine erdrückende Last gläubigen Vertrauens, schwerster Verantwortlichkeit und nie endender Arbeit lag! Er tauchte ganz in der Masse der Genossen unter, war eins mit ihr, war einer von vielen. Mit keiner Geste, keiner Miene wollte er als »Persönlichkeit« wirken. Solches Gehabe war ihm fremd, denn er war wirklich eine Persönlichkeit. Unaufhörlich brachten Kuriere Mitteilungen von den verschiedenen Kanzleien, von Zivil- und Militärorganen. Mitteilungen, die oft durch ein paar rasch hingeworfene Zeilen beantwortet wurden. Lenin hatte für jeden ein freundliches Lächeln oder Zunicken, dessen Widerschein stets ein freudestrahlendes Gesicht war. Während der Verhandlungen fanden ab und zu unauffällige Verständigungen mit führenden Genossen statt. Während der Pausen ein wahrer Ansturm auf Lenin. Genossen und Genossinnen aus Moskau, Petrograd, aus den verschiedensten Zentren der Bewegung und Jugendliche, viele Jugendliche umdrängten ihn. »Wladimir Iljitsch, bitte ...« »Genosse Lenin, Sie dürfen nicht abschlagen ...« »Wir wissen wohl, Iljitsch, daß Sie ... aber ...« So und so ähnlich schwirrten Bitten, Anfragen, Vorschläge durcheinander.
Lenin war im Anhören und Antworten von unerschöpflicher, rührender Geduld. Er hatte ein offenes Ohr und einen guten Rat für jede Parteisorge wie für persönliche Schmerzen. Herzerquickend war die Art und Weise, wie er mit der Jugend verkehrte – kameradschaftlich, frei von jeder pedantischen Schulmeisterei, von jedem Dünkel, daß das Alter allein schon eine unübertreffliche Tugend sei. Lenin bewegte sich als gleicher unter gleichen, mit denen er durch alle Fasern seines Herzens verbunden war. Er hatte nicht die Spur eines »Herrenmenschen« an sich, seine Autorität in der Partei war die eines idealen Vaters, dessen Überlegenheit man sich in dem Bewußtsein fügt, daß er versteht und verstanden sein will. Nicht ohne Bitterkeit kam mir in der Atmosphäre um Lenin die Erinnerung an die steifleinene Grandezza der »Parteiväter« der deutschen Sozialdemokratie. Und erst recht an das geschmacklose Parvenütum, mit dem der Sozialdemokrat Ebert als »Herr Reichspräsident« der Bourgeoisie abzugucken beflissen ist, »wie sie sich räuspert und wie sie spuckt«, ein Parvenütum, das jeden Stolz auf die historische Bedeutung des Proletariats und jegliche menschliche Würde vergessen läßt. Freilich: Diese Herren waren nie so »töricht und vermessen« wie Lenin, »eine Revolution machen zu wollen«. Und unter ihrer Hut kann die Bourgeoisie in des weiland »römischen Reiches Kinderstube« einstweilen noch sicherer schnarchen als zu Heinrich Heines Zeit unter 34 Monarchen. Bis die Revolution endlich auch hier aus den Fluten des geschichtlich Vorbereiteten und Notwendigen emportaucht und dieser Gesellschaft zudonnert: »Quos ego!«
Mein erster Besuch bei der Familie Lenins vertiefte den Eindruck, den ich auf der Parteikonferenz empfangen hatte und der seither bei mehreren Besprechungen verstärkt worden war. Gewiß, Lenin wohnte im Kreml, der früheren Zarenburg, und man mußte an mancher Wache vorüber, ehe man zu ihm gelangte – eine Maßregel, die durch die damals noch nicht aufgegebenen konterrevolutionären Attentatspläne gegen die Führer der Revolution gerechtfertigt war. Lenin empfing auch, wenn es sein mußte, in prächtigen, goldstrotzenden Staatsgemächern. Jedoch seine Privatwohnung war von äußerster Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Ich bin in mehr als einer Arbeiterwohnung gewesen, die weit reicher ausgestattet war als das Heim des »allmächtigen moskowitischen Diktators«. Ich fand Frau und Schwester Lenins beim Abendbrot, das zu teilen ich sofort herzlichst eingeladen wurde. Es war einfach, wie das die Schwere der Zeit forderte: Tee, Schwarzbrot, Butter, Käse. Später mußte die Schwester »dem Gast zu Ehren« nachsehen, ob nicht etwas »Süßes« da sei, und sie entdeckte glücklich ein kleines Gläschen mit eingemachten Beeren. Es war bekannt, daß die Bauern »ihren Iljitsch« mit reichlichen Sendungen von weißem Mehl, Speck, Eiern, Obst usw. bedachten, aber man wußte auch, daß nichts davon in Lenins Haushaltung blieb. Alles wanderte in die Krankenhäuser und Kinderheime; die Familie Lenins hielt streng den Grundsatz fest, nicht besser zu leben als die anderen, das heißt die schaffenden Massen.
Genossin Krupskaja, Lenins Frau, hatte ich seit der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz zu Bern im März 1915 nicht gesehen. Ihr liebes Gesicht mit den warmen, gütigen Augen trug unverwischbare Zeichen der tückischen Krankheit, die an ihr zehrt. Aber davon abgesehen, war auch sie die gleiche geblieben, die Verkörperung der Aufrichtigkeit, der Bescheidenheit des Wesens und einer geradezu puritanischen Schlichtheit. Mit ihrem glatt zurückgekämmten Haar, am Hinterkopf in einen kunstlosen Knoten aufgesteckt, in ihrem schmucklosen Kleid konnte man sie für eine abgehetzte Arbeiterfrau halten, deren ewige Sorge ist, Zeit zu sparen, Zeit zu gewinnen. Die »erste Frau des großen russischen Reiches« – nach bürgerlicher Auffassung und Terminologie – ist unstreitig die erste an opferfreudiger Selbstvergessenheit, an Hingebung für die Sache der Mühseligen und Beladenen. Die innigste Gemeinschaft des Lebensweges und Lebenswerkes vereinigte sie mit Lenin. Unmöglich von ihm zu sprechen, ohne ihrer zu gedenken. Sie war »Lenins rechte Hand«, sein oberster und bester Sekretär, seine überzeugteste Ideengenossin, die kundigste Deuterin und Vermittlerin seiner Ansichten, ebenso unermüdlich darin, dem genialen Meister tatkräftig und mit Klugheit Freunde und Anhänger zu werben, als in seinem Sinne propagandistisch unter der Arbeiterschaft zu wirken. Daneben hatte sie ihren eigenen, persönlichen Tätigkeitskreis, dem sie sich mit ganzer Seele widmete: das Volksbildungs- und Erziehungswesen.
Die Vermutung wäre lächerlich, wäre beleidigend gewesen, daß Genossin Krupskaja im Kreml als »Lenins Frau« repräsentierte. Sie arbeitete und sorgte mit ihm, für ihn, wie sie das ein Leben lang getan hatte, auch wenn die Illegalität und die härtesten Verfolgungen sie trennten. Eine tief mütterliche Natur, machte Genossin Krupskaja – von Lenins Schwester Maria Iljinitschna dabei liebevoll unterstützt – die Wohnung zu einem »Heim« im edelsten Sinne des Wortes. Sicherlich nicht in der Bedeutung deutscher Spießbürgerlichkeit, wohl aber durch die geistige Atmosphäre, die es erfüllte und die der Ausfluß der Beziehungen war, die die hier lebenden und webenden Menschen miteinander verband. Man empfand es, in diesen Beziehungen war alles auf das Echte, auf Wahrhaftigkeit, Verstehen und Herzlichkeit gestimmt. Obgleich ich Genossin Krupskaja bis dahin nur wenig persönlich gekannt hatte, fühlte ich mich doch sofort in ihrem »Reich« und unter ihrer freundschaftlichen Fürsorge wie zu Hause. Als Lenin kam und etwas später, von der Familie aufs freudigste begrüßt, eine große Katze erschien, die dem »Schreckensführer« auf die Schulter sprang und es sich dann auf seinem Schoß bequem machte, hätte ich wirklich wähnen können, daheim zu sein oder bei Rosa Luxemburg und ihrer für die Freunde geschichtlich gewordenen Katze »Mimi«.
Lenin fand uns drei Frauen im Gespräch über Kunst, Bildungs- und Erziehungsfragen. Ich äußerte gerade meine enthusiastische Bewunderung für die einzig dastehende, titanenhafte Kulturarbeit der Bolschewiki, für das Regen und Bewegen schöpferischer Kräfte, die der Kunst und Erziehung neue Bahnen öffnen wollten. Dabei verhehlte ich nicht den empfangenen Eindruck, daß sich reichlich viel unsicheres, unklares Tasten und Experimentieren zeige und zusammen mit dem leidenschaftlichen Ringen nach neuem Inhalt, neuen Formen, neuen Wegen des Kulturlebens auch manche künstlerische, kulturelle »Modefatzkerei« nach westlichem Muster. Lenin griff sofort sehr lebhaft in das Gespräch ein.
»Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen«, sagte er, »ist gut, ganz gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Wir müssen und wollen nachholen, was in Jahrhunderten versäumt worden ist. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, das ›Hosianna‹ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das ›Kreuziget sie‹ morgen: all das ist unvermeidlich.
Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Um ein Beispiel herauszugreifen: Denken Sie an den Druck, der auf die Entwicklung unserer Malerei, Bildhauerkunst und Architektur durch die Moden und Launen am Zarenhofe ausgeübt wurde, ebenso durch den Geschmack, die Liebhabereien der Herren Aristokraten und Bourgeois. In einer Gesellschaft des Privateigentums produziert der Künstler Waren für den Markt, er braucht Käufer. Unsere Revolution hat den Druck dieses sehr prosaischen Standes der Dinge von den Künstlern genommen. Sie hat den Sowjetstaat zu ihrem Schützer und Auftraggeber gemacht. Jeder Künstler und jeder, der sich dafür hält, nimmt als sein gutes Recht in Anspruch, frei nach seinem Ideal zu schaffen, mag das nun etwas taugen oder nicht. Da haben Sie die Gärung, das Experimentieren, das Chaotische.
Aber natürlich, wir sind Kommunisten. Wir dürfen nicht die Hände in den Schoß legen und das Chaos gären lassen, wie es will. Wir müssen auch diese Entwicklung bewußt, klar zu leiten und ihre Ergebnisse zu formen, zu bestimmen suchen. Daran fehlt es noch, fehlt es sehr. Mir scheint es, daß auch wir unsere Dr. Karlstadt Dr. Karlstadt – Andreas Bodenstein (1480-1541), bedeutender Vertreter der Reformation, beteiligte sich führend an der Zerstörung katholischer Heiligenbilder. Die Red. haben. Wir sind viel zuviel ›Bilderstürmer‹. Man soll Schönes erhalten, zum Muster nehmen, daran anknüpfen, auch wenn es ›alt‹ ist. Warum sich von wirklich Schönem abkehren und es als Ausgangspunkt weiterer Entwicklung ein für allemal verwerfen, nur weil es ›alt‹ ist? Warum das Neue als Gott anbeten, dem man gehorchen soll, nur weil es ›das Neue‹ ist? Das ist Unsinn, nichts als Unsinn. Übrigens ist auch viel konventionelle Kunstheuchelei dabei im Spiele und der Respekt vor der Kunstmode im Westen. Selbstverständlich unbewußt. Wir sind gute Revolutionäre, aber wir fühlen uns verpflichtet zu beweisen, daß wir auf ›der Höhe zeitgenössischer Kultur‹ stehen. Ich habe den Mut, mich als ›Barbar‹ zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarungen des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen.«
Ich konnte nicht umhin zu gestehen, auch mir fehle das Organ, um zu begreifen, daß die künstlerische Erscheinungsform einer begeisterten Seele ein Dreieck statt einer Nase sei und daß revolutionärer Tatendrang den gegliederten Körper des Menschen in einen formlosen Sack verwandle, auf zwei Stelzen gestellt und mit zwei fünfzinkigen Gabeln. Lenin lachte herzlich. »Ja, liebe Clara, es ist schon so, daß wir zwei Alte sind. Es muß uns genügen, in der Revolution einstweilen noch Junge zu bleiben und voranzugehen. Mit der neuen Kunst kommen wir nicht mehr mit, wir humpeln hinter ihr drein.
Aber«, so fuhr Lenin fort, »wichtig ist nicht unsere Meinung über Kunst. Wichtig ist auch nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln. Dürfen wir einer Minderheit süßen, ja raffinierten Biskuit reichen, während es den Massen der Arbeiter und Bauern an Schwarzbrot fehlt? Ich meine das, was ja naheliegt, nicht nur im buchstäblichen Sinne des Wortes, sondern auch figürlich. Haben wir immer die Arbeiter und Bauern vor Augen. Lernen wir ihretwegen wirtschaften und rechnen, auch auf dem Gebiete der Kunst und Kultur.
Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es da in unserem Lande aus? Sie schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel. Wir haben nicht nur ›Köpfe abgeschnitten‹, wie uns die Menschewiki aller Länder und ihre Kautskys unterstellen, wir haben auch Köpfe erleuchtet – viele Köpfe. Allein, ›viele‹ doch nur gezählt an der Vergangenheit und den Sünden der in ihr herrschenden Klassen und Cliquen. Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur. Nicht bloß in Petrograd und Moskau, in den Industriezentren, auch draußen, bis in die Dörfer. Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! Ob wir es wollen oder nicht, die meisten Alten bleiben kulturell die Geopferten, die Enterbten. Nun gewiß, wir führen einen wirklich hartnäckigen Feldzug gegen das Analphabetentum. Wir errichten Bibliotheken und ›Lesehütten‹ in den großen und kleinen Städten und Dörfern. Wir organisieren Kurse der verschiedensten Art. Wir veranstalten gute Theatervorstellungen und Konzerte, wir senden ›Bildungszüge‹ und ›Wanderausstellungen‹ durch das Land. Aber ich wiederhole: Was ist das alles für die vielen Millionen, denen es an dem elementarsten Wissen, der primitivsten Kultur gebricht! Während in Moskau vielleicht heute Zehntausend und morgen wieder Zehntausend sich an glänzenden Aufführungen im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem ›himmlischen Väterchen‹ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.«
»Klagen Sie nicht so bitter über das Analphabetentum, Genosse Lenin«, warf ich dazwischen. »Es hat euch sicherlich in gewissem Maße die Revolution erleichtert. Es hat das Gehirn der Arbeiter und Bauern davor geschützt, mit bürgerlichen Begriffen und Anschauungen vollgepfropft und verseucht zu werden. Eure Propaganda und Agitation fällt auf jungfräulichen Boden. Es ist leichter, dort zu säen und zu ernten, wo nicht erst ein ganzer Urwald ausgerottet werden muß.«
»Ja, das ist richtig«, erwiderte Lenin, »jedoch nur innerhalb gewisser Grenzen oder besser gesagt: für eine bestimmte Periode unseres Kampfes. Das Analphabetentum vertrug sich allenfalls mit dem Kampf um die Eroberung der Macht, mit der Notwendigkeit, den alten Staatsapparat zu zerschlagen. Aber zerstören wir denn nur um des Zerstörens willen? Wir zerstören, um Besseres aufzubauen. Das Analphabetentum verträgt sich schlecht, verträgt sich gar nicht mit den Aufgaben des Aufbaus. Er muß doch nach Marx das Werk der Arbeiter selbst sein und, so füge ich hinzu, der Bauern, wenn sie alle frei werden sollen. Unsere Sowjetordnung erleichtert das. Dank ihrer lernen jetzt Tausende aus dem werktätigen Volk in den verschiedenen Sowjets und Sowjetorganen am Aufbau arbeiten. Es sind Männer und Frauen ›in den besten Jahren‹, wie man bei euch zu sagen pflegt. Das bedeutet für uns, daß die meisten von ihnen noch unter dem alten Regime groß geworden sind, also ohne Bildung und Kultur. Leidenschaftlich streben sie jetzt danach. Wir sind auf das ernstlichste bemüht, immer neue Männer und Frauen zur Sowjetarbeit heranzuziehen und sie durch diese praktisch und theoretisch zu erziehen. Allein, trotz allem kann der Bedarf an verwaltenden, aufbauenden Kräften bei weitem nicht gedeckt werden. Wir müssen Bürokraten alten Stils verwenden, und wir bekommen einen zünftigen Bürokratismus. Ich hasse ihn herzlich. Nicht den einzelnen Bürokraten. Der kann ein tüchtiger Kerl sein. Aber ich hasse das System. Es lähmt und korrumpiert unten und oben. Der entscheidende Faktor zur Überwindung und Ausrottung des Bürokratismus ist breiteste Volksbildung und Volkserziehung.
Und welche Perspektiven haben wir für die Zukunft? Wir haben prächtige Einrichtungen geschaffen und wirklich gute Maßnahmen getroffen, damit die Jugend des Proletariats und der Bauernschaft lernen, studieren, Kultur erwerben kann. Aber auch hier tritt die peinigende Frage auf: Was ist das für so viele? Schlimmer noch! Wir haben bei weitem noch nicht genug Kindergärten, Kinderheime und Elementarschulen. Millionen Kinder wachsen ohne Erziehung, ohne Unterricht auf. Sie wachsen auf in der Unwissenheit und der Unkultur ihrer Väter und Großväter. Wie viele Talente werden dadurch abgewürgt, wie viele Sehnsucht wird dadurch zertreten. Das ist ein grausames Verbrechen gegen das Glück des heranwachsenden Geschlechts und ein Diebstahl an dem Reichtum des Sowjetstaats, der sich zur kommunistischen Gesellschaft entwickeln soll. Es ist eine schwere Gefahr für die Zukunft.«
In der für gewöhnlich so ruhigen Stimme Lenins grollte verhaltene Empörung. Wie muß ihm diese Sache am Herzen liegen, ihn hinreißen, dachte ich, daß er vor uns dreien eine Agitationsrede hält. Es fielen – ich erinnere mich nicht von wem – einige Bemerkungen, die für manche hervorstechenden Erscheinungen des Kunst- und Kulturlebens auf »mildernde Umstände« plädierten, sie aus der gegebenen Situation der Stunde erklärten. Lenin erwiderte darauf:
»Ich weiß schon! Manche sind ehrlich überzeugt, mit ›panem et circenses‹ über die Schwierigkeiten und Gefahren des Augenblicks hinwegzukommen. ›Panem‹ – jawohl! ›Circenses‹ – meinetwegen! Aber man vergesse dabei nicht, daß Zirkusspiele keine große, wahre Kunst sind, sondern mehr oder weniger schöne Unterhaltung. Man vergesse dabei nicht, daß unsere Arbeiter und Bauern kein römisches Lumpenproletariat sind. Sie werden nicht vom Staat erhalten, sie erhalten durch ihre Arbeit den Staat. Sie haben die Revolution ›gemacht‹ und ihr Werk mit beispiellosen Opfern, mit Strömen von Blut verteidigt. Unsere Arbeiter und Bauern verdienen wirklich mehr als Zirkusspiele. Sie haben ein Anrecht auf echte, große Kunst. Darum vor allem: breiteste Volksbildung und Volkserziehung. Sie schafft den Kulturboden – gesichertes Brot vorausgesetzt –, auf dem eine wirklich neue, große Kunst erwachsen wird, eine kommunistische Kunst, die ihrem Inhalt entsprechend auch die Formen gestaltet. Hier liegen ungeheure, dankbarste Aufgaben für unsere Intellektuellen vor. Sie zu verstehen und sie zu erfüllen, wäre der Zoll dafür, daß die proletarische Revolution auch ihnen weit das Tor geöffnet hat, das ins Freie führt, heraus aus dem niedrigen Zustand ihrer Lebensbedingungen, den das ›Kommunistische Manifest‹ so unübertrefflich charakterisierte.«
Wir sprachen in dieser Nacht – es war spät geworden – noch über mancherlei Fragen. Der Eindruck davon verblaßte, kaum daß die Worte verklungen, neben Lenins Äußerungen über Kunst, Kultur, Volkserziehung und Volksbildung. Wie aufrichtig und warm liebt er das Volk der Arbeit, ging es mir in der Erinnerung daran durch den Sinn, als ich mit heißem Kopf durch die kühle Nacht nach Hause fuhr. Und es gibt Leute, die diesen Mann für eine kalte Verstandesmaschine halten, für einen starren Formelfanatiker, der die Menschen nur als »historische Kategorien« kennt und mit ihnen fühllos wie mit Kügelchen rechnet und spielt. Lenins Äußerungen bewegten mich so stark, daß ich sie in ihren Grundzügen sofort aufzeichnete, ähnlich, wie ich während meines ersten Aufenthaltes auf Sowjetrußlands revolutionsheiligem Boden tagtäglich alles notierte, was mir bemerkenswert erschien.
Unauslöschlich ist meiner Erinnerung ein anderes Gespräch mit Lenin eingegraben. Ich hatte, wie viele, die zu jener Zeit aus dem Westen nach Moskau kamen, dem Wechsel der Lebensweise meinen Tribut zu zahlen und mußte das Bett hüten. Lenin besuchte mich. Fürsorglich, wie die beste Mutter, erkundigte er sich, ob ich entsprechende Pflege und Ernährung, gute ärztliche Behandlung usw. habe und was meine Wünsche seien. Ich sah hinter ihm Genossin Krupskajas liebe Gestalt. Lenin zweifelte daran, daß alles so gut und so herrlich sei, wie ich es empfand. Besonders regte er sich darüber auf, daß ich im vierten Stockwerk eines Sowjethauses wohnte, »das zwar theoretisch einen Lift hat, der jedoch praktisch nicht funktioniert. Genau wie die Liebe und der Wille der Kautskyaner zur Revolution«, meinte Lenin sarkastisch. Bald lenkte das Schifflein unseres Gespräches in das politische Fahrwasser ein.
Der Rauhfrost des Rückzugs der Roten Armee aus Polen hatte die revolutionären Blütenträume nicht reifen lassen, die wir und viele mit uns gehegt hatten, als die Sowjettruppen in einem blitzartig raschen und kühnen Vorstoß bei Warschau gestanden waren. Ich schilderte Lenin, wie es auf die revolutionäre Vorhut des deutschen Proletariats gewirkt hatte, wie auf die Scheidemänner und Dittmänner, wie auf die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum, als die Rotarmisten mit dem Sowjetstern an der Mütze, in unmöglichen alten Uniformstücken und Zivilkleidern, mit Bastschuhen oder zerrissenen Stiefeln ihre kleinen, flinken Rosse dicht an der deutschen Grenze tummelten. »Werden sie oder werden sie nicht Polen besetzt halten und über die Grenze kommen, und was dann?« Das waren die Fragen, die damals in Deutschland die Gemüter erhitzten und bei deren Beantwortung die Bierbankstrategen verblüffend großartige Schlachten schlugen. Es zeigte sich dabei, daß in allen Klassen, in allen sozialen Schichten weit mehr chauvinistischer Haß gegen das weißgardistische, imperialistische Polen vorhanden war als gegen den französischen »Erbfeind«. Allein, stärker, zwingender als der chauvinistische Haß gegen Polen und als die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Versailler Vertrags war die Furcht vor dem Ausblick auf die Revolution. Vor ihr verkroch sich der wortgewaltige Patriotismus wie der sanft säuselnde Pazifismus in die Büsche. Bourgeoisie und Kleinbürgertum mitsamt ihrer reformistischen Gefolgschaft aus dem Proletariat sahen so mit einem lachenden und einem weinenden Auge die spätere Entwicklung der Dinge in Polen.
Lenin hörte aufmerksam zu, was ich ihm dazu und über das Verhalten der Kommunistischen Partei wie der reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer im einzelnen berichtete. Er saß dann einige Minuten schweigend da, in Nachsinnen versunken. »Ja«, sagte er endlich, »es ist in Polen gekommen, wie es gekommen ist, wie es vielleicht kommen mußte. Sie kennen doch alle die Umstände, die bewirkt haben, daß unsere tollkühne, siegessichere Vorhut keinen Nachschub von Truppenmassen und Munition und nicht einmal von genug trockenem Brot erhalten konnte. Sie mußte Brot und anderes Unentbehrliche bei den polnischen Bauern und Kleinbürgern requirieren. Und diese erblickten in den Rotarmisten Feinde, nicht Brüder und Befreier. Sie fühlten, dachten und handelten keineswegs sozial, revolutionär, sondern national, imperialistisch. Die Revolution in Polen, mit der wir gerechnet hatten, blieb aus. Die Bauern und Arbeiter, von den Pilsudski- und Daszynski-Leuten beschwindelt, verteidigten ihre Klassenfeinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten verhungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot.
Unser Budjonny ist heute gewiß der glänzendste Reiterführer der Welt. Natürlich ein Bauernjunge, das wissen Sie doch? Er trug wie die Soldaten der französischen Revolutionsheere den Marschallstab im Tornister, in seinem Fall in der Satteltasche. Er besitzt kein schweres kriegswissenschaftliches Gepäck, aber einen ausgezeichneten strategischen Instinkt. Er ist mutig bis zur halsbrecherischen Tollkühnheit, bis zur vermessenen Unbesonnenheit. Er teilt die härtesten Entbehrungen und schwersten Gefahren mit seinen Reitern, und sie würden sich für ihn in Stücke hauen lassen. Er allein ersetzt uns ganze Schwadronen. Aber alle Vorzüge Budjonnys und anderer revolutionärer Heerführer konnten unsere Nachteile in militärischer und technischer Hinsicht nicht ausgleichen, noch weniger unseren politischen Rechenfehler: die Hoffnung auf die Revolution in Polen ...
Wissen Sie, daß in der Partei der Friedensschluß mit Polen zuerst auf starken Widerstand gestoßen ist? Ähnlich wie der Friedensschluß zu Brest-Litowsk. Ich wurde auf das heftigste bekämpft, weil ich für die Annahme der Friedensbedingungen war, die unzweifelhaft sehr günstig für die Polen, hart für uns sind. Fast alle unsere Sachverständigen behaupteten, daß angesichts der Situation in Polen, insbesondere angesichts der miserablen Finanzlage dort, weit vorteilhaftere Friedensbedingungen für uns zu erreichen gewesen wären, wenn wir nur noch einige Zeit im Kriege ausgehalten hätten. Sogar ein voller Sieg unsererseits wäre dann nicht ausgeschlossen gewesen. Bei Fortdauer des Krieges würden die nationalen Gegensätze und Konflikte in Ostgalizien und anderen Landesteilen die militärische Kraft des offiziellen, imperialistischen Polens erheblich schwächen. Trotz der Subventionen und Kredite aus Frankreich würden die steigenden Kriegslasten und das Finanzelend doch schließlich die Bauern und Arbeiter mobilisieren. Noch andere Umstände wurden dafür angeführt, daß wir bei Weiterführung des Krieges immer bessere Chancen bekämen.
Ich glaube selbst«, spann Lenin nach kurzer Pause den Faden seiner Gedanken weiter, »daß wir durch unsere Lage nicht gezwungen waren, um jeden Preis Frieden zu schließen. Wir konnten den Winter über durchhalten. Aber ich hielt es politisch für klüger, dem Feind entgegenzukommen, und die zeitweiligen Opfer des harten Friedens erschienen mir billiger als die Fortdauer des Krieges. Auf die Dauer gewann unser Verhältnis zu den Polen dadurch. Die pazifistischen Losungen sind natürlich Flausen, nichts weiter als Flausen. Sie vertrauen auf Wrangel. Wir aber werden den Frieden mit Polen ausnutzen, um uns mit aller Kraft auf Wrangel zu stürzen und ihn so vernichtend zu schlagen, daß wir für immer Ruhe vor ihm haben. In der gegenwärtigen Situation hat Sowjetrußland nur zu gewinnen, wenn es durch sein Verhalten beweist, daß es nur Krieg führt, um sich zu verteidigen, die Revolution zu schützen; daß es der einzige große Friedensstaat der Welt ist; daß ihm jede Absicht fernliegt, Land zu rauben, Nationen zu unterjochen, sich in imperialistische Abenteuer zu stürzen. Vor allem aber: Durften wir ohne die allerzwingendste Notwendigkeit das russische Volk den Schrecken, den Leiden eines weiteren Kriegswinters preisgeben? Unsere heldenmütigen Rotarmisten an den Fronten, unsere Arbeiter und Bauern, die soviel entbehrt und geduldet! Nach den Jahren des imperialistischen Krieges und des Bürgerkrieges ein weiterer Kriegswinter, wo Millionen hungern, frieren, stumm verzweifelnd sterben! Lebensmittel und Kleider werden jetzt schon knapp. Die Arbeiter klagen, die Bauern murren, daß man ihnen nur nimmt, nicht gibt. – Nein, der Gedanke an die Qualen eines Kriegswinters mehr war unerträglich. Wir mußten Frieden schließen.«
Während Lenin so sprach, war sein Gesicht vor meinen Augen zusammengeschrumpft. Furchen, große und kleine, ohne Zahl, gruben sich tief hinein. Und jede Furche war von einer schweren Sorge oder von einem nagenden Schmerz gezogen. Ein Ausdruck unausgesprochenen und unsäglichen Leidens lag auf Lenins Gesicht. Ich war ergriffen, erschüttert. Vor meiner Seele stand das Bild eines gekreuzigten Christus des mittelalterlichen Meisters Grünewald. Ich glaube, daß dieses Gemälde unter der Bezeichnung bekannt ist: »Der Jammermann«. Grünewalds Gekreuzigter hat keine Spur von Ähnlichkeit mit Guido Renis berühmtem süßen, verzeihenden Dulder, für den als »Seelenbräutigam« so viele ältere Mädchen und unglücklich verheiratete Frauen schwärmen. Grünewalds Gekreuzigter ist der grausam zu Tode Gemarterte und Gequälte, der »der Welt Sünden trägt«. Als solchen »Jammermann« sah ich Lenin vor mir, belastet, durchbohrt von dem Gedanken an die Leiden und Opfer, die das russische Volk der Arbeit im Kampfe für seine Freiheit trug, tragen mußte, damit es über seine tückischen, skrupellosen Feinde triumphiere. Er ging bald darauf fort. Unter anderem hatte er mir noch mitgeteilt, daß zehntausend Lederanzüge, fest schließend, in Auftrag gegeben seien für die Rotarmisten, die vom Meere aus den Perekop Befestigte Landenge, welche die Krim mit der Ukraine verbindet. Die Red. nehmen sollten. Noch ehe diese Anzüge fertig waren, konnten wir über die Nachricht jubeln, daß die todesmutigen Schützer Sowjetrußlands unter Genossen Frunses ebenso genialer wie kühner Führung stürmender Hand die Landenge erobert und damit Wrangels Schreckensherrschaft auf der Krim ein Ende bereitet hatten. Eine beispiellose militärische Leistung von Führern und Geführten. Eine Sorge, ein Schmerz war von Lenin genommen; eine Sorge, ein Leid war bei Lenin weniger! Auch an der Südfront gab es keinen Kriegswinter.
Der III. Weltkongreß unserer Internationale und die 2. Internationale Konferenz der Kommunistinnen führten mich 1921 ein zweites Mal zu längerem Aufenthalt nach Moskau. In schwüler Zeit; weniger, weil die Tagungen in die zweite Junihälfte und die erste Julihälfte fielen, wo die Sonne ihre glühendsten Strahlen über die goldenen und farbenprächtigen Kuppeln der Stadt herabschießt, als wegen der Atmosphäre in den Parteien der Kommunistischen Internationale. Namentlich in der Kommunistischen Partei Deutschlands war sie elektrisch geladen, Stürme, Blitz und Donner gehörten zu den Erscheinungen jedes Tages. Pessimisten unter uns, die nur begeistert werden, wenn sie glauben, Unheil wittern zu können, prophezeiten das Auseinanderfallen, das Ende der Partei. Die in der III. Internationale organisierten Kommunisten wären schlechte »Internationale« gewesen, wenn die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um Theorie und Praxis in der deutschen Partei nicht auch in den anderen Ländern die Gemüter der Genossen erhitzt hätten. »Die deutsche Frage« war in Wirklichkeit eine internationale Frage und in jenen Tagen die Frage der Kommunistischen Internationale selbst.
Die »Märzaktion« Märzaktion – gemeint sind die Kämpfe der mitteldeutschen Arbeiter im März 1921 gegen die schwerbewaffneten Polizeitruppen und die Reichswehr, durch die die deutsche Bourgeoisie Mitteldeutschland besetzen ließ. Mit dieser Provokation sollte die kommunistische Bewegung niedergeschlagen und der Widerstand der deutschen Arbeiterklasse gegen die weitere Senkung ihres Lebensniveaus gebrochen werden. Die Mehrheit der Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD) versuchte, die Märzkämpfe nachträglich mit der »Offensivtheorie« zu rechtfertigen. Diese ihrem Wesen nach linksopportunistische, sektiererische Theorie besagte, daß die Partei, um Niederlagen zu vermeiden, von der Verteidigung zur Offensive übergehen müsse. Die »Offensivtheorie« ging davon aus, daß die VKPD als Vorhut der revolutionären Arbeiter auch ohne Unterstützung und Sympathie der Massen der Arbeiter, der werktätigen Bauern und der städtischen Mittelschichten den Sieg erringen könne. Lenin und der III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale halfen der KPD bei der Überwindung dieser Fehler durch die Orientierung auf die Hauptaufgabe der Partei: die Gewinnung der Mehrheit der Arbeiterklasse. und die sogenannte »Offensivtheorie«, die ihr zugrunde lag und sich von ihrem Ausgangspunkt nicht trennen ließ, wenngleich sie erst nachträglich zu ihrer Rechtfertigung mit Schärfe und Klarheit formuliert ward, zwangen die gesamte Kommunistische Internationale, die weltwirtschaftliche und weltpolitische Situation gründlich zu durchleuchten. Sie mußte damit einen sicheren Boden für ihre grundsätzliche und taktische Einstellung gewinnen, das heißt für ihre nächsten Aufgaben, für die revolutionäre Mobilisierung und Aktivierung des Proletariats, der schaffenden Massen.
Bekanntlich zählte ich zu den schärfsten Kritikern der »Märzaktion«, soweit sie nicht Kampf von Proletariern gewesen war, sondern falsch aufgefaßte, schlecht vorbereitete, organisierte, geleitete und durchgeführte Parteiaktion. Die mit Ach und Krach produzierte »Offensivtheorie« bekämpfte ich auf das entschiedenste. Dazu hatte ich noch ein persönliches »Schuldkonto«. Das Um und Auf bei der Stellungnahme der deutschen Parteileitung zum Kongreß der italienischen Sozialdemokratie von Livorno und zu der Taktik der Exekutive hatte mich veranlaßt, von heut auf morgen demonstrativ aus der Zentrale auszutreten. Der Livornoer Kongreß (XVII. Parteitag der Sozialistischen Partei Italiens) tagte im Januar 1921. Die Kommunisten kämpften auf dem Kongreß gegen Reformisten und Maximalisten um die Annahme der Aufnahmebedingungen für den Eintritt der Partei in die Kommunistische Internationale. In den Aufnahmebedingungen wurde unter anderem verlangt, daß sich die Partei von den Reformisten trenne. Nachdem sich jedoch Reformisten und Maximalisten zu einem Block zusammengeschlossen hatten, verließen die Kommunisten den Kongreß und gründeten die Kommunistische Partei Italiens. Einige Mitglieder der Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands – Levi, Däumig, Breß, Hoffmann und Clara Zetkin – traten gegen diese Spaltung und damit gegen die Linie der Kommunistischen Internationale auf. Sie legten ihre Funktionen nieder, als sie in der Abstimmung über diese Frage auf der Zentralausschußsitzung vom 22. bis 24. Februar 1921 eine Niederlage erlitten hatten. 30 Schwer, sehr schwer trug ich an dem Bewußtsein, durch diesen »Disziplinbruch« in schroffen Gegensatz zu denen geraten zu sein, die mir politisch und persönlich am nächsten standen, zu den russischen Freunden.
In der Exekutive und in der russischen Partei wie in vielen anderen Sektionen der Kommunistischen Internationale hatte die »Märzaktion« nicht wenige fanatische Verteidiger, die sie als einen revolutionären Massenkampf feierten, von Hunderttausenden tatentschlossener Proletarier getragen. Die »Offensivtheorie« ward gleich einem neuen Evangelium der Revolution gepriesen. Ich wußte, daß mich heißeste Kämpfe erwarteten, und ich war fest entschlossen, sie um die große grundsätzliche Linie der kommunistischen Politik aufzunehmen und durchzufechten, mochten sie Sieg oder Niederlage bringen.
Wie urteilt Lenin über all die aufgerollten Probleme? Er, der wie keiner die marxistischen revolutionären Grundsätze zur Tat zu formen vermag, Menschen und Dinge in ihrem historischen Verbundensein erfaßt und Kräfteverhältnisse abzumessen versteht? Gehört er zu der »Linken« oder zu der »Rechten«? – jedem, der nicht bedingungslos die »Märzaktion« und die »Offensivtheorie« bejubelte, wurde natürlich die Etikette als »Rechter«, als »Opportunist«, aufgeklebt. Auf die unzweideutige Beantwortung dieser Fragen wartete ich in zitternder Ungeduld. Sie würde entscheidend sein für die Zielsetzung, die Aktionskraft, ja die Existenz der Kommunistischen Internationale. Seit meinem Austritt aus der Zentrale der deutschen Partei waren die Fäden meiner Korrespondenz mit den russischen Freunden zerrissen. So hatte ich über Lenins Auffassung von »Märzaktion« und »Offensivtheorie« nur Gerüchte und Vermutungen gehört, bald bezweifelt und bald beschworen. Eine längere Unterredung mit ihm gab mir darüber einige Tage nach meiner Ankunft unmißverständlich Bescheid.
Lenin forderte vor allem einen Bericht über die Situation in Deutschland im allgemeinen und innerhalb der Partei. Ich bemühte mich, ihn mit möglichster Klarheit und Objektivität zu geben, führte Tatsachen und Zahlen an. Lenin warf ab und zu Fragen dazwischen, die den Punkt auf das I setzten, und machte kurze Notizen. Ich verhehlte meine Besorgnisse über die Gefahren nicht, die meiner Auffassung nach der deutschen Partei und der Kommunistischen Internationale drohten, wenn sich der Weltkongreß auf den Boden der »Offensivtheorie« stellen würde. Lenin lachte sein gutes, selbstsicheres Lachen.
»Seit wann sind Sie denn unter die Schwarzseher gegangen?« fragte er. »Seien Sie ruhig, auf dem Kongreß werden die Bäume der ›Offensivtheoretiker‹ nicht in den Himmel wachsen. Wir sind auch noch da. Meint ihr, wir hätten die Revolution ›gemacht‹, ohne daraus zu lernen? Und wir wollen, daß auch ihr daraus lernt. Ist das überhaupt eine Theorie? Bewahre, das ist eine Illusion, ist Romantik, ja, nichts als Romantik. Deshalb wurde sie im ›Lande der Dichter und Denker‹ fabriziert, mit Hilfe meines lieben Bela Gemeint ist Bela Khun, Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. Die Red., der auch einer dichterisch begabten Nation angehört und sich verpflichtet fühlt, stets linker als links zu sein. Wir dürfen nicht dichten und träumen. Wir müssen die weltwirtschaftliche und weltpolitische Situation nüchtern sehen, ganz nüchtern, wenn wir den Kampf gegen die Bourgeoisie aufnehmen und siegen wollen. Und wir wollen siegen, wir müssen siegen. Die Entscheidung des Kongresses über die Taktik der Kommunistischen Internationale und alle damit verbundenen Streitfragen müssen im Zusammenhang stehen und betrachtet werden mit unseren Thesen zur internationalen Wirtschaftslage. Das alles muß ein Ganzes bilden. Einstweilen hören wir noch mehr auf Marx als auf Thalheimer und Bela. Von der russischen Revolution kann man immerhin noch mehr lernen als von der deutschen ›Märzaktion‹. Wie gesagt, mir ist um die Stellungnahme des Kongresses nicht bange.«
»Der Kongreß hat auch sein Urteil zu sprechen über die ›Märzaktion‹, die doch die Frucht, die Praxis der ›Offensivtheorie‹ ist, ihr geschichtliches Schulbeispiel«, so unterbrach ich Lenin. »Kann man Theorie und Praxis voneinander trennen? Ich sehe aber, daß hier viele Genossen zwar die ›Offensivtheorie‹ verwerfen, jedoch die ›Märzaktion‹ leidenschaftlich verteidigen. Ich finde das unlogisch. Gewiß werden wir uns alle in aufrichtiger Sympathie vor den Proletariern neigen, die gekämpft haben, weil sie sich von Hörsings Schergenpraktiken provoziert fühlten und ihr gutes Recht wahren wollten. Wir alle werden uns solidarisch mit ihnen erklären, ganz gleich, ob es Hunderttausende waren, wie Märchenerzähler glauben machen wollen, oder nur einige Tausende. Aber ein anderes war und ist die grundsätzliche und taktische Einstellung unserer Zentrale, zur ›Märzaktion‹. Sie war und bleibt ein putschistischer Sündenfall, und den Mohren dieses Tatbestandes wird keine theoretische, politische oder literarische Seife weißwaschen.«
»Natürlich müßte die Abwehraktion kampfbereiter Proletarier und der Offensivvorstoß der nicht gut beratenen Partei – oder besser gesagt ihrer Leitung – verschieden beurteilt werden.« Lenin sagte das rasch und entschieden. »Allein, ihr ›Antis der Märzaktion‹ seid selbst mit schuld daran, daß das nicht geschehen ist. Ihr habt nur die verkehrte Politik der Zentrale und ihre schlimme Auswirkung gesehen und nicht die kämpfenden Proletarier in Mitteldeutschland. Außerdem hat Paul Levis ganz negative Kritik, die das Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Partei vermissen ließ und die Genossen vielleicht mehr durch ihren Ton als durch ihren Inhalt erbitterte, die Aufmerksamkeit von wichtigsten Teilen des Problems abgelenkt. Was die wahrscheinliche Stellungnahme des Kongresses zur ›Märzaktion‹ anbelangt, so müssen Sie bedenken, daß wir unbedingt einen Boden für ein Kompromiß haben müssen. Ja, schauen Sie mich nur verwundert und vorwurfsvoll an, Sie und Ihre Freunde müssen ein Kompromiß schlucken. Ihr müßt euch daran genügen lassen, daß ihr den Löwenanteil der Kongreßausbeute heimbringt. Eure grundsätzliche politische Linie wird siegen, glänzend siegen. Das wird auch eine Wiederholung der ›Märzaktion‹ verhindern. Die Beschlüsse des Kongresses müssen auf das strengste durchgeführt werden. Dafür wird die Exekutive sorgen. Daran zweifle ich nicht.
Der Kongreß wird der famosen ›Offensivtheorie‹ den Hals umdrehen, er wird die Taktik beschließen, die eurer Auffassung entspricht. Dafür muß er aber auch den Anhängern der ›Offensivtheorie‹ einige Brosamen Trost spenden. Wenn wir bei der Beurteilung der ›Märzaktion‹ in den Vordergrund schieben, daß von den Lakaien der Bourgeoisie provozierte Proletarier gekämpft haben, und wenn wir im übrigen etwas väterliche ›historische‹ Milde walten lassen, so ist das möglich. Sie, Clara, werden sich ja dagegen als gegen eine Vertuschung und anderes wehren. Das hilft Ihnen nichts. Wenn sich die vom Kongreß zu beschließende Taktik möglichst schnell und ohne starke Reibungen durchsetzen, Gesetz für die Tätigkeit der kommunistischen Parteien werden soll, so dürfen unsere lieben ›Linkser‹ nicht gar zu gedemütigt und erbittert nach Hause zurückkehren. Wir müssen auch – und zwar zuerst und am meisten – an die Stimmung der wirklich revolutionären Arbeiter in der Partei und außerhalb ihr denken. Sie haben mir einmal geschrieben, wir Russen sollten ein wenig die westliche Psychologie verstehen lernen und den Leuten nicht sofort mit dem harten, struppigen Reisigbesen ins Gesicht fahren. Das habe ich mir gemerkt.« Lenin lächelte vergnügt vor sich hin. »Nun wohl, wir wollen den ›Linksern‹ nicht gleich mit dem Reisigbesen ins Gesicht fahren, wollen ihnen sogar etwas Balsam auf ihre Wunden streichen. Sie sollen bald freudig und mit Energie zusammen mit euch darangehen, die Taktik des III. Kongresses unserer Internationale durchzuführen. Denn das bedeutet: breite Massen des Proletariats auf der Linie eurer Politik sammeln, mobilisieren und unter kommunistischer Führung in den Kampf gegen die Bourgeoisie und für die Eroberung der Macht werfen.
Übrigens sind die Grundlinien der zu befolgenden Taktik klar in der Resolution enthalten, die Sie dem Zentralausschuß der deutschen Partei vorgelegt hatten. Die Resolution war durchaus nicht negativ wie Paul Levis Broschüre, sie war bei aller Kritik sehr positiv. Wie war es nur möglich, daß sie abgelehnt wurde und obendrein nach welcher Diskussion und mit welchen Gründen! Anstatt den Unterschied zwischen dem positiven Charakter Ihrer Resolution und dem negativen der Broschüre Levis auszunutzen, um Sie von Levi zu trennen, prügelte man Sie geradezu auf seine Seite.« »Meinen Sie vielleicht, lieber Genosse Lenin«, unterbrach ich ihn, »daß Sie auch mir einige Brosamen Trost reichen müssen, weil ich das Kompromiß schlucken soll? Bei mir geht es auch ohne Trost und Balsam.« »Nein«, wehrte Lenin ab, »so ist es nicht gemeint. Zum Beweis dafür werde ich Ihnen sofort eine gehörige Tracht Prügel verabfolgen. Sagen Sie mir, wie konnten Sie eine solche Kapitaldummheit begehen, jawohl, eine Kapitaldummheit, und aus der Zentrale davonlaufen? Wo hatten Sie nur Ihren Verstand? Ich war empört darüber, heftig empört. So kopflos zu handeln, ohne Rücksicht auf die Wirkung des Schrittes und ohne uns mit einem Wort zu benachrichtigen und unsere Meinung einzuholen! Warum haben Sie nicht Sinowjew geschrieben, warum nicht mir? Sie konnten wenigstens ein Telegramm schicken.« Ich legte Lenin die Gründe dar, die meinen Entschluß bestimmt hatten, der aus der damals vorliegenden Situation plötzlich entsprungen war. Er ließ meine Gründe nicht gelten.
»Ach was!« rief er lebhaft aus, »Sie hatten Ihr Mandat in der Zentrale nicht von den Genossen dort, sondern von der Partei als Ganzes. Sie durften das Ihnen geschenkte Vertrauen nicht wegwerfen.« Da Lenin mich unbußfertig fand, fuhr er mit der scharfen Kritik an meinem Ausscheiden aus der Zentrale fort und setzte dann unvermittelt hinzu: »Soll man es als eine verdiente Strafe betrachten, daß gestern auf der Frauenkonferenz ein regelrechter organisierter Überfall gegen Sie gemacht wurde als auf die Verkörperung des schlimmsten Opportunismus? Unter persönlicher Leitung des guten Reuter (Friesland) Reuter (Friesland) – Ernst Reuter (1889-1953), trat 1912 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein. Im ersten Weltkrieg kam er in russische Gefangenschaft und schloß sich nach der Oktoberrevolution der kommunistischen Bewegung an. 1918 wurde er Mitglied des Spartakusbundes. Während der Märzkämpfe in Mitteldeutschland und auf dem III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1921 nahm er zusammen mit Maslow, Ruth Fischer und anderen als Vertreter der »Offensivtheorie« eine ultralinke Position ein. Anfang des Jahres 1922 wurde er als rechter Opportunist und wegen Fraktionsmacherei aus der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen. Danach schloß er sich wieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an. Nach 1945 war er Regierender Bürgermeister von Westberlin. 36, der sich dadurch meines Wissens zum erstenmal an der kommunistischen Arbeit unter den Frauen beteiligt hat. Das war einfach dumm, ganz dumm. Sich einzubilden, die ›Offensivtheorie‹ könne gerettet werden, wenn man auf der Frauenkonferenz Sie hinterhältig überfällt! Es war freilich auch noch andere Spekulation und Hoffnung dabei im Spiele ... Ich hoffe, Sie nehmen diese Episode politisch von der heiteren Seite, wenn sie auch menschlich einen sehr unangenehmen Beigeschmack hat. Nur immer nach den Arbeitern, nach den Massen sehen, liebe Clara, nur immer an sie denken und an unser Ziel, das wir erreichen werden, und solche Kleinigkeiten versinken in Nichts. Wem von uns blieben sie erspart? Ich habe mein Teil davon hinunterwürgen müssen, das können Sie glauben. Meinen Sie vielleicht, daß die von Ihnen so bewunderte bolschewistische Partei mit einem Schlage fix und fertig gewesen ist? Auch Freunde haben manchmal das Gegenteil von Klugheiten gemacht. Doch zurück zu Ihrer Sünde! Sie müssen mir in die Hand versprechen, daß Sie nie mehr solch unüberlegten Streich machen, sonst ist es mit unserer Freundschaft aus.«
Unser Gespräch wandte sich nach diesem Zwischenspiel wieder der Hauptfrage zu. Lenin entwickelte in den Grundzügen seine Auffassung über die Taktik der Kommunistischen Internationale, wie er sie später auf dem Kongreß Siehe W. I. Lenin, Werke, 4. Ausgabe, Bd. 32, S. 444-458, russ. Die Red. in seiner großzügigen, lichtvollen Rede dargelegt hat und polemisch noch schärfer zugespitzt in den vorausgegangenen Kommissionsberatungen vertrat. »Die erste Welle der Weltrevolution ist abgeflutet. Die zweite hat sich noch nicht erhoben«, erklärte er. »Es wäre gefährlich, wenn wir uns darüber Illusionen machen würden. Wir sind nicht Xerxes, der das Meer mit Ketten peitschen ließ. Aber heißt Tatsachen feststellen und beachten etwa untätig sein, das heißt verzichten? Keinesfalls! Lernen, lernen, lernen! Handeln, handeln, handeln! Vorbereitet sein, gut und ganz vorbereitet sein, um bewußt mit voller Kraft die nächste heranrollende revolutionäre Welle ausnutzen zu können. Das ist's. Unermüdlich Parteiagitation und Parteipropaganda, gipfelnd in Parteiaktion, aber Parteiaktion, frei von dem Wahn, sie könne Massenaktion ersetzen. Wie haben wir Bolschewiki unter den Massen gearbeitet, bis wir uns sagen durften: ›Es ist soweit! Los!‹ Darum: Heran an die Massen! Eroberung der Massen als Vorbedingung für die Eroberung der Macht. Mit dieser Stellungnahme des Kongresses könnt ihr ›Antis‹ wahrhaftig zufrieden sein.«
»Und Paul Levi! Wie stehen Sie zu ihm, wie Ihre Freunde, wie wird der Kongreß sich zu ihm stellen?« Schon längst brannte mir diese Frage auf der Zunge. »Paul Levi, das ist leider ein Fall für sich geworden«, antwortete Lenin. »Die Schuld daran liegt in der Hauptsache an Paul selbst. Er hat sich von uns entfernt und eigensinnig in eine Sackgasse verrannt. Davon müssen Sie sich doch bei Ihrer so intensiven Agitation in den Delegationen überzeugt haben. Bei mir haben Sie solche Agitation nicht nötig. Sie wissen, wie hoch ich Paul Levi und seine Fähigkeiten schätze. Ich habe ihn in der Schweiz kennengelernt und Hoffnungen auf ihn gesetzt. Er hat sich in der Zeit schlimmster Verfolgungen bewährt, war tapfer, klug, aufopfernd. Ich glaubte, daß er fest mit dem Proletariat verbunden sei, obgleich ich in seinem Verhältnis zu den Arbeitern eine gewisse Kühle empfand. So etwas wie ›Distanz-halten-wollen‹. Seit dem Erscheinen seiner Broschüre sind mir Zweifel an ihm gekommen. Ich fürchte, es steckt in ihm eine starke Neigung zu Eigenbrötelei und Eingängertum und auch ein Stück Literateneitelkeit. Eine rücksichtslose Kritik der ›Märzaktion‹ war notwendig. Was aber hat Paul Levi gegeben? Es ist grausame Zerfleischung der Partei. Er kritisierte nicht nur höchst einseitig, übertrieben, ja gehässig; er gibt nichts, woran sich die Partei orientieren könnte. Er läßt Solidaritätsgeist mit der Partei vermissen. Und das ist es, was die Genossen in Reih und Glied so empört und taub und blind gemacht hat für das viele Richtige in der Kritik Levis. So entstand eine Stimmung – sie übertrug sich auch auf die nichtdeutschen Genossen –,in der der Streit um die Broschüre und namentlich um die Person Levis ausschließlicher Gegenstand der Auseinandersetzung ward, statt der falschen Theorie und der schlechten Praxis der ›Offensivtheoretiker‹ und ›Linkser‹. Die haben es Paul Levi zu verdanken, daß sie bis jetzt so gut davongekommen sind, viel zu gut. Paul Levi ist sein eigener schlimmster Feind.«
Die letzten Sätze mußte ich gelten lassen, dagegen opponierte ich energisch gegen andere Äußerungen Lenins. »Paul Levi ist kein eitler, selbstgefälliger Literat«, sagte ich. »Er ist kein ehrgeiziger politischer Streber. Es war sein Verhängnis und ist nicht sein Wunsch, daß er jung, ohne große politische Erfahrung und tiefere theoretische Schulung die Führung der Partei erhielt. Nach Rosas, Karls und Leos Ermordung mußte er sie übernehmen, er hat sich oft genug dagegen gesträubt. Das ist Tatsache. Wenn es auch unseren Genossen nicht recht warm im Verkehr mit ihm wird und er ein Einsamer ist, so bin ich doch überzeugt, daß er mit allen Fasern seines Wesens mit der Partei, mit den Arbeitern lebt. Die unglückselige ›Märzaktion‹ hat ihn aufs tiefste erschüttert. Er glaubte fest, sie habe leichtfertig die Existenz der Partei aufs Spiel gesetzt und vertan, wofür Karl, Rosa, Leo und so viele ihr Leben gegeben. Er hat geweint, buchstäblich geweint vor Schmerz bei dem Gedanken, daß die Partei verloren sei. Ihre Rettung hielt er nur bei Anwendung der stärksten Mittel für möglich. Er schrieb seine Broschüre in der Stimmung des sagenhaften Römers, der sich freiwillig in den sich öffnenden Abgrund stürzte, um durch das Opfer seines Lebens das Vaterland zu retten. Paul Levis Absichten waren die reinsten, die selbstlosesten.«
»Darüber will ich mit Ihnen nicht streiten«, erwiderte Lenin. »Sie sind ein besserer Anwalt für Levi als er selbst. Allein, Sie wissen ja, in der Politik kommt es nicht auf die Absicht an, sondern auf die Wirkung. Habt ihr Deutschen nicht ein Sprichwort, das so ähnlich lautet: ›Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert‹? Der Kongreß wird Paul Levi verurteilen, wird hart gegen ihn sein. Das ist unvermeidlich. Jedoch Pauls Verurteilung wird nur wegen Disziplinbruchs erfolgen, nicht wegen seines grundsätzlichen politischen Standpunktes. Wie wäre das auch möglich in dem Augenblick, wo dieser Standpunkt in Wirklichkeit als richtig anerkannt wird. Damit steht Paul Levi der Weg weit offen, um sich zurück zu uns zu finden. Möchte er selbst sich diesen Weg nicht verrammeln. Sein politisches Geschick liegt in seiner Hand. Er muß sich der Entscheidung des Kongresses als disziplinierter Kommunist fügen und für einige Zeit aus dem politischen Leben verschwinden. Das wird ihm sehr sauer ankommen, gewiß. Ich fühle mit ihm, und er tut mir aufrichtig leid. Das können Sie glauben. Ersparen kann ich ihm diese harte Prüfungszeit nicht.
Paul muß sie auf sich nehmen, wie wir Russen unter dem Zarismus in die Verbannung oder ins Gefängnis gingen. Es kann eine Periode eifrigsten Studiums und ruhiger Selbstverständigung für ihn sein. Er ist noch jung an Jahren und jung in der Partei. Sein theoretisches Wissen ist voller Lücken, in der Nationalökonomie ist er geradezu noch ein ABC-Schüler des Marxismus. Er wird mit tieferer Schulung, grundsätzlich gefestigt und als besserer, klügerer Parteiführer zu uns zurückkehren. Wir sollten Levi nicht verlieren. Seinetwegen und der Sache wegen. Wir sind nicht überreich mit Talenten gesegnet, wir müssen möglichst halten, was wir haben. Und wenn Ihre Meinung über Paul richtig ist, so würde seine endgültige Trennung von der revolutionären Vorhut des Proletariats ihm selbst eine unheilbare Wunde schlagen. Reden Sie ihm freundschaftlich zu, helfen Sie ihm die Dinge sehen, wie sie sind, vom allgemeinen Standpunkt aus und nicht von seinem persönlichen der ›Rechthaberei‹. Ich werde Sie dabei unterstützen. Wenn Levi sich der Disziplin unterwirft, sich gut hält – er kann zum Beispiel anonym an der Parteipresse mitarbeiten, einige gute Broschüren verfassen usw. –, so werde ich schon nach drei oder vier Monaten in einem offenen Brief seine Rehabilitierung fordern. Er hat seine Feuerprobe vor sich. Hoffen wir, daß er sie besteht.«
Ich seufzte. Die Empfindung kroch mir kalt über die Seele, daß ich einem Unabwendbaren gegenüberstand, dessen Auswirkungen sich nicht vorausbestimmen ließen. »Lieber Lenin«, sagte ich, »tun Sie, was Sie können! Euch Russen sitzt das Handgelenk lose, um zu schlagen. Eure Arme öffnen sich rasch, um ans Herz zu drücken. Ich weiß aus eurer Parteigeschichte, daß bei euch Fluch und Segen kommt und geht wie euer flüchtiger Steppenwind. Wir ›Westler‹ sind schwerblütig. Auf uns lastet jener geschichtliche Alp, von dem Marx gesprochen. Ich bitte Sie nochmals inständig: Tun Sie, was Sie können, daß Paul Levi uns nicht verlorengeht.« Lenin antwortete: »Seien Sie unbesorgt! Ich werde mein Ihnen gegebenes Versprechen halten. Wenn nur Paul sich selbst hält.« – Lenin griff nach seiner Mütze, der einfachen, schon etwas abgetragenen Schirmmütze, und ging mit ruhigen, energischen Schritten davon.
Die »Oppositionellen« in der deutschen Delegation – die Genossen Malzahn, Neumann, Franken und Müller – hatten begreiflicherweise den heißen Wunsch, mit Lenin zusammenzukommen, um auf Grund ihrer Erfahrungen über den Charakter und die Folgen der »Märzaktion« zu berichten. Genosse Franken für einen Teil des Rheinlands, die anderen drei als Gewerkschafter. Sie legten mit Recht großes Gewicht darauf, dem unbestritten ersten Führer der Kommunistischen Internationale die Stimmung umfangreicher Kreise klassenbewußter, gut revolutionär gesinnter Proletarier zu schildern und ihre eigene Meinung zu äußern über die »Offensivtheorie« und die ihnen nötig dünkende Taktik. Es lag ihnen natürlich auch viel daran, persönlich Lenins Ansicht über die Fragen zu hören, die sie bewegten. Lenin hielt es für selbstverständlich, den Wunsch der Genossen zu erfüllen. Es wurde Tag und Stunde verabredet, da er mit ihnen bei mir zusammentreffen wollte. Die Genossen kamen etliche Zeit vor ihm, weil wir uns über unser Eingreifen in die Debatten des Kongresses verständigen mußten.
Lenin war große Pünktlichkeit eigen. Fast zur verabredeten Minute trat er ins Zimmer, einfach, wie es seine Art war, von den eifrig diskutierenden Genossen kaum bemerkt. »Guten Tag, Genossen!« Er schüttelte allen die Hand und setzte sich unter sie, um sich sofort an dem Gespräch zu beteiligen. Mir war das alles vertraut, und ich hielt es für die selbstverständlichste Sache der Welt, daß jeder Genosse Lenin kennen müsse. So kam es mir nicht in den Sinn, ihn den Genossen vorzustellen. Nach vielleicht zehn Minuten des allgemeinen Gesprächs zog mich einer von ihnen beiseite und fragte leise: »Sagen Sie, Genossin Clara, wer ist eigentlich der Genosse?« »Ja, haben Sie ihn nicht erkannt?« gab ich zurück, »das ist ja Genosse Lenin.« »Nein, so was!« meinte unser Freund, »ich dachte schon, als ›großer Herr‹ werde er uns aufsitzen lassen. Der einfachste Genosse kann nicht einfacher und herzlicher sein! Da muß man gesehen haben, wie unser Exgenosse Hermann Müller seine Rockschöße im Reichstag feierlich spazieren trägt, seit er mal Reichskanzler gewesen ist.«
Mir schien, daß die »oppositionellen« Genossen und Lenin im gegenseitigen Examen voreinander bestanden. Lenin kam es offenbar mehr darauf an, zu hören, zu vergleichen, festzustellen, sich zu orientieren, als selbst »Leitartikel zu reden«, wenngleich er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berge hielt. Er war unermüdlich im Fragen und verfolgte mit gespanntem Interesse die Ausführungen der Genossen, oft Erläuterungen oder Ergänzungen anregend. Er betonte stark die Bedeutung planmäßiger, organisierter Arbeit unter den großen Massen der Arbeiterschaft und die Notwendigkeit der Zentralisation und straffen Disziplin. Lenin erklärte mir später, die Zusammenkunft habe ihn sehr erfreut. »Prächtige Kerle, diese deutschen Proletarier vom Schlage Malzahn und seiner Freunde. Ich gebe zu, daß sie vielleicht nie auf einem radikalen Wortjahrmarkt als Feuerfresser auftreten werden. Ich weiß nicht, ob sie als Stoßtrupp taugen. Aber dessen bin ich ganz sicher, daß Leute wie sie die breiten, festgegliederten Heeressäulen des revolutionären Proletariats bilden, daß sie die tragende, durchhaltende Kraft in den Betrieben und den Gewerkschaften sind. Solche Elemente müssen wir sammeln und aktiv machen. Sie verbinden uns mit den Massen.«
Eine unpolitische Parenthese. Wenn Lenin zu mir kam, so war das ein hoher Festtag für alle im Hause: von den Rotarmisten, die am Eingang Wache standen, bis zu dem jungen Küchenmädchen – von den Delegierten aus dem nahen und fernen Orient nicht zu reden, die wie ich in der sehr geräumigen Villa untergebracht waren, welche die Revolution aus dem Eigentum eines reichen Fabrikanten in das der Kommune Moskau verwandelt hatte. »Wladimir Iljitsch ist gekommen.« Die Kunde flog von Person zu Person. Alle standen auf der Lauer, strömten in der großen Diele zusammen oder am Haustor, um Lenin zu grüßen und ihm zuzuwinken. Innigste Freude verklärte die Gesichter, wenn er an den Wartenden vorüberschritt, mit seinem gütigen Lächeln grüßte, dem und jenem ein paar Worte zurief. Nicht ein Hauch von Demut, geschweige denn von Knechtseligkeit war auf der einen Seite, nicht ein Anflug von Herablassung oder Effekthascherei auf der anderen. Die Rotarmisten, Arbeiter und Angestellten, die Kongreßdelegierten aus Dagestan, Persien mitsamt den durch Paul Levi so berühmt gewordenen »Turkestanern« in ihren märchenhaften Kostümen: sie alle liebten Lenin als einen der ihrigen, und er selbst empfand sich als einer von ihnen. Im Gefühl herzlichster Brüderlichkeit waren sie alle eines Stammes.
Die »Offensivtheoretiker« hatten in den Debatten über Trotzkis Referat »Die wirtschaftliche Lage und die neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale« in den Kommissionsberatungen wie im Plenum keine Erfolge errungen. Durch Abänderungs- und Zusatzanträge zu den Thesen über »Die Taktik der Kommunistischen Internationale« hofften sie ihrer Auffassung dennoch den Sieg zu erstreiten. Die Anträge wurden von der deutschen, österreichischen und italienischen Delegation eingebracht. Genosse Terracini verteidigte sie, eine leidenschaftliche Agitation wurde für ihre Annahme getrieben. Wie würde die Entscheidung fallen? Eine Atmosphäre höchster Spannung erfüllt den hohen, weiten Kremlsaal, wo das leuchtende Rot des kommunistischen Volkshauses dem funkelnden Gold des ehemaligen Fürstenpalastes Kälte und Prunkhaftigkeit nimmt. Jeden Nerv in Aufmerksamkeit gestrafft, folgen die Hunderte von Delegierten, die dicht zusammengedrängten Zuhörer den Verhandlungen.
Lenin ergreift das Wort. Die Ausführungen sind ein Meisterstück seiner Beredsamkeit. Ohne jeden rhetorischen Schmuck! Nur die Wucht des klaren Gedankens wirkt, die unerbittliche Logik der Argumentation, die konsequent festgehaltene Linie. Wie unbehauene Blöcke werden die Sätze hingeworfen und fügen sich zum einheitlichen Ganzen. Lenin will nicht blenden, nicht hinreißen, er will überzeugen. Er überzeugt und reißt hin. Nicht durch das tönende, schöne Wort, das berauscht, vielmehr durch den lichtvollen Geist, der ohne Selbsttäuschung die Welt der sozialen Erscheinungen in ihrer Wirklichkeit erfaßt und der mit grausamer Wahrhaftigkeit »ausspricht, was ist«. Jetzt wie schneidende Peitschenhiebe, nun wie zerschmetternde Keulenschläge sausen Lenins Darlegungen auf jene nieder, »die aus der Jagd auf die Rechten einen Sport machen« und nicht verstehen, was uns zum Siege führt. »Nur wenn wir im Kampfe selbst die Mehrheit der Arbeiterschaft und nicht die Mehrheit der Arbeiter allein, sondern die Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten auf unsere Seite bekommen, nur dann werden wir wirklich siegen.« Jeder empfindet: Die entscheidende Schlacht ist geschlagen. Als ich Lenin in heller Begeisterung die Hand schüttelte, konnte ich mich nicht enthalten, ihm zu sagen: »Wissen Sie, Lenin, bei uns würde ein Versammlungsleiter in Posemuckel sich scheuen, so einfach, so schlicht zu sprechen wie Sie. Er würde fürchten, ›nicht gebildet‹ genug zu sein. Ich kenne nur ein Seitenstück zu Ihrer Art der Rede. Es ist Tolstois große Kunst. Sie haben wie er die große, einheitliche, geschlossene Linie, den unerbittlichen Wahrheitssinn. Das ist Schönheit. Ist das vielleicht ein spezifisch slawischer Wesenszug?« »Das weiß ich nicht«, sagte Lenin. »Ich weiß nur, daß ich, als ich ›unter die Redner‹ ging, stets an Arbeiter und Bauern als meine Zuhörerschaft dachte. Ich wollte von ihnen verstanden werden. Wo immer ein Kommunist spricht, muß er an die Massen denken, muß er für sie sprechen. Es ist übrigens gut, daß niemand Ihre völkerpsychologischen Hypothesen gehört hat. Es könnte sonst heißen: Schau, schau, der Alte läßt sich durch Komplimente einwickeln. Wir müssen vorsichtig sein, damit nicht der Verdacht aufkommt, die beiden Alten verschwören sich gegen Links. Links wird natürlich gar nicht intrigiert und komplottiert.« Kräftig lachend ging Lenin aus dem Saale an die ihn erwartende Arbeit.
Am Tage meiner Abreise kam Lenin, um Abschied zu nehmen und mir »gute Lehren« mitzugeben, die mir nach seiner Ansicht »not taten«. »Sie sind natürlich von dem Ergebnis des Kongresses nicht voll befriedigt«, meinte er. »Sie machen kein Hehl daraus, daß Sie es unlogisch vom Kongreß finden, sich grundsätzlich, taktisch in eine Linie mit Paul Levi zu stellen und ihn trotzdem auszuschließen. Strafe muß sein. Ich denke dabei nicht bloß an Levis Fehler, von denen ich früher gesprochen habe. Ich denke insbesondere auch daran, wie sehr er es uns erschwert hat, die Taktik der Masseneroberung durchzusetzen. Auch er muß seine Fehler erkennen und eingestehen, um aus ihnen zu lernen, dann wird er bei seinen politischen Fähigkeiten bald wieder die Partei führen.« »Ich glaube«, antwortete ich, »daß es einen Weg gibt, auf dem Paul sich der Disziplin der Kommunistischen Internationale fügen könnte, ohne daß er sich seiner persönlichen Meinung nach etwas vergibt. Er legt sein Reichstagsmandat nieder und stellt das Erscheinen seiner Zeitschrift mit einem Heft ein, in dem er das Werk unseres III. Weltkongresses von der höchsten geschichtlichen Warte aus völlig objektiv wertet. Das schließt selbstredend die Kritik an diesem Werk nicht aus, sondern schließt sie ein. Ebenso eine Erklärung, daß er das Urteil des Kongresses gegen sich zwar als ein Unrecht empfindet und für unlogisch hält, daß er sich jedoch dessenungeachtet um der Sache willen fügt. Paul Levi könnte durch diesen Akt mannhafter Selbstüberwindung als Politiker und Mensch nicht verlieren, nur gewinnen. Er würde entgegen den schmutzigen Verdächtigungen seiner Gegner beweisen, daß ihm der Kommunismus über alles geht.«
»Ihr Vorschlag ist ganz ausgezeichnet«, äußerte sich Lenin, »aber wird der Ausgeschlossene ihm folgen? Jedenfalls wünsche ich, daß Ihr warmherziger Optimismus in der Beurteilung Levis recht behält und nicht der Pessimismus vieler anderer. Ich verspreche Ihnen nochmals, durch einen offenen Brief für die Wiederaufnahme Levis in die Partei einzutreten, wenn er selbst das nicht unmöglich macht. Doch zur Hauptsache! Im großen ganzen müssen uns die Entscheidungen unseres III. Kongresses mit Genugtuung erfüllen. Sie haben weittragende geschichtliche Bedeutung und bilden tatsächlich einen ›Wendepunkt‹ der Kommunistischen Internationale. Sie schließen die erste Periode ihrer Entwicklung zur revolutionären Massenpartei ab. Deshalb mußte der Kongreß gründlich mit den linken Illusionen aufräumen, daß die Weltrevolution ununterbrochen in ihrem stürmischen Anfangstempo weiterrase, daß wir von einer zweiten revolutionären Welle getragen würden und daß es einzig und allein vom Willen der Partei und ihrer Aktion abhänge, den Sieg an unsere Fahnen zu fesseln. Natürlich auf dem Papier und im Kongreßsaal ist es leicht, in einem von objektiven Bedingungen gereinigten, luftleeren Raum die Revolution zu ›machen‹ als ›glorreiche Tat der Partei allein‹, ohne Massen. Letzten Endes ist das gar keine revolutionäre, sondern eine ganz spießbürgerliche Auffassung. Die ›linken Dummheiten‹ fanden in der deutschen ›Märzaktion‹ und in der ›Offensivtheorie‹ den konkreten, schärfsten Ausdruck. So kam es, daß sie auf euren Rücken liquidiert werden mußten, daß ihr die Prügeljungen wart. In Wirklichkeit aber war die Abrechnung international.
Nun müßt ihr in Deutschland als einheitliche, straffe Partei die beschlossene Taktik durchführen. Der sogenannte Friedensvertrag zwischen euch, den wir zusammengeleimt haben, ist allein keine feste Grundlage dafür. Er ist ein Wisch, wenn ihr nicht von links und von rechts den guten, ehrlichen Willen daruntersetzt, als eine Partei auf einer klaren, bestimmten politischen Linie zu handeln. Trotz Ihrer Abneigung und Ihres Widerstrebens müssen Sie daher unbedingt in die Zentrale. Und Sie dürfen nicht wieder aus ihr herausspringen, auch wenn es Ihnen persönlich scheint, daß Sie dazu das Recht und sogar die Pflicht haben. Sie haben gar kein Recht als das, in schwerer Zeit der Partei und damit dem Proletariat zu dienen. Ihre Pflicht ist es jetzt, die Partei zusammenzuhalten. Ich mache Sie ganz persönlich dafür verantwortlich, daß es zu keiner Spaltung kommt, höchstens zu einer kleinen Absplitterung. Sie müssen streng sein mit den jungen Genossen, die noch ohne tiefere theoretische Schulung und ohne große praktische Erfahrung sind, und Sie müssen gleichzeitig viel Geduld mit ihnen haben. Ich bitte Sie, sich insbesondere des Genossen Reuter (Friesland) etwas anzunehmen. Er hat bei uns mehrere Jahre sehr eifrig und gut mitgearbeitet. Als Führer der ›radikalen‹ Berliner muß er in die Zentrale. Dadurch allein wird ein besseres Verhältnis zwischen ihnen und der Zentrale hergestellt. Wie ich Reuter kenne, wird er sich durch den ›Friedensvertrag‹ verpflichtet fühlen, auch mit den sogenannten Rechten kameradschaftlich zusammenzuarbeiten. Während des Kongresses habe ich allerdings eine gewisse Starrheit und Enge an ihm beobachtet, die wenig zur Führerschaft taugt, und wenn sie ins Wackeln und Rutschen kommt, gibt es meist kein Halten mehr.«
Hier unterbrach ich Lenins »gute Lehren« mit der erstaunten Frage: »Haben Sie denn darüber irgendwelche Vermutungen?« Mein Lehrmeister lachte: »Nein, aber Erfahrung.« Dann fuhr er fort: »Besonders wichtig ist es, daß Sie bei unserer Fahne tüchtige Genossen halten, die schon früher in der Arbeiterbewegung ihre Sporen verdient haben. Ich denke an Genossen wie Adolf Hoffmann, Fritz Geyer, Däumig, Fries und andere. Auch mit ihnen heißt es Geduld haben und nicht sofort die ›Reinheit des Kommunismus‹ für gefährdet und verloren halten, wenn ihnen gelegentlich einmal die klare, scharfe Formulierung eines kommunistischen Gedankens noch nicht gelingt. Diese Genossen haben den besten Willen, gute Kommunisten zu sein, und ihr müßt ihnen helfen, gute Kommunisten zu werden. Natürlich dürft ihr reformistischen Überlebseln der Auffassung keine Konzessionen machen. Der Reformismus darf nicht unter irgendwelcher falschen Flagge eingeschmuggelt werden. Ihr müßt aber Genossen dieser Art in Positionen bringen, wo sie gar nicht anders reden und handeln können, denn als Kommunisten. Vielleicht, ja wahrscheinlich werdet ihr trotzdem Enttäuschungen erleben. Wenn ihr einen Genossen verliert, der ›rückfällig‹ wird, so werdet ihr doch bei festem, klugem Auftreten zwei, drei, zehn Genossen behalten, die mit ihm zu euch gekommen und wirklich Kommunisten geworden sind. Genossen wie Adolf Hoffmann, Däumig usw. bringen Erfahrung und mancherlei Sachkenntnis in die Partei, und sie sind vor allem lebendige Bindeglieder zwischen ihr und breiten Arbeitermassen, deren Vertrauen sie besitzen. Auf die Massen kommt es an. Wir dürfen sie weder durch ›linke‹ Dummheiten noch durch ›rechte‹ Ängstlichkeiten kopfscheu machen. Und wir werden die Massen bekommen, wenn wir im kleinen und großen stets als konsequente Kommunisten handeln. Ihr in Deutschland müßt jetzt das Examen in der Taktik der Masseneroberung bestehen. Enttäuscht uns nicht, indem ihr den Anfang dazu mit der Parteispaltung macht. Immer an die Massen denken, Clara, und ihr kommt zur Revolution, wie wir zu ihr gekommen sind: mit den Massen, durch die Massen.«
Zweimal war ich nach diesem Abschiedsgespräch in Moskau gewesen, und wie ein dunkler Schatten hatte es auf meinem Aufenthalt gelegen, daß ich Lenin nicht sprechen, nicht sehen konnte. Schweres Leiden hatte ihn, den Urkräftigen, den Widerstandsstarken, niedergeworfen. Entgegen den düstersten Gerüchten und Prophezeiungen erholte er sich. Als ich Ende Oktober 1922 zum IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale reiste, wußte ich, daß ich Lenin wiedersehen würde. Er war so weit hergestellt, daß er ein Referat halten sollte über: »Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution«. Konnte es eine schönere Jubiläumsfeier der russischen Revolution geben, als daß ihr genesener genialster Führer über sie vor den Vertretern der revolutionären proletarischen Vorhut sprechen würde? Am zweiten Tage nach meiner Ankunft kam der Genosse, der meine Wohnung betreute und offenbar vom alten zum neuen »Regime« übergegangen war, in freudiger Erregung zu mir: »Genossin, Wladimir Iljitsch will Sie besuchen. Das ist nämlich der Herr Lenin. Er wird gleich hier sein.« Die Anmeldung wühlte mich so auf, daß mir für den Augenblick die Komik des »Herrn Lenin« gar nicht zum Bewußtsein kam. Ich sprang sofort vom Schreibtisch auf und eilte zur Tür. Da war er schon, Wladimir Iljitsch, in einer grauen Flauschjoppe, frisch, kräftig aussehend, wie vor den bösen Tagen der Krankheit. Während ich vor Glück lachte und weinte wie ein Kind, machte sich's Lenin neben dem Schreibtisch bequem. »Seien Sie ohne Sorge!« erwiderte er auf meine Fragen nach seinem Befinden, »ich fühle mich ganz wohl, ganz kräftig. Sogar ›vernünftig‹ bin ich geworden, oder was die Herren Doktoren so nennen. Ich arbeite, aber ich schone mich, halte mich dabei streng an die ärztlichen Vorschriften. Ich danke schön, ich will nicht wieder krank werden! Das ist eine üble Sache. Es gibt so viel zu tun, und Nadeshda Konstantinowna und Maria Iljinitschna dürfen nicht noch einmal die Sorgen- und Pflegelast haben. – Nun, die Weltgeschichte ist auch ohne mich in Rußland und überall weitergegangen. Die führenden Genossen haben in unserer Partei sehr, sehr kameradschaftlich zusammengearbeitet, und das ist die Hauptsache. Aber sie alle hatten übermäßig zu tun, und ich bin froh, wenn ich sie etwas entlasten kann.«
Genosse Lenin erkundigte sich dann, wie jedesmal, wenn er mit mir zusammentraf, herzlich nach meinen Söhnen und forderte mich schließlich auf, über Deutschland und die deutsche Partei zu berichten. Ich tat es in Kürze, von der Empfindung beherrscht, Lenin nicht ermüden zu dürfen. Dieser schien in Gedanken an unsere Gespräche während des III. Kongresses der Internationale anzuknüpfen. Er zog mich wegen meiner damaligen »Psychologie der Gutmütigkeit im Falle Levi« auf. »Weniger Psychologie, mehr Politik!« sagte er. »Nun, Sie haben ja in der Auseinandersetzung mit Levi gezeigt, daß Sie auch das können. Seine harte Abstrafung durch Sie war wohlverdient. Levi hat sich für uns rascher und gründlicher selbst erledigt, als das sein schlimmster Feind hätte tun können. Uns kann er nicht mehr gefährlich werden. Für uns ist er nur noch eine Nummer bei der Sozialdemokratie, nichts weiter. Er kann für uns nichts mehr sein, auch wenn er dort vielleicht noch eine gewisse Rolle spielen sollte. Das ist bei dem Verkommen dieser Partei nicht schwer. Für einen nahen Kampfgenossen und Freund Rosas und Karls ist es aber das schimpflichste Ende, das sich denken läßt, jawohl, das schimpflichste Ende. Deshalb war es auch ausgeschlossen, daß sein Abfall und Verrat die Kommunistische Partei ernstlich erschüttert und gefährdet hätte. Einige Zuckungen in kleinen Kreisen und die Absplitterung einiger Personen. Die Partei ist gesund, ist in ihrem Kern gesund. Sie ist auf dem besten Wege, Massenpartei zu werden, führende revolutionäre Massenpartei des deutschen Proletariats. – Und was ist's mit eurer Opposition?« fragte Lenin nach einer kleinen Pause. »Hat sie endlich gelernt, Politik zu betreiben, kommunistische Politik?« Ich gab eine Darstellung der einschlägigen Sachlage und schloß sie damit, daß die »Berliner Opposition« Gemeint sind Maslow, Ruth Fischer und andere. Die Red. dem IV. Internationalen Kongreß die Aufgabe zugedacht habe, die Stellungnahme seines Vorgängers zu revidieren und rückgängig zu machen. »Zurück zum II. Kongreß« sei ihre Losung.
Lenin amüsierte sich über diese »beispiellose Naivität«, wie er sich wörtlich ausdrückte. »Die ›linken‹ Genossen halten die Kommunistische Internationale für die treue Penelope«, rief er heiter aus. »Aber unsere Internationale webt doch nicht am Tage, um in der Nacht das Gewebte aufzutrennen. Sie kann sich nicht den Luxus gönnen, einen Schritt vorwärts- und bald darauf einen Schritt zurückzugehen. Haben die Genossen keine Augen für das, was sich abspielt? Was hat sich in der Weltlage geändert, daß die Eroberung der Massen nicht mehr unsere vornehmste Aufgabe wäre? Solche ›Linken‹ sind wie die Bourbonen, sie haben nichts gelernt und nichts vergessen. Soweit ich unterrichtet bin, steckt hinter der ›linken‹ Kritik an den Fehlern der Durchführung der Einheitsfronttaktik der Wunsch, die Einheitsfronttaktik selbst zum Teufel zu schicken. Nicht aufheben, nein, bestätigen, unterstreichen, stark unterstreichen muß der bevorstehende Kongreß der Kommunistischen Internationale die Beschlüsse des III. Kongresses. Sie sind ein Fortschritt über die Arbeit des II. Kongresses hinaus. Wir müssen auf ihnen weiterbauen, sonst werden wir nicht zur Massenpartei, zur führenden revolutionären Klassenpartei des Proletariats. Wollen wir die Machteroberung, die Diktatur der Arbeiter, die Revolution, ja oder nein? Wenn ja, so gibt es heute wie gestern keinen anderen Weg, als ihn der III. Kongreß gezeigt hat.«
Bei einer späteren Begegnung während des Kongresses kam Lenin auf seine Meinungsäußerungen über die »linke Opposition« in Deutschland zurück. Er hatte inzwischen an einer Sitzung der deutschen Delegation teilgenommen, in der Artur König und besonders Ruth Fischer als Vertreter und Führer der »Linken« ihre Auffassung jener der Zentrale und der Parteimehrheit entgegengestellt hatten. Es geschah politisch außerordentlich schwach und überdies auffallend zahm und mild, wie die »linke Opposition« ja auch im Plenum des Kongresses überraschend »gemäßigt« auftrat, verglichen mit ihren wilden, kraftmeierischen Gebärden in Deutschland. Den Kopf leicht vorgeneigt, die Hand ans Ohr gelegt, folgte Lenin den Verhandlungen. Er beteiligte sich jedoch nicht an der Diskussion, murmelte aber zwei-, dreimal gegen die oppositionellen Darlegungen Bemerkungen, die nichts weniger als Sympathie und Zustimmung ausdrückten. Welchen Eindruck hatte er von der Sitzung davongetragen? Bei unserer zufälligen Begegnung fragte ich ihn danach.
Lenin erwiderte kopfschüttelnd: »Hm, hm! Ich begreife, daß es in der Situation bei euch so etwas wie eine ›linke Opposition‹ geben kann. Es gibt gewiß noch KAPdistische Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), ultralinke, sektiererische, halbanarchistische Gruppierung. Auf dem II. Parteitag der KPD in Heidelberg vom 20. bis 23. Oktober 1919, der illegal stattfand, kam es zu einer Spaltung der KPD. Auf dem Parteitag trat eine Gruppe von »Linken« als Verteidiger anarchosyndikalistischer Auffassungen auf: des Parlamentsboykotts, der Negierung des politischen Kampfes, der Ablehnung der Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften usw. Die »Linken« blieben in der Minderheit und wurden aus der Partei ausgeschlossen, nachdem sie es abgelehnt hatten, sich den Beschlüssen des Parteitages zu fügen. Sie schufen ihre eigene Organisation, die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands. Ihnen schlossen sich revolutionär gesinnte, aber politisch ungeschulte Arbeiter an. Nachdem sich die ehrlichen, revolutionären Arbeiter wieder der KPD zugewandt hatten, sank die KAPD zu einer unbedeutenden kleinbürgerlichen, anarchistischen Sekte hinab, die der KPD und der Arbeiterklasse feindlich gegenüberstand. 55 Stimmungen, unzufriedene, leidende Arbeiter, die revolutionär empfinden, aber politisch ungeschult und konfus sind. Es geht ihnen zu langsam vorwärts. Die Weltgeschichte scheint es nicht eilig zu haben; die unzufriedenen Arbeiter aber meinen, eure Parteileitung wolle es nicht eilig haben. Sie machen diese für das Tempo der Weltrevolution verantwortlich, kritteln und schimpfen. Das alles begreife ich. Aber was ich nicht begreife, das sind solche Führer der ›linken Opposition‹, wie ich sie gehört habe.« Mit beißendem Sarkasmus sprach sich Lenin über die »bessere Hälfte« der Linksdelegation aus. Er hielt ihr »Linkssein« für eine »persönliche Zufälligkeit«, für politisch grundsätzlich steuerlos. »Die Verbindung der Linken mit Maslow ist ganz schlimm. Ich habe meine Meinung über diesen Menschen nicht geändert.« Lebhaft rief Lenin zum Schluß aus: »Nein, solche Opposition, solche Führung imponiert mir ganz und gar nicht. Aber ich sage es offen heraus, ebensowenig imponiert mir eure Zentrale, die es nicht versteht, die nicht die Energie aufbringt, mit derartigen Demagogen kleinen Formats fertigzuwerden. Es müßte doch ein leichtes sein, solche Leutchen zu erledigen, die revolutionär gestimmten Arbeiter von ihnen loszulösen und politisch zu erziehen. Gerade weil es revolutionär gestimmte Arbeiter sind, während Radikale der vorliegenden Art im Grunde schlimmste Opportunisten sind.«
Doch zurück zu dem Besuch Lenins, der der Ausgangspunkt meiner Erinnerung war.
Lenin äußerte dann seine Befriedigung über die sichere, wenn auch noch langsame Belebung der Wirtschaft in Sowjetrußland. Er nannte Tatsachen und führte Zahlen an für die Fortschritte. »Doch darüber werde ich in meinem Referat sprechen«, brach er seinen Gedankengang ab. »Die mir von meinen ärztlichen Tyrannen zugebilligte Zeit für Besuche ist vorüber. Sie sehen, wie diszipliniert ich bin. Trotzdem muß ich Ihnen noch etwas erzählen, worüber Sie sich besonders freuen werden. Denken Sie, da bekomme ich neulich einen Brief aus dem abgelegenen Dörfchen ... (Den schweren Namen habe ich leider vergessen. C. Z.) Die etwa hundert Kinder eines Heims schreiben mir: ›Liebes Großväterchen Lenin! Wir wollen Dir erzählen, daß wir sehr brav geworden sind. Wir lernen fleißig. Wir lesen und schreiben schon gut. Wir machen viele und schöne Sachen. Wir waschen uns tüchtig jeden Morgen, und jedesmal waschen wir die Hände, wenn wir essen gehen. Wir wollen unserem Lehrer Freude machen. Er liebt uns nicht, wenn wir schmutzig sind‹, und so fort. Sehen Sie, liebe Clara, wir machen auf allen Gebieten Fortschritte, ernste Fortschritte. Wir lernen Kultur, wir waschen uns schon und gar täglich. Bei uns arbeiten schon die Kinderchen im Dorf am Aufbau Sowjetrußlands mit. Und da sollten wir fürchten, nicht zu siegen?« Lenin lachte, lachte sein altes, frohes Lachen, aus dem soviel Güte und Siegesgewißheit klang.
Ich hörte Lenins Referat über die russische Revolution, das Referat eines Genesenen, der den eisernen Willen zum eigenen Leben hat, um schöpferisch soziales Leben zu gestalten, die Worte eines Genesenen, nach dem jedoch der Tod schon erbarmungslos seinen beinernen Arm ausstreckte. Aber gleichwertig neben dieser letzten geschichtlichen Leistung steht mir unauslöschlich in der Seele der Schluß des letzten persönlichen Gespräches, das ich mit Lenin hatte – von kurzen Meinungsäußerungen bei gelegentlichen Begegnungen abgesehen. Es schließt sich mit meiner ersten »unpolitischen« Unterredung mit ihm zum Ringe. Hier wie dort der ganze Lenin, der gleiche Lenin. Lenin, der in dem Kleinen das Große sah, der das Kleine im inneren Zusammenhang mit dem Großen erfaßte und wertete. Lenin, der in Marx' Geist die innige Wechselwirkung zwischen Volksbildung und Revolution erkannte, für den die Volkserziehung Revolution, die Revolution Volkserziehung war. Lenin, der heiß, selbstlos das schaffende Volk liebte und namentlich die Kinder, die Zukunft dieses Volkes, die Zukunft des Kommunismus. Lenin, dessen Herz ebenbürtig war seinem Geist und seinem Willen und der deshalb der überragende große Führer des Proletariats werden konnte. Lenin, der stark und kühn, der ein Sieger ward, weil er ganz von einem erfüllt war: von der Liebe zu den schaffenden Massen, vom Vertrauen in die schaffenden Massen, vom Glauben an die Größe und Güte der Sache, an die er sein Leben hingab, vom Glauben an ihren Sieg. So konnte er das geschichtliche »Wunder« vollbringen. Er versetzte Berge.