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Das große, ernste Herrenzimmer ging auf den Garten, dem Lärm der Straße abgewandt. Die Nachmittagsstrahlen der Junisonne, schon etwas von Westen kommend, fielen mit ruhiger Wärme durch die hohen Vierecke der Fenster. Der Herr dieses Zimmers, dieses Hauses, eines der herrschaftlichsten im neuen Villenviertel der Rheinstadt, Herr Dr. Ing. h. c. Herbert Teltzsch von Gnadenfeld, stand regungslos, die Hände auf dem Rücken, vor dem Fenster nächst dem mächtigen Schreibtisch und blickte, die Augen ein wenig zusammengezogen, auf die alten Bäume des Gartens, der mehr ein Park war und sich in einer kunstvoll gehegten Wildheit in der Tiefe verlor.
Abschied, dachte Herbert, Abschied. Weshalb eigentlich? Lächerlich, sich von einer zufälligen Begegnung, einem zufälligen Gespräch auf solche Gedanken bringen zu lassen. Lächerlich, gewiß, aber man hatte sie eben doch.
Er wandte sich um und faßte den auffallend hübschen, jungen Mann ins Auge, der wartend und erwartend den dunklen Blick zu ihm hob.
»Gleich, Lutz.«
Herbert schritt in die freie Mitte des Zimmers und sah sich langsam um. An den Wänden hingen in schweren holländischen Rahmen fünf Männerbildnisse. So eine Art Ahnengalerie. Der da an der rechten Wand über dem Klubsessel, in dem Lutz saß, das war der – ja, was denn? – der Ururgroßvater Gottfried Teltzsch, der Schmied. Ein Kerl mit breiten Athletenschultern und wuchtigen klobigen Händen, so sehr sich der Maler bemüht hatte, diesen Hammerfäusten ein manierliches Aussehen anzupinseln. Er hatte auf seinem Gartengrundstück oben in der Essener Gegend Kohle gefunden und Schurfrecht erworben. In frommer Einfalt hatte er den gesegneten Boden, dankbar für Gottes Gnade, »Gnadenfeld« getauft. Daher stammte der Grundstock zum Reichtum der Teltzsch. Daneben hing der Urgroßvater Adolf, im bürgerlichen Zeitgewand der Freiheitskriege. Der hatte zu Fäusten und Kohle Eisen und Adel gefügt. Der Großvater Herbert, der nächste, sah schon sehr nobel aus. Hatte in Heidelberg brav den Schläger geschwungen und Gelehrsamkeit, Bier und Frauen in Massen konsumiert. Zwei brandrote Schmarren im Gesicht und eine anscheinend etwas farbenfrohe, aber mit Stolz getragene Nase waren als liebgewordene Andenken zurückgeblieben. Er hatte sich denn auch von Heidelberg, vom Bier und von den Kumpanen nicht trennen können und sich deshalb im benachbarten Mannheim angesiedelt, wo er die chemische Fabrik anlegte und das Geld, das die Eisen- und Kohlengruben im Westfälischen brachten, verexperimentierte. Ein gut Teil mochte auch versoffen und verjubelt worden sein. Aber was er geschafft, hatte einen guten Kern gehabt, das bewies Vater Wilhelm, sein Sohn, dessen Bild schon einen fast modernen Industriekapitän zeigte. Trotz feierlichem Gehrock, Zylinder und Ordensbändchen. Wilhelm hatte nicht gekneipt, nicht geraucht, nicht geliebt, nicht gelacht. Nur gearbeitet. Nein, geschuftet, robotet. War alles gewesen, Kaufmann, Organisator, Industrieller, Erfinder. Ein Riesenkerl an Kraft, Arbeitswut und Unternehmungsgeist. Unter ihm wuchs die Erzeugung an Kohle und Eisen zu gigantischen Mengen. Eigene Stahl- und Eisenwerke wandelten die Schätze eigenen Bodens zu hochwertigem Gut. Aber eine Liebe, eine reich betätigte und nie ausgesprochene, hatte er doch. Zu der genial, wenn auch etwas planlos angelegten chemischen Fabrik in Mannheim, zum ureigenen Werk des lustigen Vaters. Als ob er, der Düstere, eine Schuld hätte abtragen wollen an das Leben, in dem er alles das verneint hatte, woraus das Mannheimer Werk emporgewachsen war: Lebensgenuß, Liebesfreudigkeit, Schönheitsdurst. Er, der sich nie anders gekleidet hatte als grau, dessen Arbeitszimmer kein einziges armseliges Bildchen geschmückt, hatte seiner Natur die bunteste Industrie der Welt abgetrotzt, die Farbenindustrie. Und diese Liebe hatte Herbert, sein Sohn, der nach dem Großvater hieß, geerbt. Der jetzige Herr der Gnadenfelder Zechen, der Fördertürme, der Schlote, der Hochöfen und der »Rheinischen Farbenfabrik Mannheim« stand vor seinem eigenen Bild, das in unheimlicher Lebendigkeit Trübners Hand auf die Leinwand gebannt hatte. So stand er da wie sein Ebenbild an der Wand, groß und knochig, herrisch, arbeitsstark wie die Väter, nur in den Zügen verfeinert. Auch gepflegter, weltmännischer. Im übrigen ganz ein Teltzsch mit allen Kennzeichen der Familie, wie sie schon dem Schmied zu eigen waren, dem Urgroßvater, dem fast aus der Art geschlagenen Großvater und dem Vater. Blond, mit überhoher, senkrecht aufsteigender Stirn, etwas langer Nase, sehr kleinen, funkelnden Augen und starkem, fast brutal geschnittenem Mund. Auch er hatte gearbeitet, so viel oder fast so viel wie der Vater, hatte das riesige Erbe durch schwere Kriegsjahre und schwerere Nachkriegsjähre hindurch gelenkt, entwickelt, gefestigt, gemehrt. Aber in seinem Leben war nicht nur Arbeit, da war auch ein anderes. Die Frau. Nicht die Frau als Geschlechtsbegriff, sondern eine bestimmte, eine einzige Frau. Die Seine. Er ließ den Blick vom Bild und richtete ihn auf den Sohn, der noch ruhig im dunkelledernen Klubsessel saß.
»Lutz, wir müssen sprechen miteinander. Richtiger gesagt, aussprechen. Wir haben es vielleicht noch nie getan. Und ich glaube, Kinder wissen von ihren Eltern meist noch weniger als umgekehrt. Ich habe für dich eine ganze Speisekarte voller Aufträge, aber außerdem muß ich dir noch einiges sagen. Wer weiß, ob es noch einmal möglich ist.«
»Bist du ängstlich, Vater? Von der Seite kenne ich dich gar nicht. Übrigens hat mir Onkel Ernst versichert, daß die Operation ungefährlich ist. Ich habe ihn auf Herz und Nieren befragt.«
Lutz war aufgestanden. Er war fast ebenso groß wie der Vater, nur schlanker und – im Gegensatz zu den Teltzschs, die zwar scharf ausgeprägte, unverkennbare Köpfe hatten, doch keinesfalls hübsch genannt werden konnten – von auffallender Schönheit. Ein braunes, ebenmäßiges, oval geschnittenes Gesicht von ausgesprochen südländischem Typus, Augen, die trotz ihrer grauen Farbe dunkel wirkten und tiefschwarzes Haar, in dessen leichter Wellung helle Lichter tanzten. Kein Teltzschisches Gesicht, wenn man nicht die offensichtliche Tatkraft, die aus den Zügen des jungen Mannes sprach, unbedingt als Erbe von Vaters Seite her erklären wollte. Doch war diese Energie, die etwas von künstlerischem Schwung an sich hatte, von anderer Art.
»Ich bin nicht ängstlich, obwohl – Operation bleibt Operation. Ich hatte nur ein eigenartiges Erlebnis. Du wirst natürlich lachen, Lutz. Gerade als ich das Büro vorhin verlassen wollte, kam der alte Berger an, den sie in der Fabrik das Gespenst nennen. Er sieht ja auch so aus. ›Na, Berger‹, sage ich, ›was wollen Sie?‹ ›Abschied nemme for immer‹, antwortet er. Ich wollte lachen, aber ich hatte ein unangenehmes Gefühl. ›Stirbt denn einer von uns beiden?‹ frage ich noch. »Dees kenn ich nit wisse, ich tu's jedefalls nit. Mei Zeit is noch nich kumme. Ich will bloß nunner nach Schwetzinge, heim, ich hab genug gearweit.‹ Siehst du, Lutz, ich kann mir nicht helfen –«
»Vater, ich muß wirklich lachen. Seit wann bist du abergläubisch?«
»Bin ich nicht. Übrigens sind wir's vielleicht alle ein bißchen. Jedenfalls – zwei Dinge liegen mir am Herzen. Das Werk und meine Frau, deine Mutter. Um dich bin ich nicht besorgt, du stehst fest auf den Füßen. Das Werk, merk dir's, gehört nicht dir. Du gehörst dem Werk. Das will alles, was ein Mensch hergeben kann. Liebe, Hingabe, Aufopferung. Die ganze Kraft. Du hast alles, was es an Begabung erfordert. Du weißt, wie es in unserer Familie Gesetz ist. Das Werk erbt sich nur in der männlichen Linie fort, die anderen in der Familie haben nichts dreinzureden. Sie haben Geld zu bekommen – das ist alles vom Urgroßvater schon festgelegt, sonst nichts – wenn du das Werk nicht offensichtlich in Gefahr bringst. Du wirst den anderen ein unerwarteter und unwillkommener Erbe. Wenn ich nicht mehr bin – nichts, ich spreche jetzt – wenn ich nicht mehr bin, werden sie sich an dich herandrängen, Rechte wollen, was weiß ich. Hoffentlich hast du von mir gelernt, wie man jemand abfertigt. In diesem Fall rücksichtslos sein, hart. Sonst sei nicht knauserig, stopf ihnen den Mund mit Geld, auch wenn's mal mehr ist, als worauf sie Anspruch haben. Deinem Vetter Klaus soll das Laboratorium, das ich für ihn eingerichtet habe, erhalten bleiben. Laß es kosten. Wertvoller Junge und ein Teltzsch im besten Sinn. Ihr seid ja ohnehin gute Freunde. Und heirate bald, Lutz, trachte, daß das Werk bei unserer Linie bleibt. Verplempere dich nicht mit Weibern, such dir eine, die dir das sein kann, was mir deine Mutter ist. Ich will dir keine Moral predigen, aber das, was das Werk verlangt, soll man auch für die Frau, die man liebt, aufbringen. Meine innerste Überzeugung. Haben wir uns verstanden?«
»Ich denke.«
»Und das zweite. Deine Mutter. Ihrethalben habe ich mich mit meiner Familie überworfen. Hat mir nie leid getan. Sie ist der einzige Mensch, den ich immer ertragen konnte, der mir nie Last war. Der sich mir unterworfen und mich beherrscht hat. Nur einmal war etwas zwischen uns. Als keine Aussicht schien, daß du kommen würdest. Du kannst noch nicht verstehen, wirst es aber vielleicht einmal, wie ich mich nach einem Sohn gesehnt hatte. Und dann kamst du doch, weil deine Mutter in mir etwas geweckt hatte, wovon ich nicht einmal wußte, daß ich es besaß. Leidenschaft und Zärtlichkeit. Und ich schwöre es dir, sie war die erste und einzige, die um diese Leidenschaft wußte und der sie gehörte. Du magst jetzt ahnen, was sie mir war. Was sie dir ist, mußt du selbst wissen. Sie ist kein gewöhnlicher Mensch. Zarter, innerlicher und inniger als wir Teltzschs. Und sie wird von meiner Familie gehaßt wie sonst niemand. Dort wird kein Halt für sie sein. Du, den sie, wie ich manchmal gefürchtet habe, mehr liebt als mich, du mußt für uns beide stehen. Hand darauf? Danke.«
Er drehte sich kurz um und ging zum Schreibtisch. Der Sohn wollte etwas sagen, der Vater schnitt ihm das Wort mit einer flachen Handbewegung ab.
»Was ich gesagt habe, war nur für den Fall. Wir haben noch zu arbeiten. Bitte, die Dispositionsmappe.«
*
Ans Arbeitszimmer Herberts stieß das Zimmer seiner Frau, des einzigen Menschen, wie er selbst gesagt hatte, den er immer ertragen konnte. Jedes Geräusch im Hause störte ihn, machte ihn ungeduldig und nervös, wenn er arbeitete. Leonores leichter Schritt im Nebenzimmer war ihm Beruhigung wie einem Kranken gefühlte Nähe des Arztes. Und seit einiger Zeit war er wirklich krank, ernstlicher als er und die Seinen einander eingestanden.
Leonore mit ihren sechsundvierzig Jahren war noch immer eine schöne Frau. Etwas über mittelgroß, von zärtlich gerundeter Schlankheit, wirkte sie mit dem zart geschnittenen, gepflegten Kopf, der Leichtigkeit ihrer Bewegung bei flüchtigem Eindruck wie Dreißig und auch bei genauerem Blick kaum mehr als Ende der Dreißig. Sie trug das volle, fast unmerkbar von ergrauenden Fäden durchzogene Braunhaar in tiefem Nackenknoten, hatte in den Augen, die groß und hellbraun waren, einen samtigen Schimmer, wie manche, sehr zärtliche Frauen, die Nase war leicht und empfindsam gebogen, und der Mund, weich, von bogenförmigem Schnitt, verriet sinnliche Liebenswürdigkeit ohne jede Schärfe, ohne jede Ironie, wohl auch ohne Witz trotz einer gewissen Heiterkeit.
Sie saß mit aufgestützten Händen am kleinen, runden Tisch im lichtdurchflossenen Erker ihres Zimmers Professor Vitali gegenüber, zu dem ihre sanfte Schönheit in einem seltsamen Gegensatz stand. Vitali, der berühmte Chirurg Vitali, von dem Lutz als Onkel Ernst gesprochen hatte, war fast ein Zwerg, der außer der Last seiner Häßlichkeit auch noch einen Höcker trug, den selbst größte Schneiderkunst nur wenig zu verdecken vermochte. Eitel wie die meisten ungestalteten Menschen, trug sich Professor Vitali überaus modisch und sorgfältig gekleidet, den tief zwischen die Schultern geklemmten Kopf äußerst gepflegt, das angegraute, gelichtete Haar peinlichst nach hinten gelegt und das sommersprossige, grotesk gewinkelte Gesicht durch einen in länglichem Oval geschnittenen Bart wohltätig in seiner zackigen Zerrissenheit gemildert. Dennoch entbehrte die Häßlichkeit dieses Gesichtes und dieser unglücklichen Gestalt nicht eines gewissen Reizes durch zwei witzige, kluge Augen und zwei auffallend schön geformte geistreiche Hände, die mit Bewußtheit gepflegt und zur Geltung gebracht wurden.
Vitali war eine Jugendfreundschaft Leonores, die mit in die Ehe genommen wurde – die Freundschaft war übrigens einseitig von ihrer Seite, seine Gefühle waren ganz anderer Natur – und Herbert, bald gefesselt von den seltenen Eigenschaften des damals noch jungen Arztes, übertrug gern einen Teil seiner kargen Neigungen auf den ältesten Verehrer – das war kein Geheimnis – und Freund seiner Frau.
»Ich bin sehr besorgt um Herbert, Vitali. So gern möchte ich Ihnen hinter die Augen sehen können, was Sie denken. Schwören Sie mir, daß die Operation gelingen wird.«
»Wenn wir Ärzte bei jedem Patienten schwören würden, müßten wir unsere Praxis im Gefängnis ausüben. Es muß Ihnen genügen, Leonore, daß von hundert derartigen Operationen neunundneunzig gelingen. Seien Sie jetzt vernünftig und vertrauen Sie mir bis morgen. So gut und prompt zahlende Patienten erhält man sich bis ins höchste Alter krank, das ist man sich als tüchtiger Arzt schuldig. Wenn ich auch die Gefahr, daß der Kranke vorzeitig gesund wird, nicht völlig bestreite.«
»Sie sind brutal mit Ihren Witzen, Vitali. Wenn Sie eine Frau hätten, würden Sie nicht so reden.«
Der Arzt lachte schrill. Er hatte eine angenehme Stimme, aber ein mißtöniges, unfreies Lachen, das nie vom Herzen kam.
»Also unser Thema. Ob ich Ihren Mann operiere, ob wir eine Wagneroper hören oder etwas Stadtklatsch kolportieren, die kunstvoll geschobene Pointe ist und bleibt, weshalb ich nicht heirate. Sie machen das fabelhaft. Weshalb soll ich mich mit meinen zweiundfünfzig Jahren, meinem angewachsenen Rucksack und meinen sonstigen Reizen den langweiligen Gefahren einer Ehe aussetzen? So betrügt mich immerhin eine gewisse Anzahl von Frauen. Das ist amüsant. Mich von einer einzigen betrügen zu lassen, reizt mich nicht.«
»Gina würde Sie nicht betrügen. Warum bemühen Sie sich nicht ein bißchen um sie?«
»Ich hätte Fräulein von Tillowitz längst den Hof gemacht, wenn mich die Gefahr, erhört zu werden, nicht abschrecken würde.«
Sie wurde ungeduldig.
»Das sind immer Ihre Antworten, Vitali. Vielleicht ist das witzig. Mag sein. Aber ich verlange, daß Sie mich ernst nehmen und mir ernst antworten.«
»Ernst? Gut, kann ich auch, wenn auch nicht gern, weil es immer ein bißchen gefährlich für mich ist. Heiraten – warum nicht? Ich würde es ohne weiteres tun, wenn ich mich in eine so verlieben würde, wie es für unsereinen nötig ist. Daß man alles vergißt, was einem die Vernunft gebietet, daß man nur eine Sehnsucht kennt, den Besitz dieses einen Menschen, daß man darüber alle Qual eigener Unzulänglichkeit, alle Gefahr, die in einer solchen Liebe lauert, auf sich zu nehmen bereit ist. Daß man eben so liebt, wie ich nur einmal geliebt habe, Leonore, hören Sie, einmal im Leben. So wie ich Sie geliebt habe.«
Wie kurze, hell aufeinanderfolgende Peitschenschläge knallten seine Worte über den Tisch. Sein Gesicht war in tödlichem Ernst verzerrt. Leonore saß in erblassender Gebanntheit vor diesem gänzlich unerwarteten, erschreckenden Ausbruch. Nie in ihrer fast dreißigjährigen Freundschaft hatte er in diesem Ton, mit solchen Worten gesprochen. Sie schob abwehrend und verängstigt die Hand über den Tisch.
»Nicht so reden, Vitali, bitte, bitte, nicht so reden. Machen Sie mir unsere schöne Freundschaft nicht unmöglich.«
Er legte seine Hand klammernd auf ihre. Sein häßliches Gesicht war nur noch ein wilder, gewitterhaft überzuckter Aufruhr.
»Doch! Einmal muß ich und darf ich reden. Einmal darf ich mir vom Herzen herunterschreien, was ich so lange herumschleppe. Das habe ich mir in dreißig Jahren verdient. Ich will ja nichts von Ihnen und habe nie etwas verlangt. Aber es ist nicht zu ertragen, daß der einzige Mensch, der einem etwas ist, wie ein Wildfremder keinen Schimmer hat, was in einem vorgeht. Und jedesmal anfängt über Dinge zu reden, die wie Ohrfeigen in mein Gesicht prasseln. Was soll ich mit Fräulein Tillowitz, dieser alten Kuh? Verzeihen Sie, sie ist Ihre Freundin. Für mich ist sie eine alte, reizlose Schachtel, dumm und aufgeblasen, die eine Versorgung sucht.«
Er geriet fast ins Schreien.
»Ich will nicht, daß dieses Thema immer wieder aufs Tapet kommt, ich will nicht, daß Sie, gerade Sie, mir immer wieder andere Frauen antragen, ich will nicht, daß irgendeine das Recht haben soll, auf Sie eifersüchtig zu sein, und vielleicht in Ihrer Gegenwart, wenn all meine Gedanken, Sinne, Gefühle bei Ihnen sind, sich Vertraulichkeit erlauben darf. Ich will nicht, will nicht und noch einmal, ich will – es – nicht!«
Mit einer brüsken Bewegung ließ er ihren festgehaltenen Handknöchel los. Sprang erhitzt vom Stuhl auf und riß mit erregter Hand das kokette, seidene Tuch aus der äußeren Brusttasche, um die Schweißtropfen von der Stirn zu tupfen.
»Ich bin schon wieder ruhig, ist schon wieder alles gut. Geben Sie mir, bitte, einen Kognak.«
Und während sie, noch verstört, aufstand, um von einem Rolltisch, auf dem Teegedeck, Liköre und Gebäck standen, das Gewünschte zu holen, sagte er aus stoßender, wie von raschem Lauf gepreßter Lunge, doch schon beherrscht und mit schmeichelndem, weichem Klang:
»Verzeihen Sie mir, Leonore, seien Sie nicht böse, dem Arzt durfte solche Unbeherrschtheit nicht passieren. Aber Sie sollen mich verstehen. Ich werde nie wieder ein Wort sagen. Nur will ich meinen Platz, meine Rechte hier nicht verlieren. Nicht Sie, aber die andere würde mich von hier abzudrängen suchen. Sie müßte es tun, weil sie wissen würde, daß ich ihr nicht gehöre, solange ich hierher kommen darf.«
Leonore hatte sich schon von ihrem Schrecken erholt. Sie lächelte wieder mit einem freundschaftlichen, lieben Lächeln. Und nach dem Einschenken strich sie freundlich über seine reichgeäderte Hand.
»Ich bin ja nicht böse, ich kann überhaupt nicht richtig böse sein. Und ich würde in anderer Art sicher ebensoviel verlieren wie Sie, wenn Sie nicht mehr kämen. Ich müßte ja keine Frau sein, wenn ich nicht stolz darauf wäre, so viel –« sie stockte ein wenig, und Röte schoß in ihr Gesicht, »so viel Freundschaft zu genießen. Ich finde es nur traurig.«
»Traurig? Ich weiß es nicht mehr. Damals, als ich noch hätte sprechen dürfen – vielleicht war's besser, daß ich es nicht getan habe – überlegte und zögerte ich so lange, man hat seine Hemmungen mit dem Packen da hinten, bis es zu spät war. Seitdem bin ich nirgends mehr zu spät gekommen, darauf können Sie sich verlassen. Eher zu früh fortgegangen. Aber damals war das alles sehr schwer. Und das kommt nicht wieder, daß man so inbrünstig, so unbedingt liebt, daß man für die eine jedes Verbrechen zu begehen bereit ist.«
»Dazu hätten Sie bei mir, Gott sei Dank, keine Gelegenheit gehabt.«
Er lehnte seinen eckig verschobenen, mißwachsenen Oberkörper im Stuhl zurück, den Kopf in steifer, schiefer Renkung. Seine Brauen hoben sich in rundender Wölbung, mit der Öffnung der Augen, wie sich ein Vorhang von verdeckter Vergangenheit hebt.
»Einmal war es daran, Lenore.«
»Warum denn, um Gottes willen?«
Von der Straße hörte man durch das geöffnete Fenster dreifaches, schneidendes Hupensignal. Sie sprang auf.
»Einen Moment, Vitali, ich bin zum Explodieren gespannt, ich muß nur Herbert sagen, daß der Wagen wartet. Er hört nicht, weil er die Fenster geschlossen hat. Vielleicht braucht er noch etwas.«
Sie kam nach zwei Stunden aus dem Nebenzimmer zurück.
»Rasch, Vitali, Herbert ist gleich fertig. Sie wissen, man darf ihn nicht warten lassen. Bitte, lieber, lieber Vitali, erzählen Sie. Ganz schnell. Ich bin wie ein Flitzbogen gespannt. Denken Sie, um meinetwillen ein Verbrechen. Schrecklich aufregend.«
Wie ein junges Mädchen sprudelte sie.
»War auch schrecklich aufregend. Erinnern Sie sich an die Zeit vor Lutzens Geburt? Erst die Angst, daß Sie keine Kinder bekommen würden und dann, daß es kein Junge werden würde?«
Leonore legte die Hand vor die Augen.
»Bloß nicht daran denken. Diese grauenvolle Zeit. Nicht wegen des Kindes, nur wegen Herbert. Das regt mich auf, so oft ich daran denke. Niemand hat gewußt, wie ich gezittert habe Tag und Nacht, ihn zu verlieren.«
Professor Vitali sprach ganz langsam:
»Doch. Ich hab's gewußt. Und ich war erst beruhigt, als ich nach langer Mühe Herbert und Sie überredet hatte, daß Sie Ihre Niederkunft bei mir im Krankenhaus erwarten.«
Lenore von Teltzsch sah ihren Gast verständnislos an.
»Ja, dann war ich beruhigt. Ich wußte sehr gut, ebensogut wie Sie, daß Ihr Glück davon abhing. Und ich wußte auch, als Sie in meinen Händen waren, daß es ein Junge, ein gesunder Junge wird. Ganz gleichgültig, ob Sie ein Mädchen oder ein totes Kind oder was immer zur Welt bringen würden.«
Im ersten Augenblick verstand sie noch immer nicht. Sie fühlte nur, daß ein Ungeheuerliches gesagt worden war. Und als sie endlich den Sinn dieses Ungeheuerlichen begriff, riß es sie, als ob sie von hinten einen Stoß bekommen hätte, aus dem Stuhl.
»Vitali, wollen Sie damit sagen – daß – daß – Lutz – Vitali, sagen Sie mir sofort –«
Weiter kam sie nicht. Die Tür zu Herberts Zimmer war aufgegangen, und Herbert kam raschen Schrittes herein. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, machte der Arzt eine große gewölbte Handbewegung und lächelte in seiner unnatürlich verzerrten Art.
»Sie können beruhigt sein, Lenore. Ich mußte ihr noch einmal erklären –«
»Aber Kindel,« Herbert nahm ihre schlaff heruntergefallene Hand, »deshalb so verstört? Wenn dir Ernst doch sagt, es ist nicht gefährlich. Du machst mich auch noch unruhig.«
*
Lenore war in tumultuarisch aufgewühlter Stimmung. Sie hatte vom Balkon des nach der Straße zu gelegenen Speisezimmers dem abrollenden Wagen wie durch einen Schleier nachgesehen – Herbert hatte sich energisch verbeten, sich von ihr ins Sanatorium begleiten zu lassen – hatte noch gestarrt, als schon längst nichts mehr zu sehen war, und mit nachtwandlerisch unbewußten Schritten war sie endlich in ihr Zimmer zurückgegangen. Jetzt saß sie in gemeißelter Reglosigkeit in einem Sessel und versuchte an die Gefahr zu denken, in der er sich befand. Aber immer sprangen die abgewehrten Gedanken an das mit Vitali geführte Gespräch über. Lenore hatte noch einmal, bevor der Arzt mit Herbert ins Auto stieg, nach einem von ihrem Mann unbeobachteten Moment gehascht, um noch ein beruhigendes Wort, nein, die Wahrheit zu hören. Es war nicht mehr möglich gewesen. Sie überdachte seine letzten Worte. Was sollte das heißen: Sie können beruhigt sein? Sollte das bedeuten, es ist nichts geschehen, oder Sie brauchen keine Furcht zu haben, es wird niemand etwas erfahren? Sie versuchte sich Vitalis Lächeln, dieses verzerrte, nie ganz verständliche Lächeln, vorzustellen und darin zu lesen. Wußte man denn je, ob er etwas ganz ernst meinte? Wie unausdenklich, daß man jemanden dreißig Jahre kennt und noch nicht in ihn hineinsehen kann, die Sprache nicht versteht, die er spricht. So läuft man, lebt man aneinander vorüber. Und dieser irrsinnige Gedanke, daß das Kind, das sie geboren, das in ihrem Leib gewachsen war, genährt aus dem Blut ihrer Adern, verwachsen mit ihr aus der Nacht süßester Hingabe, liebevollsten Empfangens, irgendwo vielleicht bei fremden Leuten fern von ihrem Herzen leben könnte und sie alle mütterliche Liebe, die ganze Fülle, Überfülle ihrer Seele ausgegossen hätte über ein Kind, das gar nicht ihr gehört! Nein, das war es gar nicht. Nicht darum ging es. Was war ihr irgendein Kind, das sie gar nicht kannte, von dem sie nichts, gar nichts wußte. Es ging nur um Lutz, um dieses unmenschlich geliebte, vergötterte Kind, um dessen Liebe sie gekämpft und geworben hatte mit ihrer ganzen zärtlichen, blutwarmen Hingegebenheit. Ihr Lutz! Gehörte einem denn ein Kind, das man durch einen verbrecherischen Zufall aufgezogen hatte wie eine Henne, der man ein Entenei in den Brutkorb gelegt? Alles Wahnsinn, sagte sie sich unzähligemal hintereinander, Wahnsinn, Wahnsinn! Sie mußte noch heute mit Vitali sprechen, die Wahrheit aus ihm herauspressen, die Wahrheit um jeden Preis. Sie sprang entschlossen auf. Und blieb gleich wieder mutlos stehen. Aus Vitali herauspressen! Der bereit war, ein Verbrechen zu begehen, vielleicht es wirklich begangen hatte, als es ihr Glück galt. Er würde glatt einen Meineid leisten, um ihr die Ruhe wiederzugeben. Und wenn er zehnmal schwören würde, sie wüßte nicht, ob es die Wahrheit ist.
Sie stieß mit wesensfremdem Ungestüm die Tür zu Herberts Zimmer auf. Lutz saß arbeitend an des Vaters großem Schreibtisch.
»Lutz!«
Der wild aus der Kehle gebrochene Schrei riß seinen Kopf empor. Sie stürzte zu seinem Stuhl, warf die Schlinge der Arme um seinen Hals und drückte seinen dunklen Kopf mit hemmungslos pressender Kraft an ihre Brust.
»Lutz, du gehörst mir! Lutzel, hörst du, mir, keinem Menschen sonst auf der Welt! Schwör es mir, daß du bei mir bleibst, schwör mir doch! Schwör doch, Lutz!«
Er griff nach ihren Händen, den würgenden Griff ihrer Arme zu lockern, erstaunt, bestürzt von seiner ungekannten, aufgerissenen, blutdurchtobten Verzweiflung.
»Weshalb denn so aufgeregt, Mutti? In einigen Tagen hast du Vater wieder hier. Wenn Onkel Ernst sagt, daß keine Gefahr ist, kannst du ihm doch glauben.«
Seine Hände streichelten ihre zuckenden, wühlenden Finger, seine Stimme schmeichelte, koste, beruhigte.
Wovon redete er? Ach, Herbert, ja natürlich, Herbert. Sie öffnete die Klammer ihrer Umarmung und nahm das Gesicht des jungen Mannes in die flachen Hände. Ihr Blick strich über sein Haar, zog die geschwungenen Linien seiner Brauen nach, umzeichnete das Oval aus Kinn und Wangen, tastete über den straffen Strich der schmalen Römernase, über den festen Schnitt des Mundes. Nach wem ist dieses Gesicht geraten? Das war kein Kopf aus der Familie der Teltzsch. Und war auch nicht ihr eigenes Haar, nicht ihr Auge, ihre Nase, ihr Mund. Sie suchte in ihrem Gedächtnis die Gesichter ihrer Verwandten ab. Kein ähnliches darunter. Wie man doch manchmal die Frage hingeworfen hat, nach wem der Junge geraten ist. Nach dir nicht, Herbert. Nach dir eigentlich auch nicht, Nore. Gedankenlos gesprochen, gedankenlos gedacht. Und auf einmal stand die Frage auf, wolkenhaft drohend, mit irgendeiner geahnten, lauernden, gespannten Gefahr dahinter. Aus welcher Umarmung prägten sich die Züge, welcher Vater hatte sein Bild in die empfangende Bereitschaft einer Frau gegossen. Welche Mutter hatte dieses Bild mit dem Saft ihres Lebens legiert und umgeformt in der geheimen, gotterschaffenen Werkstatt ihres Leibes?
Lenore ließ die Hände von den Wangen ihres Sohnes gleiten, sie fielen aus losgebundenen Gelenken schlaff herab. Sie hatte einmal bei Strindberg gelesen, eine Mutter wüßte immer, daß das Kind ihr Kind sei, der Vater wüßte es nie. So ungefähr jedenfalls, so war der Sinn. Und es hatte so selbstverständlich, so sonnenklar geschienen. Auf einmal war dieses Sonnenklare seiner Selbstverständlichkeit entrissen, allereinfachste Wahrheit wurde unsicher, verworren, schwebte umgestürzt mit gefährlich verschiebbarem Gleichgewicht im bodenlosen Raum.
»Was hast du eigentlich, Mutti?«
»Nichts, Lutzel, nichts. Arbeite nur, ich laß dich schon allein. Ich bin eben nur aufgeregt wegen der Operation.«
Mit fluchtartiger Hast schoß sie wieder aus dem Zimmer. Rannte in den Park hinunter, durchraste ihn blicklos, Büsche anstreifend, plötzlich und grundlos haltend, wieder losbrechend.
Sprechen können! Einem Menschen die wirbelnden Fragen hinwerfen! Ein Ventil für diese sprengnahe, dampfheiße Spannung! Lenore rannte ins Haus zurück und telephonierte mit Gina. Um Gottes willen, nur diesen Abend nicht allein sein.
Gina von Tillowitz war Lenores vertrauteste Freundin. Auch eine Jugendfreundschaft, noch von der Schule her. Nur daß in dieser Freundschaft ausschließlich Lenore der gebende Teil war, obwohl sich Gina durchaus als den benachteiligten Partner betrachtete. Und alles, was sie empfing, – sie empfing viel, denn Lenore verstand es auf tausend Arten, die dürftigen Verhältnisse Ginas dem Zuschnitt ihres eigenen Reichtums anzugleichen – sah sie als einen ihr von Rechts wegen zustehenden Tribut an, der ihrer Meinung nach nur aus der Verpflichtung eines schuldbewußten Gewissens floß.
Die eine Schuld war Lenores Freundschaft mit Professor Vitali, der ursprünglich eine Bekanntschaft Ginas war und als Student dem recht pikanten, hübschen Backfisch den Hof gemacht hatte. Daß sie ihn wegen seiner körperlichen Mängel mit niemals verziehener Brutalität abgewiesen und er sich erst dann ihrer weicheren Freundin zugewandt hatte, davon wollte sie heute nichts mehr wissen. Für sie stand es fest, daß Lenore ihr Vitali abspenstig gemacht hatte. Und seit sie anfing, ein alterndes, armes Mädchen zu werden, mit immer geringer werdenden Heiratsaussichten, gleichzeitig aber der junge Arzt in der medizinischen Welt als hoffnungsreich aufstrebendes Gestirn gepriesen wurde und die schönsten und reichsten Frauen sich um diesen faszinierend bizarren und überlegenen Geist bemühten – Vitali konnte sich über Mangel an Glück bei Frauen trotz seiner Häßlichkeit nicht beklagen – bildete sich in Gina die Legende von dem ernsthaften Verehrer, den ihr die kokettere Freundin fortgenommen hatte, zur fixen Idee aus.
Mit Herbert war es übrigens ähnlich. Lenore, mit einem weichgetönten, musikalischen Sopran begabt, hatte sich, vor die Notwendigkeit gestellt, einen Beruf zu ergreifen, für die Bühnenlaufbahn ausgebildet und ein erstes Engagement im Heidelberger Stadttheater gefunden. Die kurze Entfernung zwischen Mannheim und Heidelberg machte die Fortsetzung der Freundschaft zwischen den beiden Mädchen leicht. Kurz vorher hatte Herbert das väterliche Erbe angetreten. Nach heftigstem Kampf mit der Mutter, die für Herberts Zwillingsbruder Vinzenz, den nur um eine halbe Stunde später geborenen Lieblingssohn, gleiche Rechte gefordert hatte. Und Herbert, der während dieses ersten Sommers im Heidelberger Landhaus wohnte – es war auf der Neuenheimer Seite unterhalb des Philosophenweges, lange bevor dort Weg und Steg, geschweige denn das heutige Villenviertel entstanden war, von jenem sauf- und liebelustigen Großvater erbaut worden – lernte die junge Künstlerin gemeinsam mit ihrer Freundin kennen. Er hatte Gina nie den Hof gemacht, nicht einmal oberflächlichstes Gefallen an ihr gefunden, sein Herz, das Herz eines spröden, schwer zugänglichen Achtundzwanzigjährigen, war vom ersten Augenblick der Sängerin verfallen, so wie das ihre von der ersten Begegnung an unlösbar und vorbehaltlos zur Unzertrennlichkeit in ihn hineinschmolz. Es war keinen Augenblick zwischen ihnen Werben, Suchen und endliches Finden. Einander in den Weg geschleudert, wie zwei Planeten durch wechselseitige Kraft in ihrer Bewegungsbeziehung bestimmt, in ihrer Laufbahn aneinandergekettet, traten sie unmittelbar die Herrschaft übereinander an. Für Gina malte sich die Sache so, daß Lenore durch ihre ausgesprochene Koketterie die neue Bekanntschaft sofort mit Beschlag belegt hatte und sie – obwohl sie nur hätte wollen müssen, denn ihr hätten erster Blick und Gruß gegolten, was die beiden »natürlich« und »begreiflicherweise« heute abstritten – sei eben aus Freundschaft und Anstand zurückgetreten. Eigentlich verdankte Lenore Reichtum und Glück ihrer »Anständigkeit«, und was Lenore ihr jemals erwiesen und überhaupt erweisen könnte, stände in gar keinem Verhältnis zu dem Dank, den man ihr schulde. Und richtig überlegt, sei die Freundin schuld an ihrem Unglück, an ihrer Einsamkeit, ihrem kümmerlichen Dasein.
Brach solche oder ähnliche Stimmung aus ihr heraus, bis zu taktlosem Angriff sich steigernd, so hatte Lenore immer ein entschuldigendes Wort für sie. Sie sei doch ein armes, unglückliches Wesen. Begreifliche Reizbarkeit, unterdrückte Sinne, zweckverfehltes Leben. Was alles richtig und doch wiederum falsch war. Da war noch Hochmut und Oberflächlichkeit, Bedürfnis, eigene Schuld fremden Schultern aufzuladen, Mangel an Mut, überlebte, engstirnige Tradition und Hemmung zu zerschlagen. Und das Schlimmste von allem: Beschränktheit. Aber Lenore hing an ihr. Freundschaften, die in der Jugend geschlossen wurden, haben die Kraft der Dauer.
Die beiden Frauen hatten sich nach dem Abendbrot in den Park gesetzt, so tief, daß die trompetenden Schreie der Hupen nur in geschwächten Wellen herüberklangen. Gina war überraschend elegant gekleidet, hatte eine kleine, hübsche, noch immer sehr gute Figur und ein spitzes Gesichtchen, auf dem sorgfältigste Pflege das Vorhandensein einer reichlich verflossenen Jugend vortäuschte.
»Schrecklich schlechter Laune bist du wieder einmal, Nore.«
Traurigkeit, Ernst, Verzweiflung bei anderen verschmolz bei Gina zu einem zusammenraffenden Begriff: schlechte Laune. Sie war gekränkt, daß Lenore mit ihr nicht ins Kino gehen wollte.
»Ich bin heute wirklich nicht in Stimmung, Gina. Verstehst du das nicht?«
»Wer in solchen Verhältnissen lebt wie ich,« das bekam Lenore bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufs Brot gestrichen, »versteht natürlich, was schlechte Stimmungen sind. Aber damit hilfst du doch Herbert nicht, daß du zu Hause hockst.«
»Ich habe mich heute sehr aufgeregt.«
»Aber wenn dein treuer Freund ›Vitali‹,« das ›treuer‹ bekam eine besondere Betonung, »dir versichert, daß keine Gefahr ist, brauchst du doch nicht besorgt zu sein. Weißt du übrigens, daß dein Ritter Toggenburg und die schöne Frau Heimsdorf –«
Lenore winkte mit einer abwesenden Geste ab.
»Laß das, Gina. Du glaubst doch nicht wirklich, daß ich auf ihn eifersüchtig bin. Ich wäre glücklich, wenn ihr euch heiraten würdet.«
»Dann hättest du ihn mir eben seiner Zeit –«
»Ja, doch, Gina, ich weiß, aber ich bitte dich, heute, nur heute sprich nicht davon. Ich kann nicht –«
»Ich verstehe dich nicht. Wegen Herbert brauchst du doch nicht so verzweifelt zu sein. Und sollte, was ich ja nicht wünsche, etwas passieren, dir kann doch nichts geschehen. Sieh mich an –«
»Das ist es ja gar nicht.«
Und plötzlich, Strom der Tränen bahnte fortschwemmend den Worten einen Weg, mußte sie ihre Qual, ihre Zweifel, ihre mütterliche Zerfetztheit auftun, hinausstoßen, daß die Worte wie in einem steinig zerklüfteten, unebenen Bett vorwärtssprangen, sich überstotterten, stolpernd stürzten.
»Im Grunde genommen ist das furchtbar interessant. Direkt ein Roman. Wozu Männer imstande sind, wenn sie närrisch werden. Unglaublich. Aber daß du darüber so außer dir bist, ist doch lächerlich. Du liebst doch Lutz, ob er nun wirklich dein Kind ist, das ist doch heute gleichgültig. Bilde dir ein, er ist dein Kind, die Hauptsache ist, daß Herbert nichts erfährt.«
»Ach, Gina, du verstehst mich gar nicht.«
Gina war sofort beleidigt.
»Natürlich verstehe ich dich. Halte mich, bitte, nicht für dumm. Ich sehe die Sache nur von einem anderen Standpunkt, eben nüchterner.«
Lenore antwortete nicht. Es hatte doch keinen Zweck. Dieses Ausströmen, Sich-Ausgießen hatte ihre innere, berstenvolle Geladenheit entspannt, jetzt war sie müde, erschöpft, sank mit überschweren Schultern in sich zusammen.
Gina begann plötzlich zu kichern.
»Du kannst lachen?«
»Ich dachte nur, was deine Schwiegermutter sagen würde, wenn sie das wüßte.«
»Um Gottes willen, Gina, ich bitte dich! Du tust ja, als ob das todsicher wäre –«
»Sage ich gar nicht. Aber es ist doch möglich. Und wenn man Lutz ansieht, nicht einmal unwahrscheinlich. Das wäre ein gefundenes Fressen für die alte Dame, sie ist dir ohnehin nicht grün.«
»Nicht einmal denken so etwas. Ich beschwöre dich. Ein unbedachtes Wort von dir, und das größte Unglück ist da. Du hast schon manchmal etwas gesagt.«
»Bitte, wann? So sag's doch. Also schön, bin ich eben auch eine Klatschbase. Weil ich's mir ausdenke, wie es wäre.«
Sie fühlte Lenores Angst. Sie weidete sich an dieser Angst, empfand mit Befriedigung die Macht in ihrer Hand, spielte genießerisch auskostend mit den Möglichkeiten ihres Mißbrauches.
»Gina, versprich mir bei unserer Freundschaft, daß du nie, nie und zu niemand auch nur ein Sterbenswort verrätst.«
»Warum sollte ich? Wenn du mir keine Veranlassung dazu gibst –«
Sie brachte das einfache, beruhigende, einzig selbstverständliche »Ja« nicht heraus.
Im wirren Übersturz ihrer Gefühle hatte Lenore bis jetzt der Gedanke an die Hinterhalte, die sie umlauerten, nicht berührt. Das Gespräch mit Vitali, das meteorisch Strudel aufreißend in den friedvollen See ihres Lebens gefahren war, hatte nur an ihr mütterliches Gefühl gegriffen. Oben im gemeinsamen Schlafzimmer fühlte sie ungeheure, undurchdringliche Verlassenheit. Sie flüchtete vor der feindseligen Einsamkeit in das große, stumme Bett und machte, ganz in Kissen und Decken verkrochen, einen hoffnungslos vergeblichen Griff hinüber nach der Seite, wo Herberts Platz war. Siebenundzwanzig Jahre hatte sie Nacht für Nacht so hinübergelangt im Dunkeln, seine Hand ertastend, die sie dann zu sich herüberzog, unter ihrem Kopf hinweg, bis sie, seinen Arm unter dem Nacken, einschlief. Nie hätte er, aus irgendeiner schamvollen Sprödigkeit oder anderen Hemmung, von selbst diese Bewegung zärtlichen Heranziehens gemacht. Aber er wartete jede Nacht mit wachen, beunruhigten Augen, daß sie sich dieses kleine, süße, schmeichlerische Anschmiegen jedesmal wieder eroberte. Vom ersten Tage ihrer Ehe hatte sie um seine Zärtlichkeit gekämpft, und als nach dem ersten Jahre so gar keine Aussicht auf den Leibeserben sich eröffnete – eine Sehnsucht, die in ihm so stark war, daß die hinschwindende Hoffnung auf Erfüllung wie eine immer unübersteigbarer wachsende, endgültig trennende Mauer sich zwischen ihnen emporbaute – hatte sie, alle weiblich eingeborene Zurückhaltung überwindend, seine Kühle überrannt. Und aus den verliebten Stunden dieser ihm fast gewaltsam abgerungenen Leidenschaftlichkeit, in denen er zum ersten Male die wortlose, verbissene Süßigkeit hemmungslosen Nehmens und weit geöffneter, lechzend verströmender Hingabe lernte, erwuchs die Erfüllung seiner Sehnsucht – das Kind.
Mit unbeschreiblichem Glücksgefühl von ihr, von ihm erwartet.
Mißgünstig umlauert von seiner Mutter, dieser merkwürdigen Frau, die dem Sohn nie die Verbindung mit der »Komödiantin« verzieh, und der Schwiegertochter nie den Sohn, der alle ihre Pläne durchkreuzte. Lenore krümmte sich vor Aufregung unter ihrer Decke. Wenn Gefahr drohte, Herbert, dem Jungen, ihr, dann kam sie nur von dort. Wenn Gefahr drohte? War denn etwas geschehen? Wer wollte es denn beweisen? Wer konnte es? Der einzige, Vitali. Und der schwieg. Schwieg oder schwor alle Eide.
Fensterkreuz und Rahmen schnitten aus der weißlich verdämmernden Juninacht vier Bilder aus Himmel, Wolken und Bäumen.
*
Die nächsten acht Tage vergingen Leonore in mürbender Ruhe, versehnter Einsamkeit, unruhevoller Grübelei. Sie saß wohl jeden Tag ein, zwei Stunden bei Herbert im hellen Krankenzimmer des Sanatoriums – solange er es eben duldete – aber die täglichen Berichte, die ihm Lutz halten mußte, auch einige Besuche, die sich schwer abweisen ließen, wichtigste Dispositionen, deren Erledigung er sich selbst im Krankenbett nicht nehmen ließ, erschöpften ihn leicht. Dann mußte sie ihn nach immer zu kurzer Zeit verlassen.
Solange sie bei ihm saß, war sie ruhig. Selbst in seiner Krankheit ging noch Kraft und Herrenhaftigkeit von ihm aus, die sich wie ein weitgespanntes, sturmsicheres Dach über ihrem Leben wölbte. Meist saß sie still am Bettrand, sein Schweigebedürfnis erfühlend, seine große, knochige Teltzschhand zwischen ihren streichelweichen, leichtgepolsterten Händen. Einmal die Frage:
»Fehlt dir, brauchst du etwas?«
Und er mit einer seltenen Weichheit, die fast nie Worte fand, nie sich vor dritten offenbarte:
»Nur in der Nacht. Daß du meinen Arm nimmst.«
Kein Rausch hinstürmender Liebeserklärung hätte sie glücklicher machen, tiefere, beseligtere Röte in ihr Gesicht treiben können als diese Worte eines Menschen, der seine Gefühle nicht sprechen konnte. In der Nacht lag sie leise wimmernd bis über den Kopf in die Decke verkrallt.
»Herbert, wo ist dein Arm?«
Und zog sein Kissen knüllend unter ihre Schulter.
Mit Vitali in diesen Tagen sich auszusprechen war unmöglich. Er hatte übermenschlich zu tun, fand knapp Zeit für einige Worte im Korridor des Sanatoriums, für ein kurzes, berichtendes Telephongespräch über den Zustand des Kranken. Es drängte sie jetzt auch gar nicht so, ihn zu stellen, von ihm Rechenschaft zu fordern, sie wußte ja doch, was er antworten würde. Das war bei ihm ein einmaliger, aus geballter Bedrängnis herausgeschleuderter Ausbruch gewesen. Das kam nicht wieder. Sie mußte irgendwie anders ihm beizukommen suchen. Bis dahin hieß es sich abfinden, das Wirrsal der Gedanken fortschieben, mit aller Gewalt, wie Gina es gesagt hatte, sich einbilden, es sei nichts gewesen. Die täglich fortschreitende Besserung in Herberts Befinden machte Leonore ruhiger. Da wurde auch das andere leichter.
In allen Vasen standen Blumen. Die hochgespitzten Kegel des Fingerhuts, lockere Stiele der Violen, Rosen in schlanker Neigung, gedrängte Stiefmütterchen. Die Zeit war um. Der Herr des Hauses wurde erwartet. So wie ihn niemand hatte fortbegleiten dürfen, so sollte ihn niemand abholen. Vitali würde ihn bringen.
Es war der erste Regentag in diesem Juni. Aus den grauen Tüchern des Himmels siebten sich die Regenschnüre. Die Bäume im Park standen, eine ergebene Herde, mit abwärts gebogenen Zweigen unter der peitschenden Flut. Lenore stand lachend am Fenster. Kein blauer Himmel war je schöner als dieser wolkenverschlossene, keine Sommerklarheit je glückbringender als dieser geschraffte Wassersturz.
Sie telephonierte ans Sanatorium, ob der Wagen des Herrn Professors schon abgefahren sei. Soeben. Vor einer Minute. Länger als fünf, sechs Minuten brauchte der riesige graue Mercedes nicht. Zwei Minuten vergingen rasch. Die dritte zögerte. Die vierte und fünfte dehnten sich. Sieben, acht Minuten, zehnsekundenweise von der Uhr abgelesen, vergingen. Endlose Zeit von zehn Minuten. Vielleicht hielten sie vor einem Geschäft, vielleicht wollte ihr Herbert eine Überraschung bereiten. Wagen rollten vorbei. Hinten in der Ferne ein graues Auto. Es bog an der Ecke vorher ab. Zwölf Minuten. Und dreizehn. Nach einer Viertelstunde hielt es Leonore nicht mehr aus und rief noch einmal das Sanatorium an.
»Aber die Herren sind sicher schon eine gute Viertelstunde fort.«
Im Telephon war ein surrendes Geräusch. Eine Männerstimme sprach.
»Gehen Sie aus der Leitung!« schrie Lenore aufgeregt hinein.
»Augusta-Sanatorium?« fragte der Mann.
»Ja, aber gehen Sie bitte aus der Leitung, hier wird noch gesprochen«, antwortete man aus dem Sanatorium.
»Hier Polizeirevier Sophienstraße! Das Auto Professor Vitalis ist verunglückt –«
Den Rest hörte Lenore nicht mehr. Ohne Schrei, noch den Hörer in der verklammerten Hand, als ob sie sich an ihm festhalten wollte, war sie wie unter der schmetternden Wucht eines sicheren Hiebes zusammengesunken.
Sie lag noch, das heruntergerissene Tischtelephon neben sich, in verkrümmter Ohnmacht, als Lutz zu ihr hereinstürzte.
Erst am nächsten Tag erfuhr sie, schonungslos gegen sich selbst wütend, ihrer Umgebung brockenweise die Wahrheit entreißend, daß Vitalis Chauffeur, einem schleudernden Auto auszuweichen, den Wagen herumgerissen hatte, dabei selbst auf der nassen Straße ins Schleudern gekommen und mit voller Wucht gegen einen Laternenpfahl gefahren war. Der Lenker war mit einigen Knochenbrüchen davongekommen. Professor Vitali lag hoffnungslos mit tödlichem Schädelbruch. Seinem Patienten, dem Gebieter über ein Königreich werkender Hände, dem Herrn über einen Hochwald steinerner Schlote, über eine unterirdisch gedehnte Welt von Zechen und Gruben, hatte furchtbarster, nackenzermalmender Sturz den letzten Atem in einer Lache von Blut erstickt.