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Vorwort bes Verfassers

Wenn ich heute als Mann von 65 Jahren die Geschichte meines wilden jugendlichen Liebeslebens niederschreibe, so tue ich es wahrlich nicht aus Freude an der Erinnerung, denn neben manchem Schönen habe ich noch mehr Unschönes, Beschämendes zu berichten. Noch weniger schreibe ich aus Sensationslust, denn ich bin heute ein müder Greis, dem nur noch eine kurze Spanne Lebenszeit zugemessen ist und der resigniert, wunschlos, mit überlegenem Lächeln auf die Eitelkeiten des Lebens blickt. Ich veröffentliche die Erlebnisse meiner Jugendzeit aus demselben Grunde, der mich veranlaßt hat, in früheren Romanen die unnatürlichen, kulturwidrigen, durch und durch verrotteten Zustände in unserem Liebes- und Eheleben zu schildern und an den Pranger zu stellen. Ich will an dem mir zunächst liegenden Beispiel zeigen, wie sich das Liebesleben des deutschen Jünglings abzuspielen pflegt. Es handelt sich ja nicht um die Darstellung der Sitten eines Einzelindividuums, die wenig Wert haben würde, sondern um die des typischen Treibens unserer männlichen Jugend. So wie ich und meine damaligen Altersgenossen vor vierzig Jahren unter der Herrschaft der zweierlei Moral das schönste, höchste und stärkste Gefühl des Menschen geschändet, in den Schmutz gezogen haben, ohne uns dessen bewußt zu sein, weil wir die anderen so leben sahen, weil wir wußten, daß unsere Väter es nicht anders getrieben hatten, ebenso verzetteln auch noch heute die jungen Leute ihre Kraft zu lieben. Wer hat schuld an dieser beschämenden Tatsache, die unser ganzes Leben vergiftet und die Ursache von schweren moralischen und physischen Gebrechen und Leiden ist? Der einzelne nicht, sondern die Gesellschaft hat schuld, d.h. die tonangebenden Kreise, die die staatlichen Gesetze, die gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche und Anschauungen geschaffen haben. Unsere sozialen Einrichtungen lassen nicht zu, daß die Männer der gebildeten, führenden Klassen vor dem 35. Lebensjahr heiraten. Das ist der Urquell alles Übels, der Prostitution und der illegitimen Verhältnisse, des wüsten Liebeslebens der unverheirateten Männer. Solange wir diese unsinnigen grellen Mißverhältnisse haben, solange wird und kann es nicht anders sein. Ich frage: Was sollen denn unsere jungen Männer tun, die noch ein halbes Dutzend Examina und lange Probe- und Diätarjahre vor sich haben, bevor sie eine Anstellung erlangen, die ihnen gestattet, eine Familie zu gründen? Will man den normalen, gesunden jungen Männern etwa zumuten, den stärksten natürlichen Trieb zu unterdrücken, sich körperlich selbst zu mißhandeln? Wenn sie es auch wollten, sie könnten es nicht, denn die gemißhandelte Natur würde sich doch elementar Bahn brechen. Ein gesunder, normaler junger Mann kann bis in die dreißiger Jahre hinein ohne geschlechtlichen Verkehr nicht leben. Er würde körperlich und seelisch ein Krüppel werden, wollte er es versuchen; Lebensfreude und Arbeitslust würden dahinsiechen, und er würde zur Liebe und Ehe und zur Erzeugung von Kindern nicht mehr tauglich sein. Die Natur läßt sich nicht spotten. Unsere unkulturellen sozialen Verhältnisse zwingen den normalen jungen Mann zur Prostitution mit allen ihren häßlichen, gefahrbringenden Begleiterscheinungen oder zur Verführung ehrbarer Mädchen oder zu widernatürlichen, ungesunden Manipulationen. Deshalb ist es Heuchelei oder Unverstand, will man die jungen Leute verdammen, die so leben, wie – ich gelebt habe. Die ganze geschlechtliche Frage ist nur ein Teil der großen sozialen Frage. Schafft Zustände, daß jeder junge Mann, gleichviel welchen Berufes, zwischen dem 20. und 22. Lebensjahr das Mädchen seiner Liebe heimführen kann, und daß er es nicht nötig hat, sich an ein reiches Mädchen, das ihm vielleicht Widerwillen einflößt, zu verkaufen und heimlich das Lasterleben seiner Jugend auch als Ehemann fortzuführen, um den in der Ehe unbefriedigten natürlichen Trieben zu genügen. In den meisten Kulturstaaten sind heute allein die Handarbeiter in der glücklichen Lage, mit zwanzig Jahren Liebesehen einzugehen und ihre natürlichen Begierden in legaler Weise zu befriedigen. In den unteren Ständen ist die Frühehe die Regel, in den oberen die Spätehe. Deshalb leben auch die jungen Leute der gesellschaftlich höheren Kreise geschlechtlich viel ungebundener, sittenloser und deshalb ist es auch Tatsache, daß Geschlechtskrankheiten in den oberen und mittleren Bevölkerungsschichten häufiger sind als in den Handarbeiterkreisen. Die jungen Arbeiter pflegen sehr häufig das von ihnen geschwängerte junge Mädchen zu heiraten, die »besseren« jungen Männer fast nie.

Schon in der Jugend müßte die Grundlage einer schöneren, reineren Auffassung von dem Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander und ihrer gegenseitigen Pflichten gelegt werden. An Stelle einiger für die bei weitem größere Mehrzahl der Schüler wirklich recht entbehrlichen Disziplinen (z.B. Griechisch, höhere Mathematik, das Auswendiglernen starrer, veralteter Dogmen usw., wobei weder Geist noch Gemüt profitieren) müßte das wichtigste aus der Biologie, von der Natur des Menschen und auch Moralunterricht gegeben werden. Hierbei müßte die Jugend auch über das Wesen der geschlechtlichen Dinge in der ihr angemessenen Weise aufgeklärt und die heranwachsenden Jünglinge zur Achtung des Weibes, zur richtigen Würdigung des Liebeslebens und zur geschlechtlichen Selbstachtung erzogen werden...

Wenn ich meine Scheu, meine Bedenken, das erotische Leben meiner Jugendjahre der Öffentlichkeit preiszugeben, überwunden habe, so tat ich es, um durch ein aus dem Leben gegriffenes, ohne irgendwelche erdichteten romanhaften Zutaten und ohne alle Beschönigungen dargestelltes drastisches, eindruckfähiges Beispiel die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese unhaltbaren Zustände zu lenken und zum Nachdenken darüber anzuregen. Ich tat es in dem Bewußtsein, daß ja alle, die von meinen Offenherzigkeiten Kenntnis nehmen, dieselben Jugendsünden hinter sich haben, die einen mehr, die anderen weniger, und von dem Wunsche beseelt, die Erkenntnis der Reformbedürftigkeit unserer sozialen und damit verbundenen und davon abhängigen übrigen kulturwidrigen Zustände auf allen Gebieten des Lebens immer weiteren Kreisen zu erschließen und die Bestrebungen einer bisher noch so kleinen Gruppe von vorurteilslosen Kulturfreunden fördern zu helfen, unser Liebesleben und unsere Eheinstitution sittlicher, menschenwürdiger zu gestalten.

Albert Zell.


Ich war noch nicht ganz fünf Jahre alt, als ich das erste erotische Erlebnis hatte. Die aktive Rolle, die dem Manne nach Sitte und Herkommen in erotischen Dingen gebührt, spielte ich jedoch nicht dabei, sondern meine ältere Schwester Marion und ihre Freundin waren es, die mich und meinen kleinen Freund Viktor von Lichtenstein veranlaßten, mit ihnen auf den Heuboden auf dem Hofe unseres elterlichen Grundstücks zu klettern, um hier Vater, Mutter und Kind zu spielen. Oben mußte ich mich zu der Spielgefährtin legen, und meine Schwester, die alles das angab, wies den kleinen Viktor an, sie zu umhalsen. Meine kleine Frau und ich ahmten diese Prozedur folgsam nach, und nach einem Weilchen zogen die beiden kleinen Mädchen ihre Puppen, die sie unter ihren Kleidern verborgen gehalten, hervor und erklärten: Die Kinder seien nun geboren. Man sieht, wie geschäftig die Phantasie der kleinen Mädchen ist, sich schon in frühester Kindheit in recht naiver Weise in die Hauptrolle ihres künftigen Lebens als Gattin und Mutter hineinzuträumen.

Mein Spielgefährte und ich waren aber nicht recht bei der Sache; uns langweilte das Spiel, und unwirsch verließen wir den Schauplatz unserer ersten kindlich harmlosen erotischen Betätigung.

Dabei war ich durchaus kein phantasieloser Stockfisch; im Gegenteil, die Phantasie spielte in meinem späteren Liebesleben eine große, zuweilen stark stimulierende Rolle, aber sie schlummerte damals noch gänzlich. Im übrigen war ich schon in meiner frühen Kindheit ein Träumer. So habe ich in späteren Jahren meine Mutter erzählen hören, daß man mich einmal um die Mittagszeit vergebens im ganzen Hause und auf dem Hofe gesucht habe. Endlich fand man mich im Garten, im dichten Gebüsch; mit offenen Augen stand ich und starrte träumend vor mich hin. Ich selbst erinnere mich, daß ich als Kind die Gewohnheit hatte, mich in eine Märchenwelt hineinzudenken, mit der ich die Gestalten meiner Lektüre bevölkerte. Die böse Stiefmutter im Märchen von dem armen Geschwisterpaar Hänsel und Gretel verkörperte sich mir in der Gestalt einer bei uns Kindern gefürchteten häßlichen, keifenden, alten Nachbarin, und in einem biederen, wegen seiner jovialen Freundlichkeit bei uns Kindern beliebten alten Werkmeister einer Tuchfabrik sah ich den lieben Gott, von dem ich gelesen hatte, daß er zuweilen in Gestalt eines Mannes auf Erden wandele, um die Menschen, Gute und Böse, auf die Probe zu stellen.

Als ich elf Jahre alt war, machte ich meine ersten dichterischen Versuche. Damals war ein Mädchen, etwa in der Mitte der zwanzig, als Wirtschafterin in mein Elternhaus gekommen. Eveline Schrader war sentimental angehaucht, spielte die Gefühlvolle und erwies sich besonders mir gegenüber sehr liebenswürdig, und so machte ich sie zur Vertrauten meiner heimlichen lyrischen Bestrebungen. Sie lobte meine Gedichte, wohl mehr, um sich bei mir einzuschmeicheln, als aus wirklich objektivem künstlerischen Interesse; mehr denn als Dichter gefiel ich ihr offenbar als hübscher Bengel. Sie lehnte sich an mich, streichelte mir die Backen und mit schmelzender Stimme flüsterte sie mir ins Ohr: »Albert! Albertchen! Mein schöner lieber Junge!« Ihre heiße Wange schmiegte sich an meine.

Ich kann nicht sagen, daß mir diese Zärtlichkeitsanwandlung der etwa vierzehn Jahre Älteren Vergnügen bereitet und entsprechende erotische Regungen in mir erweckt hätte, im Gegenteil, die Verliebtheit der Wirtschafterin rief in mir, wie auch später ähnliche Situationen mit sinnlich begehrenden und meist älteren Mädchen und Frauen, nur eine peinlich beklommene Stimmung hervor. Aber die in dem liebeglühenden Alter des reifen Mädchens Stehende ließ nicht locker. Sie schwärmte mir von einem ihrer früheren Verehrer vor, wie lieb er sie gehabt, wie er ihre Schönheit gepriesen. Und eines Tages raffte sie ihr Kleid bis fast zum Knie: »Habe ich nicht ein schönes Bein, Albertchen?«

Natürlich wandte ich mich betreten ab und vermied von da ab, mit der Versucherin allein zu sein.

Ich war nahezu dreizehn Jahre alt, als ich endlich die Liebe kennen lernte, die in meinem ganzen späteren Dasein, wie im Leben jedes phantasiebegabten temperamentvollen Mannes, eine große Rolle spielen sollte. Der Blick der schwärmerischen blauen Augen, das freundliche Lächeln der blonden, anderthalb Jahre jüngeren Elise Grabert, einer Schulfreundin meiner gleichaltrigen jüngeren Schwester Gertrud, war es, was mich bezauberte und die ersten erotischen Triebe in mir wachrief. Nur ein halbes Jahr lang ungefähr währte diese Liebe, aber es war bereits eine Liebe mit allen obligaten Begleiterscheinungen: Schwärmerei, die sich in glühende Gedichte ergoß, süß empfundene Küsse und zuletzt brennende Eifersucht mit leidenschaftlichen heftigen Ausbrüchen.

Ich weiß es noch heute, wie eine schöne, selige Stimmung beim ersten Kuß über mich kam: Zart und keusch war mein Empfinden und doch voll inniger Zärtlichkeit. Das erste Erwachen der wunderbaren Zauberin Liebe, die natürliche Zuneigung der beiden Geschlechter, die mit unwiderstehlicher Gewalt den Knaben zum Mädchen drängt und die jungen Herzen mit hochklopfender Seligkeit erfüllt.

Mein Vater war damals häufig fern von Haus und Stadt, und so konnten wir Kinder, die wir jedesmal aufatmeten, wenn unser in seinen Erziehungsgrundsätzen übertrieben strenger Erzeuger abwesend war, uns freier bewegen. Mein Vater war – es war in der Konfliktszeit 1865 – Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Unsere Vaterstadt hatte, allen Bemühungen meines fortschrittlich gesinnten Vaters zum Trotz, noch keine Eisenbahn, und so war die Verbindung mit Berlin, die nur die Post und daneben ein noch langsamerer, großmächtiger, vorsintflutlicher Omnibus vermittelte, sehr beschwerlich und zeitraubend. Wir sahen also unsern Vater wochenlang gar nicht, und unsere gute Mutter, die überdies ein mildes Regiment führte, war von unserem großen Haushalt und den kleinen Geschwistern – wir waren unser sieben – viel in Anspruch genommen. So kam es, daß wir Älteren uns in dieser Zeit vielfach selbst überlassen waren. Im übrigen war mein Vater ein liberal denkender, gastfreier Mann, und er hatte nichts dagegen, daß des Sonntags nachmittags meine und meines älteren Bruders Freunde und die Freundinnen unserer beiden Schwestern sich zum Besuch bei uns einstellten. Es wurden Gesellschaftsspiele gespielt und getanzt, und zwischen uns Jungens und den Mädchen stand ein kindlich harmloser Flirt in voller Blüte.

Da packte mich Zwölfjährigen eines Tages zum erstenmal eine plötzliche, unerklärliche sinnliche Aufwallung. Ich befand mich mit meiner jüngeren Schwester und einer in ihrem Alter stehenden Schulgefährtin aus einer Nachbarsfamilie in unserem Wohnzimmer. Wir saßen an einem viereckigen Tisch, meine Schwester mir gegenüber, die etwa elfjährige Agnes Wahl zwischen uns. Und nun ereignete sich etwas merkwürdiges, das mir noch heute fast unerklärlich ist. Es waren wohl die ersten Pubertätsregungen in mir und vielleicht auch die Wirkung der Mitteilungen eines neuen Freundes, der mir gerade damals von einer häßlichen Sache, die er heimlich betrieb, erzählt hatte. Meine Schwester war in ein vor ihr liegendes Buch vertieft, und auch Agnes Wahl hatte ihr Köpfchen über ein Buch gesenkt. Ich betrachtete sie schweigend; eine Locke ihres Blondhaars lag auf ihrer Stirn, auf ihren Wangen flammte eine Röte, vielleicht unter dem Einfluß der Lektüre, vielleicht auch war es meine unmittelbare Nähe, der Druck meines Schenkels, der sich gegen ihren preßte. Möglich, daß sie zu den frühreifen Kindern gehörte, bei denen sich schon in zarter Kindheit sinnliche Wallungen einstellen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihr Atem ging heftig.

Da kam es über mich. Nie hatte ich ähnliches empfunden. Wie im Traum, wie in einer Hypnose, wie unter dem Zwange einer unwiderstehlichen höheren Gewalt ließ ich meine Hand unter den Tisch gleiten und drückte ihre Knie, und dann glitt sie begehrlich weiter, keck, dreist. Agnes Wahl saß mäuschenstill, rührte sich nicht und wehrte die unerhörte Annäherung nicht ab. Nur ihr Atem wurde lauter, die Glut in ihrem Antlitz brennender. Wahrscheinlich stand sie unter demselben unbewußten, dunklen Trieb wie ich, den ein niegekanntes, bezwingendes, atemraubendes Gefühl durchrieselte. Kein Entschluß war vorausgegangen, kein Willensakt war es, eine unwillkürliche, jäh erwachte, unbewußte, rein triebhafte Regung hielt mich und die kleine Spielgefährtin eine Weile im Bann, bis ich aufstand und mich wortlos entfernte. Das Wunderbare war, daß die kleine Agnes gar nicht hübsch war, weder körperlich noch seelisch Anziehendes besaß und mir nie ein Gefühl der Sympathie eingeflößt hatte, etwa wie vorher Elise Grabert. Und auch in den Knabenjahren nachher hat mich keine ähnliche Regung zu ähnlicher Tat getrieben, was war es? Ein rätselhaftes Spiel der Natur? Wahlverwandtschaft? Lag etwas Verwandtes in unseren Naturen, das aufeinander wirkte und den gleichen sinnlichen Drang in uns auslöste? Es mußte wohl so sein, und auch in späterer Zeit habe ich die Erfahrung gemacht und auch von Frauen und Männern bestätigen hören, daß Menschen auf uns körperlich in dieser Weise wirken, die uns seelisch nichts sind und weder durch äußerliche noch innerliche Eigenschaften unser Interesse erwecken. Merkwürdig, daß es gröber veranlagte, geistig und moralisch unter uns stehende Menschen zu sein pflegen, die uns in dieser rein sinnlichen Weise anziehen.

Neben diesen erotischen Wallungen hatte ich schon als Knabe ernste Bestrebungen. Stundenlang saß ich an meinem kleinen Schreibpult, einem Weihnachtsgeschenk, und verfaßte schon als elfjähriger Knabe nach einer historischen Erzählung ein großes fünfaktiges Drama und schrieb auch, neben einigen kleinen Gedichten, eine romantische Novelle, die als Fortsetzung des Schillerschen Fragments »Der Geisterseher« gedacht war.

Im Jahre 1866 verlegten meine Eltern ihren Wohnsitz nach einer größeren Stadt. In nahezu zwanzig Jahren hatte mein Vater seine Fabrik zu großer Blüte gebracht, aber das hatte seiner Unternehmungslust, seinem Tatendrang und seiner Arbeitslust nicht genügt. Nicht nur, daß er sich in verschiedenen Ehrenstellungen betätigte, als Stadtverordnetenvorsteher, Meister vom Stuhl der Loge, als Politiker, er hatte auch eine Vorschußkasse begründet nach dem System von Schulze-Delitzsch, zu dem er auch persönliche Beziehungen angeknüpft hatte. Dieses Institut hatte er weiter ausgebaut und in mehreren kleineren Städten des Regierungsbezirks Filialen angelegt. Nachdem er seine Fabrik verpachtet hatte, verlegte er nun den Hauptsitz der Kreditgesellschaft von Zell & Co., wie das zur Aktengesellschaft ausgestaltete Unternehmen jetzt volltönender hieß, nach der Regierungshauptstadt.

Es dauerte gar nicht lange – ich hatte noch nicht ganz mein sechzehntes Lebensjahr erreicht – als ich mich sterblich in eine neue Schulfreundin meiner jüngeren Schwester verliebte. Es war eine Jüdin zwischen vierzehn und fünfzehn, klein, mit gelblichem Teint, schwarzem Haar, keine Schönheit, aber ihre großen, schwarzen, seelenvollen Augen mit dem melancholischen Ausdruck, den man oft in den Augen der Jüdinnen findet, und vor allem ihr Wesen war es, was mich unwiderstehlich anzog und mich zu einer anbetenden Schwärmerei Jahre hindurch hinriß. Sie war lebhaft, klug, schlagfertig, zurückhaltend und doch seltsam anziehend. Sie flößte mir ebensoviel warme Sympathie wie Achtung ein. Wunderbar, rätselhaft ist das Menschenherz. Ich, der ich mich Agnes Wahl gegenüber vom dunklen Trieb zu einer meinen dreizehn Jahren gar nicht angemessenen, frechen Handlung hatte hinreißen lassen, war jetzt der schüchternste, keuscheste, zarteste Anbeter. Klara Bohm kam oft in unser Haus – die Eltern kannten sich nicht und nie kam außer meiner Schwester einer von uns in ihre Familie – aber stets begegnete ich ihr mit der größten Zurückhaltung, und doch war ich über die Maßen verliebt in sie, mit tiefem, innigem, verehrendem Gefühl. Nur mit dem reinsten, ich möchte sagen frommsten Gefühl dachte ich ihrer, und nie schlich sich ein unlauterer, begehrlicher Wunsch in meine Empfindungen.

Meine Liebe verstieg sich nie höher als zu einem stummen, leisen, schüchternen Händedruck, zu einem bewundernden Blick und zu allerlei zarten Aufmerksamkeiten. Daß ich ihr auf der Eisbahn die Schlittschuhe anschnallte und während des Laufes nicht von ihrer Seite wich, jedes Winkes gewärtig, zu jedem Dienst bereit, war selbstverständlich, sowie daß ich bei Gesellschaftsspielen in unserem Hause und auch sonst ihren Kavalier machte. Ob sie mein stummes, aber doch beredtes Werben mit entsprechenden Empfindungen erwiderte, weiß ich bis zum heutigen Tage nicht. Einmal wagte ich, ihr durch meine Schwester eine Bonbonniere zu schicken. Sie hatte das Präsent erst, wie mir Gertrud berichtete, nach längerem Sträuben angenommen und nur unter der Bedingung, daß die Freundin den Inhalt mit ihr teilte, was meine Schwester natürlich nicht ausschlug. Der Überbringerin hatte sie einen schlichten Dank an mich aufgetragen, mir gegenüber aber nie des Geschenkes Erwähnung getan.

Nur ein einziges Mal war ich nahe daran, meiner innigen leidenschaftlichen Liebe einen Ausbruch zu gestatten. Klara Bohm war wieder einmal bei uns zu Gast, wir Kinder belustigten uns, während die Eltern in einem anderen Zimmer weilten, mit allerlei kindlichen Spielen. Jetzt war das Handwerkspiel an der Reihe. Zwei der Mitspieler verabredeten sich zu der pantomimischen Darstellung irgendeiner handwerkmäßigen Tätigkeit, und die anderen mußten es erraten. Ich stand mit Klara Bohm im dunklen Nachbarzimmer, um mit ihr zu beraten. Ich sehe die Situation heute noch so deutlich vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, wir lehnten beide am Ofen, dicht nebeneinander. Unsere Ellenbogen berührten sich, tiefes Schweigen herrschte zwischen uns. Auf mir lag etwas Beklemmendes; ein heißer, erregender Kampf spielte sich in mir ab. Mit keinem Gedanken war ich bei dem Spiel; nur die unmittelbare Nähe des angebeteten Mädchens erfüllte mich ganz. Ich verspürte sie in allen meinen Nerven, jede Fiber in mir war gespannt. Trotz aller Dunkelheit sah ich ihr mir so liebes Antlitz mit dem bezaubernden Blick in den berückenden dunklen Augen. Ein heißer Wunsch stieg in mir auf: »Nur einmal möchtest du sie küssen, nur einen einzigen Kuß auf ihre roten, schon geschwungenen Lippen pressen!«

Ach, ich fand nicht den Mut, und doch hatte ich die Empfindung, daß sie sich in ähnlicher Stimmung befand wie ich, daß sie meinen Kuß erwartete. Ich nahm all' meinen Mut zusammen: »Jetzt – ja jetzt tust du es!«

Schon wollte ich mich zu ihr hinüberneigen. Da erklang ihre lebhafte, ein wenig lispelnde und doch so liebliche Stimme, die ich so gern hörte: »Warum sprechen Sie nicht, Albert? Woran denken Sie?«

»Ich?« verlegen stotterte ich es, beschämt. Ihre Stimme klang ärgerlich, erregt. Ahnte sie, was in mir vorging? »Natürlich doch – an unser Spiel –« beeilte ich mich zu versichern, »was – was wählen wir denn nur? Schlagen Sie doch etwas vor ..!«

»Ich weiß nichts,« versetzte sie, und ich meinte, daß etwas beklommenes, Bedrücktes in ihrem Ton lag.

Wieder trat Schweigen ein, wieder kämpfte ich verzweifelt mit mir. Es war wie Feuer in meinem Arm, der den ihrigen fühlte; ich hörte ihre Atemzüge, jetzt streifte ihr Haar meine Wange. Ich biß die Zähne aufeinander. Jetzt!

Da löste sich ein ganz leiser Seufzer von ihrer Brust. Ich vernahm es deutlich. Und im nächsten Moment trat sie von dem Ofen hinweg, der Tür entgegen.

»Kommen Sie! Wir spielen Drechsler!«

Sie legte ihre Hand auf die Klinke und öffnete.

Es war verpaßt. Noch heute konnte ich mich ohrfeigen über meine dumme Schüchternheit. Nie wieder bot sich eine so günstige Gelegenheit. Und es wäre doch so herrlich gewesen, das angebetete, heiß geliebte Mädchen einmal in meinen Armen zu halten, einmal die Küsse zu tauschen, die doch schon auf unseren Lippen brannten.

Jahrelang habe ich sie noch im stillen geliebt, und auch später noch, wenn ich in den Ferien in das Elternhaus zurückkehrte, ihr meine stumme Huldigung entgegengebracht.

Noch heute wird es mir warm, und eine sanft melancholische, innige Empfindung beschleicht mein Herz, wenn ich an die so keusch und innig Geliebte meiner frühesten Jünglingsjahre zurückdenke.

In der Schule war ich damals ebensowenig wie früher und später ein guter Schüler. Mit vierzehn Jahren war ich erst nach Tertia gekommen, und da ich nicht rechtzeitig nach »Ober« aufgerückt war, hatte mich mein Vater aus dem Gymnasium genommen, um mich von einem strafweise entlassenen, aber im Lehrfach sehr tüchtigen, erfolgreichen Pädagogen, der sich durch Privatunterricht ernährte, für Sekunda vorbereiten zu lassen. So wenig fleißig ich als Schüler war, so eifrig war ich bei meinen privaten dichterischen Arbeiten. Für Lyrik habe ich nie Begabung und Neigung besessen. Dem Drama und der epischen Dichtung gehörte meine Liebe, höchst charakteristisch war es für die Art meiner literarischen Betätigung, daß ich schon als fünfzehnjähriger Knabe eine ganz realistische Novelle verfaßt habe: »Des jungen Gottlieb Knieriems Leiden.« Es war die paradostische Liebesgeschichte eines Schustergesellen, der sich in seine Meisterin verliebt hatte. Die Lektüre von »Werthers jungen Leiden« hatte mich dazu angeregt. Schon ein Jahr vorher hatte ich eine satirisch angehauchte Dichtung verfaßt; merkwürdigerweise war es ein Operettentext in Knittelversen: »Die Jungfrau von Katzenei«, als Parodie auf die Jungfrau von Orleans gedacht. Der Krieg in Schleswig-Holstein im Jahre 1864 hatte den äußeren Rahmen dazu gegeben.

Das Jahr 1868 brachte einen Wendepunkt in meinem Leben. Zum erstenmal verließ ich auf längere Zeit das Elternhaus. Ich wurde nach der Festungsstadt Küstrin in Pension gegeben; hier leitete ein von meiner Vaterstadt her meinem Elternhause befreundeter Direktor das Gymnasium, der mich nach kurzer, von ihm selbst erledigter Prüfung für die Sekunda aufnahm.

Mein Vater hatte dem im Geruch eines entschieden freisinnigen Mannes stehenden Pädagogen seinerzeit die Direktorstelle in unserem Heimatstädtchen verschafft.

Direktor Thiel war ein Original, ein begeisterter Jahn-Verehrer; er selbst betätigte sich als Vorturner in der ersten Riege seiner Gymnasiasten.

Ich wohnte nun in der Familie eines alten Rechnungsrates, der zwei Töchter besaß, von denen die eine etwa vierzehn, die andere zwanzig Lenze hinter sich hatte. Die jüngere, ein kleines, körperlich etwas zurückgebliebenes Mädchen, flößte mir keinerlei Interesse ein. Besser gefiel mir eine Freundin von ihr, die einen Kopf größer war als sie und immer sehr nett angekleidet ging. Eine prächtig proportionierte Gestalt besaß die Vierzehnjährige und ein bereits recht kokettes Wesen. Wie sie das mit langen Locken geschmückte, im übrigen aber nicht gerade hübsche Köpfchen trotzig in den Nacken warf und bald mit den blaugrünen Augen und dem etwas großen Mund lächelte, war gar verführerisch. Auch hatte ich damals schon mein Wohlgefallen an den straffen, schön geformten Waden, die, es war im Sommer, stets in leichten weißen Strümpfen steckten. Wenn sie auf der Straße Ball spielte und lebhaft hin- und hersprang, konnte ich mich eine ganze Stunde lang an dem Anblick der hübsch gebauten Mädchengestalt, vor allem aber an den hin- und herspringenden Beinen ergötzen, über denen auch bei den lebhaften Bewegungen sich ab und zu ein Streifen der weißen Höschen zeigte.

Meine erwachenden Sinne erhielten auch sonst Anregung. Das Dienstmädchen in der Familie meines Pensionsvaters, das auch mein Zimmer aufräumte, das ich mit einem Mitschüler teilte, erzählte uns, daß die ältere Tochter des Hauses sie angelegentlich auszuforschen pflege: was wir mit ihr sprächen und ob wir, wenn sie uns am Sonntagmorgen den Kaffee ins Zimmer brächte, noch im Bett lägen, wie wir dann aussähen usw. Und sie solle uns doch einmal mit Wasser bespritzen, um zu sehen, was wir dann wohl beginnen, ob wir aus dem Bett springen und sie für den Schabernack bestrafen würden.

Unsere Wirtstochter mochte wohl eine stark sinnlich beanlagte junge Dame sein. Das zeigte sich mir eines Tages in mich recht überraschender Weise. Es war am Abend; ich hatte mich zum gemeinsamen Abendbrot verspätet. An der Wand gegenüber von der Flurtür, durch die ich eintrat, stand ein Sofa, auf dem, am runden Tisch, die Pensionsmutter und ihre beiden Töchter saßen. Ich nahm an einem kleinen, unweit der Tür stehenden Tische Platz, auf dem schon mein Abendbrot stand. Tiefes Schweigen herrschte; die drei weiblichen Wesen waren mit Lektüre beschäftigt. Da plötzlich sah ich, wie die ältere Tochter ihre Hand unter den Tisch sinken ließ und verstohlen ihren Rock langsam hinaufzog, fast bis zum Knie. Mir war's ein berauschender Anblick. Ein bildschönes, geradezu ideal geformtes Bein (sie mochte sich dieses Vorzugs wohl bewußt sein) enthüllte sich im hellen Strumpf meinen still bewundernden Blicken.

Ein, zwei Minuten dauerte meine geheime Lust. Dann fiel der Rock wieder hinab, aber der Eindruck, den dieses kleine Erlebnis auf mich gemacht hatte, hielt noch lange vor. Auf einsamen Spaziergängen zauberte die Erinnerung mir das Bild immer wieder vor die Seele; meine aufgeregte Phantasie malte mir ähnliche Erlebnisse; wie im Traum ging ich umher und sah auf Feldern und Wiesen kurzgeschürzte Landmädchen bei der Arbeit.

Dieser sinnliche Rausch, den meine Umgebung wie die natürliche Stimmung der Pubertätszeit immer wieder nährte, erfuhr eine Unterbrechung durch neue Eindrücke. Die Hundstagferien waren gekommen und es war von meinen Eltern bestimmt worden, daß ich die Ferienzeit, wie schon so oft, bei unseren Verwandten in Pommern zusammen mit meinen Geschwistern verleben sollte. Unweit von Stargard besaß der älteste Bruder meiner Mutter ein Rittergut, das er von seinem Vater ererbt hatte, hier haben wir Kinder schöne Tage voll Freiheit, in reiner ländlicher Luft, in starker körperlicher Bewegung verlebt. Wie ein Beruhigungs- und Heilmittel wirkte das gesunde Landleben auf meine erhitzten Sinne. Onkel und Tante empfingen uns, wie immer, mit liebenswürdigster Gastfreundlichkeit. Hier herrschte ein anderer Ton als im elterlichen Hause, wo die Gegenwart des ernsten, strengen Vaters jede laute, geräuschvolle Fröhlichkeit dämpfte und oft erstickte. In dem mehrere Morgen großen Garten und park, draußen auf den Feldern, auf Wiesen und im Wald konnten wir uns nach Herzenslust austoben. Die Hauptcharakterzüge des behäbigen, gemütlichen Onkels August waren eine herzliche, unversiegliche Gutmütigkeit und ein schlichter natürlicher Sinn. Unter meines Vaters Erziehungsgrundsätzen stand an erster Stelle die Pflicht unbedingten Gehorsams und eines tiefen heiligen Respekts vor der Autorität der Eltern, vornehmlich aber des Vaters. In unserer Familie gab es nur einen Willen, den des Vaters, dem sich alle, auch die Mutter, ohne jeden Versuch eines Widerstandes zu fügen hatten. Nie habe ich erlebt, daß meine Mutter auch nur den leisesten Widerspruch gegen eine vom Vater getroffene Bestimmung gewagt hätte. Nie fand vor uns Kindern auch nur der geringste Wortwechsel zwischen den Eltern statt. Und uns Kindern wäre es auch nicht einmal im Traum eingefallen, dem Vater zu widersprechen. Ja, wir wagten kaum in seiner Gegenwart den Mund zu öffnen, wenn wir nicht gefragt waren. Gewissermaßen wie eine göttliche Macht und Vorsehung thronte er über uns; sein Wille war uns unverletzliches, heiliges Gebot. Auf der anderen 5eite aber sorgte er für unser körperliches Wohlbefinden ebenso liberal und gewissenhaft wie für unser geistiges Vorwärtskommen. Nie war ihm in dieser Hinsicht eine Ausgabe zu groß, und wenn wir in der Schule einigermaßen gut bestanden, so erwies er sich auch gegen unsere Wünsche willfähig und freigebig.

Mit vollen Sinnen genoß ich in Gesellschaft meiner Geschwister und meiner beiden Vettern (Töchter besaßen meine Verwandten nicht) das frische, freie Landleben. Den ganzen Tag waren wir draußen im Hof, Garten, Feld und Wald. Tagtäglich wurde gebadet, Reitversuche wurden unternommen und neue Freundschaften mit den Kindern und Besuchern auf den Nachbargütern geschlossen. Es herrschte unter den Gutsbesitzern und Pächtern eine ebenso schlichte wie herzliche Gastfreundschaft. Des Sonntags fuhr man stets irgendwohin. Es machte auf uns Stadtkinder immer einen halb komischen, halb rührenden Eindruck, wenn wir, die wir an die steifen Verkehrsformen des städtischen Lebens gewöhnt waren, sahen, daß die alten Gutsherren einander bei solchen Besuchen zur Begrüßung herzlich umarmten und küßten. Der alte Pastor Gerloff von einem der Nachbardörfer, der mit Frau, Tochter und Sohn unter den regelmäßigen Besuchern war, ging auch an uns fremden Kindern nicht vorüber, ohne jeden von uns mit einem Kuß zu begrüßen.

Während die älteren Herren sich in einem weiter abgelegenen Zimmer zum Boston oder L'hombre niederließen, suchten wir junges Volk zunächst stets den Garten auf, um uns hier an ländlichen Spielen zu vergnügen.

Auf dem nächsten Gute, der königlichen Domäne Luisenfließ, war es, wo ich von neuem mein Herz verlor und ich mich sterblich in die liebliche blonde Tochter des Oberamtmanns Schmitz verliebte. Ich sehe das fünfzehnjährige große schlanke Mädchen noch vor mir, mit den lieben freundlichen Blauaugen, mit dem so liebenswerten, ungemein sympathischen, natürlicher Herzenswärme entquellenden Wesen. Ich hatte sogleich bei der ersten Begegnung den Eindruck, daß ich ihr ebenso gefiel wie sie mir. Mit hochklopfendem, beseligten Herzen empfanden wir, wie sich zarte Fäden zwischen uns anspannen. Abgefallen war alles Sinnliche, Unreine von mir, was während der ersten Monate in Küstrin so bezwingend, betäubend von mir Besitz genommen. Ich war wieder ganz der ideale Schwärmer; die irdischen, allzu irdischen Regungen waren ganz der frommen Anbetung, dem wunschlosen, heiligen Gefühl selbstloser, innigster Herzensneigung gewichen. So oft ich dem geliebten Mädchen in diesen vier Wochen begegnete, gesellten wir uns sofort zueinander, und wenn wir auch wenig miteinander sprachen, es war uns beiden schon köstlichste Seligkeit, uns einander nahe zu fühlen, uns verstohlen die Hand zu drücken und glückberauscht zärtliche Blicke zu täuschen.

Die größte Rolle bei diesen ländlichen Besuchen spielte natürlich der Tanz am Abend. Wie haben wir doch geschwelgt, Johanna Schmitz und ich im Polka, im Walzer und im Galopp. Zart den Arm um das geliebte Mädchen geschlungen, während ihr Atem meine Wangen fächelte, ihr Blondhaar meine Stirn streifte, fühlte ich mich so unbeschreiblich glücklich, daß mir fast das ganze Herz zerspringen wollte.

Heilige Gelübde durchschauerten meine Seele: Immer, immer würde ich Johanna lieben, ihr teures Bild würde mich überallhin begleiten und alles häßliche aus meiner Nähe scheuchen, und jeden Augenblick würde ich bereit sein, ihr zuliebe alles, auch das schwerste und höchste, zu vollbringen.

Ach, wie bald bist du verflogen, schöner, reiner Jugendenthusiasmus! Andere weibliche Gestalten traten in mein Leben und entzündeten heißere, wildere Gluten in mir. Damals ahnte ich noch nicht, wie nahe ich dem verhängnisvollen Moment war, wo sich mir das Wesen der Geschlechtlichkeit enthüllte. Die irdische erstickte auf lange Zeit die himmlische Liebe.


Nach dem beglückenden, herrlichen, poesievollen Liebestraum empfand ich das tägliche Leben mit seiner verdrießlichen Prosa, die öde, jeden seelischen Schwung lähmende Schulfuchserei mit verdoppelter Unlust. Unter den pedantischen Schulmeistern war nur ein einziger, der es verstand, dem Unterricht belebende Geistigkeit, die Phantasie anregende, begeisternde Wirkung zu verleihen. Dies war unser Geschichtslehrer, ein freundlicher Mann von urbanem Wesen, mit prächtiger Rednergabe, wenn er uns einen Vortrag hielt, in schöner Sprache, mit hinreißendem Temperament und innerer Anteilnahme die geschichtlichen Vorgänge und Charaktere schildernd, hingen wir alle voll Aufmerksamkeit und tiefem Interesse an seinem Munde. Ich erinnere mich, daß ich mich besonders für Catilina begeisterte. Während mich Ciceros philiströse Reden langweilten und mit ihrem leeren Pathos nur Widerwillen in mir erzeugten, begeisterte ich mich an Sallusts Beschreibung der berühmten Verschwörung. Und meine Anteilnahme ging bei mir, dem trägen Schüler, der seine Arbeiten oft erst in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden anfertigte, so weit, daß ich zu Hause voll Eifer über Sallust saß und sogar eigene Anmerkungen zum Text machte. Überhaupt, die lateinische Sprache war mir sympathisch, während mir die griechische viele Schwierigkeiten bereitete und nur wenig Interesse einflößte. Schon als Quartaner hatte ich seinerzeit begonnen, eine Geschichte des römischen Reiches in lateinischer Sprache zu schreiben. Freilich, über die Anfangskapitel bin ich nicht hinausgekommen, von der griechischen Literatur interessierte mich nur Homer, dagegen war mir Sophokles ein Greuel. In Obersekunda verstieg ich mich sogar dazu, einige Stellen aus Homers Odyssee in deutsche Verse zu bringen, die ich in der Klasse mit Genehmigung des Lehrers vorlas.

Jetzt freilich, nach den Hundstagen, während mein Herz noch ganz erfüllt war von dem lieblichen Bild Johanna Schmitz', war ich nur lyrisch gestimmt, und mein heißes Sehnen ergoß sich in die weltschmerzlichen schlichten Verse:

Mein Schatz, laß dieses Lied dir sagen,
wie ich unsäglich lieb dich hab'!
Ach, will dein Herz für mich nicht schlagen,
bleibt mir nur noch der Weg zum Grab.

Wo du nicht bist, ist mir die Sonne
verhüllt in einen Nebelflor,
doch schau ich dich, zieht mich die Wonne
des Augenblicks zu Gott empor.

Ich habe in meinem ganzen Leben höchstens zwei Dutzend Gedichte geschmiedet; nur in frühester Jugend und bei sehr bewegtem Herzen wurde ein bißchen lyrisches Empfinden in mir wach.

Ein Erlebnis, das ich bald darauf hatte, lenkte meine Augen, freilich nur diese und nur für ganz kurze Zeit, auf ein anderes weibliches Wesen. Schon ein paarmal auf der Straße war mir ein junges Mädchen aufgefallen, das mit ihrem schon voll entwickelten Busen und mit ihrer kecken, bestimmten Art einen älteren Eindruck machte, als ihren sechszehn Jahren entsprach. Jedesmal sah sie mich mit ihren dunklen Feueraugen in so herausfordernder Weise an, daß mir das Blut ins Gesicht schoß. Eines Nachmittags sah ich aus dem Fenster der im ersten Stock gelegenen Wohnung meines Pensionsvaters. Da kam meine schöne Unbekannte die Straße herauf. Sie schaute mit einem Glutblick zu mir hinauf, während sie vorüberging.

Am Ende der kurzen Straße kehrte sie um und kam zurück. Diesmal hatte ihr Blick etwas so deutlich lockendes, daß unwillkürlich die Frage in mir aufstieg: »Was will sie von dir?« Nach ein paar weiteren Schritten drehte sie sich um und machte mit dem rechten Ellenbogen eine heftige, fast herrisch auffordernde Bewegung. Instinktiv gehorchte ich; es war kein Zweifel, sie wollte, daß ich zu ihr hinabkommen sollte. Also nahm ich meinen Hut und eilte auf die Straße. Sie ging langsam, von Zeit zu Zeit sich umblickend, ob ich ihr auch folgte, die Straße hinunter, dem Festungstor zu. Es war in der siebenten Abendstunde, im Dämmerlicht. Draußen bog sie in einen menschenleeren, vom Bäumen besäumten Weg ein. Jetzt verlangsamte sie ihre Schritte; mir hämmerte das Herz in der Brust. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein mir unbekanntes Mädchen angesprochen, und allerlei beklemmende, lähmende Bedenken regten sich in mir. Bildete ich mir nicht am Ende etwas ein, das keinerlei realen Hintergrund hatte? Hatte ich ihrer Armbewegung nicht vielleicht eine falsche Bedeutung untergelegt? Würde sie mich nicht gehörig abblitzen lassen, wenn ich sie jetzt anredete? Und überhaupt, was sollte ich ihr eigentlich sagen?

Sie schritt so zögernd, daß ich es nicht vermeiden konnte, an ihr vorüberzugehen. Das Gesicht mit der Verlegenheitsglut auf die Brust gesenkt, schlich ich an ihr vorbei. In meiner hilflosen Befangenheit wußte ich nichts besseres zu tun, als meine Schritte zu beflügeln. Da hielt mich ihre Stimme zurück.

»Haben Sie's denn so eilig, Herr Zell?«

Ich blieb stehen und starrte sie überrascht an.

»Sie kennen mich?«

»Freilich. Sie sind mir aufgefallen, und da habe ich mich erkundigt, wie Sie heißen und wo Sie wohnen.«

»Warum ... warum denn?« stotterte ich tölpelhaft.

Sie lächelte und sah mich wieder mit ihren Glutaugen an, vor denen mir angst und bange wurde.

»Weil Sie mir gefallen und ich Ihre Bekanntschaft zu machen wünsche,« versetzte sie ohne Scheu.

Ich fühlte mich geschmeichelt. Nun war kein Zweifel mehr.

»Gefalle ich Ihnen denn nicht?« fragte sie schelmisch, während wir unseren Weg wieder aufnahmen.

»Doch, doch!« versicherte ich stammelnd, dabei den Blick vor ihren niederschlagend.

Aber meine Unbeholfenheit schien ihr Selbstgefühl, ihre Sicherheit noch zu erhöhen.

»Ein so hübscher Mensch wie Sie braucht doch nicht so schüchtern zu sein!« ermunterte sie resolut.

Natürlich wurde ich dunkelrot; so geradeheraus hatte mir das doch noch keine gesagt, seit ich zum Jüngling gereift war. Es war eine eigentümliche Situation, die mich in grenzenlose Verwirrung brachte. Die Rollen waren vertauscht; das Weib, noch dazu ein so junges Geschöpf, war der aktive Teil, der Mann der passive.

Trotz der Schmeichelei war meine Stimmung keinesweges eine gehobene. Ich lächelte verlegen.

»Sie haben wohl noch niemals geküßt?« fuhr sie fort.

»Doch – doch!« gab ich zurück und dachte an Elise Grabert. Es war das einzige Mal gewesen, wo ich weibliche Lippen auf meinen gefühlt. Zugleich ärgerte ich mich über mich selber. Wenn ich damals so unternehmend gewesen war, warum benahm ich mich heute wie ein Stockfisch.

Sie wurde immer deutlicher. Sich ein wenig vorneigend und mich aus nächster Nähe mit ihren begehrlichen Blicken anblitzend, sagte sie schmeichlerisch:

»Sie haben einen so schönen Mund; ich glaube, Sie müssen sehr nett küssen können.« Trotz ihrer für ihre Jahre erstaunlichen Raffiniertheit kannte sie wohl das Menschenherz noch wenig. Gerade ihre dreiste, schamlose Art stieß mich ab und nahm ihr in meinen Augen allen Reiz. Ich weiß nicht mehr, welche Antwort ich ihr gab; ich erinnere mich nur, daß unsere Unterhaltung und unser Spaziergang bald ein Ende nahmen, wir verabschiedeten uns ziemlich kühl voneinander und verabredeten nicht einmal ein Wiedersehen.

Am nächsten Tage erkundigte ich mich über das Mädchen – sie hatte mir, noch ehe wir uns trennten, ihren Namen genannt. Was ich über sie erfuhr, steigerte die Antipathie, die mir ihr draufgängerisches Wesen eingeflößt, zum grenzenlosen Abscheu. Sie war eine Waise und lebte mit ihrem erwachsenen Bruder, der ein Geschäftsmann war, zusammen. Man erzählte sich von den Beiden kaum glaubliches, furchtbares.

Was sie mit mir vorgehabt hatte, konnte ich mir danach wohl denken. Aber noch war mir die geschlechtliche Begierde nicht zum Bewußtsein gekommen. Wenn ich dem kecken Mädchen in der Folge zufällig einmal begegnete, sah ich nach der anderen Seite.

Nach den Michaelisferien, die ich bei meinen Eltern zubrachte, kamen neue Schüler aus anderen Städten. Das Gymnasium in Küstrin bestand erst im zweiten Jahr und es hieß, daß man hier leichter das Abiturium würde bestehen können. Auch war bekannt, daß die Gymnasiasten sich hier größerer Freiheit erfreuten, als es sonst üblich war. Der Direktor war in der Tat ein humaner, freigesinnter Mann. So hatte er den Sekundanern und Primanern das Kneipen erlaubt und bestimmte Lokale für unseren Besuch freigegeben. Unter dem Einfluß von zwei neuen Freunden, die von Potsdam gekommen waren, gewöhnte ich mir noblere Passionen an, als ich sie bisher gepflegt hatte. Neunaugen, Sardinen und andere Leckereien sowie echtes Bier verdrängten die einfachen, billigeren Genüsse. Es waren zwei Brüder, die Söhne eines Geheimen Regierungsrats; der ältere war schon neunzehn Jahre alt, der andere anderthalb Jahre jünger; beide waren Primaner. Auf den Älteren hatte, wie er mir später erklärte, meine äußere Erscheinung einen sympathischen Eindruck gemacht und ich schloß mich, geschmeichelt, daß er, der Ältere, die Freundschaft des Sekundaners suchte, herzlich an ihn an. Wir wurden in der Folge gute Freunde. Ein guter Kitt unserer Freundschaft war auch das Übereinkommen, daß wir uns gegenseitig bei den Schularbeiten halfen: Ich diktierte ihm die deutschen Aufsätze und er machte meine mathematischen Aufgaben, denn der Mathematik stand ich geradezu hilflos gegenüber.

Den jüngeren Bruder mochte ich nicht leiden; er war eine auffallende Persönlichkeit. Trotz seiner jungen Jahre hochgewachsen und mit selten regelmäßigen Zügen. Manieren tadellos, immer mit einem verbindlichen Lächeln im Gesicht, aber mich fröstelte es bei seinem aalglatten Wesen, das großen Wert auf die äußeren Formen legte und sich immer wie das eines Erwachsenen gab. Er kleidete sich stets mit großer Sorgfalt, aber sein etwas arrogantes, renommistisches Benehmen machte ihn wenig beliebt. Er war der einzige in meinem damaligen Freundeskreise, der sich in erotischen Prahlereien gefiel und sich mit vielsagendem Lächeln und mit halben Andeutungen den Anschein gab, daß er in punkto Liebe ein Wissender sei.

Die Wirkung war allerdings die wahrscheinlich von ihm gewünschte. Er wurde für uns ein Gegenstand des Staunens, der Bewunderung und geheimen Neides. Erich Luckner war es auch, der uns eines Abends in eine Mädchenkneipe führte. Es war das erstemal, daß ich ein Lokal betrat, in dem eine freundliche Hebe das schäumende Bier kredenzte. Hübsch war sie und sehr munter; ihre Lebhaftigkeit und ihre halb anziehende, halb zurückscheuchende Art bezauberte uns alle. Erich Luckner war natürlich der Matador; sein gewandtes, einschmeichelndes Wesen versagte auch bei dem Schenkmädchen seine Wirkung nicht. Bewundernd, in steigender Erregung, von unbewußten Regungen durchglüht, sahen wir zu, wie er mit der Hebe verkehrte, ihr Artigkeiten sagte, ihre Hände ergriff und streichelte und schließlich seine Arme um ihre Taille legte. Mir wurde ganz heiß dabei, und uneingestandene Wünsche überfielen mich. Der jugendliche Don Juan brachte es richtig so weit, daß sich die nicht Allzuspröde von ihm küssen ließ. Sein Bruder folgte, und nun konnten auch wir übrigen drei uns nicht mehr zurückhalten. Das Mädchen ging sozusagen von einem Lippenpaar zum andern. Sie wollte sich ausschütten vor Lachen über die verliebten kußlüsternen Gymnasiasten. Ich aber war wie berauscht. Das war doch ein ganz anderer Kuß wie damals der von der kleinen Elise Grabert! Wie heiß es mich durchschauerte! In jedem Nerv verspürte ich die glutvollen Lippen der mich fest an sich pressenden Schenkin. Ja, die verstand zu küssen!

Und dann kam das große historische Ereignis, das meinem Leben eine plötzliche, ungeahnte Wendung gab und nicht nur in meinem äußeren Leben, sondern ebensosehr für mein inneres Leben und meine sittliche Entwicklung einen wichtigen Abschnitt bedeutete.

Am 19. Juli dieses Jahres erklärte Frankreich an Preußen den Krieg. Ich befand mich in den Ferien wieder auf dem Gute meines guten Onkels August. Auch bis in den stillen, weltabgeschiedenen Ort trieben die Wellen der ungeheuren Bewegung, die durch ganz Deutschland fluteten. Die Reservisten und Landwehrleute wurden eingezogen. Schon während der Anfänge des politischen Konflikts, noch vor unseren Ferien, hatten wir Pennäler mit großer Lebhaftigkeit die Möglichkeit eines zwischen Frankreich und Deutschland ausbrechenden Krieges erörtert. Hans und Erich Luckner und ich, wir hatten uns begeistert das Wort gegeben, als Freiwillige mitzugehen, wenn es wirklich ernst werden sollte. Nun, da die Würfel gefallen waren, ergriff es mich wie ein Fieber. Und als nun gar die Truppentransporte begannen – zehn Minuten vom Herrenhause befand sich die Eisenbahnstation, die den Namen von dem Gute meines Onkels hatte – da wurde der Wunsch, mein den Freunden gegebenes Wort einzulösen und den Feldzug mitzumachen, immer dringender in mir. Aber mein Onkel, dem ich mich offenbarte, riet mir ab. Mein Vater würde es doch nun und nimmer zugeben. Da kam eines Tages ein Brief von Hause, daß Robert, mein älterer Bruder, der das neunzehnte Jahr bereits zurückgelegt hatte, die Gestellungsorder erhalten hätte. Da war kein Halten mehr. Noch an demselben Tage schrieb ich einen langen, heiß flehenden Brief an meinen Vater. Was ich geschrieben, weiß ich nicht mehr, aber es hatte die erwünschte Wirkung. Nachdem ein paar Tage quälenden, bangen Wartens verstrichen waren, kam die zustimmende Antwort und mit der formellen Erlaubnis zugleich mein einjähriges Zeugnis, das der Vater bereits besorgt hatte. An meinen Onkel schrieb er, er möchte mich nach der nächsten Garnison bringen, denn wo ich einträte, sei ganz gleichgültig. Mein älterer Bruder aber – er war kleiner und schwächlicher als ich – war bei der militärärztlichen Untersuchung zurückgewiesen worden.

Keiner war froher als ich. Wir besannen uns nicht lange. Stettin wurde gewählt, und zwar das Ersatzbataillon des vierzehnten Infanterieregiments, weil der Kommandeur des Bataillons, ein alter, schon verabschiedet gewesener Major, seinerzeit meines Onkels Vorgesetzter gewesen. Einschalten will ich, daß die beiden Luckner, da ihnen der Herr Geheimrat seine Einwilligung nicht gegeben, heimlich durchgebrannt, aber von ihrem Vater wieder zur Schule zurückgebracht worden waren. Erst zu Neujahr, als der Krieg sich seinem Ende näherte, haben sie das sogenannte Notexamen gemacht und sind dann beide später Offiziere geworden. Vom Feldzug 1870/71 haben sie nichts gesehen.

Meinen Stolz kann man sich vorstellen, als mich der Militärarzt in Stettin für tauglich erklärt hatte. Leider erlitt meine Freude einen kleinen Dämpfer, als mir der Regimentsschneider erklärte, daß keine Monturen mehr da waren und er erst eine Uniform für mich anfertigen lassen müsse. Viele Einjährige exerzierten und gingen in ihren Zivilkleidern herum. Ich aber hätte um keinen Preis mehr das lumpige Zivil getragen; zum Glück hatte ich eine Drillichjacke aufgetrieben. Dazu legte ich ein paar eigene weiße Hosen an, umgürtete meine Lenden anstatt des fehlenden Säbels mit dem sogenannten »Spickaal« – eine Lederscheide, in der das abgeschraubte Bajonett des Zündnadelgewehrs steckte – zog ein paar weiße Tanzstundenhandschuhe an und stolzierte so, die Extramütze auf dem stolz emporgereckten Haupt, durch die Straßen Stettins.

Ein brausendes Leben begann. Das Exerzieren war ein Vergnügen, die Abende wurden im Kreise der Kameraden zechend, singend verbracht. Eines Tages kam an der Tafelrunde das Gespräch, das sich ja fast ausschließlich auf die täglichen Siegesnachrichten erstreckte, auch einmal auf erotische Dinge. Was da meine keuschen Ohren alles zu hören bekamen! Die Scham und die geheime Erregung brannten mir abwechselnd auf den Wangen. Die Kameraden waren fast alle über die Zwanzig, die meisten junge Kaufleute, ich, der siebzehnjährige Pennäler, war der jüngste in der Runde der Einjährigen unseres Bataillons.

Da tippte mir mein Nachbar auf die Schulter. Kersten hieß er, ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt, Gutsinspektor seines Zeichens, ein netter, liebenswürdiger Mensch, der mir im Dienst und auch sonst stets freundlich zur Hand ging.

»Na, Zell, du sagst ja gar nichts! Mensch, ich glaube gar, du bist noch Jungfer!«

Beschämt saß ich da, unter den spöttischen und geringschätzigen Blicken der andern heftig errötend.

»Na, laß nur gut sein!« tröstete mich der Kamerad, der schon einen Kinnbart und einen flotten Schnurrbart trug, mir gönnerhaft auf die Schulter klopfend. »Nichts wird man im Leben leichter und angenehmer los als die Jungfernschaft!«

Tosendes Lachen begrüßte und bestätigte diese Sentenz des Erfahrenen. Und als ich noch immer voll Scham den Kopf gesenkt hielt, fügte Kersten hinzu: »Scheinst ja höllisch schüchtern, Zell. Hast wohl Angst? Na, ich werde mich deiner annehmen.«

Der Kamerad hielt Wort. Schon am nächsten Nachmittag holte er mich aus meiner Wohnung ab.

»Ich habe etwas für dich. Werde dich zu dem Mädel begleiten. Wenn du erst auf den Geschmack gekommen sein wirst, findest du den Weg zu den süßen Weibchen schon allein.«

Mir war gar nicht wohl zumute, so neugierig ich auch war und so begierig mich schon die Prahlereien Erich Luckners und gar erst die Erzählungen der Kameraden gemacht hatten. Aber so par force, gewissermaßen unter militärischer Eskorte, widerstrebte es doch meiner noch unverdorbenen, noch nicht erotisch abgebrühten Natur.

Kersten führte mich in eine abgelegene, nicht eben freundliche Straße und in ein keineswegs einladendes Haus. Mir klopfte das Herz zum Zerspringen, als wir uns der Tür zu dem Parterrezimmer näherten. Wenn ich mich nicht geschämt hätte, wäre ich am liebsten ausgekniffen. Aber wenn Kersten es dann den andern erzählt hätte, ich wäre ja für immer unsterblich blamiert und Zielscheibe spöttischer Witze gewesen. Also ich biß die Zähne zusammen. Es ging eben einfach nicht anders. Kersten öffnete und zog mich mit sich über die Schwelle. Zum Glück herrschte schon Dämmerung. Vom Sofa löste sich eine Frauengestalt; sie mochte Mitte der Zwanzig sein. Soviel ich in meiner furchtbaren Befangenheit wahrnehmen konnte, sah sie gar nicht übel aus. Sie lächelte uns beide freundlich und einladend an. Ich kam mir wie ein Schlachtopfer vor.

»Da bringe ich dir was Rares,« sagte Kersten, seine Freundin mit einem Händedruck begrüßend. »So was hast du nicht alle Tage – ein ganzer Neuling!«

Er schob mich der Erstaunten, Lachenden entgegen; sie umschlang mich ohne weiteres herzhaft.

»Ist es wirklich wahr, Kleiner?«

Ich nickte beschämt, während es in meiner Brust stürmte und eine Flut der verschiedenartigsten Gedanken und Empfindungen in meinem Hirn wogte. Ich dachte an meine schwärmerische Jugendliebe: an Klara Bohm und an die zarte Blondine in Louisenfließ, die ich ebenfalls keusch und innig geliebt hatte, ich dachte auch an mein Elternhaus und verwünschte den Kameraden, der sich in seiner Rolle als Mentor blähte. Aber in die niederziehenden, sentimentalen Hemmungen spritzten auch ein paar aufschäumende Regungen der Neugierde und der Begehrlichkeit.

Bevor Kersten ging, eilte das Mädchen, ich wußte nicht, zu welchem Geschäft, in den Alkoven, der sich an ihr Zimmer schloß. Der Kamerad benutzte die Gelegenheit, um mir leise, hastig zuzuraunen: »Mehr als drei Mark gibst du ihr nicht – hörst du! Für einen Soldaten genug!«

Damit verließ er uns, und die Liebesverkäuferin zog mich zum Sofa.

Eine halbe Stunde später verließ ich die Priesterin der Venus vulgivaga, die mich die rein körperliche Liebe gelehrt hatte. Ein Glücksgefühl war nicht in mir, aber auf der Straße reckte ich mich doch stolz und sah jeden Jüngling in meinem Alter selbstbewußt, überlegen an. »Ich bin ein Mann!« hätte ich jedem zurufen mögen. Dennoch fühlte ich keine Lust, die neue »Freundin« zu einem zweiten Liebesstündchen aufzusuchen. Wohl ging ich ein paarmal mechanisch, triebhaft in die Straße, aber ein Gefühl des Widerwillens hielt mich ab, in das schäbige Haus zu treten, in dem sich meine Wandlung zum Manne so nüchtern, so ganz poesielos, ich möchte fast sagen, so geschäftsmäßig vollzogen hatte. Ich Tor, ich ahnte ja nicht, um welches süßeste, himmelantragende, unvergänglich schöne Erlebnis ich betrogen worden war!

Acht Tage später war wieder Kersten der Verführer, der mich abermals zu einem bezahlten Schäferstündchen verleitete.

Wir waren im »Elysium«, wo alle Tage Tanz und zugleich ein förmlicher Liebesmarkt stattfand. Das weibliche Publikum bestand fast ausschließlich aus Prostituierten. Ich war schon damals ein flotter, und ich darf wohl sagen, ein gewandter Tänzer, und nach Herzenslust überließ ich mich den Freuden des Tanzes. Kersten aber, dessen Sinne wohl von der Berührung mit den aus allen Poren Sinnlichkeit schwitzenden Mädchen gereizt worden waren, hielt es für angezeigt, nach Terpsichore auch der Venus zu huldigen. Schon hing ihm, als Feierabend geboten war, eines der Weiber, das sich weder durch Schönheit noch durch Jugendfrische auszeichnete, am Arm. Er winkte mir mit dem Kopf, und halb widerstrebend, halb in erwachender Begierde, schloß ich mich ihm an. Alle drei begaben wir uns in seine Wohnung. Er hatte mit einem Freunde, einem Artilleristen, der einige Tage vorher zur Front gegangen war, zwei Zimmer inne. Im Schlafzimmer standen noch zwei Betten. Als Wirt war er so liebenswürdig, mir den Vortritt einzuräumen. Aber die an und für sich schon nicht gerade himmlischen Freuden in den Armen der wenig berauschenden Circe wurden durch Kerstens Ungeduld noch wesentlich gedämpft. –

Nur vier und eine halbe Woche dauerte meine militärische Ausbildung, woran der langsame Schritt und das Einzelexerzieren den Hauptanteil hatten. Kompagnieexerzieren gab es überhaupt nicht, und nur einmal waren wir zum Schießstande gezogen. Ganze fünf Schuß habe ich mit meinem Zündnadelgewehr abgegeben. Aber das kriegerische Feuer und die jugendliche Abenteuerlust waren groß. Doch beinahe wäre meine Freude zu Wasser geworden. Unser Major rangierte mich als Jüngsten aus der Reihe der von ihm gemusterten Einjährigen aus. Nur mein flehentliches Bitten und der Hinweis, daß ich nur des Krieges wegen freiwillig eingetreten, bewogen ihn, mich wieder zu den übrigen zurückzustellen.

Am nächsten Tag ging's mit rauschender Militärmusik nach dem Bahnhof. Wie stolz wir durch die Straßen marschierten, von der Menschenmenge lebhaft begrüßt! In Berlin wurde die erste größere Rast gemacht. Mein älterer Bruder und meine Mutter erwarteten mich hier. Das Mittagessen in der Bahnhofsrestauration wollte mir gar nicht schmecken. Es lag mir wie ein Alb auf der Brust und schnürte mir die Kehle zu. Die Unterhaltung wollte nicht in Fluß kommen. Über eine Stunde waren wir zusammen, dann erschallte das Signal: »Einsteigen!« Meine Mutter wollte mir auf dem Bahnsteig das Geleit geben. Aber ich litt es nicht. Nein, in dem Wirrwarr, unter den vielen Soldaten! In Wahrheit aber fürchtete ich für meine Standhaftigkeit, und es schien mir besser, meiner Mannhaftigkeit nicht allzuviel zuzumuten. Ziemlich hastig umarmte ich beide und lief dann eilig, ohne mich auch nur einmal umzusehen, davon. Als ich mein Abteil erreicht hatte, fiel es mir doch schwer aufs Herz. Der Abschied war ein gar zu flüchtiger gewesen, und vielleicht war es ein Abschied für immer. Meine liebe, innig verehrte, gute Mutter! Ich hatte es wohl bemerkt, wie sie die ganze Zeit über mit ihrer Bewegung gekämpft, wie sie ihre Tränen aber um meinetwillen zurückgedrängt hatte. So war sie immer gewesen, selbstlos, opferbereit. Wieviele Opfer hatte sie mir nicht bereits gebracht, wieviele Sorgen um meinetwillen erduldet, wenn es galt, zwischen dem strengen Vater und mir zu vermitteln! Wie oft hatte sie mir heimlich ein paar Taler zugesteckt, um meine kleinen Schulden zu bezahlen. Immer war sie über die Maßen voll Güte und Nachsicht gegen uns Kinder gewesen.

Ein heißer Schmerz krampfte mir das Herz zusammen. Gar zu gern hätte ich ihr noch einmal die Hand gedrückt, noch einmal in die liebevollen, milden Augen geblickt und ihr ein paar Worte der Liebe und des Dankes gesagt. Zu spät! Mit schwerem Herzen sprang ich in den Wagen. Die Kameraden hatten bereits wieder ihren Lieblingsgesang angestimmt. Während mir die hellen Tränen über die Wangen liefen, fiel ich schluchzend ein: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«

Drei Tage und zwei Nächte fuhren wir mit der Eisenbahn. Von Homburg vor der Höh' ging es in Eilmärschen nach Metz. In Forbach, der ersten französischen Stadt, in die wir für zwei Tage einquartiert wurden, wollten mich meine Quartierwirte, ein altes kinderloses Ehepaar, durchaus bei sich behalten. Ich sei doch noch zu jung, um in den Krieg zu ziehen, sie wollten mich an Kindesstatt annehmen.

Vor Metz, unter Kanonendonner, ging der militärische Drill von neuem los; sogar langsamer Schritt wurde wieder – unglaublich – exerziert, freilich auch, zu unserer aller Freude, die erste Felddienstübung abgehalten.

Auch mit dem ewig Weiblichen kamen wir hier in Berührung. Neben dem Hause, wo wir in einer Scheune kampierten, wohnte eine allerliebste »Blanchicheuse«, die unsere Wäsche besorgte. Aber ich mußte mich begnügen, mit ihr zu plaudern und ein wenig platonisch zu scharmieren; mein Schulfranzösisch kam zu ungeahnten Ehren.

Wieder einmal in meinem jungen Leben mußte ich eine Enttäuschung erfahren. Ach ja, Theorie und Wirklichkeit stimmten gar oft nicht überein! Die fesche, flotte Marketenderin, die die Truppe ins Feld begleitet und die hungrigen und nicht nur nach Schnaps und Bier dürstenden Krieger erquickt, hatte ich mir doch ganz anders vorgestellt, als die Gehilfin unseres Markentenders Vater Zacharias es war, die uns Schinkenstullen zu 50 Pfennig das Stück und ganz scheußlich kratzendes »Eau de vie« kredenzte. Immer unordentlich und schlampig, schon etwas angejahrt, bot sie in ihrem Wollrock und in der Männerjacke einen nichts weniger als berauschenden Anblick. Dennoch zirkulierte das Gerücht in der Kompagnie, daß der Feldwebel und der Unteroffizier der Reserve Zander, ein manierlicher, hübscher, vierundzwanzigjähriger Mensch, gewisse Beziehungen zu der »schönen« Therese, einer unverfälschten Berlinerin, unterhielten.

Als Metz genommen war, ging es in Eilmärschen nach Paris. Zweier Erlebnisse mit schönen Französinnen erinnere ich mich, von denen das eine, bei dem der Unteroffizier die Hauptrolle spielte, recht charakteristisch kriegerisch war. Eines Morgens in aller Frühe, stand die Kompagnie zum Abmarsch bereit. Der Kompagnieführer, ein Premierleutnant, konnte jeden Augenblick kommen. Unteroffizier Zander fehlte noch immer. Der Feldwebel fluchte und fragte seine Leute aus. Die Kerle lächelten nur verschmitzt. Schon sahen wir den Kompagnieführer auf seinem Braunen dahersprengen, da stürmte Zander im Laufschritt heran und erreichte noch rechtzeitig seinen Platz. Unterwegs auf dem Marsch erzählte er mir lachend: »Das tolle Weib, meine Quartierwirtin, wollte mich partuh nicht fortlassen. Eine üppige junge Frau, der Mann im Kriege! Schon die ganze Nacht über hatte sie mir keine Ruhe gelassen. Als ich am Morgen – meine Korporalschaft war schon auf dem Sammelplatz unterwegs – Lebewohl sagte, kam noch einmal eine stürmische Zärtlichkeitsanwandlung über sie. Sie ließ nicht locker; in aller Eile, mit dem gepackten Affen auf dem Buckel, mußte ich ihr noch eine letzte Liebesbezeigung erweisen.«

Das andere Erlebnis war zarter, poesievoller; es hat sich als eine meiner lieblichsten Erinnerungen an den Feldzug 1870/71 meinem Gedächtnis eingeprägt. Es war in einem lothringischen Dorf, als ich eines Abends um zehn Uhr von einem Besuch bei einem Kameraden, dem Avantageur Arthur Zeydel, an den ich mich angeschlossen hatte, nachdem Kersten in ein anderes Bataillon versetzt worden war, in mein Quartier zurückkehrte. Ich war angenehm überrascht, als ich in dem geräumigen Wohnzimmer, das der Familie zugleich als Schlafzimmer diente, neben der jungen Tochter meiner Quartierwirte ein anderes junges Mädchen antraf, eine so auffallend schöne Erscheinung, daß ich wie bezaubert dastand.

Die beiden Freundinnen lehnten am Kamin im lebhaften Gespräch, während das alte Ehepaar in dem einen der beiden großen Betten schnarchte – das zweite Bett war, ländlich, sittlich, für mich bestimmt. Die Tochter des Hauses war eine zarte Blondine, kaum dem Backfischalter entwachsen. Man hätte sie für ein deutsches Gretchen halten können, auch ihrem schüchternen, befangenen Wesen nach. Vergeblich hatte ich mich am Nachmittag bemüht, mit ihr eine Unterhaltung anzuknüpfen. Ähnlich den deutschen Mädchen im gleichen Alter hatte sie auf alle meine Versuche, mit ihr ein Gespräch zu unterhalten, nur immer: »Oui, monsieur,« »non, monsieur« geantwortet.

Welch' einen frappanten Gegensatz bot nun die andere! Eine echt südländische Erscheinung: dunkle feurige Augen, schwarzes krauses Haar, eine üppige, voll entwickelte Gestalt, dazu eine höchst temperamentvolle Beweglichkeit. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, daß sie von mütterlicher Seite italienischer Abkunft war. Sie teilte mir mit lebhaftem, sprudelndem Wortschwall mit, daß sie während der Nacht das in der Kammer nebenan befindliche Bett ihrer Freundin teilen würde, da sie sich nicht getraue, zu Hause zu schlafen. Sie sei vor den »balourdises prussiennes« des in ihrem Hause, das sie nur mit ihrer Mutter bewohne, im Quartier liegenden deutschen Capitaine geflüchtet. Ja, wenn es ein französischer Soldat wäre, erklärte sie mit südländischer Lebhaftigkeit, während die großen dunklen Augen flammten, dann würde sie ihm ihre Lippen nicht geweigert haben, aber sich von einem Preußen küssen lassen – jamais, jamais, jamais!

Ich seufzte leise, denn mein Herz brannte lichterloh. Eine Liebesstunde mit dem leidenschaftlichen berückenden Mädchen, das wäre der Himmel gewesen! Damals ging mir die Erkenntnis auf, wie jammervoll armselig meine bisherigen erotischen Erlebnisse und daß sie nur ein Surrogat, ja eine Verzerrung des süßesten Menschentriebes, eine Versündigung an dem heiligen Geist der Liebe gewesen.

Abgesehen von ihrer chauvinistischen Aufwallung, erwies sich die begeisterte Französin als ein liebenswürdiges, reizendes Geschöpf. Während wir lebhaft plauderten, ruhten meine Blicke bewundernd auf ihr. Gar nicht sattsehen konnte ich mich an den feinen, edelgeformten, ausdrucksvollen Zügen; nie wieder bin ich einer so vollendet schönen Französin begegnet. Bis gegen Mitternacht schwatzten wir; dann sagte sie mir mit einem freundlichen Händedruck Gute Nacht.

In Nancy verweilten wir ein paar Tage, und hier fanden die von den Strapazen zurückgedrängten Sinne der Soldaten Gelegenheit, sich zu betätigen. Auch ich war unter denen, die eines der trotz Feindseligkeit und Krieg offenstehenden Bordelle besuchte. Bei mir war es wohl wieder mehr die Neugier, die jugendliche Abenteuerlust und Eitelkeit, als ein wirklich dringendes Verlangen, die mich trieben, das »Freudenhaus« aufzusuchen. Ich freute mich nicht wenig in dem Gedanken, nachher, wenn ich in die Heimat und zur Schule zurückkehrte, vor den Mitschülern mit meinen interessanten Erlebnissen zu glänzen. Zunächst ging es ganz geschäftsmäßig zu. Im Hausflur befand sich, wie in einem Theater, eine Kasse, die von einem älteren Weibe, wahrscheinlich einer ausrangierten ehemaligen Jüngerin der Venus vulgivaga, bedient wurde. Fünf Franks war die Taxe, die jeder Soldat erlegen mußte. Dann wurde man zu einer »Schönen« in eines der zahlreichen kleinen Zimmer geführt. Ich hatte diesmal mehr Glück als seinerzeit in Stettin. Es war ein wirklich nettes, hübsches Geschöpf, das auch nicht so vollständig weiblicher Anmut und Grazie entbehrte wie ihre deutschen Berufsgenossinnen, deren Gunst ich bis dahin erkauft hatte. Sie war zärtlicher als die anderen und bemühte sich, ein persönliches Wohlgefallen zu erwecken. Tat sie es nur aus Berechnung? Ich erinnere mich, daß sie von ihrem freudlosen Leben erzählte, und von der Habgier der Bordellmutter, die ihr und ihren Genossinnen nichts anderes als die allerdings gute Kost und die Bekleidung ließ. Wenn ihr ihre »Liebhaber« nicht eine paar Franks zusteckten, bekäme sie auch nicht einen Sou in die Hände.

Ich verschloß mich dem deutlichen Wink nicht und sah mit Vergnügen, wie sie das ihr gereichte Geldstück in ihren Strumpf steckte.

Vor Paris hatten wir zunächst ein paar Ruhetage in dem Dorf Champlan. Nach den anstrengenden Märschen war das eine wohltat, Dienst hatten wir nicht; nur die Mannschaften rückten alle Tage zum Kartoffelbuddeln aus; wir Einjährigen waren davon dispensiert und so konnte ich, ein Langschläfer, wie ich war, dem Genuß, bis gegen Mittag im Bett zu liegen, nach Herzenslust fröhnen. Mein »Putzkamerad«, wie die meisten Leute ein Pole, war für meine Bequemlichkeit mit der Fürsorge einer Hausfrau bedacht. Alle Morgen, bevor er mit seinen Kameraden aufbrach, stellte er den selbstgekochten Kaffee, dem er eine derbe mit Schmalz bestrichene Stulle beifügte, vor mein Bett. Leider wurde die so innig begehrte Nachtruhe durch gewisse kleine, recht lästige Lebewesen gestört, während der letzten Marschtage waren diese kleinen Tierchen, die ein so starkes Unbehagen verursachten, plötzlich unter den Truppen erschienen, niemand wußte woher.

Zwei Wochen später lernte ich endlich den vollen Ernst des Krieges kennen: die blutige, männermordende Schlacht. Es war am zweiten Dezember, als wir bei Champigny zum erstenmal in die Schlacht kamen. Zuerst lagen wir stundenlang im Granatfeuer; die französische Artillerie schoß vorzüglich. Vor, zwischen und hinter uns krepierten die Granaten. So oft solch' ein Luder über uns dahinsauste, neigten wir instinktiv die Köpfe. Hinter mir lag unser Gruppenführer, ein alter Sergeant, mit lang auf die Brust wallendem Backenbart, der schon 1864 und 1866 mitgemacht hatte. Die Pfeife, die während des Marsches beständig an einem Knopf über der Brust hing, setzte er in Brand.

»Sie glauben nicht, Einjähriger,« redete er mich an, »wie das beruhigt, haben Sie denn nichts Rauchbares bei sich?«

Ich krabbelte mit meinen Fingern an meinem Waffenrock herum. Richtig! Zwischen dem zweiten und dritten Knopf steckte noch eine Zigarre, die letzte. Der Sergeant gab mir Feuer, und wir dampften um die Wette. Aber ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß mir die Zigarre einen besonderen Genuß gewährt hätte.

Da veranlaßte mich plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch, mich umzusehen. Mein Sergeant Thielke lag lang ausgestreckt vornüber und hielt sich mühsam mit den Händen über dem Erdboden. Seine Augen hatten einen starren Ausdruck, seinen bleichen Lippen war die Pfeife entfallen; keuchende, pfeifende Laute entrangen sich seinen Lippen.

»Sergeant, was ist Ihnen?« fragte ich entsetzt.

»Ge–troffen!« stammelte er mühsam.

Jetzt bemerkte ich ein fast faustgroßes Granatstück, das neben dem Verwundeten auf der Erde lag. Das Ding war ihm gegen die Säbelkoppel geschlagen und mußte ihm eine starke Konfusion verursacht haben.

Der Zugführer winkte zwei Krankenträger heran. Thielke wurde unter Ächzen und Stöhnen auf eine Tragbahre gelegt und davongetragen. Als man ihn aufhob, reichte er mir noch die Hand. Seine Pfeife legte ich neben ihn.

Unsere vor uns auf einer Anhöhe aufgefahrene Artillerie mußte zurück; wir aber gingen vor. Im Sturmschritt ging es einen Weinberg hinab; wir sahen die Rothosen vor uns laufen; dann warfen sie sich in einen Graben und eröffneten von hier mit ihren Chassepots ein Schnellfeuer auf uns. Rechts und links fielen unsere Braven. Mein Putzer, ein Pole, »was sich nur gebrochen deitsch sprak,« erhielt einen Schuß in den Unterleib; ich sehe ihn noch vor mir, wie er, das Gesicht schmerzlich verzogen, beide Arme und Hände gegen den Leib preßte und noch ein paar Schritte weiter taumelte; dann sank er zu Boden.

An einer etwas erhöht liegenden Chaussee, die ein wenig Deckung bot, machten wir halt und warfen uns der Länge nach zu Boden. Stundenlang lagen wir im Schnee. Manch' einer, der allzu unvorsichtig den Kopf erhob, mußte auch hier sein Leben lassen. Schauerlich hallten die Klagerufe der weiter abliegenden Verwundeten über das mit der hereinbrechenden Dämmerung still werdende Schlachtfeld.

Meine Gedanken richteten sich nach der Heimat. Ahnten meine Eltern, welchen blutigen Gefahren ich soeben entgangen, welchem ungewissen Schicksal ich vielleicht in wenigen Stunden entgegenging? Gedachte Klara Bohm, die noch immer Heißgeliebte, Treuverehrte, meiner?

Um neun Uhr erhielten wir den Befehl, in das noch zum Teil von den Franzosen besetzte Champigny – sie hatten bei Morgengrauen mit großer Übermacht die überrumpelten Württemberger aus dem Dorf geworfen – einzurücken. An einer am Kreuzpunkt der beiden breiten Dorfstraßen gelegenen großen Villa machten wir halt. Die Wachen wurden ausgerufen; wir anderen begaben uns in die Zimmer, entzündeten Feuer und erlabten uns, die wir den ganzen Tag über nichts genossen hatten, an Brot und Kaffee. Bevor ich mich auf die blanke Diele niederstreckte, trug ich das schon vorher am Abend auf dem Schlachtfeld in mir entstandene Gedicht in mein Notizbuch ein:

Bei Champigny, am Abend des 2. Dezember 1870.

Die tiefste Ruh' rings um mich her,
es schweigt das Schlachtgetümmel –
manch' brechendes Auge, es sieht nicht mehr
den sternenklaren Himmel.

Der Mond zieht herauf in bleicher Pracht,
glänzt weit über die schaurige Runde.
Schlaft wohl, ihr Brüder, zur ewigen Nacht
auf hartem, kühlen Grunde!

Wie still ringsum, wie lauschig die Nacht,
nur die Sträucher sich neigen und wiegen!
Sie flüstern von neuer blutiger Schlacht,
von neuen Kämpfen und Siegen.

Sie flüstern von dir, die du, ach so fern,
mein denkst in Bangen und Grauen –
noch leuchtet, mein Lieb, der Hoffnung Stern:
wir werden uns wiederschauen!

Schlaf wohl, mein Kind, sanft sei dein Traum,
es grüßen dich meine Lieder;
die Seufzer verhallen im Weltenraum –
bald, Schatz, bald sehn wir uns wieder!

Den ganzen Tag über lagen wir hinter den Barrikaden der Straße zwischen den toten Württembergern und Franzosen, die am 30. November hier erbittert gekämpft hatten; jeden Augenblick waren wir des Angriffs seitens der Franzosen gewärtig. Aber sie begnügten sich, während des ganzen dritten Dezembers mit uns Schüsse zu wechseln. Wir machten uns das Vergnügen, ihnen mit Chassepotgewehren zu erwidern, die wir in der Villa und auf den Straßen gefunden hatten.

Am Abend zogen die Franzosen ab, nach Paris zurück. Uns allen aber fiel es wie ein Alp von der Seele, denn bei einem Angriff des an Zahl uns weit überlegenen Feindes wäre es uns, die wir die Vorposten bildeten, übel ergangen.

Wenn ich nun schließlich von meinen Empfindungen während der Schlacht sprechen soll, so muß ich sagen: Das stille, tatlose Liegen in der Reserve, während die feindlichen Granaten unter uns aufräumten und wir vom Gegner nichts sahen, war eine scheußliche Seelenmarter. Jeden Augenblick dachte man, wenn wieder solch' ein Biest geräuschvoll heransauste: »Diesmal gilt es dir!« Aber als wir dann unter Hurrarufen – es klang aus mancher Brust nicht gerade wie ein Sieges- oder Triumphruf – vorgingen, fiel dieser quälende, unleidlich dumpfe Druck von einem. Man hatte überhaupt keinen Gedanken, keine Empfindung mehr; man rannte mechanisch, weil Kommando und Pflicht es verlangten, während einen die Chassepotkugeln mit ihrem summenden Geräusch wie Bienen umschwärmten und man den Kopf zum Ausweichen rechts und links drehte.

Noch während der Belagerung von Paris wurden wir zur Manteuffelschen Armee nach dem Jura abkommandiert. Hier marschierten wir auf den gebirgigen Höhen durch Schnee und Eis wochenlang, immer Bourbakis Truppen vor uns herjagend. Oft kamen wir spät abends in ein Dorf, vor dem noch die Wachtfeuer der flüchtenden Feinde brannten. Endlich wurde Waffenstillstand gemacht und die Friedenspräliminarien begannen. Froh, des Krieges und der ständigen Gefahren und Strapazen herzlich überdrüssig, traten wir den Heimmarsch an. Was wir wieder an Marschleistungen vollbringen mußten, war unerhört. Aber man hat doch da gelernt, sich in das Ganze zu fügen und hat seinen Willen bis zum äußersten gestählt. Ja, es bedurfte oft der stärksten seelischen Anstrengung, nicht schlapp zu werden und sich nicht todmüde, unlustig auf die Erde fallen zu lassen, wenn einmal der Marsch kein Ende nehmen wollte. Lust am Weibe, Erotik in irgendwelcher Form konnte da nicht aufkommen, wenigstens bei mir körperlich unreifem Burschen nicht. Es kostete mich Mühe genug, die soldatische Pflicht restlos zu erfüllen.

Schließlich nahm, wie alles Unangenehme auf Erden, auch dieses entsetzliche Marschieren ein Ende und wir gelangten nach Metz. Unser ganzes Bataillon wurde in eine große Tabakfabrik einquartiert. Die lothringische Hauptstadt war damals noch ein gefährliches Terrain, und größte Vorsicht wurde uns im Verkehr mit der Einwohnerschaft anbefohlen, besonders auch mit dem weiblichen Teil derselben, denn es wurde erzählt, daß Soldaten, die sich von einem Frauenzimmer hatten verleiten lassen mit zu gehen, nicht wieder zum Vorschein gekommen waren. Deshalb wurden wir wohl auch in Massenquartieren zusammen gehalten. Schön war es nicht, denn der Platz war so eng, daß jeder sich mit seinem Raum, den die schmale, auf dem Erdboden liegende Matratze einnahm, zu allen seinen Hantierungen, wie Putzen, Essen usw., behelfen mußte. Das paßte uns natürlich schlecht, denn wir glaubten jetzt endlich einmal Anspruch auf ein bißchen Bequemlichkeit und – ein bißchen Liebe zu haben. Unser Feldwebel ließ zum Glück mit sich reden, und so erhielten wir drei Freiwilligen der Kompagnie und mein Freund, der Avantageur Zeydel, die Erlaubnis, für eine Nacht in einem nahegelegenen Hotel kampieren zu dürfen. Freilich, auch hier war alles überfüllt, aber es gelang uns, ein Zimmer mit zwei Betten zu erhalten. Das dünkte uns schon, wenig verwöhnt wie wir waren, eine große Errungenschaft, und gern wollten wir uns je zwei mit einem der weichen und geräumigen Betten begnügen.

Aber vorher gab es noch allerlei Schönes. Während sich zwei der Kameraden mit Billardspiel im großen Restaurationszimmer vergnügten, machten wir, mein Freund Arthur Zeydel und ich, uns an die beiden jungen Mädchen hinter dem Büfett heran, die, wie sie uns mitteilten, Nichten des kinderlosen Hotelbesitzers waren. Es waren blutjunge Dinger, zwischen sechzehn und achtzehn, aber außerordentlich entgegenkommend, so daß wir sehr angenehm überrascht waren. Natürlich gingen wir beiden unternehmenden jungen Soldaten und daneben ein paar flotte, hübsche, phantasievolle Jungen, mit Entschlossenheit und soldatischer Bravur vor. Ich will hier einschalten, daß mein Kompagniekamerad nur ein halbes Jahr älter war als ich und ebenso wie ich aus jugendlicher Begeisterung direkt von der Schulbank zu den Fahnen geeilt war. Er war mein Intimus geworden im Laufe der letzten Monate. Gleiche Neigungen, gleiche Begabung hatte rasch ein herzliches Freundschaftsband um uns geschlossen. Auch er besaß literarische Bestrebungen und auch ihm galt der Dichterberuf als höchster, und gelegentlich teilten wir uns unsere während des Feldzugs entstandenen kurzen poetischen Ergüsse mit.

Also, wir waren mit den beiden hübschen kecken Französinnen sehr rasch zu einem Einverständnis gelangt. In der Nacht, so verabredeten wir vier, wenn alles im Hause schlafen würde, sollten Zeydel und ich unsere rasch gewonnenen Liebsten in ihrem Stübchen besuchen. Sie schliefen im ersten Stockwerk, während wir ein Parterrezimmer innehatten. Um in der Nacht keinem Hindernis zu begegnen, lud mich die eine der willfährigen Schönen ein, mit ihr hinaufzusteigen, damit ich den Weg zu dem Eldorado kennen lerne, das sich uns nach Mitternacht erschließen sollte. Also wir schlichen die Treppe hinauf, die niedliche Cathérine und ich; oben erblickte ich einen langen Korridor, der an mehreren Fremdenzimmern vorbeiführte.

Ganz am Ende des Ganges, so wisperte mir das Mädchen zu, befände sich ihre und der Schwester Kammer. Unterwegs kamen wir an einer offenstehenden Tür vorbei. Mein Blick glitt unwillkürlich in das Zimmer. Ein Herr von unverkennbar echt französischem Typus saß an einem Tisch, und vor ihm stand ein junger Mann, offenbar sein Diener.

»Monsieur le capitaine!« flüsterte mir meine Begleiterin zu, und an dem Blick voll Haß, der mir aus den Augen des Franzosen entgegensprühte, konnte ich unschwer seine Empfindungen beim Anblick meiner Uniform erkennen. Aber das scherte mich wenig; meine Gedanken und Empfindungen gehörten ganz meinem mir voran schreitenden Schätzchen an und dem in Aussicht stehenden interessanten vielversprechenden erotischen Abenteuer.

»Hier!« Cathérine stieß die letzte Tür im Korridor auf und ich erblickte einen bescheiden möblierten kleinen Raum, in dem sich meinen aufleuchtenden Blicken zwei saubere, freundlich einladende Betten zeigten.

Meine Seele jauchzte und ich drückte der verschämt lächelnden einen begeisterten Kuß auf die Wange.

»Ma chérie! Mon amour!« raunte ich ihr ins zierliche Ohr. »Que je serais heureux!«

Sie drückte herzlich, allem Anschein nach ebenso sehr wie ich von dem Vorgefühl der uns erwartenden Freuden berauscht, meine Hand, die ihre umspannt hatte. Dann traten wir den Rückweg an.

Mein Freund und ich waren natürlich seelenvergnügt. Das war so recht was für unsere liebeglühenden, abenteuerlustigen Sinne, und wir beglückwünschten uns, daß wir es so gut getroffen. Ja, diese schneidigen Französinnen waren doch netter als unsere prüden deutschen Mädchen!

Wir nahmen uns vor, in Unterkleidern, d. h. in Hemd und Unterhosen, das Faschinenmesser für alle Eventualitäten umgeschnallt, unsere Liebesexpedition anzutreten. Aber es kam anders. Um zehn Uhr suchten wir unser Schlafzimmer auf, um uns durch ein bißchen Schlummer zu unserem nächtlichen Unternehmen zu stärken. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich mit einem entsetzlichen Leibweh aufwachte. Es waren äußerst schmerzende Krämpfe, die mich packten und mich in furchtbaren Schmerzen hin- und herwinden ließen. Mein Kamerad neben mir erwachte.

»Du, es ist Zeit!« flüsterte er.

»Jawohl, es ist Zeit,« gab ich in grimmiger Selbstverspottung, in ohnmächtigem Zorn über das grausame Schicksal zurück, – »es ist Zeit, aber nicht zur Liebe!«

Damit erhob ich mich stöhnend – das Unterzeug hatte ich anbehalten – um dem mich beherrschenden quälenden Drange zu folgen. Leise fluchend tappte ich mich in den Flur hinaus. Leider hatte ich verabsäumt, mich für alle Fälle über eine gewisse Lokalität zu vergewissern, und so langte ich nach kurzer Irrwanderung, mich eine kleine Treppe hinabschleppend, in einen kellerartigen Raum. Aber trotz der Erleichterung ließen die Schmerzen nicht nach, und bis zum Morgengrauen verbrachte ich die Zeit in scheußlicher Qual. Noch fast mehr als das körperliche Übel setzte mir der Gedanke zu, daß uns die beiden Huldinnen – denn mein Kamerad wollte die Expedition allein nicht wagen – uns nun vergebens erwarteten, und daß uns dieser tückische Zwischenfall um eines der sicherlich hübschesten, genußreichsten Liebesabenteuer brachte.

Elastisch, wie die glückliche, frische Jugend ist, fühlte ich mich am Morgen nach kurzem Schlummer und nachdem ich mich an einer Tasse starken Kaffees gelabt, ganz leidlich.

Viel Zeit blieb uns nicht; wir mußten zum Morgenappell wieder bei der Kompagnie sein, und so verließen wir das Hotel, ohne von den beiden betrogenen Schätzen Abschied nehmen zu können.

Waren sie betrogen? Oft habe ich mit Freund Zeydel diese merkwürdige Affäre besprochen, und noch heute ist mir rätselhaft, welches die Ursache dieser plötzlichen Erkrankung sein mochte. Hatte ich mich erkältet – wir hatten ein Oberfenster unseres Schlafzimmers der Ventilation wegen offengelassen? Aber war anzunehmen, daß mir, der ich doch während des Feldzuges an Wind und Wetter gewöhnt und wiederholt auf freiem Felde, auf feuchtem, kaltem Erdboden, nur in meinen Mantel eingehüllt, kampiert hatte, das rauhe Märzlüftchen diesen bösen Streich gespielt, das doch meinem Kameraden neben mir nicht geschadet hatte? Allerlei romantische Gedanken fuhren uns durch den Kopf, war die verliebte Zutraulichkeit der beiden jungen Französinnen, die uns so überraschend schnell rückhaltloses Liebesglück versprochen, nur intrigante Heuchelei gewesen? Hatte Cathérine vielleicht, in chauvinistischem Fanatismus, Gift in das mir kredenzte Glas Bier geschüttet? Oder noch schlimmer, waren die beiden Mädel etwa die Geliebten des französischen Capitaine, der mich mit so grimmigem Blick gemessen, hatten sie mit ihm verabredet, daß sie uns eine Falle stellen sollten? Möglich, daß er die Absicht gehabt, uns in der Nacht in der Kammer seiner Landsmänninnen mit Hilfe seines Burschen meuchlings zu überfallen. Im Grunde aber waren wir doch geneigt, einen blinden, bösen Zufall für unser Mißgeschick verantwortlich zu machen, denn es wollte uns gar nicht in den Sinn, daß die lieben blitzjungen Mädel abgefeimte Betrügerinnen gewesen.

Wir waren alle froh, daß wir schon am nächsten Tage die ungastliche Fabrik verlassen durften und nach dem nur zwei Stunden entfernten Dorf Augny abmarschierten. Schon im Herbst 1870 hatten wir wochenlang hier gelegen, teils in einem großen Schafstall, teils auf Heuböden und in aus Erde, Rasen und Baumstämmen und Strauchwerk selbst errichteten Baracken kampierend. Damals waren nur einige wenige alte Leute in dem großen stattlichen Dorf gewesen. Diesmal sahen wir Straßen und Häuser von einer zahlreichen Einwohnerschaft belebt, und manche liebreizende Frauen- und Mädchengestalt bot sich unseren aufleuchtenden Blicken. Auch mit der Unterkunft war es diesmal besser bestellt; wir wurden in Bürgerquartiere gelegt. Ich traf es freilich nicht besonders gut; mit meinem Burschen wurde ich bei einem Flickschuster einquartiert, dessen Wohnung nur aus einem geräumigen Zimmer mit einem großmächtigen Himmelbett, und einer Küche bestand. Dieses Himmelbett war das Prachtstück des ärmlichen Mobiliars, und ich mußte es mit meinem Quartiergeber teilen, während mein Putzkamerad auf einem allabendlich auf dem Fußboden zurechtgemachten Strohlager schlief.

Der alte Hagestolz war ein eifriger französischer Patriot. Manche Nachtstunde hindurch haben wir, friedlich nebeneinander ruhend, in heftigen Disputen verbracht, und wenn ich ihm sagte, daß er und seine lothringischen Landsleute nun bald Deutsche sein würden, wurde er fuchswild.

»Sie können unser Land deutsch machen,« erklärte er pathetisch, »aber unsere Herzen nicht!«

Ein recht angenehmes Leben begann. Man war so einsichtsvoll, uns nicht mit Drill und Exerzieren zu quälen, sondern uns einmal die uns so nötige Ruhe und Erholung zu gönnen. Nur aus einem geringen Nachtdienst und täglich zweimal kurzem Appell bestand unser militärischer Dienst. Brot, Fleisch und Gemüse wurde uns von unserem Train geliefert, und mein Bursche schmorte und briet, daß es eine Lust war. Sogar Monsieur Dubais verschmähte es nicht, hin und wieder an dem Mahl der verdammten Preußen teilzunehmen. Mein Abendbrot nahm ich regelmäßig in der großen Auberge Meunier. Der »Aubergiste« hatte uns Einjährigen der beiden Bataillone, die in Augny lagen, einen besonderen Raum eingerichtet, dessen weißgetünchte Wände ein künstlerisch veranlagter Kamerad mit allerlei kriegerischen und friedlichen Bildern schmückte. Herrliche Stunden haben wir etwa zwanzig junge Burschen hier pokulierend, scherzend, singend verlebt. Eine besondere Anziehungskraft und einen lang entbehrten Reiz bildeten unsere schöne Hebe, die achtzehnjährige liebliche Tochter unseres Wirtes, wir haben sie alle herzlich verehrt, die freundliche Mademoiselle Josephine. Aber so sehr sich auch der eine und andere bemühte, ihrer Gunst teilhaftig zu werden, es gelang keinem. Immer liebenswürdig, lustig und zu jedem Scherz aufgelegt, wußte sie sich doch auch bei den kecksten von uns in Respekt zu setzen und Distanz zu halten. Wie oft haben wir nicht über ihre drolligen Versuche, »dütsch« zu sprechen, gelacht. Doch kann ich wohl sagen, ohne prahlerisch zu sein, daß sie mich ein klein wenig, wenn auch in allen Ehren, vor den übrigen bevorzugte. Noch tönt mir ihr schelmisches: »Mon petit coquin! Mon petit polisson!« in den Ohren, mit denen sie meinen lebhaften Huldigungen zu begegnen pflegte.

Auch mit den übrigen Einwohnern standen wir auf bestem Fuß. Natürlich, wir brachten ja reichlich Geld unter die Leute. Auch von der ärmeren Nachbarschaft strömten Hausierer ins Dorf, die allerlei Leckereien und sonstige Waren feilboten. Unter ihnen stellte sich fast täglich eine Anzahl von Fabrikmädchen aus dem nahen Ars sur Moselle ein, die uns »L'eau de vie« und Backwerk zum Kauf anboten. Und hier fanden endlich unsere in der Ruhe und den verhältnismäßigen Wohlleben sich lebhaft regenden Sinne die erwünschte Befriedigung. So erinnere ich mich, daß wir einmal, vier Kameraden, ebensoviele Mädchen in den zwischen Augny und Ars gelegenen Wald begleiteten, hier trennten wir uns; jeder nahm eins der Mädchen, das sich ihm gern zugesellte, unter den Arm. Die blutjungen Dinger – keine war über zwanzig – waren einem Liebesabenteuer ebensowenig abgeneigt wie wir und vergaßen Patriotismus und mädchenhafte Scheu. In Liebessachen fühlt ja ein normales, natürlich und gesund empfindendes Weib immer international.

Acht Wochen währte dieses beschauliche, behagliche Leben. Dann hieß es: Friede! Nach der Heimat zurück! Obgleich unser aller Herzen freudig pochten, so wurde es doch manchem von uns schwer, von dem hübschen Dorf mit seinen freundlichen Einwohnern zu scheiden. Ich ging am Morgen unseres Ausmarsches mit Freund Zeydel in die Auberge, um unsere Feldflaschen mit dem guten süffigen Rotwein Monsieur Meuniers füllen zu lassen. Natürlich bediente uns die schöne Josephine. Sie mochte uns wohl erwartet haben. Als wir ihr zum letzten Lebewohl mit der Bescheidenheit, zu der sie uns erzogen hatte, die Hand reichten, umschlang sie uns, einen nach dem anderen, im ausbrechenden Gefühl und küßte jeden von uns herzlich auf die Lippen. Zum Schluß reichte sie dem Kameraden sowohl wie mir einen der auf dem Tisch bereitliegenden duftenden Sträußchen.

Noch viele lästige, beschwerliche, lange Märsche mußten wir zurücklegen, bis wir einwaggoniert und auf Dampfesflügeln nach unserem neuen Garnisonort Stralsund getragen wurden, vor der Stadt wurden wir am Abend, als wir anlangten, in ein großes Gartenlokal einquartiert. Helm, Uniform, Lederzeug, alles wurde blankgeputzt, und am anderen Morgen fand unter Glockengeläut der feierliche Einmarsch statt, wir hatten uns eben in Bewegung gesetzt, als vom nahen Bahnhof eine Frauengestalt, das lange, schwarze Seidenkleid mit beiden Händen aufgerafft, im Laufschritt herankam und sich im richtigen Schritt – links rechts, links rechts – zwischen zwei Rotten einrangierte, wir staunten nicht wenig; aber als wir sie erkannt hatten, begrüßten wir sie freundlich. Es war Therese, die Markentenderin, die uns vor Metz für gutes Geld schlechten Schnaps kredenzt und bis vor Paris begleitet hatte. Sie war eigens von Berlin herübergekommen, um an unserem Einmarsch teilzunehmen.

Hochgefühl straffte unsere Muskeln, als wir unter dem Jubel der Bevölkerung, mit Blumen überschüttet, unseren Einzug in die Stadt hielten. Wie stolz reckten sich die kleinen, stämmigen Gestalten unserer Füsiliere, wie freudig blitzten die Augen! Es war ein Tag, der uns für manches erlittene Ungemach entschädigte.

Vier Wochen später erhielt ich auf mein Gesuch meine Entlassung, obgleich mein Jahr noch nicht herum war. Aber es war eine amtliche Verfügung, daß Freiwillige schon vor Ablauf ihrer Dienstzeit vorläufig entlassen werden und später in der Reserve den Rest nachdienen konnten. Von meinem Freund Zeydel, der inzwischen zum Fähnrich befördert worden war (ich selbst war schon bald nach Champigny Gefreiter und Korporalschaftsführer geworden), nahm ich herzlichen Abschied, und wir tauschten das Versprechen, auch künftig, wenn auch nur brieflich, in Verkehr bleiben zu wollen.

Meine bevorstehende Ankunft hatte ich meinen Eltern nicht angezeigt. Ich hatte es mir ja so schön ausgemalt, wie hübsch es sein würde, wenn ich eines Tages plötzlich, unerwartet in den trauten Familienkreis treten würde. Es war gegen zehn Uhr abends, als ich die Treppe hinaufstürmte, an der Korridorglocke zog und an dem öffnenden Mädchen vorbei in das bekannte gemütliche Wohnzimmer eilte, um ein paar Sekunden später am Halse der vor Freude weinenden Mutter zu hängen.

»Wo ist Papa?« fragte ich nachdem auch die Begrüßung mit den Geschwistern vorüber war.

»Er hat sich schon niedergelegt,« antwortete die Mutter. »Er fühlte sich schon den ganzen Tag nicht wohl.«

Ich ging in das Schlafzimmer hinüber. Bei dem Mondschein, der zwischen den Gardinen in das Wohnzimmer lugte, bemerkte ich, wie sich mein Vater in seinem Bett aufrichtete.

»Wer ist da?«

»Albert!« rief ich leise.

Ich hörte ihn einen Laut der Überraschung ausstoßen, dann stürzte ich zu seinem Bett und sank vor demselben in die Knie nieder, wir waren in der Familie an Sentimentalitäten und Liebkosungen nicht gewöhnt, aber der Anblick des aus Krieg und Gefahren unversehrt, frisch heimkehrenden Sohnes ergriff den Gestrengen. Er umschlang mich mit seinen Armen und küßte mich auf die Stirn. Gesprochen wurde in diesen Minuten kein Wort zwischen uns.


Leider machte sich die niederziehende Prosa des Lebens bald nach der Rückkehr ins Elternhaus höchst unangenehm fühlbar. Ich konstatierte eines Morgens nach dem Erwachen die peinlichen Folgen eines Besuches, den ich in Stralsund einer Prostituierten abgestattet hatte. In der mir fremden Garnison hatte ich andere weibliche Bekanntschaft nicht so rasch machen können, auch fehlte mir noch der rechte Mut und die nur durch Übung zu erlangende Gewandtheit im Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht. Ich nahm aber die Sache nicht schwer, hatte ich doch von Kameraden gelegentlich gehört, daß das sozusagen eine Kinderkrankheit der Liebe sei, die jeder Mann ebenso wie in der Kindheit die Masern durchzumachen habe. Zu einem Arzt zu gehen getraute ich mich nicht.

Ich war wie vom Donner gerührt und von Scham ganz vernichtet, als ein paar Tage später mich meine Mutter mit bekümmerter Miene ins Gebet nahm. Vorwürfe machte mir die Liebe, Gute nicht, sie war nur besorgt um mich.

»Daß Papa um Gotteswillen nichts davon erfährt! Er würde dich zum Hause hinausjagen!«

Dann gebot sie mir, mich an meinen älteren Bruder zu wenden, der in Berlin Volontär in einem Bankgeschäft war und von dem sie wußte, daß ihm früher einmal das gleiche Mißgeschick begegnet war.

Ich gehorchte; Robert sandte mir ein Rezept, aber ich schämte mich, damit in die Apotheke zu gehen. So ließ ich die Sache einfach auf sich beruhen und ich hatte die Freude, schon nach wenigen Wochen jede Spur der häßlichen Erkrankung – entweder erfreute ich mich einer sehr guten Konstitution oder es war nur ein besonders leichter Fall gewesen – verschwunden zu sehen.

Da meines Vaters Wunsch war, daß ich das Abiturium machen und Jura studieren sollte, kehrte ich nach Küstrin auf das Gymnasium zurück. Man kann sich denken, wie begeistert mich meine alten Freunde empfingen und mit wie bewundernden Blicken sie den alten Krieger anstaunten. Natürlich trug ich stets stolz das schwarz-weiß-rote Band der Kriegsmedaille im Knopfloch. Die beiden Brüder Luckner hatten, wie ich schon erwähnte, bald nach Weihnachten, nach bestandenem Abiturientenexamen, das Gymnasium verlassen; aber ich fand bald in einem anderen Primaner einen neuen Freund. Edmund Rahm war der Sohn eines biederen Tischlermeisters. Er war ein begabter und fleißiger Schüler, sonst aber, was die Franzosen einen »filou« nennen. Er hatte sich einmal in billigem Wein einen so furchtbaren Rausch angetrunken, daß er drei Tage im Bett verbringen mußte. Ihm, dem Älteren, war es bald gelungen, die Mitteilung meiner realistischen Liebesabenteuer aus mir herauszulocken, und mein Staunen war groß, als er mir sehr selbstbewußt anvertraute, daß auch er, obwohl er noch nie aus dem Elternhause und der Vaterstadt herausgekommen war, schon den bedeutungsvollen Schritt über den Rubikon getan hatte. Eines Abends forderte er mich auf, ihn zu begleiten. Er habe etwas »aufgegabelt«. Im Wäldchen unweit des Bahnhofs wollte er sich mit dem Mädchen treffen. Und richtig, trotz Herbstkühle und Regen, fand sich Rahms »Freundin« pünktlich ein. Ich hatte trotz meiner letzten schlechten Erfahrung nicht die Kraft zu widerstehen, und so teilte ich, wie einst mit Kersten, nun mit meinem neuen Freunde die sehr fragwürdigen Genüsse, die uns die Priesterin der freien Liebe unter freiem Himmel zu bieten vermochte.

Es ist mir noch heute verwunderlich, daß uns jungen Leuten, die wir doch nicht von Hause aus verderbt waren, ja, die wir uns doch voll Idealismus für schönes und hohes begeisterten, das Entwürdigende dieses Verkehrs mit solchen verlorenen Geschöpfen, zu denen uns doch auch nicht die Spur eines persönlichen wärmeren Gefühls hinzog, nicht überwältigend zum Bewußtsein kam. Soweit ich mich zu erinnern vermag, waren die meisten dieser jammervollen Geschöpfe auch körperlich nicht einmal danach angetan, die Sinnlichkeit zu reizen. Was war es also, daß man heute ein holdes, liebes Mädchen schwärmerisch verehrte und sich ihr nur mit reinen, innigen, wahrhaft heiligen Empfindungen nahte, und bald darauf sich jenen käuflichen Wesen in die Arme warf, die aus der Preisgebung ihres Körpers ein Geschäft machten? War es die angeborene männliche Natur, die einen immer wieder zu dieser tierischen Befriedigung eines rein körperlichen Triebes zwang? Ich habe mir oft den Kopf über diese Frage zerbrochen, ohne je zu einem völlig klaren Ergebnis zu kommen. Jedenfalls stimmt diese Erklärung nicht mit meinen Beobachtungen und Erfahrungen überein, schon deshalb nicht, weil man nur die Gelegenheit wahrnahm, wenn sie sich einem zufällig bot, wie hier in dem soeben erzählten Fall, und weil dieser Zufall ja durchaus nicht immer mit der sich regenden, unwiderstehlich drängenden Begierde zusammentraf. Die Hauptschuld, daß einem die Anschauung förmlich in Fleisch und Blut übergegangen war, man müsse jede derartige Gelegenheit benutzen, trägt wohl die Tradition, die von Generation zu Generation sich fortpflanzende männliche Unsitte, Liebe und Geschlechtsgenuß als zwei ganz verschiedene Gefühle zu behandeln. Man watet im tiefsten Sumpf und ist sich dessen nicht einmal bewußt. Im Gegenteil, solch ein junger Wüstling kommt sich noch wie ein Held vor, den die jüngeren, noch unerfahrenen Kameraden voll Bewunderung und Neid anstaunen und dem nachzuahmen sie als eine durchaus würdige Aufgabe, als etwas höchst rühmliches betrachten.

Mein zweiter Besuch des Gymnasiums in Küstrin sollte ein vorzeitiges, jähes Ende nehmen. Eines Tages hatte ich für die Homerstunde nicht gut präpariert. Dr. Wessel, ein noch junger Lehrer, gebot mir, am Nachmittag zu ihm zu kommen und die Übersetzung fließend zu repetieren. Große Aufregung in der Klasse. In der Pause wurde eifrig besprochen, was zu tun sei. Alle Mitschüler der Obersekunda erklärten, daß es eine Schmach, eine Frechheit von dem Lehrer sei, mich, der ich im Felde vor dem feindlichen Feuer gestanden, wie einen Sextaner zu sich in die Wohnung zu bestellen. Auf keinen Fall dürfe ich mich dieser Demütigung unterziehen.

Diese Anschauung leuchtete mir durchaus ein; ich fühlte mich in der Tat in meiner Eigenschaft als Vaterlandsverteidiger tief gekränkt; ich folgte also dem Gebot Dr. Wessels nicht. Am nächsten Tage zog mich der Lehrer zur Rechenschaft; ich fühlte die Blicke der Kommilitonen auf mich gerichtet, und während alle in höchster Spannung atemlos lauschten, erklärte ich keck: »Ich werde Ihnen die Übersetzung hier in der Klasse aufsagen, zu Ihnen ins Haus komme ich nicht.«

Natürlich von allen Bänken beifälliges Gemurmel. Dr. Wessel wurde blaß und war im ersten Moment sprachlos. Dann sprudelte er zornig hervor: »Ich werde es dem Herrn Direktor melden.«

Am nächsten Vormittag bemerkten wir alle, wie Dr. Wessel beim Betreten des Lehrerpultes sich heftig verfärbte. Wir kicherten, denn wir wußten wohl warum. Einer der Mitschüler nämlich, der Zeichentalent besaß, hatte ein kleines Bild auf den Tisch des Lehrers gelegt. Darauf befand sich ein Esel mit besonders großen Ohren; vor dem Kopf des Grautiers prangte ein »W« und in den Bauch des Esels war ein »S« hineingeschrieben. Kopien dieser bildlichen Darstellung des Namens des an und für sich unbeliebten Lehrers fanden sich auch, wie ich später erfuhr, auf dem Tisch im Konferenzzimmer der Lehrer.

Am Nachmittag zitierte mich der Direx in sein Amtszimmer. Dieser Nachfolger Direktor Thiels war das ganze Gegenteil dieses beliebten Schulleiters, ein trockener, steifleinener Pedant. Er hüstelte und zog seine Augenbrauen in die Höhe, wie es seine Gewohnheit war, wenn er mit einem ihm gemeldeten Schüler sprach.

»Wenn ich es auch nicht billige, daß Schüler der oberen Klassen von den Herren Lehrern in ihre Wohnung bestellt werden, so kann ich es doch nicht dulden, daß die Autorität des Lehrers angegriffen wird. Sie haben vor allen Schülern Herrn Dr. Wessel den Gehorsam aufgekündigt. Dafür bestrafe ich Sie mit zwei Stunden Karzer, außerdem werden Sie heute nachmittag zu ihm gehen und die Homerübersetzung aufsagen.«

Ich zeigte dem Direktor ein trotziges Gesicht und entgegnete: »Die zwei Stunden Karzer will ich auf mich nehmen, aber in die Wohnung des Lehrers gehe ich nicht.«

Der Direktor stutzte; das hatte er sicherlich nicht erwartet. Ein Schatten senkte sich auf sein Gesicht, das sich nachdenklich neigte. Offenbar war ihm die Sache peinlich; er schien nach einem Ausweg zu suchen.

»Ich sagte Ihnen schon,« nahm er wieder das Wort, »daß ich gegen derartige Maßnahmen bin, und ich kann Ihnen versprechen, daß dergleichen nicht wieder vorkommt. Aber diesmal müssen Sie sich dem Gebot Dr. Wessels fügen, um seine Autorität vor der Klasse nicht zu schädigen.«

Ich aber war erbittert, und impulsiv, wie ich war, stieß ich hervor: »Ich gehe nicht zu Dr. Wessel, lieber verlasse ich das Gymnasium.«

Es leuchtete in dem vom vielen Stubenhocken gebleichten Gesicht des Schulleiters.

»Können Sie denn das? Würde Ihr Herr Vater damit einverstanden sein?«

»Jawohl,« entgegnete ich bestimmt.

»Also gut. Dann nehme ich Ihre Abmeldung an. Sie sind hiermit vom Gymnasium entlassen.«

Ich drehte, sehr selbstbewußt, dem verhaßten Schulmonarchen den Rücken. Das würde Aufsehen machen, das würde den Kommilitonen imponieren. Ich kam mir erhaben, wie ein Held, ein Märtyrer der würde des älteren Gymnasiasten, des Vaterlandsverteidigers vor. Freilich, als ich in meinem Zimmer angelangt war, verließ mich ein gut Teil der Gehobenheit, was nun? Sofort abreisen? Aber wie würde mich mein Vater empfangen, wie mein eigenmächtiges Handeln aufnehmen?

Nach längerem Hin- und Herüberlegen beschloß ich zunächst einen ausführlichen Bericht nach Hause zu schreiben und die Antwort abzuwarten. Noch an demselben Abend sprach ich mit verschiedenen Mitschülern. Die Runde von meiner »Heldentat« verbreitete sich mit Blitzesschnelle. Die Folge war, daß noch in derselben Nacht dem Dr. Wessel zweimal die Fenster seiner Wohnung eingeworfen wurden.

Ein paar Tage später erhielt ich Antwort aus dem Elternhause. Meine Mutter schrieb mir, sehr bekümmert, sehr sorgenvoll. Der Vater zürne mir so stark, daß er mich vorläufig nicht sehen wolle. Mit einer unserer Familie befreundeten Witwe, die mit ihrer Tochter nach der Reichshauptstadt übersiedelt war und hier ein Pensionat eröffnet hatte, habe er vereinbart, daß ich bei ihr wohnen und bei ihrem Sohn, einem Kandidaten des höheren Lehramts, Privatunterricht erhalten solle. Ich war vergnügt. Berlin! Und die Freiheit! Mit meinem Lehrer stand ich bald auf gutem Fuß. Das Interessanteste war, daß ich in der Pension der Frau Schubert, einer Damenpension, das einzige männliche Wesen war. Selbst ihr Sohn wohnte irgendwoanders im möblierten Zimmer. Es schien, als ob man mich mit meinen 18 Jahren noch nicht als »Mann« nahm. Hätte man gewußt, was sich oft des Nachts in meinem Zimmer abspielte! Rechts von mir schlief die Pensionsmutter mit ihrer Tochter, einem ältlichen Mädchen, links eine junge Dame von 20 Jahren, die Tochter eines Rittergutsbesitzers, die nach vielen Kämpfen von ihrem Vater die Erlaubnis erhalten hatte, dramatischen Unterricht bei der berühmten Frieb-Blumauer vom Königl. Schauspielhause zu nehmen. Und während diese Damen ihren züchtigen Schlaf schliefen, erhielt ich vom Dienstmädchen häufigen nächtlichen Besuch. Ich fand das üppige, nicht mehr junge Mädchen, das, wie ich erst später erfuhr, bereits ein Kind hatte, eines Nachts, als ich in fröhlicher Kneiplaune nach Hause kam, in meinem Bett vor. Hinausgeworfen habe ich sie natürlich nicht. Bequemer konnte es ja einem jungen Menschen nicht gemacht werden, freilich, mit einem der Pensionsfräuleins hätte ich lieber angeknüpft. Da waren außer der interessanten angehenden Schauspielerin noch eine etwa achtzehnjährige, sehr hübsche, zarte, sympathische junge Dame, die sich zum Lehrerinnenberuf vorbereitete, ferner eine junge Engländerin. Aber ich war damals noch so schüchtern, daß ich nicht gewagt hätte, einer wirklichen Dame mit unehrerbietigen Gelüsten zu nahen. Wenn das in meinem späteren Jünglingsleben anders wurde, so hatten die Verhältnisse des modernen Lebens und – die Frauen selbst schuld daran. Ja, die Frauen selbst waren es, die mich zu der leichtlebigen, leichtfertigen Auffassung bekehrten, die ich später in Liebessachen betätigt habe. Damals aber war ich noch so befangen in Damengesellschaft, daß ich bei der Mittagstafel immer mit gesenkten Blicken dasaß und nur sprach, wenn eine von den Damen, die sich viel ungezwungener bewegten, das Wort an mich richtete. Ich wette, keine von ihnen ahnte, daß ich von der Liebe viel mehr wußte als sie selbst und daß ich einen Teil meiner Nächte, Wand an Wand mit ihnen, nicht in Morpheus', sondern in gewissen weiblichen Armen verbrachte.

Eines Tages aber mußte ich aus meinem schönen großen Zimmer, das nach der Straße zu lag, in ein nach dem Hof gelegenes kleines übersiedeln, da zwei neu eintreffende Damen einen größeren Raum benötigten. Eines Vormittags – ich saß in der Nähe des Fensters und arbeitete – machte ich eine Entdeckung, die sogleich mein lebhaftestes Interesse erweckte. Das gewaltig große Gebäude war ein Eckhaus in der Friedrichstraße und die Hinterzimmer der auf der anderen Seite liegenden Wohnungen bildeten das Visavis. Ich sah nun, wie ein weibliches Wesen sich drüben in der Nähe des Fensters im Unterrock und Korsett wusch. Ich fühlte mich wie elektrisiert und schaute mit lüsternen Augen hinüber. Da bemerkte mich die waschende, erschrak sichtlich und ließ im nächsten Augenblick das Rouleau herunter. Ich bedauerte natürlich lebhaft, und immer wieder richteten sich meine Blicke forschend hinüber, wo in dem Zwischenraum zwischen Rouleau und Fensterrahmen bald ein weißer Arm, bald auch ein Stück der Schulter hervortauchte. Neugier ist bekanntlich die Schwäche der Evatöchter und eine gewisse Lüsternheit obendrein.

Kurz, ich wurde es wohl gewahr, wie die Unbekannte ab und zu mit gesenktem Blick hinüberblinzelte. Und dann – ja dann zeigte sich ein Teil des schön gerundeten Busens, während die Schöne in ihrem Reinigungswerk fortfuhr und so tat, als ob sie nicht die mindeste Ahnung hätte, daß drüben eines empfänglichen Jünglings Blicke bewundernd nach ihren Reizen spähten.

Am andern Morgen war ich natürlich wieder auf dem Posten und hatte die Freude Zeuge zu werden, wie drüben mein reizendes Visavis wieder seine Morgentoilette machte; diesmal hielt sie es nicht für nötig, durch Herablassen des Rouleaus den Schein der Wohlanständigkeit zu wahren. Wer übrigens das Leben in den Großstädten kennt, weiß, daß hier die Damen die pedantische Prüderie der Kleinstädterinnen längst verlernt und in der Regel recht ungeniert und unbekümmert um fremde Blicke bei ihrer Toilette verfahren.

Also die schöne Frau – ich erkundigte mich natürlich bald nach ihr und hörte, daß sie die junge Gattin eines Regierungsbaumeisters sei – stand unweit des Fensters, legte den Schlafrock ab, ging in Unterkleidern hin und her und wusch sich an dem neben dem Fenster stehenden Waschtisch, meinen Blicken ihren straffen, herrlich geformten Busen zeigend.

Selbstverständlich betrachtete ich es damals als eine meiner wichtigsten Aufgaben, das mir noch so neue interessante Berliner Nachtleben kennen zu lernen. So war ich nicht nur in Theatern und Konzerten, sondern auch in den populären Tanzlokalen häufiger Gast, besonders erinnere ich mich noch der »Villa Kolonna« am Alexanderplatz (des späteren »Zum Prälaten«), wo damals die Wogen der Lust hoch gingen und wo sich allabendlich und allnächtlich die vergnügungssüchtige Berliner weibliche und männliche Jugend mit den ausgelassensten Tänzen (Cancan war besonders sehr beliebt) amüsierte. Nach dem Kriege war überhaupt ein wahrer Vergnügungstaumel über die Berliner gekommen; wie ein Fieber war es. Zu des Polizeipräsidenten Madai Prinzipien schien es zu gehören, der Berliner Lebewelt die Zügel soviel als nur irgend möglich locker zu lassen. Was ich damals in den populären Lokalen gesehen habe, hat es später nie wieder in Berlin in gleicher Ungeniertheit gegeben, vor allem war es das »Orpheum« in der Kommandantenstraße, das jungen begehrlichen Augen die üppigste Weide bot. Ich erinnere mich noch u. a. einer der Chansonetten, die auf dem hohen Podium im langen schwarzseidenen Gewand auftrat, während des Singens und Tanzens aber das Kleid im höchsten Raffinement allmählich höher und höher raffte bis zu den Knien, dann kam ein Streifen des nackten Beines und daran schloß sich erst das kurze, kokette, spitzenbesetzte blütenweiße Höschen.

Womöglich noch toller ging es bei »Metzners« in der Landsberger Straße zu, wo vor einer dichtgedrängten Menge die zotigsten Lieder gesungen, die aufregendsten Tänze getanzt wurden.

Oft kam ich erst beim Morgengrauen nach Hause und verschlief dann natürlich die Morgentoilette meiner vielleicht ungeduldig vergeblich wartenden Fenster-Freundin. Sobald ich mich von meinem Lager erhob, eilte ich in Unterkleidung ans Fenster, und zuweilen wurde ich noch des Vergnügens teilhaftig, die meiner harrende bei ihrem An- und Entkleiden beobachten zu können.

Wer weiß, wozu diese eigenartigen, bisher nur durch das Fenster vermittelten Beziehungen zwischen der lüsternen jungen Frau und mir schließlich geführt hätten, wenn ich nicht eines Tages plötzlich auf Anordnung meines Vaters Berlin hätte verlassen müssen.


In einer Anwandlung von lebhaftem Verdruß und Ärger über mich schien mein Vater es aufgeben zu wollen, seinen Lieblingswunsch in Erfüllung gehen zu sehen, wahrscheinlich hatte ihm mein Lehrer, der Kandidat, nichts Gutes über mich berichtet. Das Bankgeschäft meines Vaters florierte, auch seine übrigen Unternehmungen nahmen in der damaligen geschäftlichen Blütezeit, in den Gründerjahren, einen schnellen Aufschwung. Er hatte in der Senftenberger Gegend Braunkohlen geschürft, ein Braunkohlenwerk und zugleich eine Glashütte begründet, die den Namen meiner Mutter trug. Auch eine Brikettfabrik, wenn ich nicht irre, die erste in Deutschland, wenigstens im Niederlausitzer Kohlenbezirk, verdankte seiner Tatkraft ihr Entstehen. Eine Lieblingsidee von ihm war es, eine Lebensversicherungsgesellschaft zu gründen, und wiederholt hat er meinen Fleiß und meinen Ehrgeiz anzustacheln sich bemüht, indem er mir in Aussicht stellte, mir nach bestandenem Referendarexamen die zweite Direktorstelle seines neuen Unternehmens zu übertragen.

In einem Anfall von Mutlosigkeit hatte er nun beschlossen, auf meine Hilfe bei seinen Gründungen zu verzichten. Um dem ewigen Hin und Her mit mir ein Ende zu machen und mich auf raschestem Wege einem Beruf zuzuführen, sollte ich nun Offizier werden. Ich war gern damit einverstanden; als Offizier hatte ich eine angesehene, angenehme gesellschaftliche Stellung und Muße genug, meinen literarischen Neigungen zu leben. Freilich, vorläufig schlief meine Muse; in dem unruhevollen Leben der letzten Jahre hatte ich rein gar nichts mehr geschaffen. Unglücklicherweise wurde meinem Vater von irgendjemand geraten, mich nach einem bekannten Institut in der Provinz Posen zu schicken. Ein Geschäftsfreund von ihm, der ehemalige Artilleriehauptmann Dr. phil. Mossner, brachte mich nach der unweit einer elenden kleinen Posenschen Stadt gelegenen Anstalt, die aus einem Pädagogium, das Knaben aus allen Gegenden Norddeutschlands bis zur Obersekunda mit obligatem Einjährigen-Examen vorbereitete, und aus einer Fähnrichpresse bestand.

Da geriet ich in eine nette Gesellschaft. Die Fähnrichpresse umfaßte nur etwa ein Dutzend junge Leute, aber es waren lauter unbändige, halb verlorene Söhne aus guten Familien, von denen die Väter annahmen, daß sie nur gerade noch für den Offiziersberuf taugten und daß sie in der strengen militärischen Zucht zu ordentlichen, pflichtbewußten Menschen werden würden. Ich kam da bei diesen liederlichen, dem Becher, dem Spiel und den Weibern ergebenen Gesellen in eine Schule, wie ich sie am allerwenigsten gebraucht hätte. Jeder der Bengel, die die unbewußt karrikierten Manieren und Gewohnheiten des preußischen Offiziers vorwegnahmen, fühlten sich schon als Angehörige des in seiner Art weltberühmten und in Deutschland selbst bewunderten und beneideten Offizierkorps, das bei allem äußeren Firnis und Glanz doch soviel Unkultur und Unsitten barg. Wir Jünglinge von der Fähnrichpresse trugen alle Militärmützen und grüßten unsere Lehrer mitsamt dem prächtigen alten Direktor, dem einzigen, dem wir Respekt und Achtung entgegenbrachten, nur militärisch. Im übrigen aber war die Zucht, die in diesem Teil der Anstalt bestand, sehr locker. Die Unterrichtstunden besuchten wir sehr unregelmäßig, und ich erinnere mich, daß einer der beiden Söhne des Direktors, die in dem Doppelinstitut tätig waren, einmal an die verriegelte Tür meines Zimmers pochte und mich, der ich noch im Bett lag, flehentlich bat, doch aufzustehen und zum Unterricht zu kommen.

Die Nachmittage verlebten mir gewöhnlich in der nur etwa eine Viertelstunde entfernt liegenden Stadt, zechend und kartenspielend. Es wurde von mehreren der jungen Herren leidenschaftlich hasardiert; ich beteiligte mich nur lau daran, nur um nicht als »Rauhbein« zu gelten, denn der Unsinnigkeit des Hasardspiels habe ich zu meinem Glück nie Geschmack abgewinnen können; ich habe immer das Liebesspiel vorgezogen. Freilich damit war es in dem ärmlichen kleinen Nest, in das nur wir Dutzend wilde junge Burschen etwas Leben brachten, schlecht bestellt. Kein Wunder, daß die heißblütigen, lebensgierigen »Pressiers« förmlich nach erotischen Genüssen lechzten und auch sehr widerwärtige Objekte der Befriedigung nicht verschmähten, die sich ihnen gelegentlich boten. Unter diesen Umständen war es erklärlich, daß einige der jungen Herren bereits dasselbe Mißgeschick betroffen hatte, zum Teil wiederholt, dessen Opfer ich seinerzeit kurz vor meinem Abgang vom Regiment als Einjährig-Freiwilliger geworden war. Ich erinnere mich, daß einer meiner Kameraden dieser »Presse« eines Abends das einjährige »Jubiläum« seiner galanten Krankheit feierte.

Unter den jungen Leuten, deren Umgang ich mich damals zu erfreuen hatte, sind mir drei besonders erinnerlich: Der eine war ein etwa achtzehnjähriger Herr von Lochow, eine magere, schmächtige, nüchterne Erscheinung. Sein Vater war der Kommandeur eines preußischen Ulanenregiments; er selbst war bereits als Avantageur des Regiments angenommen und besaß auch eine vollständige Uniform; ihm fehlte nur noch das Fähnrichsexamen. Aber das war eben der Haken. Weder Fleiß noch übermäßige Intelligenz war ihm eigen. Der zweite war ein Galizier, ein dunkeläugiger, hübscher, liebenswürdiger Pole. Ritter von Wilecki war auf der österreichischen Marineakademie gewesen; er hatte da wohl nicht gut getan und sein Vater hatte ihn nach der preußischen Fähnrichpresse geschickt, damit sein etwas zügelloser Filius preußische Disziplin und ein besseres Deutsch erlerne. Wir haben oft über seine drollige Sprechweise gelacht. Der dritte war ein kleines krummbeiniges Kerlchen von einigen zwanzig Jahren, der älteste in der Anstalt, ein echt orientalischer Typus. Man hätte ihn für einen Juden halten können. Er nannte sich Jourdan Bey und war für uns insofern eine interessante Persönlichkeit, als er ein Neffe des damaligen türkischen Gesandten in Berlin Aristarchi Bey war. Sein Vater war Franzose, und, wie es hieß, Dragoman bei der hohen Pforte, seine Mutter war, wie ihr Bruder, der Gesandte, griechischer Herkunft.

Diese ersteren beiden waren fürchterliche Spielratten und pointierten mit fabelhafter Leidenschaftlichkeit. Der erstere war immer aufgeregt, nervös an seinem dürftigen Schnurrbärtchen zupfend, der Pole fast immer freundlich lächelnd, mit unverwüstlichem Gleichmut. Nur wenn er gar zu anhaltend verlor, entschlüpfte ihm ein »Psia krew!« Jourdan Bey war unter uns auch insofern ein geschätzter Kamerad, als er uns erstaunliche Dinge vom Leben in Konstantinopel erzählte, wobei es uns am meisten interessierte, daß die Bäder in der türkischen Hauptstadt zugleich als Bordelle dienten, indem hier den Besuchern sowohl der Verkehr mit schönen Weibern als auch mit hübschen Knaben vermittelt wurde.

In dem kleinen Nest war es für uns jungen Leute fast unmöglich, Objekte für unsere erotischen Bedürfnisse zu finden. Deshalb erregte es die freudigste Sensation, als einer der Kameraden eines Abends mitteilte, es sei ihm gelungen, ein willfähriges Mädchen aus der Stadt zur Abstattung eines Besuchs in der Anstalt zu bewegen. Geschlechtlich ausgehungert, wie wir waren, durch reichlichen Alkoholgenuß noch mehr aufgestachelt, konnte uns nichts erfreulicheres passieren. Freilich, eine Schwierigkeit war vorhanden, nämlich die, das Weib in die Anstalt zu bugsieren. Das Institut bestand in der Hauptsache aus zwei Gebäuden, einem größeren, in dem die Schüler des Pädagogiums wohnten und in dem sich die Unterrichtzimmer befanden, und einem kleineren, etwa hundert Schritt seitwärts gelegenen, das für uns »Pressiers« bestimmt war. Das ganze große Grundstück war mit einer hohen Mauer umgeben. Jeder, der die Anstalt verließ oder betrat, mußte die Portierloge passieren. Um zehn Uhr wurde das Tor in der Mauer geschlossen; alle mußten in der Anstalt sein; nur bei besonderen Gelegenheiten – wir machten hin und wieder einen Ball der Honoratioren mit – gab es vom Direktor Passierscheine. Nun, mir wußten uns zu helfen. Kurz vor zehn Uhr kehrte ein Trupp von ungefähr einem halben Dutzend von uns aus der Stadt zum Institut zurück. Inmitten der kleinen Schar befand sich das Frauenzimmer, das für uns die Rolle der Venus spielen sollte. Wir hatten sie in einen weiten, langen Soldatenmantel gehüllt, den Kragen hochgeschlagen, ihr Gesicht und Haar war unter einer Militärmütze versteckt, und so gelang es ziemlich leicht, die Weiblichkeit in die Anstalt zu schmuggeln. Als sie sich nun in einem Zimmer – es war unbewohnt, denn der frühere Insasse hatte noch keinen Nachfolger gefunden – aus einem »Pressier« wieder in eine Angehörige des schönen Geschlechts verwandelt hatte, sahen wir, daß es eine derbe, ländliche Erscheinung war, bäuerlich gekleidet, etwa Mitte zwanzig; das Gesicht hatte einen blöden Ausdruck. Ihren nicht eben sehr sauberen Kleidern entströmte ein keineswegs berauschender Geruch.

Aber das störte uns nicht, wild, wie wir auf den langentbehrten Genuß waren. Einer nach dem andern – das Los hatte die Reihenfolge bestimmt – erlabten wir zehn Jünglinge uns an den Reizen der entführten »schönen« Helena. Einmal gab es eine unliebsame Unterbrechung. Plötzlich hörten wir durch das Fenster einen Tumult außerhalb der Anstalt. Wir erschraken nicht wenig. Eine Anzahl Flößer, die Hölzer aus Rußland auf dem nahe der Stadt fließenden Fluß zu begleiten pflegten, stand vor dem Tor und lärmte und begehrte Einlaß. Die »Braut« eines ihrer Kollegen sei von den »Pressiers« verschleppt. Irgendjemand hatte gesehen, wie das Mädchen mit ein paar der jungen Herren nach der Anstalt zu gegangen sei. Der Portier hatte Mühe, die Leute zu beschwichtigen und sie zu überzeugen, daß es eine Unmöglichkeit sei, ohne sein Wissen auf das Grundstück und in das Haus zu kommen. Endlich trollten sie sich von dannen, und die entmenschte Prozedur konnte ihren Fortgang nehmen. Noch heute schüttelt mich in der Erinnerung der Ekel. Wie war es nur möglich, daß gebildete junge Leute bis zu diesem Grade vertieren konnten?!

Für uns aber hatte die Sache weiter keine Folgen. In der Nacht wurde das Weib heimlich – der Zerberus schlief den Schlaf des Gerechten – aus dem Hause geleitet und von zwei »Pressiers« über die hohe Mauer bugsiert.

Hinterher stellte sich bei mir doch ein so großer Widerwille gegen dieses Erlebnis und gegen das ganze verlotterte Treiben auf dieser »Presse« ein, daß ich es als eine Erlösung begrüßte, als mich mein Vater schon nach einem Vierteljahr nach Hause berief. Die Presse wurde übrigens sehr bald aufgelöst, denn sie brachte nachgerade das ganze Institut in Verruf. Der Direktor beschränkte sich auf das Pädagogium, das namentlich unter seinen Söhnen blühte und einen guten Ruf erlangte.

Mein Vater war auf seine alte Idee zurückgekommen, mich studieren zu lassen. Da er damals schon die Verlegung seiner Bank nach Berlin plante, gab er mich bei einem Oberlehrer des Werderschen Gymnasiums in Pension, das damals noch am Werderschen Markt in einem alten, engen Gebäude seinen Sitz hatte und unter Direktor Bonnells Leitung zu einer gewissen Berühmtheit gelangt war. Bekanntlich war auch Bismarck ein Zögling Bonnells, und auch seine Söhne und die beiden Hülsen, Söhne des damaligen Generalintendanten der königlichen Schauspiele, machten auf dem Werderschen Gymnasium ihr Abiturium. Ich hatte zum Nachbarn in der Obersekunda den zweiten Sohn eines der bekanntesten Bankiers, dessen ältester Sohn hier bereits das Examen abgelegt hatte. Mein später viel genannter Schulkamerad war damals kaum siebzehn Jahre alt, aber bereits auf dem besten Wege ein Lebemann zu werden. So erzählte er mir viel von seiner »Konfektioneuse«, die er in »Sommers Ballsalon« in der Potsdamer Straße kennen und lieben gelernt hatte. Manchmal kam er des Morgens gähnend, schläfrig zur Schule.

»Heute nacht war ich bei meinem Schatz!« raunte er mir dann während des Unterrichts zu.

Mit Oberlehrer Dr. Müller, meinem Pensionsvater, dem seine Mutter die Wirtschaft führte, stand ich von allem Anfang an auf sehr gutem Fuß. Wir machten fast täglich Spaziergänge, bei denen ich ungeniert meine Zigarre rauchte, und wenn ich – es war im Frühling – unterwegs Durst bekam, schlug ich vor, in einem Restaurationsgarten ein Glas Bier zu genehmigen. Dr. Müller widersprach solcher Aufforderung niemals; in solchen Dingen gab ich, der Neuzehnjährige, dem Fünfunddreißigjährigen gegenüber den Ton an.

Mit der holden Weiblichkeit hatte ich in den dreiviertel Jahren, die ich damals in Berlin verlebte, keinerlei Verkehr. Mir fehlte Zeit und rechte Stimmung. Das Verhältnis zu meinem Vater war etwas gespannt geworden; er rechnete mit Bestimmtheit darauf, daß ich zu Ostern nach Prima versetzt werden würde. Das würde ihn sehr erfreut und ihn mit einem Schlage mit mir ausgesöhnt haben. Leider ödete mich auch »auf dem Werderschen« der Schulbetrieb unausstehlich an; während der Unterrichtsstunden hielt mich mein Nachbar oft von der Aufmerksamkeit ab, der immer etwas Interessantes zu erzählen wußte.

Mein Pensionsvater kümmerte sich gar nicht um meine Arbeiten. Auf unseren Spaziergängen unterhielten wir uns ausschließlich von literarischen Dingen, in erster Linie vom Theater. Dr. Müller, der Geschichte und Literatur zu seinem Lehrfach erkoren, bemühte sich nämlich neben seinem pädagogischen Beruf um literarische Lorbeeren. Ein paar einaktige Lustspiele und Schwänke waren schon von ihm in Berlin gespielt worden; er betätigte sich auch als Theaterkritiker für ein Berliner Wochenblatt, und so hatte er zu allen Uraufführungen zwei Freikarten. In der Regel nahm er mich mit, weil ich ihm wohl eine angenehmere und verständnisvollere Gesellschaft war als seine Mutter.

Eines Tages hatte ich eine Begegnung auf der Straße mit einem ehemaligen Kriegskameraden. Es war der Unteroffizier d. R. Zander, von dem ich ein etwas drastisches Liebesabenteuer während des Feldzugs erzählt habe. Die Freude war gegenseitig groß, als wir uns so unerwartet trafen. Natürlich wurde das Wiedersehen bei einem Glase Bier gefeiert; wir hatten uns ja so mancherlei zu erzählen. Zander berichtete mir, daß er nach Berlin gekommen sei, weil ihn die Enge seines kleinen polnischen Heimatstädtchens erdrückt habe. Früher sei er Supernumerar bei der Eisenbahn gewesen, aber der lederne Dienst habe ihn angewidert. Als ich ihn nun fragte, ob er es jetzt besser getroffen habe, schüttelte er melancholisch sein lockiges blondes Haupt.

»Ich habe einen kleinen Posten beim statistischen Amt – Gehalt gering, Aussicht, zu etwas zu kommen, noch geringer. Sie wissen ja, wenn man nicht studiert hat, kann man nicht vorwärts kommen. Und die Arbeit: Schema F. Abstumpfend, geisttötend! Das ganze Leben lang dieselbe stumpfsinnige Tätigkeit in denselben vorgeschriebenen Formen! Und ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt!«

Tiefe Melancholie sprach aus den sonst so hübschen, hellblickenden Augen. Ich drückte ihm mitfühlend die Hand. Er war ein lebensvoller, tatkräftiger Mann, der ganz und gar nicht zum subalternen Beamten paßte. Wie ein Vogel im Käfig mußte er sich vorkommen. Sehnsüchtig schaute er aus dem Fenster, in die Weite, traumverloren.

»Ja, wenn man nach Amerika könnte, da ist ein weites Feld. Da fragt man nicht nach Examina. Da gilt der Mann das, was er leistet! Aber –« mutlos ließ er den Kopf sinken – »daran kann ich nicht denken. Wo die Mittel hernehmen zur Überfahrt? Von Sparen ist keine Rede. Mein bißchen Gehalt reicht kaum zum notdürftigen Vegetieren.«

Ich besuchte ihn in der Folgezeit zuweilen. Er wohnte in der Tat höchst armselig und lebte in den allerbescheidensten Verhältnissen. Eltern und Verwandte, die ihn hätten unterstützen können, besaß er nicht. Seine Zukunft war im Vaterlande aussichtslos, jammervoll.

Ostern näherte sich; mir wurde immer flauer zumute. Als mein Vater Anfang März nach Berlin kam, erklärte ihm Dr. Müller, daß ich zu Ostern nicht versetzt werden würde.

Mein Vater, von heftigem Temperament wie ich, war aufs äußerste enttäuscht. Aufbrausend kam er aus des Lehrers Studierzimmer in mein Zimmer gestürzt, und ehe ich mich's versah, fühlte ich eine kräftige Ohrfeige auf meiner Wange brennen.

Die körperliche Züchtigung, noch dazu in Gegenwart meines entsetzten Stubenkameraden, kränkte mein Ehrgefühl aufs äußerste. Mein Vater verließ das Zimmer, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich aber setzte mich noch an demselben Abend hin und schrieb ihm, frisch unter dem Eindruck der erlittenen Kränkung, einen von Entrüstung flammenden Brief. Wenn ich es auch vielleicht an Fleiß hätte fehlen lassen, so müsse ich doch bedauern, daß mein Vater, noch dazu vor einem Zeugen, sich zu dieser entehrenden Mißhandlung hätte hinreißen lassen. Die Tatsache, daß ich mich im Kriege als Mann bewährt, hätte ihn abhalten müssen, mich wie einen unreifen Buben zu behandeln. Ich wüßte nicht, wie nach diesem schmachvollen Auftritt sich unser künftiges Verhältnis gestalten sollte. Meine kindliche Ehrfurcht und Liebe hätte infolge seines Mangels an Selbstbeherrschung einen unheilbaren Riß erhalten. Es entspräche wohl auch seinen Wünschen, wenn ich ihn künftig jeden weiteren Ärgers über mich entheben wolle. Meine letzte Bitte sei deshalb, mir die Mittel zur Überfahrt nach Amerika zu gewähren. (Ich hatte hierbei an meinen Freund Zander gedacht, hatte er nicht recht? Gewiß, Amerika war das Land der Freiheit. Hier konnte sich Jugendkraft einen Weg bahnen, ohne daß man am Gängelbande irgendeiner Autorität ging und sich auf Schritt und Tritt bevormunden zu lassen brauchte.) Dann würde ich ihm nicht mehr zur Last fallen und mich bemühen, die erwünschte Selbständigkeit zu erlangen, die mich ein für allemal vor der Wiederholung so schwerer Ehrenkränkungen bewahren sollte.

Jäh in meinen Entschlüssen, für jeden Eindruck sehr empfänglich, hochgradig empfindlich und leicht gekränkt, schickte ich den Brief ohne jede weitere Überlegung ab, so sehr sein Inhalt auch geeignet war, eine tiefgehende Veränderung ohne allen Übergang in meinem ganzen zukünftigen Leben hervorzurufen.

In allem, was seine Autorität, besonders innerhalb der Familie betraf, ließ mein Vater nicht mit sich spaßen. Und richtig, er würdigte mich zwar keiner Antwort auf meinen unerhört unkindlichen Brief, aber er sandte meine Mutter nach Berlin, um mir zu sagen, daß das Tischtuch ein für allemal zwischen uns zerschnitten sei, und um die letzten Vorbereitungen zu meiner Reise nach Amerika zu treffen.

Wie furchtbar schwer es meiner Mutter, die uns Kinder immer mit ihrer liebevollen Sorge umgab, geworden sein mußte, den grausamen Auftrag meines Vaters auszuführen, konnte ich erst später ermessen. Wie immer, hielt sie sich auch diesmal aufrecht, um mir nicht den Mut zu nehmen, während doch ihr Herz selbst aus schmerzvoller Wunde blutete. Nachdem wir allerlei Einkäufe gemacht, kam der Abschied – auf der Straße. Es war am Abend, die Berliner Straßen damals noch nicht so hell erleuchtet wie später. Ich hielt meine Mutter mit feuchten Augen umschlungen. Ein unerträglich dumpfer Druck lag auf meiner Brust. Ich fühlte es tief und überwältigend, wieviel ich mit ihr verlor, und schon jetzt schrie eine Stimme in mir: »Hättest du es doch nicht getan!«

Wir küßten uns zum letztenmal. Dann stürzte ich davon. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und blickte noch einmal zurück. Meine Mutter ging langsam, mit gesenktem Haupt.

Es zerriß mir das Herz; nur mühsam beherrschte ich das Schluchzen, das mir in der Kehle würgte. Da kam eine leere Droschke langsam heran. Ich rief den Kutscher an und nannte meine Adresse. Dann sprang ich hinein, warf mich auf das Polster und schluchzte im bittersten Weh: »Mama! Mama! Mama!«

Am andern Morgen hatte ich die schmerzliche Bewegung überwunden. Glückliche Jugend, die elastisch an Körper und Seele auch mit tiefen Eindrücken rasch fertig wird und die sich wie ein Stehaufmännchen seelisch immer wieder aufrichtet und mit ungeschwächtem Lebensmut den Kampf ums Dasein aufnimmt!

Am Nachmittag besuchte ich meinen Kriegskameraden. Als ich ihm von meiner Absicht sprach, schon in wenigen Tagen nach Amerika auszuwandern, sprang er wie elektrisiert auf.

»Mensch!« schrie er ungläubig und starrte mich zweifelnd an, »ist das wahr, wirklich wahr?« Und als ich stumm bejahte, griff er sich mit verzweiflungsvoller Gebärde in die Haare.

»Du Glücklicher! Du Glücklicher! Und ich muß hier bleiben in der Tretmühle! Nein, nein, nein!«

Er eilte außer sich zum Fenster und deutete auf die vorüberfließende Spree (er wohnte an der Fischerbrücke in einem der armseligen Alt-Berliner Häuser).

»Da springe ich 'rein – ich halte das jammervolle Leben nicht mehr aus! Auf Ehrenwort! Ich mach' ein Ende!«

Er sah sehr entschlossen, völlig gebrochen aus.

»Also dann komm' mit mir!« sagte ich. «Nach Amerika! Nach dem Lande der Freiheit!«

Er kam zurück und sah mich zornig, aufs tiefste erregt an.

»Verspotte mich nicht noch! Du weißt, daß ich kein Geld habe zur Überfahrt!«

Ich faßte einen schnellen Entschluß.

»Dann werde ich für dich zahlen. Mein Bruder kommt morgen herüber und begleitet mich bis Hamburg. Meine Mutter hat mir gesagt, daß er mir ein paar hundert Mark mitbringt, damit ich über die erste Zeit in Amerika hinwegkomme.«

Zander packte mich mit der ganzen furchtbaren Erregtheit eines Menschen, der in düsterster, verzweifeltster Lage einen rettenden Lichtschimmer erblickt.

»Mensch, wenn du das tun würdest, ich wüßte nicht, wie ich dir's danken sollte!«

Mit weit aufgerissenen Augen, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, starrte er mich an.

»Bitte, bitte, Zell, laß mich nicht umkommen hier –!«

Sein dringlicher Ton, seine flehenden Blicke drangen mir bis ins Innerste meiner Seele. Unmöglich zu widerstehen! Auch der letzte Rest meines Bedenkens schwand dahin.

»Hier, mein Wort!« erwiderte ich und drückte ihm fest die Hand. »Pack' deine Sachen! Ich lasse dich nicht im Stich!«

»Da ist nicht viel zu packen,« sagte er in bitterer Selbstverspottung, um mich gleich darauf jubelnd, stürmisch zu umarmen.

Am nächsten Abend fuhren wir in Begleitung meines Bruders nach Hamburg. Erst hier machte ich Robert mit meinem Entschluß, für meinen Freund die Überfahrt zu bezahlen, bekannt. Er sperrte sich aufs äußerste. Ich sei wohl nicht recht gescheit! Dazu habe er keinen Auftrag. Das könne er nicht verantworten.

»Dir und Papa kann es ganz egal sein, was ich mit dem für mich bestimmten Gelde mache!« gab ich trotzig zurück.

Aber er weigerte sich noch immer. Sein nüchterner, kaufmännischer Sinn konnte mich einfach nicht begreifen. Ich erklärte ihm schließlich: »Wenn du für Zander nicht auch das Billet löst, fahre ich ebenfalls nicht. Ich habe es ihm versprochen. Daraufhin hat er seine Stellung aufgegeben. Was soll er machen? Er hat keinen Pfennig Geld mehr in der Tasche. Nicht einmal nach Berlin kann er zurück. Willst du, daß ich ihn dahinein begleite?«

Ich deutete mit sehr energischer Miene und Geste nach den schäumenden Wellen der Elbe.

Da sah mein Bruder ein, daß ihm keine Wahl blieb. Nur die eine Bedingung stellte er noch, daß mein Freund sich mit einem Zwischendeckbillet begnüge, während ich in zweiter Kajüte fahren sollte. Zander war gern einverstanden. Das kümmerte den alten Feldzugteilnehmer wenig, der 1864, 66 und 70/71 mitgemacht hatte. Die Hauptsache war, daß er hinüberkam nach dem Lande seiner Sehnsucht.

Es waren rauhe Märztage. Die See ging hoch und es war einer der ältesten Kästen der Amerika-Linie, in dem wir fuhren. Dennoch war es ein gemütliches Zusammenleben an Bord. Wir in der zweiten Kajüte hielten wie eine große Familie zusammen. Einer war dem anderen behilflich. Dazu kam, daß die Verpflegung vorzüglich war, viel besser, als sie die meisten von uns von zu Hause her gewöhnt waren. Da war unter anderem ein alter, aber großer und kräftiger deutsch-amerikanischer Farmer, der seine Heimat besucht hatte und nun auf der Rückreise begriffen war; ferner eine muntere, lebhafte, junge Frau, eine Dreißigerin, die Gattin eines Kapellmeisters, die ihrem Manne, der sich drüben eine gute Existenz geschaffen, nachreiste. Immer vergnügt, erfreute sie sich bald allgemeiner Beliebtheit. Außerdem fand sich noch ein schweigsamer, schwermütiger Apotheker in mittleren Jahren, der in der Heimat verkracht war und nun drüben sein Leben von neuem aufbauen wollte, während seine Familie noch in der Heimat zurückgeblieben war. Besonders interessierten mich zwei junge Leute ungefähr in meinem Alter. Der eine war ein gewisser Wolff, ein Bankierssohn aus Berlin, ein Leidensgenosse von mir; auch ihn spedierte seine Familie nach Amerika, was er ausgefressen hatte, habe ich nicht erfahren; es mag aber wohl etwas schlimmeres gewesen sein, als ich verschuldet hatte. Der zweite war ein Jahr jünger als ich, ein furchtbar naiver Mensch, der uns allen Sympathie und Anteilnahme abgewann. Er war Waise; seinen älteren Bruder, der sich schon seit Jahren drüben aufhielt, wollte er aufsuchen. Zu den Hauptausrüstungsgegenständen des blutjungen Menschen gehörte eine große Jagdflinte. Damit wollte er von New York nach Kalifornien zu Fuß wandern, denn die teure Eisenbahnfahrt bis dahin konnte er nicht bezahlen. Ein jüdischer Handelsreisender, der immer im Pelz einherlief, und ein junger Ingenieur namens Korn, der immer einen großen Mund hatte und gern prahlte, sowie seine rothaarige junge Frau, die im Gegensatz dazu einen stillen, bescheidenen Eindruck machte, vervollständigten unsere Tischgesellschaft. Die meisten übrigen Mitreisenden in der zweiten Kajüte bekamen wir nur selten zu Gesicht, denn sie hielten sich fast immer in ihren Kajüten auf und ließen sich den Haferschleim – kräftigere Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, erlaubte ihnen die Seekrankheit nicht – von der Stewardeß an ihr Schmerzenslager bringen.

Wir hatten Pech. Auf hoher See trafen uns anhaltende Stürme, die unser altes Fahrzeug hin- und herwarfen und es manchmal fast senkrecht zur See stellten. Der Aufenthalt auf Deck war an manchen Tagen so gefährlich, daß Seile gezogen wurden, an denen man sich festhielt, und daß auch zeitweise das Betreten des Decks verboten war. Die scheußliche Krankheit, die eine recht unangenehme Begleiterin der sonst interessanten, höchst gesunden Seereise ist, verschonte fast niemand. In unserer zweiten Kajüte war ich der einzige, der während der ganzen Reise auch nicht eine Minute seekrank war. Ich war natürlich sehr stolz darauf, weiß aber noch heute nicht, worauf diese gütige Bevorzugung der Natur zurückzuführen war. Ich glaube doch, daß die Seekrankheit mehr von dem Magen als von den Nerven herrührt. Denn nervös bin ich immer gewesen und auf alle seelischen Einflüsse habe ich immer stark reagiert, dagegen habe ich über meinen Magen nie zu klagen gehabt.

Ich war also der einzige, der auch in den schwersten Tagen nach wie vor unserer reichbesetzten Tafel alle Ehre antat. Ja, es war mir und einigen von der Seekrankheit leichter Betroffenen möglich, verschiedenen Bekanntschaften im Zwischendeck – außer meinem Freunde Zander gehörte ein wegen freiheitlicher Anschauungen davongejagter Volksschullehrer dazu – von unseren Herrlichkeiten reichlich abzugeben, was von den armen Zwischendecklern bei ihrem ganz miserablen Fraß aufs dankbarste anerkannt wurde.

Achtzehn lange Tage waren wir unterwegs, bis sich das Land der Freiheit unseren Augen zeigte. Ach, ich kann nicht sagen, daß mein Herz sehr freudig geklopft hätte! Ich fing doch an, mir meiner geringen Welt- und Lebenskenntnis und meiner noch geringeren Zähigkeit, selbständig den Kampf ums Dasein aufzunehmen, bewußt zu werden. Obwohl ich ja, wie es in Homer heißt, vielgewandt war und vieler Menschen Länder und Städte geschaut und sogar dreiviertel Jahr lang gegen den Feind im Felde gestanden hatte, war ich im Grunde doch unerfahren und unselbständig wie ein Kind. Nicht einmal einen Knopf konnte ich mir allein annähen (das hatte immer mein Putzkamerad bzw. die Pensionsmutter besorgt) und noch viel weniger verstand ich irgendeine praktische Tätigkeit, mit der Geld zu verdienen war.

In Hoboken, wo wir landeten, trennten sich die meisten von uns; nur mein Alters- und Leidensgefährte Wolff und das Ehepaar Korn schlossen sich Zander und mir an.

Hoboken war damals ein stilles, kleines Städtchen, aber das Treiben am Pier von New York war einfach betäubend. Ganz ängstlich und beklommen war mir; meine Gedanken flogen in die Heimat; das Bewußtsein der ganz kapitalen Dummheit, die ich begangen, senkte sich schwer und niederziehend auf mich. Und als wir bald darauf den Broadway, diese größte Verkehrsstraße New Yorks mit seinen doppelten ununterbrochenen Wagenreihen auf jeder Straßenseite und den unablässig flutenden Menschenwogen betraten, war mir so elend zumute wie noch nie im Leben.


Nach einigem Umherwandeln fanden wir fünf mit Hilfe einiger Zeitungsinserate Unterkunft in einem deutschen Boardinghouse in der Springstreet, unweit der Bowery, die das östliche deutsche Viertel von dem vornehmen Westen trennte. Mrs. Kroehle, eine stattliche Witwe von etwa fünfunddreißig Jahren, nahm uns für 6 Dollar pro Kopf und Woche in Kost und Logis. Was uns auffiel, war ihre merkwürdige Sprache, die deutsch und englisch mit deutschen Endungen so arg durcheinander mischte, daß uns von dem Kauderwelsch nur die Hälfte verständlich war.

»Stepp in, please! Ich habe plenty rooms (viele Zimmer). Up stairs (eine Treppe) sind noch drei rooms frei. Wie lange wollen Sie renten (mieten)?«

Wir einigten uns dahin, daß wir wochenweise »in advance« (im voraus) zahlen wollten. Das Ehepaar Korn, mein Freund Zander und ich nahmen die beiden größeren Zimmer, nach der Straße zu gelegen, mit Beschlag. Wolff erhielt ein kleines einfenstriges Zimmer nach dem Hof hinaus. Schon am anderen Morgen ging Zander energisch und voll frischen Muts auf die Suche nach einer Stellung. Den ganzen lieben langen Tag irrte er umher, unverdrossen nach Arbeit fragend, immer vergebens. Das Haupthindernis war überall, daß er kein Wort englisch verstand. Ich war zunächst so mutlos, daß ich mich vorläufig begnügte, von Zanders Irrfahrten Kenntnis zu nehmen. Meine Aussichten waren natürlich noch viel geringer als seine, denn ich verstand ebensowenig englisch wie er, besaß aber nicht seine Tatkraft, Unternehmungslust und seinen guten Willen, sich jeder, auch der härtesten Arbeit, zu unterziehen. Verwöhnt, wie ich als Kind reicher Eltern war, hatte ich einen lebhaften Widerwillen, häßliche, untergeordnete Arbeit auf mich zu nehmen. Was für Pläne ich mir eigentlich gemacht hatte, als ich jenen törichten, stolzen Brief an meinen Vater geschrieben, war mir selbst nicht klar, im Grunde hatte ich überhaupt an keine bestimmte Arbeit gedacht, sondern mich nur so im allgemeinen an der schönen Idee, mein eigener Herr zu sein und mir von niemand Vorschriften und Vorwürfe machen zu lassen, berauscht.

Na, vorläufig hatte ich ja noch Geld und ich meinte, mich nach Beschäftigung umzusehen, sei immer noch Zeit; zunächst sei es wichtiger, mich mit dem neuen Terrain bekannt zu machen. Ich unternahm also täglich weite Spaziergänge in der Stadt und fuhr mit der Straßenbahn nach dem Zentralpark hinaus, der für New York ungefähr das bedeutet, was für Berlin der Tiergarten. Da sah man täglich die elegantesten Equipagen und eine viel größere Anzahl von Reitern und besonders Reiterinnen als in Berlin. Hochinteressant war das Leben und Treiben auf dem Broadway, dieser großen Verkehrsader, die, noch länger als die Friedrichstraße in Berlin, fast die ganze alte Stadt durchschnitt. Hier fand zweimal des Tages eine förmliche Völkerwanderung statt, und zwar des Morgens von Norden nach Süden, wenn die Bevölkerung nach den im Süden gelegenen Geschäften wanderte, und des Nachmittags, wenn nach Geschäftsschluß der Strom der Arbeitenden wieder zu seinen Wohnstätten im Norden zurückflutete. In dem ganzen südlichen Teil von New York befanden sich ausschließlich Geschäfte, hauptsächlich die Kontors der zahlreichen Banken und der zahllosen Engrosgeschäfte; natürlich hatte auch die Börse hier ihren Sitz.

Auch das deutsche Theater besuchte ich einige Male, das in der Bowery lag, dieser langen, breiten Straße, die dicht mit Kaufläden, Kaffees und Restaurants, darunter vielen deutschen, besetzt war. Auch das große populäre Konzertlokal »Atlantic Garden«, in dem die deutsche Bevölkerung mit Vorliebe verkehrte, befand sich an der Bowery. Man sagte von diesem Lokal, dessen Besitzer ein Deutscher war, daß ein großer Teil der ausschließlich deutschen Kellner ehemalige deutsche Offiziere waren. Sicher ist, daß sehr viele der deutschen Offiziere, die in ihrem Berufe, meist wegen Schulden, gestrandet waren, ihre Tätigkeit in Amerika als Kellner im »Atlantic Garden« begannen. Hier habe ich viele Abende inmitten der Tausende von Besuchern mit meinem Freund Zander und unserem Reisegefährten Wolff verbracht. Das Konzert war frei und das Bier war nicht übel und kostete nur – das kleine Glas – fünf Cents (20 Pfg.).

Als 14 Tage vorbei waren, ohne daß es meinem Freunde gelungen war, irgendeine Beschäftigung zu finden, faßte er den heroischen Entschluß, auf gut Glück ins Land oder wie man hier sagte: in die »country« hinauszuwandern, da er hoffte, hier leichter Arbeit zu finden. Wolff erbot sich, ihn zu begleiten. Als die Abschiedstunde gekommen war, war mir beklommen und weh zumute, sowohl des Freundes wegen, der mir nicht länger auf der Tasche liegen wollte, als auch meinetwegen, denn nun blieb ich mutterseelenallein in der Riesenstadt zurück, meinem sehr ungewissen Schicksal preisgegeben. In dem einzigen, schon recht fadenscheinigen Anzug, den er besaß, mein Schülerplaid, das ich ihm mitgab und in das er seine Wäsche und sonstigen Habseligkeiten eingepackt hatte, auf dem Rücken, wanderte er, nicht mehr als 1 oder 2 Dollars in der Tasche, in Begleitung des achtzehnjährigen schmächtigen, von Haus aus verwöhnten Wolff wohlgemut davon. Während der Berliner Bankierssohn, wie ich später erfuhr, irgendwo elend zugrunde gegangen ist, hat sich Zander unerschrocken, tatkräftig, sich in jede Lage schickend, durchgebissen.

Viele Jahre später hat er mir von seinen Schicksalen Kunde gegeben. Nachdem er nacheinander Straßenkehrer, Steinklopfer, Farmerknecht, Tischler, Stuben- und Schildermaler und noch vieles andere gewesen, und nachdem er sich inzwischen mit der englischen Sprache völlig vertraut gemacht hatte, war er schließlich Reporter deutscher sowohl wie englischer Zeitungen geworden und hatte sich als solcher eine auskömmliche, behagliche Existenz geschaffen, die ihm schließlich die Heirat mit einer Deutsch-Amerikanerin ermöglichte, die ihm vier Kinder geboren hat.

Wie so oft in meinem Leben war es das Ewig- Weibliche, das mir Trost und Ablenkung von trüben Grübeleien bescherte. Des Vormittags beim Frühstück lernte ich eine hübsche, sehr freundliche junge Dame kennen. Blaue Augen und schwarzes Haar sowie eine hübsche Gestalt mit schönen gerundeten Formen machten sie im Verein mit ihrem lebhaften und entgegenkommenden Wesen sehr anziehend. Das Ärgerliche war nur, daß sie – sie war in England geboren – kein Wort deutsch und ich außer den üblichen Brocken, die ich inzwischen aufgeschnappt hatte, kein Englisch verstand. Aber freilich, das Herz und seine Bedürfnisse haben eine Sprache, die international ist und von jedermann, gleichviel welcher Nation, verstanden wird, und so gelangten wir, Miß Ellen und ich, rasch zu einem Verständnis. In den ersten Tagen war die Boardinghauswirtin, die uns beim »Breckfeast«, das wir, beide Langschläfer, erst am späten Vormittag zu uns nahmen, Gesellschaft leistete, unsere freundliche Dolmetscherin. In ihrer Gesellschaft unternahmen wir auch, während der Frühling mit sommerlicher Wärme nach seiner Gewohnheit in Amerika über Nacht ins Land kam, schöne Ausflüge, und es war für mich eine schmeichelnde Wahrnehmung, daß die eine die andere an Liebenswürdigkeit zu überbieten trachtete.

Nun, Miß Ellen war jünger und schöner und trug leicht den Sieg davon. Erst später, als der erste Kuß und das, was sich daran zu schließen pflegt, unsere Beziehungen schon recht innig gestaltet hatte, erfuhr ich, daß die verliebte Engländerin die »Gattin auf Zeit« eines jungen Kaufmanns war, der mit Miß Ellen ein schönes Parterrezimmer im Boardinghause bewohnte. Frühmorgens verließ er das Haus und kam erst nach fünf Uhr nachmittags von seiner Arbeitsstelle zurück. Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen. Nun, diese Kunde störte weder sie noch mich in unseren herzlichen Beziehungen; wir waren viel zu verliebt ineinander. Sehr oft des Morgens, wenn ich noch in süßem Schlummer lag, ertönte ein leises Klopfen an meiner Tür, und ohne das landesübliche »Come in!« abzuwarten, schlüpfte die liebliche Ellen im hellen Sommermorgenrock in mein Zimmer, streifte das leichte Gewand ab und zog mich aus Morpheus' Armen in die ihrigen.

Die Frauen sind die besten Sprachlehrmeister, denn sie haben das wortreichste Vokabularium zur Verfügung und, immer schwatzlustig, plaudern sie über alles Mögliche und Unmögliche, und wenn mein Verkehr mit Miß Ellen längere Zeit gedauert hätte, hätte ich wahrscheinlich verhältnismäßig schnell die Landessprache gelernt. Aber unser schönes Verhältnis erfuhr ein jähes Ende. Eines Tages war sie verschwunden; triumphierend erzählte mir Mrs. Kroehle, daß Mr. Cunningham seine zur linken Hand angetraute Gattin vor die Tür gesetzt habe, ob aus Überdruß an ihr oder aus welchem anderen Grunde konnte mir meine Boardinghauswirtin nicht sagen.

Ich begegnete der schönen Engländerin bald darauf auf der Bowery; sie teilte mir mit, daß sie in einem Konzertlokal, einer Art Varieté, in der nahen Grand Street, serviere, sie hoffe mich bald einmal dort zu sehen. Aber ich leistete dieser freundlichen Aufforderung keine Folge, denn meine Lage gestattete mir derartige Besuche nicht.

Eines Tages nämlich konstatierte ich mit Schrecken, daß ich nur noch etwa zwanzig Dollars besaß. Was tun? Ich überlegte nicht lange. Irgendeine schwere körperliche Arbeit zu suchen – eine andere Beschäftigung hätte ich ja nicht finden können – dazu konnte ich mich durchaus nicht entschließen. Waiter (Kellner) zu werden oder mich auf die Straße mit einem Hausierkasten zu stellen, wie es viele Eingewanderte taten, paßte mir ebensowenig. Ich hungerte ja noch nicht, denn bisher hatte ich noch immer den »board« bezahlen können. Zudem hatte ich mich in eine trotzige Stimmung gegen meinen Vater hineinphilosophiert. Jetzt das amerikanische Leben ein wenig kennend und durch Zanders und Wolffs verzweifelte Expedition ins Blaue hinein gewitzigt, ging mir die Erkenntnis auf, daß es für zürnende Väter zwar bequemer sein mochte, sich ihrer nicht guttuenden Sprößlinge zu entledigen, dadurch, daß sie die Ungeratenen in die große internationale Korrektionsanstalt Amerika spedierten, daß dieses sehr bedenkliche Aushilfsmittel aber zugleich auch eine starke Gewissenlosigkeit bedeutete, und ich kann auch heute, nach reiflicher Erfahrung, und während ich meinem längst verstorbenen Vater ein liebevolles, pietätvolles Andenken bewahre, von dieser Ansicht nicht abgehen. Ich meine, daß gerade Amerika der allerungeeignetste Ort ist, strauchelnde junge Leute, die eine starke führende Hand nötiger als andere gebrauchen, einfach mittellos in das »struggle for life« (Kampf ums Dasein) zu stoßen, das nirgends so schroffe, grausame Formen annimmt als gerade drüben über dem großen Teich, in dieser großen, allumfassenden Hetze um den allmächtigen Dollar. Besonders aussichtslos, das war mir klar, war dieser Kampf ums Dasein hier in der Fremde für einen Jüngling, wie ich es war, der, der Verhältnisse und der Landessprache unkundig, völlig unselbständig, in praktischen Dingen ein Kind, ganz wehrlos diesem erbarmungslosen Kampf gegenüberstand.

Ich beschloß also, einfach lakonisch nach Hause zu telegraphieren: »Schickt Geld!«

Es war ein sehr heißer Tag; ich erkundigte mich während des Dinner, an dem auch Mr. Korn und seine Gattin teilnahmen, nach dem Telegraphenamt und erfuhr, daß es sich weit ab, am südlichsten Ende des Broadway, befände.

Ich schnitt eine Grimasse. Die Hitze habe ich nie gut vertragen können, und die Sonne brannte mit einer Glut, wie ich sie in der Heimat nie erlebt hatte. Deshalb war ich sehr erfreut, als der Ingenieur, der ebenfalls noch keine ihm zusagende Beschäftigung gefunden hatte, erklärte, er habe ohnedies sich in einem Bureau am Broadway vorzustellen und könne ganz gut auf dem Wege mein Telegramm besorgen. Vergnügt händigte ich ihm meine letzten zwanzig Dollars aus, denn soviel ungefähr betrugen damals die Kosten für eine kurze Depesche nach Europa. Was das Telegramm weniger kostete, würde ja Korn am Abend zurückbringen; aber er brachte nichts zurück, ja, er selbst kehrte nicht wieder. Und nun machte die vermeintliche Frau Korn eine überraschende Mitteilung. Sie sei gar nicht mit dem Ingenieur verheiratet; er sei übrigens gar kein Ingenieur, sondern nur simpler Techniker, der niemals eine hohe Schule besucht habe. Durch schöne Versprechungen habe er sie verlockt, mit ihm nach Amerika zu gehen; während der letzten Wochen habe sie erkannt, daß sie einem arbeitsscheuen Schwindler in die Hände gefallen sei, und deshalb habe sie sich schon heimlich nach einer Stellung umgesehen,sie habe auch eine solche als Kinderfräulein in einer deutschamerikanischen Familie gefunden.

Ich war wie vom Blitz getroffen und verwünschte meine unglückselige Bequemlichkeit aufs bitterste. Kein Zweifel, der Betrüger, der ebenfalls mit seiner Barschaft zu Ende war, hatte mit meinen zwanzig Dollars Reißaus genommen.

Ich war wie vernichtet; aber Mrs. Kroehle sprach mir Mut und Trost zu. Meine und Zanders gelegentlichen Mitteilungen über meine heimatlichen Verhältnisse schienen ihr Vertrauen eingeflößt zu haben. Das meiste aber trug wohl, wie ich bald wahrzunehmen Gelegenheit erhielt, das Wohlgefallen bei, das sie an meiner frischen Jugend gefunden hatte. Wieweit ihre Pläne mit mir gingen, weiß ich nicht; vorläufig aber war sie voll Liebenswürdigkeit gegen mich und pflegte mich wie keinen anderen ihrer Gäste, obgleich ich der ärmste unter ihnen war. Übrigens hatte sie auch mir von allem Anfang gefallen, und wenn mich Miß Ellen nicht in ihre Netze gezogen, wäre ich vielleicht bald mit der freundlichen Boardinghauswirtin zu zärtlichen Beziehungen gekommen. Nachtragen will ich noch, daß ich zugleich nach Zanders Abmarsch in die »country« das kleine Zimmer Wolffs, dessen Fenster nach dem Hof hinausgingen, bezogen hatte. Das Hinterhaus eines der Grundstücke der benachbarten Straße war von unserem nur durch einen schmalen Hof getrennt, und so hatte ich Gelegenheit, die Vorgänge dort in meinen zahlreichen Mußestunden beobachten zu können. Überraschendes sah ich da. Eine Anzahl von Frauenzimmern bewegte sich an den Fenstern, die zeitweise – auch an den heißen Tagen – plötzlich geschlossen wurden, um nach einiger Zeit wieder geöffnet zu werden. Ich merkte bald, daß diese »Damen« Herrenbesuche empfingen, mit einem Wort, daß sich dort drüben ein Bordell befand. Damals gerade fand die plötzliche unfreiwillige Entfernung meiner zärtlichen Miß Ellen statt, und in Ermangelung anderer weiblicher Bekanntschaften und da ich mich an Mrs. Kroehle nicht recht herantraute, lag für mich die Versuchung nahe, den Damen drüben gelegentlich einen Besuch abzustatten, aber ich bekämpfte solche Regungen aus zwiefachen Gründen, erstens, weil ich alle Ursache hatte, alle vermeidbaren Ausgaben zu unterlassen und zweitens der leiblichen Gefahr wegen. Aber als ich eines Tages eine junge Negerin am Fenster erblickte, die mir mit freundlichem Grinsen ihre elfenbeinfarbenen Zähne zeigte und mich mit Gebärden einlud, konnte ich nicht widerstehen. Es reizte meine jugendliche Neugier und Abenteuerlust zu sehr, kennen zu lernen, wie solch' ein schwarzes Geschöpf sich in der Liebe gebärden würde. Gelegentlich hatte ich gehört, daß Neger oft von einer wahren geschlechtlichen Raserei befallen werden und weiße Frauen mit Gewalt ihren ungezügelten blinden Trieben dienstbar machten, obgleich sie doch wußten, daß die furchtbare Strafe martervoller Lynchjustiz ihrer sicher war.

Also ich steckte mir zwei Dollars in die Tasche und ging hinüber, um so mehr, als ich mich schon vom Fenster aus überzeugt hatte, daß die schwarze Venus eine sehr schöne Figur hatte. Und in der Tat, als ich mich bei ihr befand, sah ich, daß sie eine wahre Juno war, daß sie den vollendet schönsten weiblichen Körper besaß, den ich je gesehen hatte. Dennoch war ein zwiespältiges Gefühl in mir, als die exotische Schöne ihre schwarzen Arme nach mir ausstreckte. Auch sonst fühlte ich mich sehr enttäuscht, denn sie war in keiner Weise anders als ihre weißen Berufsgenossinnen.

Es war zu jener Zeit, als ich eines Nachmittags auf meinen Spaziergängen in den verschiedensten Vierteln der Riesenstadt in eine besonders schmutzige elende Straße geriet, in der, wie ich bald gewahr wurde, sich Haus an Haus Bordelle der niedrigsten Art befanden. Die Freudenmädchen standen auf der Straße und lockten jeden Vorübergehenden dreist: »Come in! Twenty five cents!«

Also für eine Mark nach deutschem Gelde konnte man sich hier eine weibliche Umarmung, allerdings zweifelhaftester Art, verschaffen. Noch billiger als in Berlin!

Entsetzt floh ich diese schamlosen oder wohl richtiger: diese armen Unglücklichen, die die verrotteten Verhältnisse der kapitalistischen Weltordnung so tief hatten herabsinken lassen.

Mrs. Kroehle tat das allertörichste, was sie von ihrem Standpunkt aus tun konnte. Sie schwärmte mir oft von ihrer verflossenen Ehe vor: wie glücklich sie mit ihrem Mann gelebt habe, wie sehr sie seinen frühzeitigen Verlust betraure. Und wenn ich ihr dann entgegnete, daß sie ja noch die beste Aussicht habe, ein neues Eheglück zu finden, schwor sie, daß sie nie einem anderen Mann angehören würde.

Ich in meiner trotzalledem noch recht blöden Unkenntnis der weiblichen Natur nahm das für bare Münze, und so wagte ich nicht, mich um ihre Gunst zu bewerben, die ich damals nicht ungern genossen hätte. Immer wieder, wenn mir ein dreistes Kompliment auf die Zunge treten wollte, wenn ich mich zu einer zärtlichen Annäherung aufgelegt fühlte, schreckten mich ihre elegischen, ihrem teurem Verstorbenen gewidmeten Betrachtungen zurück. Innerlich aber, das sollte ich in einer Nacht ganz unvermittelt erkennen, brannte sie lichterloh und wünschte nichts sehnlicher, als daß ich sie von den schwer ertragenen Entbehrungen ihrer Witwenschaft erlösen sollte.

Ich hatte die Gewohnheit, bis spät in die Nacht hinein zu lesen; neben meinem Bett befand sich ein Gasarm, und so hatte ich es recht bequem, die mir von Mrs. Kroehle geliehenen Romane allnächtlich zu durchschmökern. Eines Nachts – die Mitternachtsstunde war schon vorüber – erlosch die Gasflamme plötzlich. Das war noch nie geschehen, obgleich ich schon manchmal bis zum Morgengrauen gelesen hatte. Ich richtete mich in meinem Bett auf und lauschte. Da hörte ich von unten Geräusch heraufdringen. Eilig kleidete ich mich notdürftig an und stieg die Treppe hinab, vom »Basement« (Erdgeschoß), in dem sich der »Diningroom« (Speisezimmer) befand, kam Lichtschein. Ich trat ein, mein Licht in der Hand; Mrs. Kroehle im verführerischen weißen Nachtgewand lächelte mir schalkhaft entgegen.

»Sind Sie ärgerlich, Mister Zell?« Sie schaute mich herausfordernd an; auf ihren Wangen brannte eine lebhafte Röte. »Sie sollen nicht immer so lange lesen und sich Ihre hübschen Augen verderben!«

Noch immer ahnungslos betrachtete ich sie mit Blicken, in denen wohl deutlich die Begierde leuchtete. Das war so recht eine Szene nach dem Herzen eines stets romantisch-erotisch gestimmten Jünglings.

»Aber ich will nicht grausam sein!« fuhr die Verführerin fort und beugte sich zu dem in einer Ecke angebrachten Gasmesser hernieder. Dabei wußte sie es geschickt so einzurichten, daß ihr Knie aus dem nach vorn gerichteten Schlitz des Unterrocks, der sich eigentlich auf der Kehrseite hätte befinden sollen, in weißer Hose herausleuchtete.

Nun merkte ich die Absicht und – war verstimmt. Die biblische Geschichte von der Frau Potiphar und dem spröden Josef fiel mir ein, und die allzu plump sich offenbarende Brunst des Weibes brachte das Gegenteil der ganz offenbar beabsichtigten Wirkung hervor. Und als sie nun, sich wieder aufrichtend und zu mir kehrend, immer in dem Scherzton, der ihr Gelüst wenig verbarg, weiter plauderte, wurde ich kühler und kühler. Da wandte sie, von ihrer wachsenden Lust getrieben, ein letztes verzweifeltes Mittel an, um dem blöden Schäfer Mut zu der so sehnlich herbeigewünschten Attacke zu machen. Mit einem Atemzug blies sie das Licht ihrer und meiner Kerze aus.

Tiefes Schweigen herrschte für ein paar Sekunden. Während ich mich, angewidert, untätig verhielt, nur von dem einen Verlangen beherrscht, der sich allzu unweiblich Gebärdenden zu entfliehen, erwartete sie, blind in ihrer Liebeswut und offenbar ahnungslos, was in mir vorging, meine zärtliche Annäherung. Aber als diese noch immer nicht erfolgte, lächelte sie verlegen.

»Mein Gott, wie kann man nur so zerstreut sein!«

Jetzt zog ich, eiskalt, die Streichholzschachtel, die ich oben zu mir gesteckt hatte, aus der Tasche, riß ein Streichholz an und steckte ruhig ihre und meine Kerze an. Dann empfahl ich mich mit einem »Gute Nacht, Mrs. Kroehle« – und eilte in mein Zimmer hinauf.

Zum Lesen aber hatte ich keine Lust mehr. Schwer fiel es mir auf die Seele, daß ich meine Boardingshauswirtin doch wohl recht bitter enttäuscht und gekränkt hatte. War das nicht furchtbar unvorsichtig und unbedacht gewesen? Ich zuckte stumm mit den Achseln. Es hatte nicht in meiner Macht gestanden, anders zu handeln. Liebesglut läßt sich nicht erheucheln, wenn man sich innerlich angewidert fühlt. Und nun? Was würde nun werden? Das wußte ich nicht, nur das eine war mir klar: Nie würde ich mich soweit erniedrigen, mir freien »board« von der brünstigen Wirtin durch erzwungene Liebkosungen zu erkaufen. Lieber auf die Straße betteln oder in den East River gehen –!

Am anderen Vormittag war Mrs. Kroehle beim Frühstück nicht sichtbar, das erstemal seit langer Zeit. Ihre kleine zwölfjährige Tochter bediente mich. Ich war gerade fertig mit dem Frühstück und wollte mich in mein Zimmer begeben, als ein Hausierer das Basement betrat, wir waren schon miteinander bekannt, denn er sprach von Zeit zu Zeit vor. Es war ein russischer Pole; er hausierte mit wunderschönen künstlichen Blumen, die, wie er erzählte, seine Frau selbst angefertigt hatte. Sie hatten beide jahrelang in Paris gelebt; dort hatte sie das Blumenmachen gelernt. Jan Korzeniowski sprach das Französische besser als das Deutsche, und es machte mir immer Vergnügen, mich mit ihm französisch zu unterhalten, wir hatten Gefallen aneinander gefunden; er hatte eine höfliche, verbindliche Art, die mir im Lande des kaltherzigen Merkantilismus besonders wohltat. Unser Gespräch wurde durch den Eintritt Mrs. Kroehles gestört, die mich auffallend kühl grüßte, so daß es auch dem Polen auffiel, der mich verwundert, fragend betrachtete.

Unangenehm berührt, verabschiedete ich mich von Mr. Korzeniowski. Oben in meinem Zimmer ging ich unruhig grübelnd auf und ab. Was sollte nun werden? Daß mir unter diesen Umständen jede fernere Begegnung mit der verliebten Witwe, deren Liebesglut ich in der Nacht so unempfindlich abgewehrt hatte, außerordentlich peinlich war, lag auf der Hand. Ja, es war geradezu unmöglich zu bleiben. Aber wohin? Was sollte ich anfangen in einem Lande, wo ich niemand hatte, der nur den geringsten Anteil an mir nahm? Wo Hilfe, Rettung finden? Meine Lage war verzweifelt. Ich eilte hinaus auf die Straße, um Ablenkung von meinen kummervollen Gedanken zu finden. Die furchtbare Hitze trieb mich bald wieder nach Hause.

Ich bemerkte es wohl, daß Mrs. Kroehle mich während des Dinner verstohlen forschend ansah, wartete sie auf ein Zeichen meiner Reue, einer Annäherung von mir? Ich vermied es, ihrem Blick zu begegnen, denn sie hätte doch nur Abneigung, Widerwillen darin lesen können, wenn ich an die Szene im Basement dachte, schnürte mir der Ekel den Hals zu. So schamlos, so plump einen Mann zum Liebesdienst pressen zu wollen – pfui Teufel!

Am Abend fand ich in meinem Zimmer eine Rechnung von der Boardinghauswirtin: Für drei Wochen »Board« 18 Dollars, Wäsche und Flicken: 2 Dollars, Summa: 20 Dollars. Ersuche um sofortige Begleichung.

Das war deutlich. Entweder zahlen oder –! Nein, nein, nein, lieber sterben!

Am nächsten Vormittag irrte ich auf den Straßen umher. Der Zufall führte mir den Polen in den Weg. Er hatte seinen schwarzen Karton an einem Tragband am Arm und befand sich offenbar auf seiner Geschäftstour.

»Sie sehen sehr sorgenvoll aus, Mr. Zell«, fragte er mich. »Ich bemerkte es schon gestern, haben Sie etwas mit Mrs. Kroehle gehabt, wenn es nicht indiskret ist zu fragen?«

Ich seufzte und erzählte ihm, froh, mich in meiner furchtbaren Notlage jemand anvertrauen zu können, von meiner Bedrängnis, natürlich ohne der nächtlichen Szene, während derer ich den keuschen Josef gespielt hatte, Erwähnung zu tun. Daß ich von Korn um den Rest meines Geldes betrogen worden war und daß ich inzwischen um Ersatz nach der Heimat geschrieben hatte, wußte er bereits.

»Aber warum ist denn Mrs. Kroehle auf einmal so dringlich?« fragte er. »warum will sie denn nicht länger warten?«

Ich schlug verlegen die Augen nieder und zuckte mit den Achseln. Als ich wieder aufblickte, sah ich seine Augen voll Teilnahme auf mich gerichtet.

»Wann können Sie denn frühestens das Geld von Ihren Eltern erhalten?« fragte er.

»In drei Wochen«, versetzte ich sehr kleinlaut und niedergeschlagen. »Mrs. Kroehle will aber das Geld noch heute.«

Der Pole klopfte mir tröstend auf die Schulter.

»Nur nicht den Mut verloren, Mr. Zell! Ich werde mit Mrs. Kroehle sprechen. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie gleich.«

»Aber das – das kann ich doch nicht annehmen«, stammelte ich, zwischen Befangenheit und aufflackernder Hoffnung.

»Haben Sie noch sonst jemand hier, der sich für Sie verwenden könnte?«

»Nein, niemand!«

»Nun also, dann kommen Sie, Mr. Zell! Ich tu's gern. Sie dauern mich in Ihrer Verlassenheit und Hilflosigkeit.«

Mrs. Kroehle aber zeigte sich durchaus unzugänglich; offenbar fühlte sie sich durch das Eingreifen des Polen verletzt; sie vermutete auch wahrscheinlich eine Indiskretion meinerseits. Mit aller Entschiedenheit blieb sie dabei, daß ich, wenn ich nicht bis zum Abend gezahlt haben würde, mein Nachtquartier anderswo suchen müßte.

Hoffnungslose Verzweiflung war wohl von meinem Gesicht zu lesen. Jan Korzeniowski tröstete mich.

»Ich lasse Sie nicht im Stich. Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Mr. Zell, und halte Sie für einen anständigen, ehrlichen Menschen. Ihr Gesicht, Ihr ganzes Wesen bürgt mir dafür.«

Es klingt fast unglaublich, und wenn man dergleichen in einem Roman erzählte, würde der Leser ungläubig lächeln, und doch ist es buchstäblich wahr. Dieser mir ganz fremde Mensch, den ich nur einigemal in meinem ganzen Leben gesprochen hatte, der von meinen Verhältnissen nur das wenige wußte, was ich selbst ihm darüber mitgeteilt hatte, wurde mein Retter aus tiefster Not, wahrscheinlich vom Tode.

»Leider verfüge ich zurzeit nicht über den von Mrs. Kroehle beanspruchten Betrag,« sagte er mir, als wir zusammen das Haus verlassen hatten, »Aber für ein bescheidenes Zimmer reicht es.«

Er mietete für mich in der Chrystie Street, einer der benachbarten Straßen des deutschen Viertels, Kleindeutschland genannt, für 2 Dollars wöchentlich ein einfenstriges, aber freundliches, sauberes Zimmer. Dann nahm er mich mit nach seiner Wohnung, machte mich mit seiner Frau bekannt und sagte:

»Hier, Aniela, bringe ich dir meinen deutschen Freund, von dem ich dir schon erzählt habe. Er wird für die nächsten Wochen unser Gast sein.«

Die junge Frau war eine sehr sympathische Erscheinung. Sie besaß kein besonders schönes Gesicht, aber sehr liebe blaue Augen, die mich freundlich begrüßten.

Sie war noch sehr jung, erst 23 Jahre alt, wie ich später erfuhr. Ein bißchen größer als ihr kleiner Gatte, hatte sie eine prächtige, wohlproportionierte Figur mit voller Brust. Es war gerade Mittagszeit und ich mußte sofort an ihrer einfachen Mahlzeit teilnehmen.

Mir war das alles wie ein Traum. Die herzgewinnende Liebenswürdigkeit dieser beiden mir fremden Menschen, die mich vor einem verzweifelten Schicksal erretteten, war ein so unverhofftes Glück, daß ich gar nicht daran glauben konnte. War es nur eine augenblickliche Laune des Polen, der sich in der Pose des Protektors gefiel, und würde ihn diese Aufwallung bald wieder gereuen?

Nach Tisch gingen wir zu Mrs. Kroehle zurück, um meine Habseligkeiten abzuholen. Ich besaß noch drei gute Anzüge, zwei paar Stiefel und eine reiche Ausstattung an Wäsche usw. Aber die enttäuschte, erbitterte Witwe erklärte uns rundweg, daß sie die Sachen als Pfand behalten werde, bis ich meine Schuld beglichen haben würde. Auf dringliches Zureden meines Begleiters entschloß sie sich, mir das allernotwendigste an Wäsche herauszugeben.

Mein Leben gestaltete sich nun so: Bis in den Vormittag hinein schlief ich, dann begab ich mich zu den Korzeniowskys, bei denen ich alle Mahlzeiten einnahm. Den ganzen Tag über leistete ich der jungen Frau Gesellschaft, während Mr. Jan mit seinem Kasten unterwegs war, um die hübschen, feinen Fabrikate Frau Anielas abzusetzen. Es waren außer einzelnen Blumen größere und kleinere Girlanden, zur Garnierung von Frauenhüten. Im Durchschnitt kostete die Girlande 5 Dollars. Wenn der Hausierer Glück hatte, setzte er zwei oder drei am Tage ab; es kam aber auch vor, daß er nur ein paar einzelne Blumen oder auch gar nichts verkaufte. Dann war Schmalhans Küchenmeister. Es ging überhaupt recht bescheiden zu im Haushalt; schon die Wohnung, die nur aus einem Zimmer und einer Schlafkammer bestand, war äußerst ärmlich. Das Mobiliar des Wohnzimmers bestand aus einem einfachen Holztisch, ein paar Holzstühlen, einem schmalen, kleinen Roßhaarsofa und dem unvermeidlichen »rocking chair« (Schaukelstuhl), der in keinem amerikanischen Haushalt fehlt, auch im einfachsten nicht.

War es denn denkbar, daß die Güte und Menschenfreundlichkeit des selbst in so dürftigen Verhältnissen lebenden Ehepaars aushalten würde, bis die Hilfe von zu Hause kam? Ich hatte ja damals noch nicht die Erfahrung gemacht, daß es in der Regel nur arme Leute sind, die mit noch Bedürftigeren Mitleid haben und zur Hilfe bereit sind. Und so verließ mich in den ersten Tagen die Unruhe und das Bangen in meiner unsicheren Lage, die ganz von dem Belieben zweier mir fernstehenden Menschen abhing, nicht; wie ein Damoklesschwert fühlte ich beständig die Dunkelheit meiner Zukunft um mich.

Doch ich bangte unnötig. Jan Korzeniowskys ritterliche Haltung blieb mir gegenüber unerschütterlich; immer war er voll Höflichkeit und Güte gegen mich. Wir freundeten uns rasch miteinander an. Zu meinem Erstaunen hörte ich, daß der Mann mit dem ungewöhnlich starken Schnurrbart, den ich auch nach seinem sonstigen Aussehen und Gebaren für einen Mann Mitte der Dreißig gehalten, nur ein Jahr älter als seine Frau, also erst 24 Jahre alt war. Er hatte mit 19 Jahren die Achtzehnjährige geheiratet.

Und Frau Aniela? Es lag etwas so Herzliches, so Liebes, Treues in ihrem Blick, daß ich instinktmäßig empfand, sie hatte mir vom ersten Augenblick an starke Sympathie entgegengebracht, sie würde mich nie im Stich lassen. Ja, es spannen sich rasch zarte Fäden zwischen unseren innig empfindenden jungen Herzen an.

Kein Wunder, waren wir doch den ganzen Tag über allein. Sie saß an ihrem Tisch und regte unablässig die fleißigen Finger, die von Mr. Jan ausgestanzten Blätter zu Blumen und die Blumen zu geschmackvollen Girlanden zusammenfügend. Natürlich plauderten wir viel miteinander; sie sprach geläufig Deutsch und wußte von ihrem Aufenthalt in Paris, wo sie eine kleine Blumenfabrik mit mehreren Mädchen besessen hatten, und von St. Louis, wo sie ebenfalls ein Jahr geweilt und von wo sie das noch heißere Klima nach New York getrieben, viel Interessantes zu erzählen.

Immer häufiger aber entstanden lange Pausen; sie saß vornübergeneigt, eifrig mit ihrer Arbeit beschäftigt; ich verfolgte die flinken Finger, hob meine Blicke zu ihrem freundlichen Antlitz und ließ sie bewundernd auf den schönen Formen der anmutigen Gestalt ruhen.

Ab und zu hob sie das mit dicken blonden Flechten bedeckte Haupt, drehte es nach mir um und sah mich mit einem neckischen Lächeln an.

»Sie langweilen sich wohl sehr, Mr. Zell?«

Ich versicherte natürlich voll Eifer und Überzeugung das Gegenteil; wir tauschten einen langen, sprechenden Blick und sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Zuweilen auch las ich in einem französischen Roman, den ihr Gatte mir geliehen.

Mr. Jan war, wie ich aus seinen Erzählungen von ihrem Pariser Leben wußte, etwas donjuanisch veranlagt. Mit großem Selbstgefühl und sichtlicher Eitelkeit plauderte er ungeniert auch in Gegenwart seiner Frau von seinen galanten Beziehungen zu den damaligen Gehilfinnen seiner Frau. Sie wußte es überdies, denn diese Eskapaden ihres Gatten waren ihr nicht verborgen geblieben, und was sie nicht selbst beobachtet, hatte er ihr schon damals offenherzig und etwas prahlerisch berichtet. Und wenn sie sich auch seinerzeit aus leidenschaftlicher Liebe geheiratet hatten, die Beziehungen zwischen ihnen hatten dadurch natürlich mancherlei Trübungen erfahren. Auch in New York erfreute er sich, wie er gelegentlich triumphierend durchblicken ließ, bei seiner ja ausschließlich weiblichen Kundschaft manches genußvollen Abenteuers. So vertraute er mir einmal unter vier Augen an, daß sich auch Mrs. Kroehle, noch vor unserer Bekanntschaft, ihm einmal willfährig erwiesen habe. – Daß sich die junge Frau auch sonst in ihrer Ehe nicht glücklich fühlte, merkte ich gar bald, denn Jan Korzeniowsky neigte, wie es gerade bei herzlich und heiß empfindenden Menschen nicht selten ist, zu heftigen Temperamentausbrüchen, bei denen er seiner Frau gegenüber die Worte nicht abwog und, wie mir Aniela später mitteilte, sich auch gelegentlich zu einem Puff und Knuff hinreißen ließ.

Des Sonntags und zuweilen auch abends stellte sich regelmäßig ein Landsmann des Ehepaars zum Besuch ein. Es war ein hagerer, trockener, wenig sympathischer Mensch. Wladislaw Niecko, der zurzeit Geschirraufwascher in einem großen Hotel war(merkwürdigerweise beschäftigt man in Amerika Männer damit), hatte bereits ein abenteuerliches Leben hinter sich. Wie das Ehepaar Korzeniowsky war auch er aus Warschau gebürtig; mit 16 Jahren hatte er 1863 an dem Aufstand in Polen teilgenommen und war nach Niederwerfung der Revolution nach Frankreich geflohen. Gesprächsweise konstatierten wir eines Tages, daß wir uns am 2. Dezember 1870 bei Champigny mit den Waffen gegenübergestanden, da er als Pariser Mobilgardist an dem Ausfall teilgenommen hatte. Er trug auch mit vielem Stolz das rote Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch seines Sonntagsrocks, obgleich es in Amerika nicht üblich ist, Orden zu tragen, weil es ja überhaupt in den Vereinigten Staaten bekanntlich dergleichen kindliche Ausschmückungen des Rockes nicht gibt.

Es geschah, was naturgemäß geschehen mußte, wenn zwei von unbefriedigtem Sehnen verzehrte junge Menschen mit leidenschaftlich empfindendem Herzen tagtäglich, wochenlang einander nahe sind. Ich sehe es heute nach so vielen Jahren noch deutlich vor mir, wie es zwischen uns zu der ersten Liebesszene kam. Es war wieder einmal ein sehr heißer, drückender Tag. Die Tür des Wohnzimmers stand, wie es im Sommer in Amerika vielfach Sitte ist, weit nach dem Flur auf. War es die innere Unruhe, die sie trieb, oder hörte sie Geräusch, plötzlich erhob sie sich von ihrem Platz am Tisch, durchschritt das Zimmer und schloß die Tür. Als sie am Sofa, auf dem ich nach meiner Gewohnheit saß, vorüberkam, schlug sie im Scherzspiel mit dem langen Gewinde, an die sie die Blumen zur Girlande heftete, nach mir. Ich erhaschte ihre beiden Arme und machte eine nach mir ziehende Bewegung. Auf einmal lag sie vor mir auf den Knien und im nächsten Moment hatten wir uns umschlungen, und unsere Lippen preßten sich in heißem, langem Kuß aufeinander.

Nur einen kurzen, süßen Augenblick lang. Dann sprang sie auf, eilte zu ihrem Stuhl, senkte ihr Haupt und verhüllte ihr Gesicht in den Händen.

Das alles war instinktiv, ohne jede Absicht, völlig willenlos geschehen. Ein natürliches, unwiderstehliches Gefühl hatte uns einander in die Arme getrieben.

Im Innersten bewegt, hochatmend stand ich auf. Noch nie hatte mich bei einem ersten Kusse ein so hochschwingendes Gefühl von Stolz und Seligkeit durchschauert. Leise trat ich zu ihr.

»Was müssen Sie von mir denken!« raunte sie beschämt zwischen ihren Fingern hindurch.

»Daß Sie das liebenswerteste, anbetungswürdigste Geschöpf sind, Frau Aniela!« rief ich feurig, im ehrlichsten Enthusiasmus, »wüßten Sie nur, wie glücklich ich bin!«

Da ließ sie ihre Hände sinken und sah mit glühendem Gesicht, mit strahlenden Augen zu mir auf. Und wir küßten uns von neuem, noch stürmischer, noch glutvoller.

Aniela wurde meine Geliebte, mehr als das: Sie war mir eine rückhaltlos ergebene Vertraute, die selbstloseste, aufmerksamste Freundin. Mit der aufopferungsvollen Liebe einer Mutter sorgte sie in dieser hilflosesten Zeit meines Lebens für mich. Und wenn auch Jan Korzeniowski mir bis zum Tage meines Abschieds ausdauernd freundschaftlich zur Seite stand, so glaube ich, habe ich das zum großen Teil ihrem Einfluß zu danken. Und wie meine Mutter es seinerzeit getan, steckte auch sie mir gelegentlich ein paar Geldstücke in die Tasche, damit ich für meine kleinen Ausgaben nicht erst auf seine Güte angewiesen war. Es war das innigste, schönste Verhältnis zwischen uns, bei dem die Seele weit mehr beteiligt war als die Sinne. Und noch heute schlägt mir das Herz warm, feuchten sich mir die Augen in Dankbarkeit und Liebe, sooft ich Anielas gedenke. Freilich habe ich mich in dieser Zeit oft mit Gewissensbissen herumgeschlagen, war es nicht häßlich, ja undankbar und gewissenlos, daß ich Jan Korzeniowsky seine mir bewiesene edle Menschenfreundlichkeit in dieser Weise vergalt? Aber was hätte ich denn tun sollen? Hier hatte von mir kein Vorsatz, keine Absicht vorgelegen wie in anderen Fällen, wo es sich um junge Mädchen handelte, deren Liebe ich zu gewinnen trachtete, wir hatten nicht miteinander kokettiert und uns nicht bemüht, einer des andern Zuneigung zu gewinnen. Die unwiderstehliche Macht der Liebe war in unsere Herzen eingezogen, ohne daß wir uns dessen bewußt gewesen. Der Knabe Amor hatte uns beide völlig überrumpelt, und auch nicht eine Minute vorher, als es uns plötzlich mit elementarer Kraft zueinander zog, ahnte ich, daß ich sie im nächsten Augenblick in meinen Armen halten würde. Und nachdem es geschehen, nachdem wir uns des himmelhohen Glücks unserer Liebe bewußt geworden, hätte ich neunzehnjähriger Bursche, verlassen wie ich war, den Heldenmut der Entsagung aufbringen, hätte ich mit meinem glühenden, enthusiastischen Herzen der Frau, die ich anbetete, mit kühler Ruhe sagen sollen: Wir dürfen uns nicht lieben, Aniela! Eine solche Erklärung wäre gleichbedeutend gewesen mit der Trennung. Denn täglich in ihrer Nähe sein und ihr gemessen, in starrer Zurückhaltung begegnen – unmöglich, ganz unmöglich! Ich bin nie ein Heiliger, ein Held gewesen und wollte und will es nicht sein.

Dazu kam, daß auch Anielas Leben leer und einsam gewesen, daß ihr Zusammenleben mit ihrem Mann nicht herzlich, innig war und es nicht sein konnte, daß ihr Herz nach Liebe, nach Verständnis, nach zarter Anbetung schmachtete, wie ich sie ihr entgegenbrachte. Solange ich mich Anielas Liebe erfreute, nahm sie mein ganzes Herz, all' mein Sinnen und Trachten ein und es wäre mir nicht eingefallen, einem anderen weiblichen Wesen irgendwelches Interesse zu schenken.

Endlich traf auch das erwartete Geld von meinen Eltern ein. Ich holte mit Korzeniowskys Hilfe den Reisekorb mit meinen Kleidern von meiner ehemaligen Boardinghauswirtin und ich konnte meine Schuld an Jan Korzeniowski abtragen und auch Aniela meine Dankbarkeit beweisen, indem ich ihr ein kleines Medaillon in Form eines Herzchens schenkte. Es blieben mir immer noch etwa hundert Dollars. Damals war es, daß ich Aniela, die mir wieder einmal weinend von einer Mißhandlung erzählte, die ihr Jan bei einem Wortwechsel zugefügt hatte, vorschlug, mit mir zu fliehen. Wir wollten uns irgendwo, am entgegengesetzten Ende New Yorks oder in einer anderen Stadt ein Liebesnest bauen. Schließlich mußte es mir ja gelingen, irgendeine Beschäftigung zu finden. Ihre Liebe würde mich stärken, auch das Schwerste auf mich zu nehmen.

Aber sie wehrte unter Tränen lächelnd ab: »Du lieber Phantast! Nein! Dem Elend, der Verkümmerung wollen wir unsere Liebe nicht aussetzen. Und ich will dein Leben nicht verpfuschen. Du wirst wieder in die Heimat, zu den Eltern zurückkehren und mit ihrer Hilfe ein tüchtiger Mann werden.«

»Aber du, Aniela!«

»Ich werde mein Los weitertragen, leichter als früher, denn ich werde mich, wenn es wieder einmal gar so schwer auf mich drücken sollte, in die Erinnerung flüchten können an die schönste Zeit meines Lebens, wo ich aus freiem Herzen lieben, wo ich deine Liebe, du süßer, lieber Bub, genießen durfte, wo ich mich wieder jung, glücklich, voll Freude und Glück fühlen konnte. Davon werde ich zehren und nie wieder werde ich ganz unglücklich sein. Aber dich neben mir dahinsiechen, Not leiden und entbehren sehen, das wäre das Furchtbarste, das könnte ich nicht ertragen.«

Meine Gedanken wurden durch ein plötzliches Ereignis, das mich hart traf und mir dieses Land, dem ich überhaupt wenig Geschmack abgewinnen konnte, vollends verhaßt machte, von den rosenroten Höhen der Liebe in die graue Niederung des prosaischen Lebens geführt. Jan Korzeniowsky hatte in einem Bierlokal, in dem er sich bei seinen Geschäftsgängen erfrischte, einen jungen Landsmann aus Warschau kennen gelernt, der ihm ähnlich wie ich sein Leid und seine Verlassenheit geklagt hatte. Sohn eines Großkaufmanns in Warschau, von seinem Vater nach Amerika geschickt, hatte er schon seit ein paar Tagen ohne Wohnung, im Freien genächtigt und sein Leben mit Betteln gefristet. Der weichherzige Jan Korzeniowski brachte nun den Siebzehnjährigen, einen großen, robusten, kräftigen Burschen, der ziemlich verwahrlost aussah, mit nach Hause. Der Fremde machte, schmutzig und abgerissen, dabei doch dreist und geschwätzig, auf Frau Aniela einen so schlechten Eindruck, daß sie ihrem Gatten mit aller Entschiedenheit erklärte, ihn nicht wieder als Gast bei sich sehen zu wollen. Der Pole aber wollte den jungen Landsmann nicht im Stich lassen, und so bat er mich, ihm für ein paar Nächte Unterkunft zu gewähren, bis es ihm, der gesund und stark war, und ziemlich gut englisch sprach, gelungen sein würde, eine Beschäftigung zu finden.

Ich konnte das meinem Wohltäter selbstverständlich nicht abschlagen und hätte es natürlich auch, mit dem jungen Menschen mitempfindend, nicht getan, und da in meinem Zimmer ein Sofa stand, bereitete es mir ja auch gar keine Schwierigkeiten, den armen Teufel bei mir zu beherbergen.

Während ich mich entkleidete, gebrauchte ich die Vorsicht, meine Brieftasche mit dem Gelde verstohlen unter die Matratze zu schieben. Der Pole ging des Morgens in aller Frühe, während ich noch schlief, fort, um erst am Abend – die Mittel, irgendwo zu speisen, gewährte ihm sein Beschützer – zu mir zurückzukehren. Am dritten Morgen erlebte ich eine sehr unangenehme Überraschung. Als ich beim Ankleiden meine Hand unter die Matratze schob, um meine Brieftasche wieder zu mir zu stecken, fand ich nichts. Erschrocken wühlte ich im ganzen Bett, warf alle Betten aus dem Gestell und suchte und suchte. Auch alle Taschen meiner Kleider durchforschte ich. Nichts – nichts! Es war kein Zweifel: Der Bursche hatte mich frech bestohlen, denn ich erinnerte mich genau, daß ich am Abend nach meiner Gewohnheit die Brieftasche im Bett verborgen hatte.

Ich stürzte früher als sonst voll Entsetzen zu Jan Korzeniowski. Ich traf ihn noch an; auch er war wie verdonnert und ein wenig beschämt. Aber er faßte sich rasch. »Zur Polizei!« rief er. Aber auf dem Polizeibureau zuckte man mit den Achseln. »Nichts zu machen! Wo sollen wir den Burschen, über den Sie weiter keine Angaben machen können, suchen?«

Jan Korzeniowsky war wütend.

»Wenn wir den Kerlen zwanzig oder dreißig Dollars zugesteckt hätten, würden sie sich schon gerührt haben!« meinte er, der die amerikanischen Verhältnisse besser kannte als ich, draußen zu mir.

Das Geld war verloren, Aber was nun –? Ich hatte wirklich Pech in Amerika. In so kurzer Zeit das zweitemal bestohlen!

»Seien Sie froh!« tröstete mich mein Mentor, »daß Sie noch so davongekommen sind. Der Spitzbube hat sicher ein Messer in Bereitschaft gehalten, während er Sie bestahl. Und wenn Sie zufällig munter geworden, hätte er Sie kaltblütig abgemurkst. Meine Frau hat recht: Der Mensch hatte einen scheuen Blick und machte gleich einen verdächtigen Eindruck.«

Aniela nahm die Botschaft mit großer Bewegung auf. Ich sah, wie sie die Farbe wechselte und wie sich ihre lieben klaren Augen trübten. Sie atmete schwer und stieß dann mit sichtlicher Anstrengung hervor: »Am besten ist es für Sie, Mr. Zell, Sie kehren nach der Heimat zurück. Sie haben kein Glück hierzulande.«

Um ihre Mundwinkel zuckte es schmerzlich wie von verhaltenem Weinen. Ich sah sie betroffen an, ohne etwas zu entgegnen. Mr. Ian aber, ahnungslos und innerlich noch zu sehr mit der an mir und auch an ihm begangenen schnöden Tat beschäftigt, um beobachten zu können, schloß sich lebhaft der Ansicht seiner Frau an.

»Du hast recht, Aniela. Ich werde mit Wladislav sprechen.«

Zwei Tage später war Sonntag und Wladislav Niecko stellte sich am Nachmittag nach seiner Gewohnheit ein. Er und Ian sprachen eine ganze Weile polnisch, auch Aniela beteiligte sich lebhaft am Gespräch. Endlich erklärte mir Korzeniowski folgendes: Schon seit Jahren habe sein Freund gespart, um in sein Vaterland unter dem Schutze der Amnestie zurückzukehren. Anfang August wollte er reisen. Es wäre ihm ganz angenehm, in Berlin ein paar Tage Station zu machen und die deutsche Reichshauptstadt, von deren Entwicklung nach dem Kriege man ja Wunderdinge gelesen, kennen zu lernen. Niecko hatte sich bereit erklärt, für mich die Reisekosten auszulegen, wenn ich ihm versprechen könnte, daß ihm meine Eltern das Geld wieder zurückgeben würden.

Ich sah betreten zu Aniela hinüber, wenn auch freilich die Freude in mir hochschlug bei dem Gedanken, mein Vaterland wieder zu sehen und wieder in geordnete Verhältnisse zu kommen.

»Nun, Mr. Zell?« fragte Ian Korzeniowsky.

»Ich – ich weiß nicht«, stotterte ich im Zwiespalt meiner Gefühle.

»Sie werden doch Mr. Nieckos Anerbieten nicht ausschlagen,« fiel Aniela mit Eifer ein. »Was soll denn hier aus Ihnen werden? Je eher Sie zurückkehren, desto besser! Das sind Sie Ihrer eigenen Zukunft und auch Ihren Eltern schuldig. Ihr Vater wird längst seine Übereilung eingesehen haben und Ihre Mutter wird in Kummer und Sorge um Sie sein.«

Jan nickte und ich sagte nicht nein. Bis zur Abreise waren noch einige Wochen. Ich verkaufte inzwischen, da ich meinem Wohltäter nicht immer auf der Tasche liegen und mein Logis selbst bezahlen wollte und auch ein paar Dollars für mich gebrauchte, meine Anzüge und den größten Teil meiner Wäsche. Am Tage vor der Abreise nahm ich von der Geliebten Abschied. Wir hielten uns weinend umschlungen: Aniela war ganz gebrochen. Düster starrte ihre Zukunft sie an. Viel, viel mehr als ich verlor sie. Mir lachte ja die Heimat entgegen und ein Leben ohne Sorge in den besten materiellen Verhältnissen.

Nicht unerwähnt will ich lassen, daß Wladislav Niecko ein gewisses Interesse daran hatte, mich für immer aus Anielas Nähe zu bringen. Sie hatte mir gelegentlich mitgeteilt, daß der Freund ihres Mannes sie mit seinen Galanterien verfolge und die Dreistigkeit gehabt habe, ihr, als sie einmal eine halbe Stunde mit ihm allein gewesen, gewisse Anträge zu machen. Möglich, daß er – die Eifersucht sieht ja scharf – ein Einverständnis zwischen Aniela und mir vermutete.

Am anderen Vormittag kam der offizielle Abschied von dem Ehepaar. Aniela konnte sich nicht bezwingen. Als ich ihr zum letzten Male die Hand reichte, schluchzte sie laut auf. Erstaunt sah ihr Gatte sie an und ich bemerkte wohl, daß seine Augen zornig zu blitzen begannen, vielleicht hatte sein Landsmann durch gelegentliche Bemerkungen seinen Argwohn bereits entfacht. Er sprach ein paar heftige polnische Worte zu Aniela, aber sie ließ sich dadurch in ihrem Schmerz nicht beeinflussen, sondern weinte herzzerbrechend. Ich stand wie vernichtet und hätte sie am liebsten in meine Arme gezogen. Aber Korzeniowski machte der erschütternden Szene ein rasches Ende.

»Kommen Sie!« forderte er mich auf und faßte mich am Arm. »Es ist höchste Zeit!«

Er begleitete mich zur Dampferanlegestelle, wo wir uns mit seinem Landsmann treffen wollten. Während des Weges, den wir mit der Straßenbahn zurücklegten, sagte er mir nicht ein böses Wort. Von ihm und von Aniela habe ich nie wieder etwas gehört. Aber solange ich lebe, werde ich seiner, der im Grunde ein gütiger, liebenswerter Mann war, und Anielas stets in herzlicher Dankbarkeit gedenken.


Als ich Seite an Seite mit Wladislav Niecko den Dampfer bestieg, machte ich wieder einmal die Erfahrung, daß das Leben wunderbare, romantische Ereignisse dichtet, über die man geringschätzig spöttelt, wenn man ihnen in Romanen begegnet. Im selben Moment, wo ich das Deck betrat, sah ich auf der Treppe, die auf der Backbordseite des Schiffes in das Innere hinabführte, einen rothaarigen Kopf, ein knochiges Gesicht und einen mageren, schlottrigen Oberkörper verschwinden. Auf den ersten Blick erkannte ich ihn: v. Lochow, einen der ehemaligen Kameraden auf der Fähnrichpresse! Wie kam der hierher? Noch dazu im beschmierten blauen Arbeitskittel!

Zunächst aber wurde mein Interesse in nichts weniger als angenehmer Weise abgelenkt. Wir fuhren natürlich Zwischendeck. Unwillkürlich mußte ich an Schillers »Taucher« denken: »Da unten aber ist's fürchterlich!«

Ein entsetzlicher Dunst stieg uns entgegen, ein betäubendes Geschrei und Wirrwarr. Die hinabdringenden Zwischendeckler, die buntgemischteste Gesellschaft, die man sich denken kann, suchten sich ihre Kabinen. Es waren besondere, durch Holzwände, getrennte Räume für die ledigen Männer, für Ehepaare und für allein reisende Mädchen. Für jeden Passagier war eine aus Brettern primitiv zusammengefügte Lagerstätte da, nichts weiter. Für Matratzen und Decken hatte jeder selbst zu sorgen. Das hatte man sich auf dem Pier vor Betreten des Dampfers gekauft. Dementsprechend war die Verpflegung, die man ebenfalls im eigenen Blechgeschirr in Empfang nahm.

Wir hatten uns kaum ein bißchen in unserem Unterkunftsraum eingerichtet, als der Dampfer sich schwerfällig in Bewegung setzte. Eilig stiegen wir wieder auf Deck, um ein paar Abschiedsblicke auf die verschwindende Riesenstadt zurückzuwerfen.

Aniela! schrie es in meinem Herzen. Arme Aniela!

Als auch das vorüber war, sah ich mich auf dem Dampfer um, aber keine Spur von meinem ehemaligen Kameraden aus sorgenloser und wüster Zeit. Sollte ich mich geirrt haben, war es nur eine Halluzination gewesen? Aber ich glaubte damals ebensowenig wie heute an übernatürliche Erscheinungen. Ich hielt einen der im Arbeitsanzug vorübergehenden Männer an und fragte ihn nach Lochow. Er bedachte sich ein paar Sekunden, dann erwiderte er: »Jawohl, das ist einer von den Trimmers, die für die Überfahrt geheuert worden sind.«

Ich war einfach »baff«, wie man daheim in Berlin so schön sagte. Baron von Lochow, der Sohn des Obersts, Avantageur in einem feudalen Kavallerieregiment, Trimmer auf einem Dampfer! Das war die allerschwerste, härteste Arbeit auf einem Dampfschiff. Die Trimmer hatten die Schlacken aus der furchtbaren Glut des Dampfkessels zu entfernen und in großen Eiseneimern in die See zu schütten. Man erzählte sich, daß schon mancher Trimmer, halbwahnsinnig von der unerträglichen Hitze, sich in den Ozean gestürzt habe.

Ich gabe dem Manne meine Karte und bat ihn, sie seinem Arbeitskollegen zu überbringen. Gegen Abend kam Lochow auf Bord, frisch von der Arbeit weg in seinem blauen Kittel, mit rußgeschwärtztem, verschwitztem Gesicht. Er begrüßte mich freudig, gar nicht überrascht, ohne alle Scheu und Scham.

»Auch ein bißchen Amerika angesehen?« sagte er lachend. »Ja, ja, habe schon manchen Leidensgefährten in dem verdammten Dollarlande getroffen!«

Es war die alte Geschichte: Schulden, Zerwürfnis mit dem Vater, Verschickung in die große Korrektionsanstalt jenseit des großen Wassers.

»Das Spiel!« setzte er hinzu. »Das verdammte Spiel! Der Teufel soll mich holen, wenn ich noch einmal eine Karte anrühre.«

Leicht gesagt, aber –?

Er berichtete, daß er ein Jahr in Amerika zugebracht habe und alles mögliche gewesen sei: Fabrikarbeiter, Hutmachergeselle und im wilden Westen sogar einmal Schulmeister von Farmersjöhren.

Da mußte ich doch lachen. Lochow war der allerfaulste und allerdümmste auf der »Presse« gewesen.

»Aber wie kommen Sie denn dazu, hier zu trimmen?« fragte ich ihn.

Nun lachte auch er in seiner unbekümmerten, leichtsinnigen Art.

»Einfach, um mich hinüber zu arbeiten, denn zum Ticket (Billet) reichten die paar Kröten, die ich erübrigt habe, nicht.«

»Aber werden Sie denn das aushalten können?« fragte ich staunend.

»Ich muß,« erwiderte er achselzuckend, »und ich werde, ich habe ja in Amerika arbeiten gelernt.«

Wir Zwischendeckler betrachteten es als ein großes Glück, daß wir während der ganzen Seereise glänzendes Wetter hatten. Einen Tag wie alle das ruhigste, wärmste Augustwetter. Fast niemand war seekrank; es war eine herrliche Fahrt; bis tief in die Nacht blieben wir auf Deck, teils in lebhafter Unterhaltung, teils schweigend zum klaren Firmament aufblickend oder den Wellen lauschend. Oft weilten meine Gedanken bei Aniela, und meine Sehnsucht und mein Schmerz ergossen sich in elegische Rhythmen:

Als ich Abschied von dir nahm,
hielst du weinend mich umschlungen:
Ob wir uns noch wiedersehen?
Wirst du fern auch mein gedenken?
Liebster, o vergiß mich nicht!

Herz, wie könnt' ich dein vergessen?
Seh' ich auf zum blauen Himmel,
denk' ich deiner blauen Augen,
deren Blick voll ew'ger Liebe
oft auf mich gerichtet war.

Solche Augen, klar wie Sterne,
so vertrauend, gut und fromm,
hab' ich wieder nie gesehn.
Überall auf meinen Wegen
wird ihr Blick mich treu geleiten.

So wenig wie möglich hielten wir uns im Zwischendeck auf. Scheußliche Szenen spielten sich dort unten ab. Außer täglichem Zank und Streit sahen wir – und das war viel widerlicher – wie sich hier und da ein Bursche und ein Mädchen paarten und, umgeben von Hunderten von Menschen, wenn auch in versteckter Weise, ihrer tierischen Brunst folgten.

Den ganzen Tag verbrachte ich in Nieckos Gesellschaft. Wir unterhielten uns natürlich immer in Französisch, der einzigen Sprache, die der Pole außer seiner Muttersprache beherrschte, und so habe ich im Französischen während meines Aufenthalts in Amerika sowie auf dieser Reise schöne Fortschritte gemacht, dagegen auch nicht einen einzigen Satz im guten Englisch sprechen gelernt.

Schon am neunten Tage gegen Abend landeten wir in Hamburg. Lochow hatte richtig bis zum letzten Augenblick seiner Pflicht als Trimmer genügt. Nie hätte ich ihm diese Kraft und diese Ausdauer zugetraut. Als er nun, gut gekleidet, sich uns zugesellte, sah ich voll Achtung und Bewunderung zu ihm auf. Wir logierten zusammen in demselben Hotel; am nächsten Tage trennten wir uns: Der Pole und ich wollten nach Berlin fahren, Lochow nach Mecklenburg zu Verwandten, die die Aussöhnung zwischen ihm und seinem Vater, der noch keine Ahnung von der Heimkehr seines Sohnes hatte, anbahnen sollten. Es war gerade wie bei mir. – Am Abend bestiegen wir einen Personenzug, der Pole und ich. Ich hatte nur einen ganz kleinen Handkoffer, und da die Fahrt die ganze Nacht hindurch dauerte und es damals in der vierten Wagenklasse noch keine Bänke gab, so nahm ich gern das Anerbieten eines jungen Mädchens an, neben ihr auf ihrem großen Reisekorb Platz zu nehmen. Die Freundliche umschlingend, ihr müdes Haupt an meiner Schulter, habe ich die Reise nach Berlin leidlich überstanden. In Berlin angekommen, stieg Niecko in einem billigen Hotel ab, dessen Adresse ich ihm gegeben hatte; ich suchte zunächst ein mir durch Verwandtschaft nahestehendes junges Ehepaar auf, um zunächst zu rekognoszieren. Hier erfuhr ich, daß sich meine Eltern, die inzwischen mit der Familie nach Berlin übergesiedelt waren, zurzeit auf einer Erholungsreise in Italien befanden.

So konnte ich mich denn getrost nach der Wohnung in der Wilhelmstraße begeben. Ein paar Sekunden lang stand ich sprachlos und ich glaubte, ich hätte all' das in den letzten Wochen Erlebte nur geträumt. Vor mir stand in der geöffneten Flurtür in schmucker Livree ein – kohlrabenschwarzer Neger und fragte, sein wundervolles weißes Gebiß mit blödem Lächeln enthüllend, nach meinem Begehr. Ich wußte ja nicht, daß mein Vater, der bei all' seinen anspruchslosen, persönlichen Bedürfnissen gern ein bißchen repäsentierte, statt des weißen Dieners, den wir früher neben den beiden Dienstmädchen gehabt, in Berlin einen Neger engagiert hatte, den sein ehemaliger Herr aus Amerika mit herübergebracht hatte.

Meine älteste Schwester, mit der ich nie auf einem guten Fuß gestanden hatte, empfing mich ziemlich kühl. Sie riet mir, da die Eltern schon in wenigen Tagen zurückerwartet wurden, nach Pommern zu unseren Verwandten zu reisen und dort das weitere anzuwarten. Ich hielt mich also nur 24 Stunden zu Hause auf, stellte vor meiner Abreise meiner Schwester Wladislav Niecko vor (mein Vater hat ihm nach seiner Rückkehr selbstverständlich den ausgelegten Betrag zurückgezahlt) und dampfte erleichterten Herzens zu Onkel und Tante nach Pommern ab, von denen ich wußte, daß sie mich wie immer freundlich und liebenswürdig aufnehmen würden.

Mein Vater ging damals mit der Absicht um, Gelder seiner Bank in einem größeren Gutskauf anzulegen, und so berührte er auf seiner Reise auch das Gut unserer Verwandten. Auf diesem neutralen Boden fand unser erstes Wiedersehen statt. Charakteristisch für meinen Vater war die Szene. Er bot mir zwar die Hand, aber als ich mich zum Kusse zu ihm hinüberneigte, drückte er mich mit seiner Rechten von sich, mir dadurch andeutend, daß er mich vorläufig seines Kusses noch nicht für würdig erachte. Ich ging in den Park, suchte eine einsame Stelle auf und weinte bitterlich.

Noch an demselben Tage reiste mein Vater wieder ab. Zuvor hatte er mit meinem Onkel verabredet, daß er mich nach der kleinen, etwa sechs oder acht Meilen weit entfernten Stadt auf das Gymnasium bringen sollte, das zwei seiner Söhne bereits besuchten.

Es waren gerade Hundstagferien und wie immer war Besuch anwesend. In der Nachbarschaft verlebten unter anderen zwei junge Mädchen aus Stettin ihre Ferien. Die Ältere blond, siebzehnjährig, hübsch, aber still, unauffällig, die Jüngere, noch nicht ganz sechszehn Jahre, bildhübsch, mit großen braunen ausdrucksvollen Augen, dunklem Haar, eine sylphidenhafte Gestalt, sprudelnd von Temperament, voll Launen, Einfällen, immer schlagfertig, übermütig, mit einer Neigung zum Herrischen, kurz, eine von den Evatöchtern, die dazu prädestiniert sind, den Männern die Köpfe zu verdrehen. Auf die Gefahr hin, bei meinen Lesern auch den letzen Rest einer mir vielleicht bis hierhin geschenkten Sympathie einzubüßen, muß ich gestehen, daß ich mich alsbald in dieses überaus originelle, anziehende, einen immer in Atem und Bewunderung und in Verzweiflung haltende Geschöpf sterblich verliebte. Aniela war vergessen, nein, vergessen nicht, aber in den Hintergrund gedrängt. War es ein Wunder, war es wirklich zu verdammen bei der völligen Aussichtslosigkeit, sie je wieder zu sehen, bei meinen nunmehr nahezu einundzwanzig Jahren?

Es war ähnlich wie bei Klara Bohm, der kleinen Jüdin: Ich betete meine neue Flamme an, ohne zu wagen, ihr auch nur durch ein Wort meine Liebe zu verraten. Meine Blicke freilich, mein ganzes Wesen, die Tatsache, daß ich nur Augen für sie hatte und immer um sie herum war, mußten es der klugen Evatochter klar bekunden; aber sie tat, in ihrer natürlichen Koketterie, als merkte sie nichts. Und wenn ich einmal ein wärmeres, andeutendes Wort wagte, fiel sie mir mit einer scherzhaften, abwehrenden Bemerkung in die Rede. Ernster, mitfühlender, weicher war ihre Schwester, die blonde Marie. Ihr vertraute ich meine heiße Empfindung für die jüngere Anna an, und die Liebe, Gute redete mir tröstend zu. Ich glaube, sie würde mich nicht zurückgewiesen haben, hätte sich mein leidenschaftliches Gefühl ihr zugewendet. Das sagte ich mir damals selbst, aber wer kann gegen die gesetzlosen, willkürlichen Launen Amors?

Die paar Wochen verstrichen im Fluge, und als die beiden Schwestern abgereist waren, blieb ich betrübt zurück, den starken Widerhaken im Herzen, den mir der Kobold hineingesenkt.

Wenige Tage später fuhr auch ich mit meinem Onkel und mit meinen beiden Vettern nach Griesenheim ab; mein Herz blutete noch schmerzlich, und still, in mich gekehrt, saß ich ernst im Eisenbahnwagen, dann in der Postkutsche, und beteiligte mich kaum an dem Gespräch der anderen. Griesenheim war ein Städtchen etwa wie meine kleine märkische Vaterstadt, nur die zwei Schwadronen Dragoner, die in dem pommerschen Landstädtchen garnisonierten – der Stab mit den andern drei Schwadronen lag in einer benachbarten, etwas größeren Stadt – brachten Farbe und Leben in das einförmige, eintönige Kleinstadtdasein.

Da der Direktor des Gymnasiums, bei dem meine beiden Vettern in Pension waren, keine Schüler mehr aufnehmen konnte – denn außer den beiden wohnte noch ein halbes Dutzend anderer junger Leute bei ihm – wurde ich in der Familie eines alten Rentiers untergebracht. Hier war ebenfalls bereits eine ganze Anzahl Gymnasiasten, mit meiner Ausnahme, lauter Söhne von Rittergutsbesitzern, zum Teil des alten pommerschen Landadels, in Pension. Ich als Ältester erhielt ein eigenes Zimmer, das so entsetzlich primitiv eingerichtet war, daß man sich einen reizloseren, nüchterneren, kahleren Wohnraum gar nicht denken konnte. Aber ich hatte damals gar keine Augen dafür; ganze Stunden lang saß ich trauernd, träumend, wirklich kreuzunglücklich. Es saß damals so tief in mir, daß ich an meinem Schmerz ersticken zu müssen meinte, wenn ich ihm nicht irgendwie Luft machte. Und so griff ich denn zunächst wieder zur Lyrik, so wenig ich auch dazu veranlagt war:

Dein Unglück ist's, mein armes Herz,
daß du so tief empfindest,
daß du dich so mit aller Kraft
an eine Seele bindest.

Dein Unglück ist's, mein armes Herz,
daß du für sie nur glühest,
daß außer ihr du in der Welt
nichts Liebenswertes siehest.

Dein Unglück ist's, mein armes Herz,
sie kann dich nicht verstehen;
du wirst im ungestillten Drang
nach Liebe still vergehen.

Wer fühlte sich nicht versucht, angesichts alles dessen, was ich von meiner Leistungsfähigkeit im Lieben bereits mitgeteilt habe, über diese mir damals wirklich aus tiefstem, gequältestem Innern fließenden Verse satirisch zu lächeln?

Zwischen meinem Onkel und dem alten Direktor Karmer, der sich durch seine Kommentare zu verschiedenen Klassikern der Alten, besonders zu Thukydides, in der Philologenwelt einen Namen gemacht hatte, wurde vereinbart, daß ich zunächst ein halbes Jahr Privatunterricht bei verschiedenen Oberlehrern des Gymnasiums erhalten und Ostern ohne weitere Prüfung in die Prima aufgenommen werden sollte.

Unter der Bürde der wieder aufgenommenen Schularbeit, die mir nach der amerikanischen Periode und dem monatelangen Faulenzen natürlich im Anfang ungemein schwer fiel, sowie dem wohltuenden Einfluß der neuen Verhältnisse glätteten sich die Wogen der schmerzlichen Erregung in mir und das Bild der schönen Anna Köppen verblaßte mehr und mehr.

»Nun ist es Zeit, daß du dir eine Poussade anschaffst«, sagte mein Vetter Richard Stelten, der siebzehnjährige Sekundaner eines Tages zu mir. »Ich habe schon eine für dich in petto

Ich sah ihn erstaunt an.

»Wir Älteren hier,« erklärte er weiter, »haben alle, soweit einer kein Frosch ist, unsere Flammen. Es ist ja sonst in der Stadt vor Langweile nicht auszuhalten. Ich habe die Luise Dierks, die Tochter des wohlhabenden Bäckermeisters, du kennst sie ja. Mein Freund Rieck hat die Grete Ringel, die Tochter der Pastorswitwe. Menke poussiert mit der Grete Biel, der Kaufmannstochter, und du – für dich habe ich an Adelheid Karmer gedacht.«

»Wie?« rief ich aufs stärkste überrascht, »die Tochter des Direktors?«

Er nickte bejahend.

»Freilich. Sie ist Michaelis frei geworden, seit Hans Ewers das Abiturium gemacht und die Stadt verlassen hat. Sie ist die Feinste von allen und auch eine von den Älteren, ein Jahr jünger als du. Ihr paßt famos zusammen.«

»Hör' mal, Mensch,« rief ich mißtrauisch und zog ärgerlich die Augenbrauen hoch, »willst du dich etwa über mich lustig machen?«

Aber er sah mich durchaus ernst an.

»Ich denke gar nicht daran, wie käme ich denn dazu? Und was hast du denn dagegen einzuwenden?«

»Ich?« Nun war ich wirklich verblüfft. »Ich kenne sie ja noch gar nicht, ein einziges Mal habe ich sie am Fenster gesehen. Und du weißt ja auch gar nicht, ob ich ihr gefalle.«

Er lächelte und sah mich halb neidvoll und halb bewundernd an.

»Das ist doch gar keine Frage. Bist du nicht der interessanteste unter allen Gymnasiasten, überhaupt unter allen jungen Leuten hier, die für Heidchen Karmer in Betracht kommen: Feldzug mitgemacht, in Amerika gewesen, da interessiert sich doch überhaupt jedes Mädchen in der Stadt für dich. – Mine hat mir schon verraten, daß Fräulein Adelheid furchtbar neugierig auf dich ist.«

»Mine?«

»Na, das ist doch die alte Köchin bei Karmers, Heidchens Vertraute. Auf die kannst du rechnen, die gilt was bei ihr. Und das alte Möbel ist ganz begeistert für dich.«

Ich sperrte mich natürlich nicht lange, so originell und eigenartig die Sache auch war. Also mein Vetter verabredete mit Mine, daß ich am nächsten Sonnabend abend mit Adelheid Karmer eine erste Begegnung haben sollte. Sie würde kurz nach zehn Uhr das Fräulein aus der Wohnung ihrer verheirateten Schwester abholen; ich sollte sie am Marktplatz erwarten und ihr frischweg meine Liebe erklären, ohne Scheu, ohne Zagen. Daß mich Heidchen zurückweisen würde, wäre, wie Mine versicherte, und wie es ja auch ganz selbstverständlich sei, nicht zu befürchten.

Also geschah es. Es war eine tolle Sache. Etwa um viertel Elf Uhr – der Markt war vollkommen leer – erschienen die beiden auf der Bildfläche. Mine, als sie mich erblickte, verkrümelte sich. Ich trat dreist an Fräulein Adelheid heran, schwatzte mit vorher präparierten, wohlgesetzten Worten, innerlich ganz kalt und unbeteiligt, von dem Eindruck, den sie bei flüchtigen Begegnungen auf mich hervorgebracht usw. Anstandshalber machte sie ein paar Einwendungen, gab aber darauf schämig zu, daß auch ich ihr warme Sympathie eingeflößt hätte. Wir gingen am Gymnasium, wo ihr Vater seine Amtswohnung hatte, vorbei, eine dunkle Allee hinab, und hier tauschten wir, weil das doch zu einer rechten Liebeskomödie gehörte, die ersten Küsse. Wie zwei Menschen, die durch die Vermittlung anderer eine Konvenienzehe eingehen, weil die Verhältnisse der beiden Partner zueinander passen, so schlossen wir ein Liebesbündnis, weil man doch einmal eine »Poussade« haben mußte und weil Mine und mein Vetter gemeint hatten, Fräulein Adelheid könnte keinen ihrer würdigeren Nachfolger des geschiedenen Verehrers und ich keine für mich geeignetere Partnerin zum Liebesspiel finden.

Aber aus dem leicht und lose eingefädelten Lustspiel, das ohne irgendwelchen Aufwand von Leidenschaft begann, wurde bald ein sehr bewegtes Schauspiel und zuletzt fast ein Drama. Adelheid Karmer war keine Schönheit; ihre Nase war zu lang, ihr Teint nicht rein und ihre blaugrünen Augen nicht sehr ausdrucksvoll. Aber sie hatte einen entzückend kleinen küßlichen Mund und eine prachtvolle Figur. Fast etwas größer als ich, eine Taille zum Umspannen und eine gut entwickelte Brust; das Verhältnis von Ober- und Unterkörper nach den Regeln der Schönheit. War es Instinkt oder Zufall: Meine Neigung richtete sich immer auf weibliche Personen mit schönem Körper. Sie besaß ein sehr entwickeltes Selbstgefühl; als Tochter des Direktors, der sehr viel Ansehen in dem Städtchen genoß, hatte sie unter den jungen Damen eine bevorzugte Stellung; die Gymnasiasten hatten alle sehr viel Respekt vor ihr. Da hatte sie sich ein bestimmtes, sicheres, prätentiöses und etwas herrisches Auftreten angewöhnt. Infolgedessen gab es in der ersten Zeit häufig heftige Auftritte zwischen uns, bis schließlich die in ihr entstandene leidenschaftliche Neigung sie nach den Geboten der Natur mir unterwürfig machte. Ich meinerseits war in meinen Ansprüchen an ein Mädchen, das ich liebte und das mich liebte, nicht bescheiden und verlangte Nachgiebigkeit, Anschmiegsamkeit und unbedingtes Sichfügen, wie es damals noch altmodische Tradition war. Es erwachte also in uns beiden eine wachsende Leidenschaft; aus dem Spiel wurde Ernst und wir gaben uns beide mit ganzem Herzen, mit allen Sinnen der Liebe hin. Sehr häufig trafen wir uns des Abends irgendwo an einem stillen Plätzchen, tauschten Liebesbeteuerungen und Küsse und immer glühender werdende Umarmungen. Auch der Umstand, daß meine beiden Vettern bei den Eltern Adelheids in Pension waren, war mir günstig. Ich erinnere mich, daß sie mich einmal in eine Bodenkammer zog, wo wir ungestört glaubten ein Viertelstündchen kosen zu können, aber in dem Austausch von Liebeskosungen in dem stockdunklen Raum störte uns plötzlich unerwartet ein Lichtschein und wir hörten herannahende Frauentritte. Es war ein langgestreckter Raum und die Möglichkeit war nicht ausgeschlossen, gesehen zu werden. Adelheid stand in der Nähe der Wand, ich kauerte hinter ihrer hohen Gestalt und so erwarteten wir hochklopfenden Herzens das weitere. Es war Adelheids Mutter, eine alte, kränkliche Dame, die sich wegen ihrer ausgezeichneten Charaktereigenschaften in der ganzen Stadt aufrichtiger Verehrung erfreute. Es wäre mir überaus peinlich gewesen, gerade von ihr in dieser Situation überrascht zu werden. Aber wir hatten Glück; dicht an uns ahnungslos vorüberschreitend, richtete Adelheids Mutter das Küchenlämpchen, nach irgendeinem Gegenstand suchend, nach der anderen Seite, und nach wenigen Minuten hörten wir sie wieder dem Ausgang zuschreiten.

Ich hatte damals nur den Privatunterricht zur Vorbereitung meiner Aufnahme in die Prima, und meine Unterrichtsstunden lagen meist in den späten Vormittags- und frühen Nachmittagsstunden. So konnte ich meiner Neigung zur Langschläferei fröhnen, und oft geschah es, daß ich noch im Bett lag, wenn Mine als Postillon d'amour mit einem Liebesbriefchen oder sonst einem Auftrag von der Geliebten zu mir kam. Da die Köchin, die in der zweiten Hälfte der dreißig stand, gar keine weiblichen Reize besaß, so lag in diesen frühmorgendlichen weiblichen Besuchen nichts Erregendes, was sie anderenfalls wohl gehabt hätten, um so mehr, als die natürliche Sinnlichkeit des nun Einundzwanzigjährigen seit langem keine Befriedigung gehabt hatte. Und so war es kein Wunder, daß ich eines Abends, als ich mit der Geliebten in dem unweit der Stadt gelegenen Wäldchen zum Rendezvous zusammentraf, sehr leidenschaftlich wurde. – Wir saßen – es war an einem Oktoberabend – auf dem Rasen; unter ihren Küssen, eng aneinander geschmiegt, regte sich mein Begehren, aber als ich allzu dreist wurde, wehrte sie mich mit der instinktiven Scheu des jungfräulichen Mädchens heftig ab und sagte mir zornige Worte. Verstimmt trennten wir uns und ich ließ von mir zwei Tage nichts sehen und nichts hören. Das wirkte; am dritten Morgen erschien der Liebesbote und brachte einen nur wenig schmollenden, im Grunde glühend sehnsuchtsvollen Brief und die Bitte, am Abend mit ihr zusammen zu treffen. Ich war so ganz in den konventionellen, männlichen Anschauungen befangen, daß ich es für mein gutes Recht hielt, die volle Hingabe des Mädchens zu verlangen, das ich liebte. Liebe kennt keine Grenzen, wahre Liebe rechnet und klügelt nicht und kehrt sich nicht an konventionelle Vorurteile. Das Mädchen, das sich dem Geliebten weigert, liebt ihn nicht wahrhaft. Das ungefähr waren damals meine Dogmen in Sachen der Liebe, und ich trug sie am Abend Adelheid mit aller Kraft meiner Überzeugung und meiner lodernden Liebe vor.

Ich merkte sofort, daß meine leidenschaftlichen Worte Eindruck auf sie machten; sie widersprach nur schwach.

»Aber – das geht doch nicht,« stammelte sie, mit ihrer Befangenheit, ihrer Bangigkeit und der in ihr wachgerüttelten Leidenschaft ringend: »Wenn uns jemand sieht!«

»Dann komm' doch zu mir!«

»Nein, nein!« rief sie entsetzt, »Wie kannst du denken! Wenn mich jemand träfe im Flur –«

»Du steigst eben einfach durchs Fenster,« drängte ich. »Du weißt, mein Zimmer geht in die stille Gasse hinaus – «

Ihr Stolz begehrte auf.

»Wie kannst du so etwas von mir verlangen, Albert!«

Ich fühlte mich in meinem Herrenrecht verletzt.

»So? warum denn nicht? wenn du mich liebst! Andere Mädchen sind in den Tod gegangen um ihrer Liebe willen, und du hast Angst vor solcher Kleinigkeit! Hero und Käthchen von Heilbronn und Margarete im »Faust«, die haben ganz anderes vollbracht, um mit dem Geliebten zusammen zu sein. Du liebst mich eben nicht.«

Sie wußte nichts zu erwidern, aber die Leidenschaftlichkeit, mit der sie sich an mich preßte, verriet ihre Gefühle. Ich spielte meinen Haupttrumpf aus, nicht in listiger Berechnung des erfahrenen Don Juans, der ich ja damals noch nicht war und wohl auch nie gewesen bin, sondern unter dem Einfluß der in mir drängenden Leidenschaft.

»Also wenn du zu feig bist, dann – nun eben, dann sehe ich, daß du mich nicht wahrhaft, nicht innig, nicht mit aller Hingabe liebst, daß du mit mir nur aus Langeweile und zum bloßen Amüsement dein Spiel treibst. Aber ich danke für so laue Empfindungen, und es ist wohl das beste –«

Sie ließ mich nicht ausreden.

»Du bist ungerecht, hart. Ich dich nicht lieben! Schrankenlos, mit aller Kraft meiner Seele liebe ich dich. Und ich kann und will nicht leben ohne deine Liebe. Aber ich, nein – zu dir kann ich nicht kommen. Unmöglich! Das Dienstmädchen im Hause würde mich gewiß sehen, und dann würde es bald die ganze Stadt erfahren. Nein, lieber – komm' du zu mir!«

Ich sah sie überrascht an. Meinte sie das im Ernst oder hatte sie das nur gesagt, um mich zu beruhigen?

Sie mußte doch wissen, daß das noch weit gefährlicher war, als wenn sie mich in meinem abgelegenen, vom Hof aus zu erreichenden Zimmer besuchte.

»Ich habe schon mit Mine gesprochen«, fuhr sie zwischen Eifer und Befangenheit fort. »Meine Eltern legen sich meist um zehn Uhr schlafen, auch Hartwigs (die Familie des Schuldieners) gehen schon um zehn zu Bett. Um halb elf läßt dich Mine ins Haus. Du gehst so lange in die Küche, bis ich dich hole.«

Ich umarmte sie voll Glut und Dankbarkeit.

»Du bist ein Engel. Verzeihe mir! Aber – mir kommen doch Bedenken: Euer Stubenmädchen, die Marie –!«

Es war ein hübsches achtzehnjähriges Ding, und ich wußte von Adelheids weiblichem Liebesboten, daß es ein für seine jungen Jahre ausnahmsweise ernstes, sehr sittsames, sehr religiöses Mädchen war.

»Auf die kann ich ebenso wie auf Mine bauen,« beruhigte mich die Geliebte. »Marie geht für mich durchs Feuer. Sie muß mir in die Hand geloben, daß sie mich nicht verrät, dann bin ich ihrer Verschwiegenheit sicher.«

Also richtig, an einem der nächsten Abende begab ich mich nach dem Gymnasium, ein Schulbuch unter dem Arm. In der Nacht konnte ich nicht hinausgelassen werden, das hätte am Ende die Pedell-Familie hören können. Um half elf würde es ihnen nicht auffallen, wenn einer die Haustür schloß; sie würden einfach glauben, daß es jemand von der Familie Karmer oder einer der Pensionäre sei. Ich konnte mich also erst am Morgen, etwa ein halbes Stündchen vor Beginn des Unterrichts, entfernen; das Buch sollte als Legitimation dienen; ich hatte es mir vielleicht von meinen Vettern oder sonst einem der mir befreundeten Pensionäre geliehen. Daß ich um diese Zeit von des Direktors Töchterlein kam, auf diesen wahnsinnigen Gedanken würde natürlich, ohne sonstige Anzeichen, keiner verfallen.

Mine erwartete mich schon an der Tür. Wir schlichen leise die zwei Treppen hinauf. Das war so recht etwas für meinen abenteuerlustigen Sinn. Stärker als meine Furcht vor Entdeckung war meine innere Gehobenheit, mein geschmeicheltes Selbstgefühl; angenehm durchrieselten mich die Schauer der Romantik. Wie einer der Helden aus den berühmten Dichtungen kam ich mir vor.

Oben in der Küche fand ich die Marie. Sie schlug betreten, verschämt die Augen nieder, und ich konnte nicht ergründen, ob ihre fromme sittliche Empörung oder die Romantik der Situation ihr jungfräuliches Gemüt bewegte. Sobald auf dem Korridor etwas raschelte, stießen mich die Mädchen in ihre nebenan liegende Kammer. Nach einer Viertelstunde etwa verschwand Mine, um in das jenseit des Korridors liegende Zimmer Adelheids zu schleichen. Schon nach wenigen Minuten kam sie zurück und winkte mir.

Auf Zehenspitzen huschten wir zu Adelheids Tür. Mine klinkte leise auf und schob mich hinein. Ich vermutete, daß sie bei der ganzen Szene mehr sinnliches Vergnügen empfand als wir beiden Hauptakteure der Liebeskomödie. Adelheids Hand faßte meine, sie zog mich behutsam zu ihrem Bett. Da außer dem guten Zimmer, in dem gelegentlicher Besuch empfangen wurde, der Direktorfamilie nur das eheliche Schlafzimmer und ein einfaches Wohnzimmer zur Verfügung stand (alle übrigen Zimmer waren von den Pensionären besetzt, und des Direktors Studierzimmer, das zugleich als Amtszimmer diente, lag eine Treppe tiefer neben den Klassenzimmern), so wurde das Familienwohnzimmer zugleich von Adelheid als Schlafzimmer benutzt, indem die nötigen Betten allabendlich auf das breite lange Sofa gelegt wurden. Eigentlich war es eine ziemlich gewagte und auch entnüchternde Sache, denn nebenan ruhte das Ehepaar und das Sofa stand quer vor der Tür. Aber ich empfand das kaum; der Zauber der eigenartigen Situation berückte mich ganz. Entzückt umarmte ich die Geliebte, die nur mit einem leichten Unterrock bekleidet war, – in der Dunkelheit, die im Zimmer herrschte, konnte ich es nur fühlen, nicht sehen. Leidenschaftliche Worte raunte ich ihr zu und stürmisch wollte ich sie auf das Sofa drücken. Aber noch einmal erwachte ihr jungfräulicher Widerstand mit aller Macht, und heftig stieß sie mich zurück.

Das hatte ich nach alledem nicht erwartet. Enttäuscht, erbittert richtete ich mich auf.

»Gut!« sagte ich. »Wenn du nicht willst, dann – dann müssen wir uns eben trennen. Dich lieben und nicht begehren, das kann und will ich auf die Dauer nicht aushalten. Noch werden die Mädchen auf sein, noch wird mich Mine hinauslassen können, Lebwohl, Adelheid!«

Ich huschte von ihr hinweg. In ihr spielte sich wohl ein letzter verzweifelter Kampf ab. Ich war schon an der Tür, als ich ihr erregtes Flüstern vernahm:

»Komm', Albert! Komm'!«

Das arme Mädchen! Jeder der Leser dieser meiner Bekenntnisse wird den Stein auf Adelheid Karmer werfen. Sehr zu Unrecht, meine ich. Üppig, voll Kraft und Temperament, in dem Alter, wo sich bei gesunden Mädchen der natürliche Trieb stärker zu regen beginnt, von den Küssen meines Vorgängers bereits vorbereitet, aufgestachelt, durch einen so verführerischen, interessanten jungen Mann, wie ich es naturgemäß für sie war, bis zum äußersten entflammt, von der lüsternen Köchin noch bestärkt in ihrem Sehnen nach Liebe, ohne sonstige Beschäftigung ihrer lebhaften Phantasie in dem öden Kleinstadtleben, mußte sie meinem leidenschaftlichen Werben schließlich erliegen. Viel mehr zu tadeln war jedenfalls ich, aber damals hatte ich diese Empfindung keineswegs. Wie sollte ich auch? Tat ich doch nur, was ich bei anderen beobachtet hatte, war ich doch ganz eingesponnen in die Anschauungen und Sitten der jungen Männer meiner bisherigen Verkehrskreise, und hielt ich mich doch für einen ganz verfluchten, bewunderns- und beneidenswerten Kerl. Aber ich glaube nicht, daß es mir und unzähligen anderen gelungen wäre, mir die Geliebte gefügig zu machen, wenn der Weibsinstinkt uns nicht zu Hilfe gekommen wäre. Ja, die Natur ist die große Verführerin, die die schutzlosen, wehrlosen, schwachen Geschöpfe dem Geliebten in die Arme treibt. Arme Adelheid Karmer, du hast viel deiner Liebe wegen gelitten! Aber ich glaube nicht, daß du es bereut hast. Ich bin vielmehr überzeugt, daß dich die Süßigkeiten der Liebe reich für alles Ungemach entschädigt haben, und daß dein Gemüt nie von dem reuigen Wunsch bewegt gewesen, dich unberührt in das freudlose, kalte, armselige Altjungfertum gerettet zu haben. Unsere Beziehungen waren recht innige und herzliche geworden und ich erinnere mich, daß ich ihr einmal bei unseren abendlichen Spaziergängen ganz feierlich gelobte, stets treu zu ihr zu halten, und daß ich es nicht nur für meine Herzenssache, sondern auch für meine heilige Pflicht hielte, meine Zukunft mit der ihrigen als untrennbar verbunden zu betrachten. Adelheid Karmer aber war nicht so schwärmerisch und phantastisch veranlagt wie ich. Sie schüttelte mit dem Kopf und erwiderte ernst: »Nein mein Lieber, du sollst dir nicht eine bindende Verpflichtung auferlegen. Das verlange ich nicht von dir. Du hast noch zwei Jahre Prima vor dir, dann das Studium vier Jahre, Referendar und Assessor, dann werde ich ja alt und häßlich, ehe du mich heiraten könntest. Nein, daran denke ich nicht. Du hast keine Verpflichtung gegen mich. Ich liebe dich und habe mich dir aus freiem Willen gegeben.«

So sprach das liebe, gute Mädchen.

Ostern 1873 kam ich also auf das Gymnasium in die Prima; meine nächtlichen Besuche bei Heidchen nahmen ihren ungestörten Fortgang, natürlich nicht allzu häufig. Einmal trat eine Störung ein, die zu einem unvorhergesehenen, pikanten, wenn auch mehr komischen Intermezzo führte. Nämlich als ich eines Nachts wieder einmal um halb elf Uhr von Mine hinaufgeführt wurde, erschien Adelheid mit sorgenvoller Miene: »Mama ist nicht wohl, ich mache ihr Umschläge. Du mußt noch warten.«

Also ich wartete und plauderte mit den beiden Mädchen, die mir erzählten, daß sie jede Woche einmal zu einer methodistischen Abendandacht gingen. Das seien sehr fromme Leute, ein Missionar hielte die Andacht ab und es sei sehr erbaulich und erhebend. Was sie mir mitteilten, erregte meine Neugierde und ich bat sie, mich einmal mitzunehmen, was sie mit Freude und sichtlicher Genugtuung zusagten. Am eifrigsten hatte die fromme, keusche Marie gesprochen, und sie legte auch die größte Befriedigung an den Tag, einen so sündigen Menschen wie mich vielleicht auf einen guten Weg bringen zu können. Nach einer Weile wurde Mine abgerufen; sie blieb eine geraume Zeit fort. Als sie zurückkehrte, war es inzwischen gegen Mitternacht geworden.

»Die Frau Direktor ist sehr krank, Fräulein Heidchen muß die Nacht über bei ihr bleiben,« berichtete sie.

»Und ich?«

In Mines immer etwas triefigen Augen züngelte ein matter Blitz.

»Ja, so spät können wir Sie nicht mehr herauslassen. Man würde es hören und –«

»Aber wo soll ich denn bleiben?« unterbrach ich sie. »Ich kann doch die Nacht über nicht in der Küche kampieren.«

Mine sah Marie an und Marie Mine. Endlich meinte diese: »Nee, auf dem harten Holzstuhl können Sie nicht die Nacht über sitzen. Dann müssen wir Ihnen wohl unser Bett anbieten, wenn Sie es nicht verschmähen.«

Donnerwetter, das war etwas für meine abenteuerlustige Seele.

»Wie werd' ich denn?« fuhr es aus mir heraus.

Und dann sah ich fragend, zweifelnd die hübsche, fromme, achtzehnjährige Marie an. Die erklärte, sich mit einem Küchenstuhl begnügen zu wollen. Natürlich ließ ich das nicht zu; lieber wollte ich auf den mir freundschaftlichst angebotenen Anteil am Bett verzichten. Mine schlichtete den edlen Wettstreit und redete ihrer Arbeitsgenossin gut zu:

»Unsinn! Wir legen uns alle drei ins Bett. Selbstverständlich! Du brauchst dich nicht zu fürchten, Marie. Ich werde schon aufpassen, daß dir Herr Zell nichts tut.«

»Unnötig!« beteuerte ich pathetisch. »Ich bin doch kein Räuber und kein gewalttätiger Mensch.«

Es war ein breites, zweischläfriges Bett, das so ziemlich die ganze Kammer neben der Küche einnahm. Mine entkleidete sich und stieg zuerst auf das Lager, dann kam ich in Unterkleidern und zuletzt quetschte sich Marie zögernd im Unterrock ganz an die Kante des Lagers.

Für einen so lebhaften, stark für Frauenreize empfänglichen, leidenschaftlichen jungen Mann wie ich war die Situation sehr verführerisch. Unmöglich still wie ein Stockfisch die Nacht über neben dem blühenden, reizvollen jungen Mädchen zu liegen. Aber schon meine ersten, vorsichtigen, bescheidenen Annäherungen wurden von Marie mit entschiedener, unerschütterlicher Festigkeit abgewehrt; sie hatte ihren Unterrock fest um sich geschlungen, und weder bittende Worte noch anregende Tat konnten sie auch nur zu der geringsten Nachgiebigkeit bewegen. Stürmisch, zwingend konnte und wollte ich natürlich nicht sein, und so blieb mir nichts übrig als zu verzichten und mich hübsch artig zu verhalten. Aber nun wurde Mine, deren Sinne sich wohl an dem werbenden Spiel und an der Nähe des männlichen jugendlichen Körpers entzündet hatten, aktiv. Da ich ihr zu großem Dank verpflichtet war, durfte ich sie nicht verletzen und nicht allzu scharf zurückweisen, und so ließ ich es ergeben zu, daß sie, wenn auch nichts weiter, so doch ihrem Tastsinn einige Befriedigung verschaffte.

Das Gymnasiastenleben spielte sich ziemlich einförmig in dem kleinen Städtchen ab. Dennoch bemühten wir phantasievollen, lebensfrischen Jünglinge uns, soviel an Freude und Genuß, wie es nur irgend möglich war, zu gewinnen. Des Nachmittags zwischen drei und vier wurde im Wäldchen unweit der Stadt promeniert, dabei mit den jungen Mädchen, die natürlich nicht fehlten, geliebäugelt und geflirtet. Zwischen fünf und sieben widmeten wir uns unseren Schularbeiten und nach dem Abendessen ging es meistens wieder hinaus auf die Straße. Da war am Markt eine kleine Konditorei, die auch von den jungen Damen besucht wurde; nur ein Laden war vorhanden, kein Gastzimmer; da standen wir denn vor dem Ladentisch, aßen Kuchen und tranken »Knickebein« und unterhielten uns mit unseren anwesenden Flammen. Das heißt, Adelheidchen war bei diesen Zusammenkünften nie zugegen, denn sie hielt sich immer etwas zurück von den anderen jungen Mädchen und von meinen Kommilitonen. So schloß ich mich denn den anderen an und tat mit jedem der anderen jungen Mädchen mal ein bißchen schön, soweit es die Rücksicht auf Adelheid einerseits und auf meine Freunde andererseits, die ja privilegierte Anrechte auf ihre »Poussaden« hatten, zuließ. Nach den Erfrischungen im Konditorladen ging es wieder auf die Straße. Wir suchten da mit Vorliebe eine stille, dunkle Gasse auf, in der, ich weiß nicht mehr, zu welchem Zweck, zeitweise dicke Baumstämme lagerten. Darauf ließen wir uns nieder und trieben allerlei übermütiges Zeug. So war es – wenn ich mich recht erinnere, schon vor mir – Gebrauch geworden, die knospenden Busen zu sondieren. Ich nannte das, so wenig ich auch die Algebra liebte, »potenzieren« und den betreffenden gepaarten Körperteil, »Potenzen«. Merkwürdigerweise wiesen uns die jungen Damen nicht etwa entrüstet zurück, sondern sie kicherten vergnügt, und ihre Abwehr war mehr anlockend als abschreckend. Und das waren alles junge Mädchen zwischen 16 und 18 Jahren aus den besseren Familien der Stadt.

Ländlich sittlich! kann man sagen.

Das Verhängnis kam. Als ich mich in den Weihnachtsferien auf dem Gut meiner Verwandten befand, erhielt ich von Adelheidchen einen erschütternden Brief. Meine Besuche waren nicht ganz geheim geblieben. Es war doch allmählich ruchbar geworden, daß ich sehr zärtliche Beziehungen zur Tochter des Direktors unterhielt, und wenn man auch noch keine Beweise von der ganzen Intimität unseres Verhältnisses hatte, so hatten doch ihre Verwandten – sie hatte zwei verheiratete Schwestern in der Stadt – ihr heftige Vorwürfe gemacht und sofortigen entschiedenen Abbruch unseres geheimen Verkehrs verlangt. Den Anstoß hatte eine Unvorsichtigkeit von uns gegeben. Ich hatte ihr ein illustriertes Prachtwerk, das ich beim Buchhändler, einem der beiden Schwiegersöhne des Direktors, gekauft, zu Weihnachten verehrt. Das war bei ihr gesehen worden. Und nun schrieb sie mir ganz verzweifelt. Eine zwei oder drei Jahre ältere Schwester von ihr, die außerhalb eine Stellung als Gesellschafterin gehabt, sei zurückgekehrt und werde sie in Zukunft bewachen. Es bliebe uns unter diesen Umständen also nichts übrig als auf jeden weiteren heimlichen Verkehr zu verzichten und uns Lebewohl zu sagen.

»Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll. Deine Liebe war mein Sonnenschein, mein einziges Glück. Wie trostlos wird mein Leben ohne dich sein, der du mein Ideal, mein Herr, mein Gott warst!...«

So schrieb mir das geliebte Mädchen. Ich war wie vernichtet und knirschte mit den Zähnen, und es wollte mir gar nicht in den Sinn, daß wir uns dem kaltherzigen Gebot von Adelheids Verwandten fügen sollten.

Schon am Tage nach meiner Zurückkunft nach Griesenheim erhielt ich den Besuch des Oberprimaners Funk, der, selbst ein entfernter Verwandter des Fräuleins Karmer, als Abgesandter der anderen kam, mir das Adelheid geschenkte Prachtbuch zurückbrachte und von mir das prächtige Rauchnecessaire zurückforderte, das die Geliebte mir zu Weihnachten beschert hatte.

Zornig, mit heftigen Worten, händigte ich es ihm auf seine wiederholte Forderung und nach der Drohung, sonst alles dem Direktor zu verraten, aus. In der Tat, ich fand nie mehr Gelegenheit, mit Adelheid allein zusammen zu treffen. Sogar die mir so ergebene, getreue Mine, die als Zwischenträgerin erkannt und tüchtig gescholten worden war, hielt sich fern; doch einmal als wir uns in der Dämmerung begegneten, huschte sie an mich heran, um mir in aller Eile zuzuraunen: »Morgend abend gehen wir in die Abendandacht, Langestraße zwölf auf dem Hof, acht Uhr.«

Ich stellte mich rechtzeitig ein. Um nicht Aufsehen zu erregen, legte ich meine älteste, schon ausrangierte Kluft an, denn ich wußte, daß die frommen Methodisten nur den untersten Ständen angehörten. Es waren etwa dreißig Personen da, fast lauter ältere Frauen, ein paar Dienstmädchen und zwei oder drei ältere Männer. Ich hoffte irgendeine Botschaft von Adelheid zu empfangen, aber nichts dergleichen. Sie schien ihr den Verwandten gegebenes Versprechen aufrichtig halten zu wollen, wahrscheinlich mit Rücksicht auf ihre leidende Mutter. Ich nahm zwischen meinen beiden Freundinnen Platz. Der Missionar war ein noch junger Mann, dessen Lungenkraft entschieden reichlicher war als seine geistige. Was er sprach, war eine abschreckende Schilderung der Hölle und ihrer Qualen. Dabei funkelten seine Augen fanatisch, fuchtelten seine Hände und schlugen wiederholt heftig auf das Pult, hinter dem er stand. Entzückt, wie gebannt hingen die Augen seiner Zuhörerinnen an seinen leidenschaftlich vibrierenden Mienen. Schließlich forderte er die Anwesenden auf, zu Gott auf den Knien um Gnade zu flehen. Alle warfen sich nieder; nur in mir, dem längst Ungläubigen, der nur der Neugier wegen gekommen war, lehnte sich etwas gegen dieses Gebot auf. Aber Mine und Marie zupften so energisch an meinem Jackett, daß ich schließlich dem Beispiel der anderen folgte.

Natürlich war dieses armselige Erlebnis und auch die gelegentlichen »Potenzierungen« am Abend nicht geeignet, die entstandene Lücke in meinem Liebesleben auszufüllen; auch das Rendezvous, zu dem ich die sechzehnjährige Grete Biel, obgleich sie die »Poussade« des Sekundaners Wenke war, beredet hatte, war gar nicht geeignet, mich über Heidchens Verlust zu trösten. Zwar widerstrebte sie nicht, als ich sie am Eingang zu dem alten stillen Kirchhof drückte und küßte, aber sie war langweilig, temperamentlos, und ich forderte sie zu keinem zweiten Stelldichein auf. Dagegen taten es mir bald darauf die blitzenden dunklen Augen der achtzehnjährigen Marie Bachold an. Ihr Vater, ein Malermeister, hatte sein Haus unweit von meiner Wohnung und wir begegneten uns oft; unsere Blicke sprachen immer deutlicher und lebhafter zueinander, und eines Abends hielten wir auf der Promenade vor der Stadt unser erstes Rendezvous ab. Sie küßte leidenschaftlich und begehrend, und ich hatte sofort den Eindruck, daß sie sich mir nicht weigern würde. Freilich, ich wurde gewarnt. Sie hatte einen Bruder, der Gehilfe ihres Vaters war, etwa in meinem Alter, und er hatte schon einmal einen Sekundaner, der seiner Schwester gehuldigt hatte, mit einer Eisenstange blutig geschlagen. Aber ich lachte nur; ein alter Feldzugsoldat fürchtete sich doch nicht, am wenigsten, wenn es sich um ein Liebesabenteuer handelte.

Richtig, ihre Zusammenkünfte mit mir waren dem gewalttätigen Bruder der schönen Marie bald zu Ohren gekommen; er gab nicht nur seiner Schwester den fühlbaren Beweis seiner Unzufriedenheit; er ließ mir auch durch einen Soldaten, der gelegentlich in unsere Pension kam, um als Bursche des Grafen v. Wartenberg, eines Leutnants, an seinen Neffen, den Tertianer Alex v. Below eine Bestellung auszurichten, die Drohung zugehen, daß er mir alle Knochen im Leibe zerschlagen würde, falls ich seine Schwester noch weiter belästigen würde.

Eines Sonntagsabends kurz vor zehn Uhr begegneten wir uns in der Nähe unserer Wohnungen. Er rempelte mich im Vorübergehen an; ich drehte mich um und hieb ihm mit meinem Spazierstock kräftig auf den Rücken. Flugs wandte er sich und kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu; ich warf den Stock von mir, umfaßte ihn, und ein wütendes Ringen begann. Der Bursche war größer und stärker als ich, aber ich war ihm an Gewandtheit überlegen, und mit furchtbarer Anstrengung gelang es mir, ihn auf das Straßenpflaster zu werfen. Bei dem heftigen Ringen hatte sich mein Zorn über die dreiste Anrempelung zur maßlosen Wut gesteigert, und während ich ihn warf, biß ich ihn tief in den Daumen. Dem auf dem Boden Liegenden stemmte ich meine Knie auf die Brust, packte ihn mit der einen Hand an der Gurgel, und mit der anderen stieß ich seinen Kopf wiederholt auf das Straßenpflaster, ihm dabei allerlei Zornesworte zurufend: »Du Lümmel! Du Lump! willst mich anrempeln!«

Und fester legte sich meine Hand um seinen Hals, und unaufhörlich stieß ich seinen Kopf auf die Steine. Ein Wutrausch hatte mich gepackt, ein Zornesdelirium, das alle meine Sinne gefangen nahm, so daß ich nicht sah, nicht hörte, was um mich vorging. Ich sah nur den frechen Menschen, der gewagt hatte, mich tätlich anzugreifen, nachdem er mir mit dreisten Worten gedroht hatte.

»Also alle Knochen im Leibe willst du mir zerschlagen!... Hast du nun genug?« höhnte ich.

Er stöhnte und schnaufte und machte verzweifelte Anstrengungen, sich meiner Gewalt zu entziehen. Aber ich hielt ihn mit aller Kraft. Wie lange ich so auf ihm gekniet und ihn gewürgt hatte, wußte ich nicht, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter fühlte und mir jemand hinter meinem Rücken zurief:

»Nun ist's genug, Herr Zell!«

Ich schaute wie aus einem Taumel, einem Traum erwachend, auf. Das Gesicht des Burschen des Grafen v. Wartenberg beugte sich über mich.

»Sie bringen ihn ja um!«

Aufs höchste überrascht bemerkte ich erst jetzt, daß sich eine Korona von Menschen um mich und meinen auf dem Boden liegenden Gegner gebildet hatte, die dem Kampf voll Interesse, aber in tatenloser Neutralität zugeschaut hatte. Nicht das geringste hatte ich davon wahrgenommen. Beschämt sprang ich auf und eilte nach meiner nahegelegenen Wohnung. Schon damals ging mir die Erkenntnis auf, daß es ein Unsinn ist, wenn man vom freien Willen des Menschen spricht. Möglich, daß ich den Feind zu Tode gewürgt hätte! Wäre das mein Wille gewesen? Natürlich nicht! Ich war wie von Sinnen gewesen und wußte nicht, was ich tat. Rein instinktmäßig, in tierischem Triebe hatte ich gehandelt, völlig ohne Bewußtsein.

Ein Gutes für mich hatte der Vorfall: Der Bursche ließ mich fortan unbehelligt, und wenn er mich sah, ging er mir artig aus dem Wege. Seine Schwester aber war nun erst recht für mich begeistert, und ein paar Tage später machte sie mir ihren Besuch. Es war in der Dämmerung zwischen sechs und sieben Uhr, als sie scheu, atemlos vor Angst und Erregung, bei mir eintrat. Ich begrüßte sie natürlich stürmisch, aber aus den Freuden der Liebe, wie wir beide sie uns ausgemalt hatten, wurde nichts. Es konnte keine Stimmung aufkommen; nur mit halben Sinnen gehörten wir uns an; bei jedem Geräusch im Flur oder auf dem Hofe schraken wir zusammen und schließlich ging sie, wie sie gekommen war. Einen zweiten Besuch wagte sie gar nicht erst. Unsere Gefühle für einander kühlten sich ab und ich machte zwei weitere Eroberungen. Die eine war die Tochter eines ehrsamen Drechslermeisters namens Minna Dahlke und die andere, eine sehr hübsche Blondine, Elise Schmeling, aus einer wohlhabenden Ackerbürgerfamilie. Sie war erst sechzehn Jahre alt, dabei halb verlobt mit einem Wachtmeister der Dragoner. Das hinderte sie nicht, dem Primaner, von dem sie schon soviel gehört hatte, ihr Herzchen zu schenken. Sie war süß und lieb. Damals betrieb ich die Liebe als Sport. In meiner jugendlichen Eitelkeit gewährte es mir einen eigenen Reiz, an einem Nachmittag drei Rendezvous hintereinander abzuhalten: von fünf bis sechs Uhr mit Marie Bachold, von sechs bis sieben mit der verliebten Minna Dahlke und in der nächsten Stunde mit der hübschen Elise Schmeling. Ich traf mich mit jeder meiner drei Schätze an verschiedenen Orten der nahen Umgebung der Stadt und hatte zu eilen, daß ich immer rechtzeitig zur Stelle war.

Daß die dichterische Muse, der ich zwischen meinem elften bis zum sechszehnten Lebensjahr lebhaft gehuldigt hatte, in diesen wilden Jahren sich mir versagte, ist erklärlich. Nur zu ein paar Gedichten konnte ich Zeit und Stimmung erübrigen. Damals bestand eine Gymnasiastenzeitung, die Gedichte und kleinere Prosaarbeiten lediglich von Gymnasiasten brachte. Irgendwo in einer Stadt Mitteldeutschlands wurde sie herausgegeben, und an jedem Gymnasium fungierten zwei oder drei ältere Schüler als Lektoren, die die ihnen eingereichten Beiträge zu prüfen und eventuell an die Redaktion, natürlich auch Gymnasiasten, weiter zu geben hatten. Diesem Blatte reichte ich einige meiner Sachen ein, und so wurde ich zum erstenmal in meinem Leben gedruckt. Ich erinnere mich, daß ich daneben ein eifriger Leser der »Deutschen Dichterhalle« war, die Oscar Blumenthal, damals ein unbekannter Leipzger Student, herausgab.

Angeregt wurde das bißchen lyrische Empfinden, das ich überhaupt besaß, durch eine Ferienbekanntschaft. Einer meiner Pensionsfreunde nahm mich in den Ferien mit auf das väterliche Rittergut, und hier verliebte ich mich wieder einmal sterblich. Susanne Lapeg, die junge Schwester meines Freundes war ein brünettes, voll entwickeltes üppiges junges Mädchen von achtzehn Jahren. Besonders hübsch war sie nicht, aber sie hatte in ihrem Wesen jenen Reiz, mit dem Anna Köppen mich ein Jahr vorher so sehr bestrickt hatte. Lebhaft, schlagfertig, intelligent, von brausendem Temperament. Daß auch sie rasch Sympathie für mich faßte, war unschwer zu bemerken, aber es war wie vorher bei Klara Bohm und Anna Köppen, ich brachte kein Wort der Liebe über meine Lippen, obwohl mein Herz lichterloh brannte und ein inniges, herzliches Gefühl mich durchglühte.

Am letzten Morgen – ich durchlebe die Szene noch einmal in der Erinnerung – waren wir ein Viertelstündchen allein im Zimmer. Mein Freund verabschiedete sich bei seinen noch zu Bett liegenden Eltern. Auf und ab schritten wir, beide stumm, auch sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, in sich gekehrt, ganz von ihren Gefühlen benommen. »Jetzt erwartet sie ein erlösendes Wort von dir!« Dieses Gefühl hatte ich deutlich und jedesmal, wenn wir uns in der Mitte des Zimmers begegneten, nahm ich mir vor zu sprechen. Aber ich brachte es nicht über mich. Und so schieden wir auf Nimmerwiedersehen.

Als mein Freund einige Wochen später auf einen Sonnabend und Sonntag zu seinen Eltern fuhr, gab ich ihm diesen Erguß an seine Schwester mit:

An Susanne.

So bin ich fern von dir –
wer weiß, wie lange?
Doch ist mein Herz bei dir –
nur ist mir bange,
bleib' ich auch teuer dir,
wirst du vergessen,

daß all' mein Glück bei dir?
Wer kann's ermessen!
Werd', komm' ich einst zu dir
nach vielen Tagen,
ich wieder gehn von dir
und ewig klagen?

Ich war höchst gespannt, was sie auf diese ziemlich unverblümte Liebeserklärung in Form eines Ghasel erwidern würde.

»Meine Schwester hat sich sehr gefreut und dankt dir bestens!«

Das war alles. Enttäuscht machte ich einen Strich durch diese Episode. In den nächsten Ferien folgte gelegentlich einer mit meinem Vetter Richard Stetten unternommenen Wanderung durch Thüringen, der idealistischen platonischen Anbetung des ewig Weiblichen wieder ein grober Rückfall ins gemein Sinnliche. Zunächst aber machten wir eine reizende hübsche Bekanntschaft, die lediglich zu unserem Herzen sprach. Unterwegs auf einem Marsch nach Jena trafen wir mit einer kleinen Gesellschaft zusammen, die uns beide lebhaft interessierte. Ein Zeichner der »Gartenlaube«, dessen Name mir von seinen Bildern in dem auch von mir gehaltenen viel gelesenen Blatt wohlbekannt war, machte ebenfalls in Begleitung seiner beiden jungen Töchter – sechszehn- und siebzehnjährig – eine Fußwanderung durch das schöne Thüringen, wir schlossen uns den Wandernden an, und während der alte Herr hie und da sein Skizzenbuch hervorzog und eifrig zeichnete, machten wir den beiden lieben, hübschen, schlichten Mädchen ebenso eifrig die Kur. Es waren wirklich ganz allerliebste, herzliche, zutrauliche Kinder, mit denen man prächtig, frisch von der Leber weg, plaudern konnte. In Jena verlebten wir den Abend gemeinsam und bewunderten unter anderem das originell geschmückte Kneipzimmer der Burschenschaft »Arminia«, um am anderen Tage gemeinsam weiter zu wandern. Leider mußten wir am Abend Abschied nehmen, denn am folgenden Morgen wollte der Künstler mit seinen Töchtern nach Leipzig zurückkehren. Der Abschied wurde uns allseitig schwer, wir waren mit den drei lieben herzlichen Menschen in diesen zwei Tagen so vertraut geworden, als hätten wir schon wochenlang miteinander verkehrt. In das Auge der Jüngeren, die es mir angetan hatte, und die ein noch süßeres, herzigeres Mädchen war, als die Schwester, stahl sich eine stille Träne, als wir uns zum letztenmal die Hand reichten. Wenn der Alte nicht dabei gewesen wäre, ich hätte sie in meine Arme genommen und sie hätte mir ihre Lippen sicherlich nicht geweigert.

Besser freilich war es schon so. Die Berührung mit mir blieb dem keuschen ahnungslosen Geschöpfchen erspart.

Und nun kam das wüste sinnliche Erlebnis, auf das ich eben anspielte. Mein Vetter Richard und ich fuhren nach dem herrlichen, in riesige Forsten eingebetteten, waldfrischen Schwarzburg, um am nächsten Vormittage nach dem weltberühmten Trippstein hinaufzuwandern. Nur einen Tag hatten wir noch Zeit, dann mußten wir die Rückreise antreten. Aber am Abend machte sich der Oberkellner an uns heran; der Zuspruch von Gästen war in dem kleinen bescheidenen Gasthause nicht groß, und so lag ihm daran, die Gäste zu fesseln. Er hatte uns wohl richtig erkannt, möglich auch, daß wir unser Sinnen durch ein paar offenherzige Äußerungen verraten hatten. Kurz, er riet uns, noch einen Tag zu bleiben, es würde uns nicht gereuen. Er wollte uns mit einer jungen Thüringerin bekannt machen, einem blutjungen Ding, eben erst sechzehn Jahre alt geworden, und er würde dafür sorgen, daß sie zu uns ins Hotel käme.

Ich überlegte. In Schwarzburg gewesen und, nicht den Trippstein besucht zu haben, wäre das nicht unentschuldbar? Noch unerhörter, als wenn ein frommer Katholik in Rom gewesen und den Papst nicht gesehen hätte. Mein Vetter jedoch meinte: »Ein lebendes Mädchen ist mir hundertmal lieber als der tote Trippstein.«

Das leuchtete mir ein. Also wir blieben. Am nächsten Abend stellte sich richtig die Dorfschöne ein. Der Oberkellner hatte in einer Hinsicht nicht zuviel gesagt: Sie war tatsächlich noch blutjung und eine recht ansprechende Erscheinung in ihrer rosigen blonden Frische und niedlichen Nationaltracht. Eine Liebesnacht mit ihr wäre allerdings völlig geeignet gewesen, uns für den Verlust des Trippsteinbesuches reichlich zu entschädigen.

Aber in einem Punkte hatte der Kellner zuviel versprochen. Die Thüringerin zeigte sich sehr spröde. Unser Zimmer befand sich im Erdgeschoß, die beiden Fenster gingen nach dem Garten hinaus. Bis dahin hatte sich die kleine Schwarzburgerin verleiten lassen, aber sie wollte allem Zureden zum Trotz nicht in unser Zimmer kommen, wir waren sehr ärgerlich und machten dem Oberkellner Vorwürfe.

»Sie werden sie haben,« erwiderte er. »Dafür werde ich sorgen.«

Und er packte sie und nahm sie in seine Arme. Mein Vetter und ich befanden uns im Zimmer. Die sich heftig Sträubende hochhebend, reichte der Kuppler sie uns durch das Fenster, und wir zogen sie mit vereinten Kräften ins Zimmer.

Als ich sie erst umfaßt und geküßt hatte, wurde sie ganz fügsam. »Wir wollen dir natürlich nicht Gewalt antun, Schätzchen,« sagte ich zu ihr schmeichelnd und sie zärtlich streichelnd. »Wenn du also nicht lieb sein willst zu uns, dann halten wir dich nicht zurück. Da ist die Tür und hier das Fenster! Entscheide dich!«

Sie schmiegte sich an mich an und war sehr lieb und hingebungsvoll, trotz ihrer Jugend oder vielleicht gerade deshalb. Nur einmal – ich war sehr übermütig und trieb allerlei verliebten Unsinn – gab sie mir in ihrem reizenden Dialekt einen Verweis: »Schamst di net?«

Darauf ging sie vergnügt, ohne sich erst dazu nötigen zu lassen, zu meinem Vetter hinüber. Ich aber dachte: I du raffinierte Kröte! Warum hast du dich zuerst so heftig gesträubt? Und warum bist du überhaupt nach dem Hotel gekommen? – Sie hatte die Komödie wohl nur aufgeführt, um ihren Wert in unseren Augen zu steigern.

Meine Erlebnisse als Primaner in Griesenheim schlossen mit einer recht charakteristischen Szene ab, die an unglaublicher Naivität junger Leute in Liebessachen alles vorher von mir Erlebte wohl noch überbot. Ich hatte eine interessante Bekanntschaft gemacht. Einer der beiden Söhne des berühmten Komponisten Friedrich von Flotow, der eine technische Hochschule besucht hatte, war – ich weiß nicht, aus welchem Grunde – von seinem Vater nach dem kleinen Städtchen gebracht worden, um hier bei den Dragonern sein Jahr abzudienen. Ich glaube, er hatte wohl etwas leichtsinnig gewirtschaftet und Schulden gemacht. Der Komponist, der zugleich mecklenburgischer Kammerherr war, hatte Beziehungen zu einigen Adelsfamilien der Umgegend, im besonderen zu den Eltern meines Mitpensionärs Alex v. Below. Durch ihn lernte ich Wilhelm von Flotow kennen. Wir wurden bald recht intim und tranken in Jülichs Restaurant, dem Stammlokal der Offiziere, bei einer Flasche Sekt Brüderschaft. Der junge Flotow war ein reizender Mensch; stundenlang konnte ich ihm zuhören, wenn er aus den Opern seines Vaters auf meinem Klavier allerlei Arien spielte. Besonders interessant waren mir auch seine gelegentlichen Erzählungen aus dem Leben seines Vaters. Sehr weich und schwermütig wurde er, wenn er seines verstorbenen Mutter gedachte, viel Tragik hatte in dem Lebensende der unglücklichen Frau gelegen, mit deren Schwester sich der Vater nach der Trennung van seiner ersten Gattin verheiratet hatte. Eines Tages klagte ich meinem neuen Freunde, daß in dem Nest, in dem zu leben wir verdammt seien, nur so wenig anziehende Weiblichkeit zu Gebote stände. Da wies er mich auf eine Priesterin der Griesenheimer Venus vulgivaga hin, von der ich schon viel gehört hatte und der ich auch gelegentlich begegnet war. Auguste Tornow war in der ganzen Stadt bekannt; ich hatte auch vernommen, daß sie sich mit Gymnasiasten nicht einließe und nur den Offizieren der Stadt zugänglich sei. Es war eine hübsche, immer gut gekleidete Erscheinung von etwa 25 Jahren, und gern hätte ich ihre Bekanntschaft gemacht, Flotow gab mir die Adresse einer Frau, an die ich mich wenden sollte. Ich tat es. Frau Schmidt machte mir wenig Aussichten; immerhin versprach sie mir, mit Fräulein Gustchen sprechen zu wollen. Ich war sehr erfreut, als sie mir an einem der nächsten Tage auf meine Anfrage mitteilte, daß Fräulein Tornow einmal eine Ausnahme machen wolle. Sie habe schon viel von mir gehört und sei neugierig, mich kennen zu lernen.

Also am nächsten Abend ging ich, sehr stolz natürlich, zum Rendezvous mit dem vielbegehrten Augustchen, das in der Wohnung der Kupplerin stattfand. Es war ein großes, einfach, aber sauber möbliertes Zimmer, das ich in Begleitung meines Freundes betrat. In der Mitte stand ein großer Tisch mit Stühlen; an der einen Wand befand sich ein Sofa, auf dem die mir ja von Sehen bekannte Dirne mit der Wirtin saß. Wir setzten uns zu ihnen und Frau Schmidt brachte ein paar Flaschen Bier, damit wir die Bekanntschaft mit Fräulein Tornow doch geziemend begießen konnten. Die Schmidt schien mit ihrem anderen Geschäft noch einen kleinen Ausschank zu verknüpfen, denn an dem großen Mitteltisch saßen trinkend und schwatzend drei oder vier junge Leute, unter denen ich erst jetzt zu meiner unangenehmen Überraschung meinen Feind, den Oberprimaner Funcke gewahrte, der mir seinerzeit als Abgesandter der Familie mit ostentativer Würde das Weihnachtsgeschenk Adelheid Farmers abgefordert hatte.

Und nun kam der Gipfelpunkt der Geschichte, unglaublich, aber buchstäblich wahr, wie alle diese Aufzeichnungen. Auguste Tornow erhob sich und führte mich zu einem merkwürdigen Aufbau, von dem ich bis dahin keine Notiz genommen hatte. Er sollte wohl einen Alkoven darstellen, war aber nur ein an die Wand gefügter Verschlag, dessen beide Seitenwände aus Brettern bestanden, während die Öffnung nach dem Zimmer durch eine dünne Kattungardine abgeschlossen wurde. Ich hatte doch vorausgesetzt, daß uns, der Dirne und mir, ein besonderes Zimmer zur Verfügung gestellt werden würde. Nun aber zog mich die Schöne zu diesem primitiven Liebesnest und mir blieb nichts übrig, wollte ich nicht auf das Schäferstündchen verzichten, als ihr zu folgen. Auf dem Fußboden in dem kleinen Raum lag eine Matratze und ein Kopfkissen, nichts weiter, während die Stimmen der Zechenden in unseren Schlupfwinkel hereindrangen, entrückte mich Augustchen in den problematischen Himmel käuflicher Liebe.

Ich verließ zuerst das wenig kosige Gemach, um an den Tisch vor dem Sofa zurückzukehren, während die Zurückbleibende noch ihre Garderobe in Ordnung brachte, von meinem Platz aus beobachtete ich zu meiner Verwunderung, daß Funcke sich erhob, der Dirne entgegenging und angelegentlich auf sie einredete. Auguste Tornow zuckte wiederholt hochmütig mit den Schultern und deutete schließlich mit einer Kopfbewegung nach mir hin. Und nun geschah das Unerwartete, Unglaubliche. Funcke trat an mich heran und bat um kurzes Gehör. Ich stand auf und nun eröffnete er mir, daß Fräulein Tornow es von meiner Einwilligung abhängig gemacht habe, ob er heute der gleichen Gunst teilhaftig werden dürfe, die sie mir soeben erwiesen habe.

»Von mir – abhängig?« erwiderte ich überrascht.

»Jawohl«, bestätigte er. »Sie habe sich Ihnen für heute verpflichtet und so hätten Sie zu bestimmen. Ich bitte sehr um Ihre Einwilligung.«

Stolzes Selbstgefühl kämpfte in mir mit einem unwillkürlichen Mißbehagen. Die Befriedigung, daß der »Ober«, der sich mir gegenüber aufgespielt hatte, nun als Bittender kam, gewann die Oberhand und ich nickte gnädig. Dann setzte ich mich und leerte rasch meine Flasche, bezahlte und verließ mit meinem Freunde das originelle Lokal. Ein bitterer Nachgeschmack blieb mir auf der Zunge.


Ich saß nun ein Jahr in der Prima, außerdem sollte mir das halbe Jahr Privatunterricht angerechnet werden. Trotzdem wurde ich Ostern nicht nach Oberprima versetzt. Aber es kam noch schlimmer. Oberlehrer Gündel, einer der beiden Schwiegersöhne des Direktors, erklärte mir unter vier Augen, daß meine Tage in Griesenheim gezählt seien. Wenn ich nicht freiwillig ginge, würde er seinem Schwiegervater gewisse mich und seine Schwägerin Adelheid betreffende Mitteilungen machen. In der Stadt erzähle man sich allerlei unglaubliche Geschichten, denen auf den Grund zu gehen er für unerwünscht und zunächst auch für überflüssig erachte. Er rechne darauf, daß ich schon in Rücksicht auf die junge Dame, die Stadt auf Nimmerwiedersehen freiwillig verlassen werde. Damit würde dann allen Klatschereien die Spitze abgebrochen sein.

Natürlich meldete ich mich sofort bei dem Direktor ab. Die Begründung mit der Nichtversetzung leuchtete dem Ahnungslosen, an den sich die Klatschsucht nicht herantraute und der ganz seinem Amt und seinen gelehrten Arbeiten lebend, im übrigen nicht sah, was um ihn vorging, vollkommen ein.

Ich reiste zunächst wieder zu meinen Verwandten und schrieb von hier aus an meinen Vater, daß ich keine Lust zum langwierigen Studium hätte und vorzöge, die Offizierskarriere einzuschlagen. In anderthalb Jahren gelangte ich hier zu Amt und Rang, was bei meinem Alter doch höchst wünschenswert wäre. Freudig überrascht war ich, als mein Vater mir kurz schrieb, er sei einverstanden und ich solle unverzüglich nach Hause kommen, damit wir die nötigen Schritte einleiten könnten. Ich ahnte damals noch nicht, daß bei diesen Entschlüssen gewisse geschäftliche Vorgänge bestimmend gewesen waren.

Das Jahr 1875 leitete nach der großen Hausse von 1871–74 einen geschäftlichen Niedergang ein. Viele von den unzähligen zum Teil recht unsoliden Unternehmungen der Gründerjahre krachten elend zusammen, und natürlich wurden dadurch andere ältere Institute in Mitleidenschaft gezogen. Geschäftliche Sorgen mochten es meinem Vater wünschenswert machen, mich in einem bestimmten Beruf untergebracht zu sehen, um so mehr als noch vier jüngere Geschwister vorhanden waren. Meine ältere Schwester war seit zwei Jahren an einen Berliner Amtsgerichtsrat verheiratet und mein Bruder Robert leitete bereits das Braunkohlenwerk in der Niederlausitz, wir anderen alle aber waren noch unversorgt. Schon vom Gute meines Onkels aus schrieb ich an meinen Freund Arthur Zeydel, mit dem ich seit 1871 einen wenn auch nicht lebhaften Briefwechsel unterhielt. Er hatte mir ein halbes Jahr früher mitgeteilt, daß er sich von dem pommerschen Infanterieregiment, in dem wir den Feldzug mitgemacht hatten, nach Straßburg i.E. in das dort garnisonierende württembergische Infanterieregiment habe versetzen lassen. Sehr befriedigt schrieb er über diese Änderung. Erstmals sei das Avancement im württembergischen Armeekorps ein schnelleres, und zweitens herrsche im dortigen Offizierkorps ein viel netterer, gemütlicherer, freierer Ton als in der preußischen Armee.

In Berlin wurde zwischen meinem Vater, dem Hauptmann a.D Dr. Moßner, der mich seinerzeit nach der unglückseligen »Presse« im Posenschen gebracht hatte, und mir eine Besprechung abgehalten. Dr. Moßner pflichtete meinem Wunsch, bei den Württembergern einzutreten, durchaus bei. Was das Fähnrichexamen anbetreffe, so könne es mir, der ich ein Jahr in der Prima gesessen, nicht allzuschwer fallen. Immerhin halte er es doch für notwendig, daß ich mich in meinen schlechtesten Fächern, in der Mathematik, in der Geographie und Geschichte, noch etwas vervollkommnete. Auf seinen Rat sollte ich noch bis zur Septemberprüfung am Unterricht an der als leistungsfähig bestbekannten Grabowskyschen »Presse« teilnehmen. Vorläufig nahm ich bei meinen Eltern Wohnung und begab mich von da täglich nach der Fähnrichpresse in der unweit des Halleschen Tores gelegenen stillen Trebbinerstraße. Es war ein weiter Weg, den ich zum großen Teil mit dem Omnibus zurücklegte. Aufgefallen war mir ja sofort bei meiner Rückkehr ins Elternhaus, daß alles auf einen etwas einfacheren Fuß gestellt war. Von der vornehmen Wilhelmstraße hatten meine Eltern ihre Wohnung nach der geräuschvollen Rosenthalerstraße dicht am Hackeschen Markt verlegt. Hier war in einem großen Hause eine ganze geräumige erste Etage gemietet worden, in der sich auch die Geschäftslokalitäten der Bank befanden. Unseren großen Haushalt besorgten nur zwei Dienstmädchen, während früher neben diesen noch ein Diener und zeitweise auch eine Gesellschafterin, eine junge Engländerin, vorhanden gewesen. Doch in meiner völligen Ahnungslosigkeit und jugendlich leichtsinnigen Unbekümmertheit machte ich mir weiter keine Gedanken darüber. Dagegen sah ich mich nach meiner Gewohnheit und meiner innerlichsten Neigung gemäß sofort nach dem ewig Weiblichen in der Nachbarschaft um. Da fiel mir zunächst im Hause, im zweiten Stockwerk, eine hübsche schlanke Jüdin mit schönen melancholischen Augen auf. Von einem der Hofzimmer aus – zu unserer Wohnung gehörten die beiden Seiten des halbkreisförmigen Hofgebäudes – liebäugelten wir miteinander. Auch des Morgens, wenn ich den Weg zur »Presse« antrat, begegnete ich ihr in der Regel auf der Straße und tauschte mit ihr im Vorbeigehen einen sprechenden Blick. Wie ich von einem der Dienstmädchen hörte, machte das Fräulein eine Trinkkur. Bei diesem stillen pantomimischen Verkehr blieb es vorläufig. Dagegen kam ich mit einer anderen jungen Nachbarin, die in einem auf der anderen Seite der Rosenthalerstraße gelegenen Hause bei ihren Eltern wohnte, sehr rasch in einen lebhaften Verkehr. Es war eine zarte Blondine mit wunderbar weißem Teint. Aber ein unangenehmer Fehler – sie hörte auf einem Ohr schwer – und häßliche kleine ausdruckslose Augen beeinträchtigten sehr den Eindruck ihrer Persönlichkeit. Immerhin war sie auf meinen Spaziergängen meine fast tägliche Begleiterin; ich ging nicht gern allein und sie kam willig und gern, so oft ich es nur verlangte. Sie hieß Emma Renner; ich nannte sie meinen »Adjutanten«, denn sie stand stets zu meiner Disposition, wenn wir auch erst nach Jahr und Tag in innigere Beziehungen traten.

In der Grabowskyschen Presse herrschte Ordnung und Disziplin und es wurde fleißig gearbeitet. Fast alle Schüler, die meist im Alter zwischen achtzehn und zwanzig Jahren standen, wohnten in der Anstalt. Der Verkehrston war nett und liebenswürdig. Ich erinnere mich, daß wir einmal über die große französische Revolution disputiert haben, die alle meist feudalen Familien angehörenden Jünglinge in Grund und Boden verdammten. Nur ich äußerte freiere Ansichten und erklärte die Auflehnung des armen, geknechteten und hungernden Volkes für völlig berechtigt. Das veranlaßte einen der Mitschüler, einen Herrn von Löbenstein, mir scherzhaft den Namen »Bürger Zell« zu geben, der von den übrigen lachend als allgemeine Anrede angenommen wurde.

In jener Zeit war es, in der ich die hingebungsvolle Liebe eines reizenden süßen Geschöpfes gewann. Unsere alte Köchin, die bei zweien meiner jüngeren Brüder nacheinander Amme gewesen und dann noch jahrelang in unserem Haushalt geblieben war, verheiratete sich, und zwar mit keinem der beiden Väter ihrer beiden Kinder. Die Hochzeit wurde in unserem Hause gefeiert. Unsere Eltern hatten für den Nachmittag und Abend der Hochzeitsgesellschaft einige Zimmer unserer großen Wohnung überlassen, ich selbst aber zurückgezogen, und so störte nichts die Fröhlichkeit der Tafelrunde, zu der wir Kinder ebenfalls gehörten. Ich hatte ein sechzehnjähriges hübsches Mädchen zur Nachbarin; sie war von unserer neuen Köchin eingeladen, die irgendwelche Beziehungen zu ihrer Mutter, einer Volksschullehrerswitwe, hatte. Alma Witte war ein bescheidenes, stilles, etwas schüchternes Kind. Aber sie empfand lebhaft und tief, wie ich bald erkannte. Ich unterhielt sie von Berlin, seinen Theatern und Konzerten; sie beschränkte sich meist auf das Zuhören; aber ihre strahlenden Augen und der Glut ihrer Wangen war anzumerken, wie sehr sie meine Unterhaltung interessierte. Das liebe arme Kind hatte noch sehr wenig von den Herrlichkeiten des Großstadtlebens kennen gelernt, und die Nähe des temperamentvollen Jünglings mochte im Verein mit dem feurigen Rheinwein sie vollends in eine schöne, glückliche Stimmung versetzen. Unsere Herzen und unsere Hände fanden sich rasch und ich weiß, daß wir, als wir uns nach Aufhebung der Tafel ein paar Minuten allein in einem der dem großen Speisezimmer benachbarten Zimmer fanden, uns selig in die Arme sanken und uns herzlich küßten. Natürlich begleitete ich sie nach Schluß der Festlichkeit nach Hause, vor der Trennung traten wir in einen Torweg und bekräftigten unsere junge Liebe noch einmal mit süßen Küssen.

Bald darauf war die Hundstagferienzeit; meine Eltern reisten mit allen meinen Geschwistern nach einem Ostseebade, ich blieb allein mit der neuen Köchin, einer älteren Person, in der großen Wohnung zurück. Es war ein merkwürdiger Zufall, daß ich schon ein paar Tage später in der Friedrichstraße unweit der Linden, eine Begegnung hatte, die ich am wenigsten vermutet hätte. Es war Marie Bachold aus Griesenheim, die mir in Gesellschaft von einer älteren und einer jüngeren Dame entgegenkam. Ich grüßte natürlich, wagte aber nicht, sie anzureden, während es in ihrem Gesicht freudig aufleuchtete. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um, sie ebenfalls; plötzlich löste sie sich von ihren Begleiterinnen und eilte mir nach.

»Ich bin schon seit vier Wochen bei meinen verwandten zu Besuch, reise aber in einigen Tagen, könnte ich dich nicht morgen abend sehen?«

Ich stimmte natürlich begeistert zu.

»Komm' zu mir!« sagte ich und klärte sie über die besonders günstigen Umstände auf.

Ich sah, wie sie vor Freude errötete.

»Famos!« rief sie. Und dann nach kurzem Überlegen: »Ich bleibe die Nacht bei dir. Ja, geht das?«

»Aber deine Verwandten!« entfuhr es mir unwillkürlich. »Es wäre ja köstlich! Zu schön wäre es!«

Ihre dunklen brennenden Augen blitzten mich an. »Also ich komme. Um acht Uhr bin ich bei dir. Meinen Verwandten werde ich schon irgendeinen Schwindel vormachen. Meine Cousine wird mir helfen. Auf morgen, Albert!«

Am nächsten Abend traf ich die nötigen Vorkehrungen. Meiner Köchin sagte ich, daß ich zum Abendbrot Besuch bekäme. Sie lächelte verschmitzt und in ihrem nicht eben mehr schönen Gesicht malte sich ein lüsternes Interesse. Ich glaube, daß sich in ihrem noch vollen Busen süße Erinnerungen regten, und daß sie vielleicht nicht abgeneigt gewesen wäre, selbst noch einmal ein galantes Abenteuer zu erleben. Ich aber dachte nur an Marie Bachold, die mir ein glückliches Geschick just in der günstigsten Stunde zugeführt hatte. Nun würde sich endlich erfüllen, was wir beide schon in Griesenheim vergeblich ersehnt hatten. Eine ganze Nacht allein mit ihr! Wie köstlich das werden würde! Wonneschauer durchrannen mich.

Und nun war der Abend gekommen. Die Köchin hatte alles schön vorbereitet. Innerlich schien sie ganz im Bilde. Außer allerlei appetitreizenden Delikatessen und einer Flasche Wein hatte sie auch die Tafel mit ein paar Blumen geschmückt.

Also wir tafelten, tranken, küßten uns und bereiteten uns in jeder Hinsicht auf die Liebesnacht vor. Aber es kam anders. Ein merkwürdiges Verhängnis, das über Mariechen Bachold und mir waltete! Ein wenig drückte es auf meine Stimmung, als sie, nachdem wir uns in mein Schlafzimmer zurückgezogen hatten, aus der Ledertasche, die sie mitgebracht hatte, eine Nachtjacke und – eine plumpe Leinwandhaube herausnahm, wie sie nach meiner Ansicht nur für alte Frauen paßte. Sie sah mein erstauntes, nicht eben strahlendes Gesicht, und während sie sich die häßliche Schlafmütze auf das hübsche Haupt stülpte, erklärte sie entschuldigend: »Damit meine Frisur nicht zerdrückt wird!«

Nun, ich überwand den ersten, unangenehmen Eindruck; wir legten uns zu Bett und das Licht erlosch. So sah ich doch wenigstens die ernüchternde großmütterliche Haube nicht, und meine Glut konnte sich ungehemmt an ihren Küssen und der Nähe ihres sich wollüstig dehnenden Körpers entfachen, plötzlich aber sank ihr Arm, der meinen Nacken umschlungen hatte, matt herab und ein Klagelaut drang aus ihrem Munde.

»Was hast du?« fragte ich erschrocken.

»Ach, mir ist so übel, so totübel!« jammerte sie.

Entsetzt riß ich ein Streichholz an und entzündete die auf dem Nachttisch stehende Kerze.

Ich sah in ihr blasses, schmerzlich und angstvoll verzogenes Gesicht.

»Was ist dir denn, Mieze?«

Sie ergriff meine Rechte und zog sie auf ihre linke Brustseite. Ihr Herz schlug in rasendem Takt; sofort erinnerte ich mich, daß sie ein Herzleiden hatte.

»Wenn mir nur nichts passiert!« klagte sie und rang nach Atem.

Ich sprang aus dem Bett, holte ein Glas Wasser und gab ihr zu trinken. Sie stöhnte und warf sich noch eine ganze Weile unruhig in den Kissen, während ich sie voll Sorge und Angst beobachtete, im stillen die Begegnung in der Friedrichstraße verwünschend. Endlich war der Anfall vorüber; sie lächelte, war wieder sehr aufgeräumt, pustete das Licht aus und wurde wieder zärtlich, vergebens! Ich war durch den Vorfall und die Furcht vor einer Wiederholung dermaßen abgekühlt, daß alle Küsse und Liebkosungen Mariechens mich nicht mehr in Stimmung bringen konnten. Und so schied sie am Morgen wie damals bei ihrem ersten Besuch in meiner Griesenheimer Bude. Ich habe sie nie wiedergesehen und nie wieder von ihr gehört.

Alma Wittes Liebe entschädigte mich überreichlich für die mißlungene Episode. Sie war unbeschreiblich süß in ihrer naiven, völlig widerstandslosen Hingabe. Das was Galatea, die durch meine Liebe erst zum Leben erwachte. Da wir uns des Abends nicht sehen konnten und doch danach dürsteten uns zu küssen, so nahm ich eines Nachmittags eine Droschke und fuhr mit ihr im Tiergarten spazieren. Als ich in meiner Erregung ihren knospenden Körper betastete, wehrte sie mich mit einem flehenden Blick ab, der mich beschämte und zur Zurückhaltung veranlaßte. Und dennoch schenkte sie sich mir bald darauf, völlig unfähig, mir zu versagen, wonach mein Verlangen drängte. Eines Tages kam sie mit einem Auftrage ihrer Mutter zu unserer Köchin. Ein halbes Stündchen verplauderten wir in der Küche, dann führte ich sie ins Wohnzimmer; die Köchin servierte uns Kaffee und Kuchen und zog sich gleich darauf mit einem ermunternden Lächlen zurück.

Die lüsterne Kupplerin, die, wenn sie auch nicht selbst genießen konnte, doch wahrscheinlich ihrer Phantasie ein Fest bereitete! Wäre es nicht ihre Pflicht gewesen, die Unschuldige, Ahnungslose zu schützen vor mir, den sie doch von jener anderen Affäre her zur Genüge kannte?

Es kam mir nicht in den Sinn, nicht das geringste Bewußtsein hatte ich, daß ich etwas Schändliches tat; es schien mir ganz natürlich und selbstverständlich, daß ich die rückhaltlos hingebende Liebe des vertrauensvollen jungen Geschöpfes in Anspruch nahm. Nachdem ich sie in meine Arme genommen, sie mit meinen leidenschaftlichen Küssen berauscht hatte, war sie völlig willenlos. Arme Alma Witte! Erst bei einem späteren Zusammentreffen, nach etwa zwei Jahren, ging mir die ganze Gewissenlosigkeit meiner damaligen Handlungsweise auf. Und das Ungeheuerliche war, daß das unschuldige liebe Kind gar nicht einmal meine Sinnlichkeit erregte. Dazu war sie zu naiv, zu unerfahren, zu unschuldig. Sie strahlte ganz und gar kein sinnliches Fludium aus,ihr ganzes Wesen, ihre zarte Erscheinung konnte nur seelisch wirken und ich mußte heucheln, wollte ich behaupten, daß ich einen sinnlichen Genuß aus unserer Vereinigung gezogen hätte. Nein, es war wie bei den meisten meiner erotischen Erlebnisse, die ich hier beichte, die Einbildung, es müßte so sein, jeder Mann handle so und ich würde mich lächerlich machen, wenn ich die Liebe der Mädchen und Frauen, die mir zuteil wurde, nicht bis zur letzten Konsequenz genösse. Erst viel später lernte ich ja die heiß durchschauernde, in allen Fibern und Nerven zitternde, wie glutende Flammen hochschlagende, hinreißende, taumelige Sinnlichkeit kennen. Hier war im Grunde mehr irregeleitete Eitelkeit und sinnloser, barbarischer Unverstand im Spiel.

Ende Juli übersiedelte ich nach der »Presse«, um die letzten Wochen vor dem Examen fleißig zu arbeiten. Mein Zimmer in der Anstalt teilte ich mit einem sehr jungen Kameraden, der mir viel Sympathie einflößte, obwohl er aus ganz anderen Verhältnissen kam als ich. Der achtzehnjährige Jüngling entstammte einer sehr alten Adelsfamilie. Sehr hochgewachsen, schlank, mit einem zarten, feinen Gesicht hatte er etwas Mädchenhaftes in seiner äußeren Erscheinung, der auch sein Wesen entsprach. Wir kamen sehr gut miteinander aus, wenn wir auch in unseren Ansichten sehr wenig übereinstimmten. So erinnere ich mich, daß wir einmal eine hitzige Debatte führten. Claus von Rhaden behauptete mit ehrlichem Eifer, ganz durchdrungen von der Richtigkeit seiner Anschauungen, daß der Adel auf Grund seiner historischen Verdienste eine bevorzugte stellung einzunehmen berechtigt sei, und daß ihm besondere Privilegien vor allen anderen Ständen zukämen, was ich mit meiner demokratischen Gesinnung natürlich leidenschaftlich bestritt. Aber so sehr wir uns auch erhitzten, unsere sonstigen Beziehungen störte das nicht. Claus von Rhaden blieb stets der rittlich vornehme, liebenswürdige Kamerad.

Von dem Leben der »Pressiers« will ich zunächst ein charakteristisches Stückchen erzählen. Eines Nachmittags saß ein halbes Dutzend von uns in einem Lokal der Friedrichstraße, als ein Kamerad, der neunzehnjährige Sprößling eines der ältesten und in der preußischen Geschichte bestens bekannten Adelsgeschlechter eintrat, mit triumphierender Miene an unseren Tisch kam, schweigend in seine beiden Hosentaschen griff und mit jeder Hand eine Anzahl Hundertmarkscheine auf den Tisch warf.

»Da – zählt mal!«

Es waren siebentausend Mark. Er hatte sie eben von einem bekannten Geldverleiher, dessen Inserat fast täglich in den Zeitungen erschien, geholt.

»Siebentausend Mark!«

Wir waren nicht wenig erstaunt.

»Was willst du denn damit anfangen?« fragte ihn einer.

Der junge Herr v. P. schnitt eine tragikomische Grimasse.

»Eine kleine Trostreise machen – nach Paris.«

Er war nämlich ein paar Tage vorher durch das Primanerexamen gefallen, das Vorbedingung zur Fähnrichprüfung war. Und richtig, er nahm 14 Tage Urlaub, angeblich um zu seinen Eltern zu reisen, und dampfte nach Paris ab.

Wer das Berliner Leben jener Jahre kennt, der wird sich des bekannten Antonschen Ballokals in der Dorotheenstraße erinnern, wir »Pressiers« waren hier Stammgäste. Auch Offiziere der Garderegimenter waren, natürlich in Zivil, ständige Besucher der hier täglich oder ein paarmal in der Woche abgehaltenen Bälle. Die weiblichen Gäste waren zum großen Teil Vertreterinnen der besseren Venus vulgivaga. Ich erinnere mich, daß damals, es war im Jahre 1875, bei Anton zuweilen sogenannte Judenverfolgungen abgehalten wurden. So stellte sich eines Sonnabendabends – wo die Potsdamer Offizierkorps besonders stark vertreten waren – ein baumlanger Garde-Ulan mitten in den Saal, mit der Uhr in der Hand, und rief mit lauter Stimme: »In fünf Minuten sind alle Juden 'raus!«

Bemerken will ich, daß diese »Judenverfolgungen« ziemlich harmloser Natur waren und mehr auf einen Ulk als auf etwas anderes hinausliefen. Es ist auch meines Wissens bei solchen Gelegenheiten nie zu Prügeleien oder überhaupt zu ernsten Störungen der hier herrschenden Fidelitas und Gemütlichkeit gekommen.

Meines letzten Besuches bei Anton erinnere ich mich noch genau. Ich tanzte viel mit einem rassigen, schwarzäugigen Weibe. Sie überragte mich, der ich mittelgroß bin, fast um eines halben Hauptes Länge. Das war die Ursache, daß wir die Rollen tauschten und ich stets als Dame, sie als Herr tanzte. Das schien auch ihrem energischen, selbstbewußten Wesen zu entsprechen. Wir tanzten fast ausschließlich miteinander, und engagierte ich sie nicht, forderte sie mich auf:

»Komm, Kleiner!«

Als Feierabend geboten wurde, forderte sie mich auf, mit ihr zu gehen.

»Tut mir leid,« sagte ich mit aufrichtigem Bedauern, denn sie hatte viel Reizvolles, »aber –«

Wir hatten natürlich auch scharf pokuliert und ich war fast ganz abgebrannt.

Sie verstand mich.

»Schadet nicht!« sagte sie. »Zu 'ner Droschke langt es doch wohl noch?«

Ich war überrascht. Das war doch sonst nicht die Art dieser »Damen«.

Na, ich ließ mich nicht lange nötigen, denn sie flößte mir in jeder Hinsicht Vertrauen ein. Ich hatte es auch nicht zu bereuen. Sie war kolossal leidenschaftlich, und es war die wildeste Nacht, die ich bis dahin mit einem weiblichen Wesen verbracht hatte. Sie gebärdete sich auch hier, als wenn sie der männliche, gebende Teil wäre. Als ich mich am Vormittag verabschiedete, gab sie mir ihre Visitenkarte mit. Unter einer siebenzackigen Krone stand stolz »Margot de Tameau«. Ich darf wohl annehmen, daß es ein Phantasiename war. In späteren Jahren sah ich an einer der damaligen ersten Berliner Bühnen eine Schauspielerin in einer Hauptrolle, in der ich meine flotte Tänzerin wiederzuerkennen glaubte, nur daß sie diesmal, auf dem Theaterzettel, einen schlichten deutschen Namen trug. Täuschte mich eine Ähnlichkeit? Ich habe es nicht ergründen können.


Der Geschäftsfreund meines Vaters, Hauptmann a. D. Dr. Moßner, hatte mich nach Straßburg i. Els. begleitet, um mich dem Regimentskommandeur Oberstleutnant v. Wölkern – er war später Kommandeur des württembergischen Armeekorps – vorzustellen. Ein liebenswürdiger Herr, etwa Mitte der Vierzig, der gar nichts von der preußischen Zugeknöpftheit der höheren Militärs hatte und dessen Gesicht mir neben seinen lebhaften klugen Augen durch seinen nach preußischen Begriffen ganz und gar unmilitärischen Henri quatre auffiel. Ich wurde als Avantageur – wie damals die Fahnenjunker genannt wurden – angenommen. Mitte September fand das Fähnrichexamen statt, zu dem ich einberufen war.

Fast alle Monate fanden solche Examina statt. Die Fahnenjunker mußten nach dem Hause der Obermilitärexaminationskommission in der Lindenstraße für eine Woche, die Dauer des Examens, übersiedeln. Vier Tage dieser Woche nahmen die schriftlichen Arbeiten in Anspruch, am fünften Tage kam das mündliche Examen an die Reihe und am Sonnabend wurde das Resultat verkündet. Die Examinanden lebten hier wie Mönche in der Klausur; sie entschädigten sich für ihre Abgeschlossenheit, indem sie im Kasino große Gelage abhielten. Gerade an dem Examenstermin, der vor dem meinigen fiel, war über die Maßen gezecht worden; zur Strafe hatte die Examinationskommission besonders streng ihres Amtes gewaltet, und wenn ich mich recht erinnere, waren sämtliche Fahnenjunker durchgefallen. Das hatten wir uns zur Lehre dienen lassen und uns recht artig und maßvoll aufgeführt. Die Belohnung blieb nicht aus; wir, etwa zwanzig Examinanden, bestanden alle mit Ausnahme eines einzigen. Ich war ob dieses Resultats baß verwundert, denn mir war allerlei Mißgeschick beim schriftlichen Examen passiert. So lautete eine der Aufgaben: »Die Nebenflüsse der Weichsel.« Da ich aber zufällig hierüber nicht informiert war, ein leeres Blatt aber nicht abgeben mochte, tat ich, als ob ich falsch gehört hätte, und zählte nun korrekt der Reihe nach die Nebenflüsse der – Weser auf. Ganz ähnlich erging es mir in der Geschichte. Das eine der geschichtlichen Themata hieß: »Die beiden schlesischen Kriege Friedrichs des Großen.« Hiervon wußte ich aber so gut wie nichts. Ich half mir, indem ich schrieb: »Die beiden schlesischen Kriege haben neben dem siebenjährigen wenig Bedeutung. Viel interessanter dürfte es sein, sich das Leben näher zu betrachten, das der junge Kronprinz vor den kriegerischen Ereignissen in Rheinsberg, von geistreichen Freunden umgeben, mit Voltaire korrespondierend, führte.«

Einen gewandten Stil und die Fähigkeit, lebhaft und anschaulich zu schildern, hatten meine Lehrer im Deutschen immer gelobt. Auch mochte meine Geistesgegenwart meinen Examinatoren, die weniger Wert auf positive Kenntnisse als auf eine allgemeine Bildung legten, imponiert haben. Dazu kam, daß ich in der Mathematik, meinem schlechtesten Fach, insofern Glück hatte, als ich eine der vier gestellten geometrischen Aufgaben richtig löste, die erste und letzte, die ich überhaupt je in meinem Leben selbstständig gelöst hatte, denn auf dem Pennal habe ich in der Geometrie und der Algebra immer abgeschrieben.

Also ich bestand. Zu Hause war die Freude nicht so groß, als ich vorausgesetzt hatte. Ich wußte ja nicht, von wie schweren geschäftlichen Sorgen mein Vater in dieser Zeit bedrückt wurde. Immerhin präsentierte er mich, als ich ein paar Tage spater die sehr kleidsame württembergische Infanterieuniform mit den zwei Reihen Knöpfen am Waffenrock angelegt hatte, mit sichtbarer Genugtuung seinem Kassierer und den ältesten Angestellten. Zwei Tage vor dem ersten Oktober reiste ich nach Straßburg ab. In der Kaserne fand ich zwei Kameraden vor, die mit mir zusammen ein geräumiges, helles Zimmer in dem großen, eine Viertelstunde von der Stadt auf dem Wege nach Kehl gelegenen Gebäude bezogen. Der eine war ein Hannoveraner, ein aufgeblasener, affektierter Mensch, der sich schon jetzt in dem widerlichen schnarrenden preußischen Offizierston gefiel, während der andere das genaue Gegenteil war: ein Württemberger, ein kleiner, schlechtgewachsener Mensch mit plumpen Manieren und fast bäuerlichem Wesen und Aussehen. Notgedrungen mußten wir ja Kameradschaft halten und viele Stunden gemeinsam verleben. Ein freundschaftliches, auch nur einigermaßen herzliches Verhältnis konnte zwischen uns nicht Platz greifen. Vom ersten Tage an speisten wir im Offizierkasino. Das lag, fast ein halbes Stündchen von der Kaserne entfernt, an dem schönen Broglie-Platz. Hier war außer den gemeinschaftlich benutzten Gesellschaftszimmern und Restaurationsräumen für jedes der in Straßburg garnisonierenden württembergischen, preußischen und sächsischen Regimenter ein besonderer Speisesaal eingeräumt. Nur die gelben Ulanen, ein preußisches Kavallerieregiment, speisten in ihrem eigenen, in ihrer Kaserne untergebrachten Kasino und verhielten sich überhaupt etwas reserviert den anderen weniger feudalen Truppenteilen gegenüber. Angenehm fiel mir gleich in den ersten Wochen auf, daß der Ton im württembergischen Offizierkorps schlichter, gemütlicher, angenehmer war, als er bei den preußischen Kameraden zu sein pflegte. Es speisten hier nur die unverheirateten Leutnants, während die höheren Chargen ihren besonderen Mittagstisch in einem bürgerlichen Restaurant hatten. Das Menü war einfach: Suppe, Gemüse mit Beilage, Braten, Kompott und Nachspeise. Das Gedeck kostete, wenn ich mich recht erinnere, 1.25 Mark, außer dem Getränk. Getrunken wurde nur Wein, und zwar roter und weißer in Karaffen. Der halbe Liter Rotwein kostete 40 Pfennig, der weiße 30 Pfennig. Nur ausnahmsweise leistete sich der eine oder andere der Herren ein Flasche besserer Marke. Den Vorsitz führte in der Mitte des Tisches der Regimentsadjutant, ein älterer Premier, Hardegg mit Namen, der mit einer gewissen Autorität eine freundliche, gewinnende Bonhommie verband und sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Manchmal wurde nach Tisch, wenn der Dienst nicht rief, ein bißchen am Klavier musiziert. Der Ton war ein sehr angenehmer und hielt sich ebenso fern von Steifheit und übertriebenem Zeremoniell wie von Formlosigkeit und Ausgelassenheit.

Die militärische Ausbildung genossen wir Fahnenjunker gemeinsam mit den Einjährigen. Ein Sergeant, Preuße, sehr schneidig, polternd, war unser Exerziermeister, und die Aufsicht führte ein älterer Premier. Ich hatte Glück; dieser Premierleutnant, ein Preuße, war ein alter Bekannter von mir; ich hatte ihn während meiner in Pommern auf dem Rittergut meines Onkels verlebten Ferien kurz nach dem Kriege, den er im 9. pommerschen Infanterieregiment mitgemacht hatte, kennen gelernt. Herr v. Donat begrüßte mich herzlich, und er war mir, solange ich beim Regiment war, wie beim Kneipen ein liebenswürdiger Gesellschafter, so beim Dienst ein sehr wohlwollender, freundlicher und gelegentlich schützender Vorgesetzter. Dazu kam noch der Zufall, daß seine Gattin als junges Mädchen zu meiner Familie Beziehungen gehabt hatte; ihr Vater war der Hausarzt meiner Eltern gewesen. Der Premierleutnant stand, wie ich bald bemerkte, sehr unter dem Pantoffel. Da seine Gattin seine Schwäche für das Kneipen kannte, holte sie ihn häufig nach dem Nachmittagsdienst von der Kaserne ab. Da kam es dann vor, daß er gelegentlich zu mir sagte: »Wenn meine Frau kommt, sagen Sie ihr doch, ich hätte Ihnen versprochen, mit Ihnen eine Partie Billard in der Stadt zu spielen.«

Mein Freund Arthur Zeydel, von dem ich schon erzählte, daß er sich zu den Württembergern in Straßburg hatte versetzen lassen, war auf einem Kommando abwesend, und so entging mir leider der Verkehr mit ihm, auf den ich mich so sehr gefreut hatte. Gesellschaftliches Leben gab es in dem Offizierkorps unseres Regimentes fast gar nicht; wir drei Junker machten zwar pflichtschuldigst unseren Besuch bei den verheirateten Herren, eingeladen aber wurden wir nicht ein einziges Mal. Die Herrschaften – es waren übrigens von allen Offizieren des Regiments nicht mehr als etwa ein halbes Dutzend verheiratet – schienen Gesellschaften überhaupt nicht zu geben. Während des ganzen Winters habe ich nur einmal eine Theateraufführung mit darauffolgendem Ball im Kasino mitgemacht.

Interessant war es mir, den alten General v. Fransecky, den Gouverneur von Straßburg, zu dessen damaligem Armeekorps (dem II. pommerschen) ich während des Feldzuges gehört hatte, während dieser Festlichkeit zu sehen. Der sehr kleine alte Herr war schon recht stakerig auf den Beinen, und ich sah ihn zuweilen in den Straßen der Stadt, wie er sich des Degens, den er in dem schwarzen Lederfutteral aus der Degentasche gezogen hatte, zum Stützen statt eines Stockes bediente.

Wie sah es nun mit dem weiblichen Verkehr aus? Gelegenheit, Bekanntschaften zu machen, bot sich in Straßburg wegen der eigentümlichen Verhältnisse wenig. Zu der Bevölkerung unterhielten die deutschen Offiziere und Beamten keine gesellschaftlichen Beziehungen. Die Elsässer hielten sich von den Deutschen fern, und die Sonderung war so streng durchgefühlt, daß z. B. in den beiden schönen großen Cafés am Broglie-Platz das eine fast ausschließlich von den Elsässern, das andere von den Deutschen besucht wurde. Aber ein liebeglühender Jüngling findet schließlich überall den gewünschten weiblichen Anschluß. Mir bot er sich sehr bald nach meiner Übersiedlung nach Straßburg. Sehr häufig kam während des Mittagstisches ein Blumenmädchen ins Kasino, die Sträußchen in einem Körbchen feilbot. Es war ein auffallend hübsches Mädchen von sechzehn Jahren und reizvoll entwickelten Formen, mit großen rehbraunen Augen, die sie immer schüchtern gesenkt hielt, wenn sie in ihrer bescheidenen, artig zurückhaltenden Weise mit ihren Blumen an einen herantrat. Mademoiselle Caroline erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Freilich zuweilen mußte sie, wie sie mir später klagte, Unziemlichkeiten und dreiste Reden über sich ergehen lassen. Als sie das erstemal unseren Speisesaal betrat, kaufte ich ihr einen Strauß ab. Eine halbe Stunde später, während ich die Treppe hinabging, begegnete ich ihr abermals. Ein rascher Einfall veranlaßte mich, an sie heranzutreten und ihr den von ihr gekauften Strauß mit den Worten zu überreichen: »Gestatten Sie mir, Mademoiselle?« Ich sah, wie ihr die Röte der Überraschung und Freude ins Gesicht schlug, und dann hob sie ihre schönen, von langen schwarzen Wimpern beschatteten Augen zu mir und entgegnete leise: »Ich danke schön, Monsieur.« Und sie steckte die Blumen an ihre Brust. wir begegneten uns oft und ich wechselte stets ein paar freundliche Worte mit ihr. Eines Abends traf ich sie auf der Straße; ich begleitete sie ein Stück und sagte ihr, daß sie schön sei und daß ich sie lieb hätte. Und sie gestand mir zwischen Scham und hervorbrechendem Gefühl in ihrem Elsässer Dialekt, der aus ihrem Munde so lieb klang, daß sie mich längst liebe, von unserer ersten Begegnung an. Ich schob meinen Arm auf ihren; wir suchten einen einsamen Weg auf dem dunklen Glacis auf und herzten und küßten uns inbrünstig. Ich war überrascht über die Glut, mit der das liebliche, noch junge Geschöpf sich an mich schmiegte und meine Küsse erwiderte.

Rasch entwickelte sich ein leidenschaftliches Verhältnis zwischen uns. Caroline war sehr lieb und herzlich; nie hätte ich in dem im Kasino und in den Lokalen, in denen sie sonst mit ihren Blumen hausierte, stets so verschüchtert und zurückhaltend auftretenden Mädchen diese stürmische Leidenschaft vermutet, die sie mir bei unseren Zusammenkünften offenbarte, leider hatte ich kein Zimmer zur Verfügung, doch das konnte weder mich noch meinen nach voller Hingabe dürstenden Schatz abhalten, unser Liebesglück rückhaltlos zu genießen. Ich begleitete sie häufig auf dem Heimweg nach ihrem in der Nähe von Straßburg gelegenen Dorf, unterwegs auf dem Felde breitete ich meinen Mantel aus, und nie in meinem bisherigen Liebesieben war ich so berauscht und glücklich gewesen wie in den Armen der glutvollen Elsässerin. Ein paarmal hatten wir Junker, als wir aus irgendeinem Grunde nicht nach der Stadt gegangen waren, ein in der Nähe der Kaserne am Rhein gelegenes großes Sommerlokal aufgesucht, das jetzt in der kalten Jahreszeit wenig besucht war. Ich war entzückt, hier ganz unvermuteterweise eine der schönsten Frauen zu finden, die ich je in meinem Leben bis auf den heutigen Tag gesehen habe. Es war die junge Wirtin – sie mochte nicht älter sein als ich – eine Frau Rein, deren Schönheit mich geradezu blendete. Ein formvollendetes, feines Gesicht mit wunderbar schönen, dunklen, bitzenden Augen und mittelgroßer wohlproportionierter Figur. Ihr lebhaftes Wesen und ihre süße Stimme berauschten mich vollends. Im Sommer hatten auch unsere Offiziere hier zuweilen vorgesprochen, in der Hauptsache wohl der schönen Wirtin wegen. Als ich eines Tages einem der jüngeren Herren gegenüber meiner Vewunderung Ausdruck gab, entgegnete dieser mit einer Grimasse, als habe er sich auf einen hohlen Zahn gebissen: »Da strengen Sie sich nur nicht an, Junker! Nichts zu machen! Ich habe ihr vergebens die Kur geschnitten. Als ich einmal zärtlich werden wollte und sie um die Taille faßte, wissen Sie, was sie getan hat?«

»Nun?«

»Eine Ohrfeige hat sie mir gegeben, temperamentvoll wie sie ist.«

Ich ließ mir diese Mitteilung jedoch keineswegs zur Warnung dienen. Wer weiß, wie plump und überstürzt es der Leutnant angefangen haben mochte! Und dann natürlich, für jeden war die schöne Frau gewiß nicht zu haben. Den Eindruck machte sie gar nicht. Ich fuhr also fort, die Wirtschaft zu besuchen der schönen Wirtin meine süßesten Augen zu machen, und sie in artiger Weise anzuschwärmen. Nicht ohne Erfolg, wie ich bald bemerkte, denn auch ihre Blicke wurden immer ausdrucksvoller und sie verließ nie das Restaurationszimmer, so oft ich, meist in Begleitung, vorsprach. Herr Rein selbst war selten zugegen, er ging viel auf Jagd und Fischerei. Eines Nachmittags befanden wir drei Junker mit unserem Sergeanten, den wir hier draußen zuweilen mitnahmen, um ihn zu traktieren, uns wieder in der Reinschen Wirtschaft. Diesmal war der Wirt zugegen,er saß mir am Tisch gegenüber, damit beschäftigt, sein Jagdgewehr zu putzen. Ich achtete natürlich nicht auf ihn; es fiel mir aber auf, daß der Sergeant mir ein paarmal, wenn ich ihm zutrank, ernst, wie warnend, zuzwinkerte. Aber ich hatte keine Zeit, mir den Kopf über die Bedeutung seiner Blicke zu zerbrechen, denn ich war ganz in das Anschauen der liebreizenden Wirtin und in den Austausch süßer, verliebter Blicke mit ihr vertieft. Als wir endlich aufgebrochen waren, faßte mich der Sergeant lebhaft am Arm.

»Ich habe Ihretwegen eine Todesangst ausgestanden. Mensch, wie konnten Sie denn so unvorsichtig sein?«

»Wieso denn?« fragte ich erstaunt.

»Na, haben Sie denn nicht bemerkt, daß der eifersüchtige Wirt Sie mit seinen Blicken förmlich durchbohrt hat? Ich dachte immer, wenn der Kerl an seiner Büchse herumfingerte, das Ding würde losgehen und – pardautz, da lägen Sie! Zuweilen bleibt ja aus Versehen solch eine Kugel im Lauf stecken und richtet ein Unglück an.«

Der Sergeant lachte grimmig.

»Alles schon dagewesen! Nehmen Sie sich vor dem in acht! Er ist bekannt wegen seiner Eifersucht und hat schon einmal einen allzu unvorsichtigen Verehrer seiner schönen Frau halbtot geschlagen.«

Ich war viel zu verliebt und viel zu leichtsinnig, um mich an unseres Exerziermeisters Warnung zu kehren. Schon beim nächsten Besuch, den ich allein in der Wirtschaft abstattete, hatte ich das Glück, die geliebte Frau allein zu treffen. Sie erzählte mir lächelnd und mit blitzenden Blicken, die ihre Genugtuung schlecht verhehlten, daß sie meinetwegen von ihrem Mann gescholten worden sei. Ich solle sie doch nicht immer so verliebt ansehen. Da faßte ich ihre Hand und erklärte ihr leidenschaftlich, daß ich nicht anders könne, und sie wehrte mir nicht, als ich schließlich glühend ihre Lippen begehrte.

Vierzehn Tage später besuchte ich sie wieder; diesmal waren ein paar bürgerliche Gäste aus Kehl anwesend. Frau Rein und ich, wir verzehrten uns fast mit unseren Blicken und verwünschten die schwätzenden Leute, die wohl nicht ahnten, wie sehr ungelegen uns ihre Gegenwart war. Endlich brachen sie auf. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, da sanken wir uns stürmisch in die Arme. Vorsichtig zog die Geliebte mich in das benachbarte kleine Privatzimmer, damit wir nicht überrascht werden konnten. Hier durften wir uns unseren brausenden Gefühlen rückhaltloser überlassen. Immer glutvoller wurden unsere Umarmungen; in uns beiden siedete das leidenschaftliche junge Blut.

»Komm!« lallte ich und wollte sie nach der Tür ziehen, die in den Flur und zur Treppe nach dem oberen Stockwerk führte, in der sich die Wohnung des Ehepaares befand.

Mt schwerem Seufzer hielt sie mich zurück.

»Es geht nicht. Er kann jeden Augenblick zurückkommen, und wenn er uns oben fände, er würde – « Ein heftiger Schauder lief durch ihren Körper, und dann preßte sie sich von neuem mit der ganzen Inbrunst, dem ganzen lodernden Feuer ihrer Leidenschaft an mich. Es war furchtbar für uns beide. Alles in uns schrie nach Erlösung von diesen brennenden Qualen, und doch war keine Möglichkeit, dem natürlichen elementaren Drange zu folgen. Wir seufzten und stöhnten und küßten uns, daß uns der Atem verging.

»Können wir uns denn nicht einmal in Straßburg treffen?« stieß ich verzweifelt hervor.

Sie schüttelte mit einem Ausdruck tiefster Bekümmernis ihr schönes Haupt.

»Er ist ja so furchtbar eifersüchtig. Nie darf ich allein ausgehen. Alle meine Schritte überwacht er. Und so gern – gern möchte ich doch mit dir allein –«

Ihr schwellender Körper rankte sich an mich; es war, als ob wir in eins verschmolzen wären; mir vergingen fast die Sinne.

»Ist es denn gar nicht möglich?« bat ich.

Da richtete sie sich plötzlich in meinen Armen auf; ihre flammenden, dunklen Augen sahen mich verheißungsvoll an, und ein tröstendes, glückliches, listiges Lächeln trat auf ihre blutroten Lippen.

»In vierzehn Tagen ist ja Weihnachten. Am ersten Feiertag zur Frühmesse darf ich allein ausgehen. Willst du mich erwarten?«

»Zur Frühmesse? Wann ist denn das?«

»Um halb acht Uhr, Liebster.«

Ich war ein bißchen enttäuscht. So früh des Morgens! Noch dazu im Winter und am Feiertag! So frühzeitig hatte ich noch nie ein Stelldichein gehabt. Würde man denn am grauen, nüchternen Morgen in die rechte Stimmung kommen können?

Sie strahlte und war ganz Glück; liebevoll strich sie mir über das nachdenkliche Gesicht; ihre Blicke hatten etwas Faszinierendes, Berauschendes, so daß alle meine kleinlichen Bedenken schwanden.

»Der liebe Gott wird mir verzeihen,« sagte sie. »Ich habe dich ja so lieb, ich freue mich ja so –!«

Wir fuhren erschrocken zusammen. Eben traten ein paar Personen ins Restaurationszimmer. Sie sprang zum Spiegel, strich ihr Haar zurecht und küßte mich zum Abschied.

»Also am ersten Feiertag, liebster, am Münster!«

Glückstrunken verließ ich leise durch den Flur das Haus.

In den nächsten Tagen suchte ich mir in Straßburg ein Zimmer; ich fand im ersten Stockwerk eines bescheidenen Hauses nahe dem Münster ein passendes Stübchen und sorgte auch für einen kleinen Imbiß und eine Flasche Wein. Meine größte Sorge war, das Rendezvous nicht zu verschlafen, denn von Kindheit an war ich ein Langschläfer, und an jedem Sonn- und Feiertag freute ich mich in erster Linie auf das schöne mollige Hineindämmern in den Vormittag, auf das faule Strecken und Dehnen zwischen den warmen, weichen Kissen.

»Punkt halb sieben Uhr wecken, hören Sie!« schärfte ich meinem Burschen am Weihnachtsabend ein, bevor ich mich zur Weihnachtsfeier begab.

»So früh?« fragte der Musketier erstaunt und nichts weniger als diensteifrig.

»Jawohl, halb sieben!«

In dem Offizierpavillon gegenüber der Mannschaftskaserne hatten einige der jungen Leutnants ihre Zimmer, und außerdem befand sich ein kleines Kasino hier, das allerdings nur aus zwei mäßig großen Räumen bestand. Wenn einer der Herren aus dienstlichen oder anderen Gründen nicht nach der Stadt zur gemeinschaftlichen Mittagstafel gehen wollte, konnte er hier speisen. Die Frau eines älteren Hautboisten, der im Offizierpavillon eine kleine Wohnung hatte, sorgte für die Küche. In diesem Interims-Kasino sollte für die unverheirateten Leutnants die Weihnachtsfeier stattfinden; auch einige Hauptleute, die unverheiratet waren, hatten ihre Beteiligung zugesagt. Die Leutnants hatten die Sache sehr hübsch arrangiert. In dem größeren der beiden Zimmer stand der Christbaum, der mit allerlei numerierten Scherzartikeln behängt war. Als alle versammelt waren, durfte jeder in einen Helm greifen, in dem soviel Lose lagen als Geschenke am Baum hingen. Mir fiel ein Offiziertornister in Gestalt einer Atrappe zu. Die Leutnants beglückwünschten mich herzlich. Ich stand auf besserem, kameradschaftlichem Fuß mit ihnen als meine beiden Kameraden, waren doch die meisten von ihnen nicht älter und manche noch jünger als ich, der ich damals schon mein 23. Lebensjahr erreicht hatte.

Nach der Bescherung wurde gespeist – sehr einfach: Schweinebraten, Kompott und Speise. Dazu billiger Tischwein. Danach trat die Fidelitas ein. Einer der Hauptleute – es war mein späterer Kompaniechef, Hauptmann Rommel, von dem noch die Rede sein wird – spielte Violine und einer der Leutnants begleitete auf dem Klavier. Auch ich ließ mich hören und spielte vierhändig mit einem der Leutnants unter anderem den Flohwalzer, dessen Eigenart darin besteht, daß er von dem einen der beiden Spieler – der andere begleitet nur mit Akkorden – mit zwei Fingern, die rasend schnell über die Tasten hüpfen, (daher der Name) exekutiert wird. Ich erntete bei dem Auditorium, das das Scherzstück noch nicht kannte, viel Beifall.

Und dann kam der Tanz. Noch am Nachmittag hatte mich mein Hauptmann, mit dem poetischen Namen von Schwanenfeld, ganz gehörig angehaucht, jetzt forderte er mich zum Walzer auf und wir schwangen uns friedlich im Dreivierteltakt. Außer seinem Namen hatte er gar nichts Romantisches oder irgendwie Anziehendes an sich; im Gegenteil, er war ein richtiger Kommißhengst, nüchtern, kleinlich und pedantisch, und seine Erscheinung und seine ganze Art hatte nichts Schneidiges, Militärisches, Gewandtes; nicht einmal ein tüchtiger Offizier war er, denn beim Bataillons- und Regimentsexerzieren prudelte er und mußte sich manche Zurechtweisung des Vorgesetzten gefallen lassen. Jetzt freilich in dem allgemeinen Vergnügtsein bemühte auch er sich, den Leutseligen und Scharmanten zu spielen. Bis zum Schluß herrschte die frohste, behaglichste, gemütlichste Stimmung; es war einer der nettesten, reizendsten Abende, die ich als Soldat verlebt habe. Erst nach Mitternacht trennten wir uns. Totmüde sank ich in mein Bett, aber ein Wonneschauer durchlief mich, bevor ich die Augen zum Schlummer schloß. Um acht Uhr würde ich die schönste Frau in den Armen halten!

Als ich erwachte und nach der Uhr sah, war es halb neun. Entsetzt sprang ich auf; um halb acht sollte ich die Geliebte am Münster erwarten! Ich hatte die Zeit verschlafen. Der verdammte Hallunke, mein Putzer, hatte mich nicht geweckt. Als ich mich angekleidet hatte, stürzte ich voll Wut in das Mannschaftszimmer, in dem mein Bursche lag.

»Aber ich habe Sie ja geweckt, pünktlich halb acht!« erwiderte er grinsend auf meine Vorwürfe. »Sie haben auch geantwortet, aber dann haben Sie sich wieder auf die andere Seite gelegt. Sie hatten wohl noch nicht ausgeschlafen.«

Jetzt erinnerte ich mich dunkel. Ja, ich war im süßesten Traum befangen gewesen, der mir das in Aussicht stehende Liebesglück trügerisch vorgegaukelt, und als mich die Stimme des Burschen von der Tür aus angerufen hatte, war ich ärgerlich aufgefahren, hatte aber rasch wieder die Augen geschlossen, um weiter zu träumen. Und nun sollte ich des narrenden Traumes wegen des beseligenden, unerhört schönen, wirklichen Glückes verlustig gehen?

Nein, nein, nein! Das Entsetzen packte mich. Was sollte die vielbegehrte schöne Frau denken! Nie wieder gut zu machen wäre die Versäumnis! Ich stürmte nach der Stadt. Aber so sehr ich auch eilte, es war viertelzehn Uhr, als ich vor dem Münster anlangte. Vergebens ließ ich meine sehnsüchtigen Augen umherschweifen. Die anmutige, liebreizende Gestalt, die ich suchte, war nicht zu erspähen. Die Messe war schon vorüber. Ich umkreiste den Münster, sah in den Nachbarstraßen nach. Nichts! Sicherlich war die so bitter Enttäuschte, die sich wohl ebenso sehr, wenn nicht noch mehr, auf das Rendezvous gefreut hatte, als ich, bis ins Innerste gekränkt nach Hause zurückgekehrt in die Arme des Gatten, den sie nicht liebte, den sie nur geheiratet, weil es die Familie gewollt hatte, da er eine gute Partie für sie gewesen. Nun war sie gewiß und mit Recht aufs äußerste gekränkt, beleidigt, erzürnt.

Die Tränen kamen mir vor Schmerz und Ärger über mich selbst in die Augen. Ein netter Liebhaber, der das Stelldichein mit einer so bildschönen, so lieblichen, so leidenschaftlich verliebten jungen Frau verschlief! Nie würde sie mir das verzeihen und nie würde ich es verschmerzen. Und in der Tat, oft habe ich mich zornig auf die Stirne geschlagen: »Wie konntest du! Wie konntest du!«

Ich schämte mich so sehr vor der Geliebten, und meine Nachlässigkeit erschien mir so unentschuldbar, daß ich nicht gewagt habe, mich ihr je wieder zu zeigen. Ich habe sie nie wiedergesehen, die schönste Frau, deren Liebe mir je zuteil geworden und deren Leidenschaft mich, hätte ich mich ihrer nicht so unwert erwiesen, gewiß in den siebenten Himmel erhoben hätte.

 

Ich war, obgleich ich schon den Feldzug mitgemacht, fast ein Jahr Soldat gewesen und die Gefreitenknöpfe trug, zugleich mit den übrigen im Oktober eingetretenen Junkern und Einjährig-Freiwilligen wie ein Rekrut noch einmal in den Anfangsgründen des militärischen Exerzitiums ausgebildet worden. Anfang Dezember wurden wir in die Kompanie eingestellt und Ende Januar erhielten wir drei Fahnenjunker die Unteroffiziertressen. Anfang März bezogen wir die Kriegsschule in Potsdam, und wurden nach Verlauf von wenigen Wochen zu Fähnrichen befördert. Die Kriegsschule befand sich damals in einer alten Kaserne; es war eine miserable Unterkunft und besonders im Sommer höchst unbehaglich. Die Zimmer waren niedrig und verhältmäßig klein; sie lagen im zweiten Stockwerk, direkt unter den Bodenräumen. Im Erdgeschoß befand sich das Kasino, das aus einem Speisesaal, einem Billardzimmer, sonstigen Restaurationsräumen und einem saalartigen Raum – es war eigentlich nur ein großes dreifenstriges Zimmer – bestand. Es waren etwa 60 Fähnriche der verschiedenen Truppengattungen vorhanden. Die Mahlzeiten, zu denen nur Bier gestattet war, nahmen wir unter dem Präsidium des diensttuenden Leutnants gemeinsam ein. Des Vormittags fand theoretischer Unterricht in Waffenlehre, Fortifikation, Terrainlehre und Taktik statt, und zwar waren die Fähnriche hierbei, je nach ihrer Vorbildung – wir hatten eine ganze Anzahl Abiturienten und sogar einige ehemalige Studenten unter uns – in vier verschiedene Klassen geteilt. Am Nachmittag war Turnen, Fechten, Exerzieren und zweimal in der Woche Reitunterricht. Die Hausordnung war streng. Zum Ausgehen war uns nur die Zeit zwischen 5 und ½8 Uhr freigegeben. Um ½8 Uhr war Appell, dann Abendessen, um 8 Uhr mußten alle Fähnriche in ihren Zimmern sein und bis 10 Uhr arbeiten. Dann war die Schlafenszeit gekommen, während der Abendstunden ging der diensttuende Leutnant durch alle Zimmer. Das Rauchen war während der Arbeitsstunden erlaubt, nicht aber das Trinken. Je vier Fähnriche bewohnten zwei Zimmer, ein Arbeits- und ein Schlafzimmer, und hatten eine Ordonnanz zur Bedienung.

Es war fast wie im Gefängnis, und das gefiel mir natürlich in meinem Alter sehr wenig, um so weniger, als meine drei Stubenkameraden meinem Geschmack und meinen Neigungen wenig entsprachen. Es war auch Vorschrift und den Eltern mitgeteilt worden, daß die Kriegsschüler nicht über 100 Mark monatliche Zulage haben durften; das bedeutete für mich eine Verminderung von 50 Mark, abgesehen von den gelegentlichen Extrazuwendungen, besonders von seiten meiner Mutter, die auch während meiner Kriegsschulzeit hier und da heimlich aushalf.

Als ich mich in Potsdam einigermaßen mit den unerfreulichen und drückenden Verhältnissen abgefunden hatte, begann ich mich nach einem zerstreuenden Flirt umzusehen. Auf der anderen Seite der Straße hatte ich bald zwei Visavis ausfindig gemacht, die sich meinen werbenden Blicken nicht verschlossen. Da war rechts im ersten Stockwerk eine junge Dame von einigen zwanzig Jahren. In ihrem Äußeren hatte sie nichts Anziehendes, und als ich hörte, daß es ein Fräulein von Köster sei, die Schwester eines Offiziers, wandte ich meine Aufmerksamkeit der anderen zu, links von der Kriegsschule. Das war eine Blondine, die viel munterer, lebhafter und herausfordernder war. Ich machte sehr rasch ihre Bekanntschaft. Es war die Tochter einer Witwe, die zu Hause für fremde Leute schneiderte. Bei Gelegenheit einer Festlichkeit befand ich mich in recht animiertem Zustand und fand den Mut, sie um ihre Gunst zu bitten. Zur Feier des Geburtstags unseres Kontingentherrn, des Königs von Württemberg, war der Inspekteur der Kriegsschule, Generalleutnant Hartmann, nach Potsdam gekommen. Der Unterricht fiel aus; es fand Tafel mit besserem Menü und mit Wein statt. Eine der Bataillonskapellen des 1. Garderegiments konzertierte, und nach Aufhebung der Tafel begann ein Ball unter den Fähnrichen. Die alte Exzellenz ließ sich nicht nehmen, den Ball zu eröffnen. Da ich von dem halben Dutzend württembergischer Fähnriche der älteste war und überdies der einzige unter den Kriegsschülern, der den Feldzug mitgemacht hatte, so wurde mir die Ehre zuteil, von dem General engagiert zu werden. Der korpulente alte Herr, der wohl sechzig Jahre zahlen mochte, sprang wie ein Ziegenbock, und ich hatte not, mit ihm den Takt einzuhalten. Nach der Festivität hatten wir freien Abend, und so benützte ich die Gelegenheit mit meiner Poussade, mit der ich bis dahin nur erst gelegentlich ein bißchen spazieren gegangen war, das Ziel zu erreichen, wonach meine Sinne verlangten. Die Schneiderin widerstrebte nicht, und als ich sie fragte, ob sie nicht ein Hotel oder sonst einen Ort wüßte, wo ein liebendes Pärchen ungestört ein bißchen kosen könnte, deutete sie auf eine eben auf der Straße heranrasselnde Droschke. Ich stutzte zwar im ersten Moment, denn ich wußte damals noch nicht, daß in Potsdam solche »Porzellanfuhren«, wie man sie bezeichnenderweise nannte, bei Liebespärchen vielfach Brauch waren, aber schnell entschlossen und geistesgegenwärtig, wie ich allmählich in Liebesaffären geworden war, rief ich den Kutscher an, der verständnisvoll, schmunzelnd nickte, als ich ihm bedeutete, ein bißchen hinaus ins Freie zu fahren.

In den folgenden Wochen und Monaten habe ich noch verschiedene Male zu einer Droschke meine Zuflucht genommen, um Liebe zu geben und zu empfangen.

Je länger ich in Potsdam weilte, desto mehr erkannte ich, einen wie großen Einfluß eine stark belegte Garnison auf die sittlichen Zustände einer Bevölkerung ausübt. Es war erstaunlich, wie wenig widerstandsfähig der weibliche Teil der Einwohnerschaft dem zweierlei Tuch gegenüber war. Zur Entschuldigung der verliebten Potsdamerinnen mag dienen, daß in ihrer Vaterstadt die flottesten, vornehmsten und reichsten Offizierkorps der ganzen preußischen Armee garnisonierten, und selbst unter den zahlreichen Dreijährig-Freiwilligen der feudalen Gardekavallerieregimenter befanden sich viele forsche Jungens aus wohlhabenden Familien. Kein Wunder, daß es in allen Schichten der Potsdamer Weiblichkeit viele empfängliche Vertreterinnen gab, die dem kühnen, heißen Liebeswerben der Don Juans in schmucker Uniform nicht zu widerstehen vermochten.

So erinnere ich mich eines hübschen Abenteuers, das ich in einem unweit Potsdams gelegenen Ausflugort eines Sonntags erlebte. Ein Kamerad und ich, wir hatten uns an zwei ganz reizende blutjunge Mädchen aus Potsdam herangemacht, und nachdem wir ein Stündchen wacker das Tanzbein geschwungen, hatte jeder von uns sein Liebchen nach einer der vor dem Lokal stehenden Droschken geleitet. Die Krabben wußten offenbar ganz gut, was wir im Schilde führten, denn sie folgten willig, und ihr Verhalten unterwegs bewies überzeugend, daß es nicht die erste Fahrt war, die sie in ähnlicher Weise zurückgelegt hatten. Und das waren durchaus keine öffentlichen Dirnen, solche habe ich überhaupt in Potsdam nie bemerkt, sondern die Töchter ehrsamer, gutsituierter Handwerkmeisterfamilien.

Im August unternahmen die Kriegsschüler zuweilen Exkursionen. Es wurde im Terrain geritten, ferner wurden trigonometrische Aufnahmen gemacht, und den Artilleriewerkstätten sowie der Schießschule in Spandau Besuche abgestattet. Auf der Rückfahrt von einem solchen Ausfluge, die wir auf dem Dampfer zurücklegten, hatte ich mit einem der Mitschüler einen Streit. Der Betreffende war ein unsympathischer Mensch, und obgleich er schon zwei Semester Jura studiert hatte, ein taktloser und geistig wenig hochstehender Bursche. Dazu kam, daß er am Nachmittag während einer Rast in einem Restaurationsgarten zuviel getrunken hatte und in diesem Zustand händelsüchtig war. Er rempelte mich an, und da ich ihn zurechtwies, schleuderte er mir mit Bezug auf den Beruf meines Vaters das Wort »Kaufmannsjunge« ins Gesicht, worauf ich ihm, ohne mich zu erregen, einen »dummen Jungen« aufbrummte. Damit war die Angelegenheit vorläufig erledigt. Sie hatte aber ein Nachspiel, denn sie wurde dem Ehrengericht der Kriegsschule unterbreitet, und dieses erkannte, daß der Beleidigte, mein Gegner, mich zu fordern habe. Zwischen den Fähnrichen auf Kriegsschule wurden solche Ehrenhändel ausschließlich mit scharf geschliffenen Rappieren zum Austrag gebracht, ähnlich den studentischen Mensuren. Ich glühte vor Kampflust und zorniger Erregung gegen den albernen, aufgeblasenen Ziegel, der geglaubt hatte, sich etwas darauf zugute tun zu dürfen, daß sein Vater Landgerichtsdirektor war, und hätte ihm gern einen tüchtigen Denkzettel verabfolgt. In meiner Aufregung und heißen Begier, meinem Gegner ordentlich eins auszuwischen, achtete ich wenig auf Deckung und war sehr überrascht, als schon nach wenigen Minuten die Sekundanten, zwei Fähnriche, mit ihren Rappieren den Zweikampf unterbrachen.

Meines Gegners Waffe hate mich getroffen, ohne daß ich die geringste Schmerzempfindung verspürt hätte. Erst als man mir das Brustpolster abschnürte, sah ich die Bescherung. Die ganze linke Brustseite meines Oberhemdes war blutgetränkt. Mein Gegner hatte mir eine kräftige Quart auf die linke Wange gezeichnet.

Der aufsichtführende Offizier ließ mir ein Glas Wasser reichen, von dem ich einen Schluck nehmen mußte, obgleich ich keinerlei Unbehagen fühlte. Später erzählte mir einer meiner Sekundanten, daß ich totenbleich gewesen sei. Es war der Zorn, der Ärger und die Kampfbegier in mir, die noch keineswegs gekühlt war. Während der Arzt die letzte Nadel anlegte, sagte ich zu dem Leutnant:

»Ich bitte weiter schlagen zu dürfen.«

»Darüber hat der Herr Doktor zu bestimmen,« lautete die Antwort.

Ich bemerkte wohl, wie der Offizier dem Assistenzarzt mit den Augen einen abwehrenden Wink gab, und so lehnte der Arzt ab.

Das Schnurrige war, daß wir beide, mein Gegner und ich, drei Tage Kriegsschularrest erhielten wegen Duellierens, obgleich wir doch zum Duell befohlen worden waren. Hätten wir es verweigert – was uns natürlich nicht eingefallen war – so wären wir selbstverständlich entlassen worden als unwürdig, dem Offizierstand dermaleinst anzugehören. Ja, so logisch und konsequent war der Militarismus!

Nun, aus der Strafe machte ich mir blutwenig. Kriegsschularrest war die mildere Form des gelinden Arrestes – mittlerer und gar strenger Arrest konnte gegen einen Portepeeunteroffizier überhaupt nicht verfügt werden – die härtere Form war der Garnisonarrest. Jener fand innerhalb der Kriegsschule in einem gewöhnlichen Zimmer statt, die Speisen wurden aus dem Kasino gebracht und man hatte die Vergünstigung, den Unterricht besuchen zu dürfen. Die einzige Strafe war also, daß man nach den Unterrichtsstunden in das Arrestzimmer eingeschlossen wurde.

Sobald meine Wunde einigermaßen vernarbt war, nahm ich einen Sonntag über Urlaub, um mich meinen Eltern mit dem »Schmiß«, auf den ich sehr stolz war, zu präsentieren. Bei dieser Gelegenheit erblickte ich von dem nach dem Hof gelegenen Zimmer meiner jüngeren Brüder die schöne Jüdin vom obern Stock, in die ich mich vor Jahresfrist verliebt hatte. Ihre schönen Augen, die mich in meiner schmucken Uniform voll Interesse und Wohlgefallen betrachteten, fachten die Liebesglut hell in mir an, und impulsiv und keck, wie ich damals war, machte ich mit meinem Kopf eine nach dem Flur deutende Bewegung. Sie verstand mich und nickte. Stürmisch eilte ich hinaus und die Hintertreppe hinauf. Sie stand schon erwartungsvoll an der Tür. Stürmisch ergriff ich ihre beiden Hände, und eine leidenschaftliche Liebeserklärung drang mir aus dem Herzen über die Lippen, was ich ihr alles sagte, weiß ich natürlich nicht mehr, ich erinnere mich nur noch, daß ich sie bat, auf mich zu warten, bis ich als Offizier sie würde heimführen können. Und mit dieser Erklärung war es mir wirklich ernst; ich ahnte ja noch nicht, daß schon die Ereignisse der nächsten Zukunft meine Lebensschicksale in eine ganz andere Richtung drängen würden. Sie erzitterte wie eine junge Tanne, über die der Sturm dahinbraust, und sie wehrte mir nicht, als ich sie in meine Arme zog. Ein Geräusch scheuchte uns auseinander. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Daß nicht nur Handwerkmeistertöchter und Schneiderinnen, sondern auch Damen der Aristokratie sich in galante Abenteuer mit den Kriegsschülern einließen, davon erhielten wir bald darauf den Beweis. Leider war ich diesmal nicht der Glückliche, der sich eines so stolzen Sieges erfreuen durfte. Das war vielmehr einer meiner Stubenkameraden, und zwar gerade derjenige, der am wenigsten eines solchen Vorzugs wert erschien. Fähnrich Jüttner von einem schlesischen Infanterieregiment war für uns drei Stubenkameraden eigentlich eine komische Figur. Er war ziemlich klein und auch sonst eine wenig militärische Erscheinung. Seine Füße waren so stark einwärts gebogen, daß sich die Zehen fast berührten; dazu hatte er eine schlappe, knickbeinige Haltung, durch Intelligenz und Vorbildung zeichnete er sich ebensowenig aus; deshalb war er auch dem untersten Coetus der Kriegsschule zugeteilt. Im übrigen aber war er ein guter, lieber Kerl und ein allzeit gefälliger Kamerad. Ich habe schon erzählt, daß rechts von der Kriegsschule in einem gegenüberliegenden Hause sich zuweilen der Kopf einer jungen Dame zeigte, von der wir in Erfahrung gebracht hatten, daß sie ein Fräulein v. Köster war, die Schwester eines Offiziers, der irgendwo in der Provinz in einem Linienregiment stand. Eines Tages erschien drüben im Fenster noch ein zweites Mädchengesicht, das uns viel interessanter und lieblicher dünkte, sicherlich war die uns unbekannte junge Dame hübscher und lebhafter; ihre dunklen Augen blitzten kokett, als wir hinüberschauten, und mit freundlichem Lächeln belohnte sie unsere pantomimischen Huldigungen.

Ein paar Tage später promenierte ich mit Jüttner im Park von Sanssouci. Wen erblickten wir da plötzlich bei einer Biegung des Weges? Fräulein v. Köster und ihre Freundin. Natürlich war ich hocherfreut.

»Die führt uns ein gütiges Geschick in den Weg,« sagte ich zu dem Kameraden. »Die Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen, kommen Sie, Jüttner! Sie unterhalten die Blonde, ich die kecke Brünette! Los!«

Aber Freund Jüttners Schüchternheit trug Bedenken.

»Sie werden uns abblitzen lassen und wir sind die Blamierten.«

»Angsthase! Nur dem Mutigen gehört das Glück,« gab ich zurück und ging hinüber zu den Damen.

Meine Zuversicht erwies sich als berechtigt. Ich stellte mich vor und bat, die Damen begleiten zu dürfen, was mir huldvoll gewährt wurde, wir kamen bald in ein lebhaftes Gespräch. Jüttner marschierte, knickstiebelig wie immer, auf der anderen Seite und blinzelte ab und zu neugierig herüber. Die Brünette, eine Cousine des Fräulein v. Köster, wie sie mir mitteilte, war von außerhalb für einige Wochen zu Besuch. Sie äugte ein paarmal zu dem Einsamen hinüber.

»Warum haben Sie Ihren Kameraden nicht mitgebracht?« fragte sie mich.

»Er fürchtet sich vor Damen,« erwiderte ich, ein wenig spöttisch und geringschätzig.

»So?« Sie blickte lächelnd auf Jüttner. »Bei einem angehenden Offizier eine Seltenheit! Ich finde das interessant.«

»Um so mehr bedauere ich, daß er meiner Aufforderung nicht nachgab, den Damen unsere Begleitung anzutragen. Aber wenn es Sie interessiert, den Schüchternen zu bekehren –«

»Sie sind ein Frechdachs!« unterbrach sie mich, der ich eine nicht ernstgemeinte Wendung nach Jüttners Seite hin gemacht hatte. Angeregt plauderten wir, bis wir am Ausgang des Parkes angelangt waren. Hier mußte ich mich von den Damen verabschieden.

»Wann werde ich das Vergnügen haben, die Damen wieder zu sehen?« fragte ich.

»Wir werden Ihnen vom Fenster ein Zeichen geben,« beschied die Brünette nach kurzem Besinnen.

Aber ich wartete vergebens. Weder das blonde Fräulein von Köster noch die Brünette zeigte sich, so sehr ich auch sehnsüchtig hinüberspähte. Anderthalb Wochen waren vergangen. Eines Abends während der Arbeitsstunde unterhielten wir uns von den beiden jungen Damen.

»Die Brünette scheint doch prüder, als ich vermutete,« meinte ich bedauernd.

»Oho!«

Zu meinem grenzenlosen Erstaunen erblickte ich in Jüttners Schafsgesicht eine prahlerische, sehr selbstbewußte Miene. Geringschätzig zuckte ich mit den Achseln.

»Na, Sie wären doch der letzte, der sie eroberte,« wies ich ihn spöttisch zurecht.

»Wenn Sie sich nur nicht irren,« gab der Kamerad mit überlegenem Lächeln zurück. »Was gilt die Wette, in vierzehn Tagen ist Fräulein v. Kösters schöne Cousine mein?«

»Sie sind wohl übergeschnappt, Jüttner?«

Auch die beiden Kameraden lachten den anderen Vorwitzigen aus. Der aber wurde immer kecker.

»Sie wollen doch nur kneifen, Zell. Zwei Flaschen Sekt! Wetten Sie?«

Er streckte mir seine flache Rechte entgegen.

Ich schüttelte den Kopf. Jüttner, der noch vor kurzem so kleinlaut gewesen, war mir jetzt ein Rätsel. War er plötzlich größenwahnsinnig geworden?

»Also Sie proponieren die Wette,« fragte ich, »daß innerhalb von zwei Wochen das Fräulein Ihre Geliebte geworden bis zur letzten Konsequenz?«

»Jawohl, bis zur allerletzten! Zwei Pullen Sekt!«

Ich schlug ein. Nun war nur noch die eine Frage zu erledigen: Wie sollte Jüttner, falls ihm sein Vorhaben gelang, den Beweis erbringen? Keiner wußte Rat. Ich entschied schließlich.

»In so 'ner delikaten Sache gibt's nur einen Beweis: Ehrenwort. Eine andere Möglichkeit ist nicht vorhanden.«

In größter Spannung sah ich dem Resultat entgegen, Am zweiten Sonntag darauf – es waren noch keine zwei Wochen seit Abschluß unserer Wette vergangen – nahm Jüttner Urlaub nach Berlin. So lange und so sorgfältig hatte er noch nie Toilette gemacht. Ein fast fingerbreiter Streifen des weißen Hemdkragens guckte ganz unvorschriftsmäßig über den Kragen des Waffenrocks hervor. Der ganze geschniegelte und gestriegelte Mensch roch wie ein Parfümerieladen.

Am Abend kehrte er stolz, triumphierend wie ein Feldherr nach gewonnener Schlacht zurück.

»Also dann besorgen Sie nur immer die zwei Pullen Sekt!« sagte er zu mir. »Ich denke, wir können sie morgen in der Arbeitsstunde heimlich konsumieren.«

Ich war wie vom Donner gerührt. Schnöder Neid stieg in mir auf und ungläubig sah ich den Prahler an.

»Ist ja Unsinn, Jüttner!« lächelte ich zwischen Ärger und widerwilliger Bewunderung.

»Wenn ich Ihnen sage!«

Ich faßte ihn fest ins Auge, auch die anderen beiden Kameraden nahmen ihn scharf aufs Korn.

»Ehrenwort?« fragte ich und hielt ihm meine Hand hin.

»Ehrenwort!« gab er ernst und fest zurück und schlug kräftig ein.

Ich zweifelte nicht mehr, daß er die Wahrheit sprach, und am nächsten Abend labten wir uns, nachdem der Inspektionsoffizier unser Zimmer passiert hatte, an dem von mir verlorenen Sekt. Dabei gab Jüttner die Erklärung. Mein Selbstgefühl und ungeniertes Drauflosgehen hatte der schönen Brünette mißfallen, dagegen hatte das zurückhaltende Benehmen des Kameraden ihr Vertrauen eingeflößt. In ihrem Liebesverlangen – sie war schon früher einer Verführung erlegen – erschien ihr als Partner im Liebesspiel ein junger Fähnrich genehmer als ein Offizier. Und so hatte sie dem braven Jüttner Avancen gemacht und der gute Junge – er war erst neunzehn Jahre alt – war zu einem unvergeßlich schönen Erlebnis gekommen, er wußte nicht wie. Ich aber war darauf aus, mich zu trösten und mich für das entgangene Abenteuer anderweitig zu entschädigen. Dabei wäre mir beinahe ein schweres Unglück passiert.

Eines Tages saß ich mit einem Kameraden in einer Konditorei. Da fiel mir ein interessantes Persönchen etwa in der Mitte der Zwanzig auf. Sie war elegant gekleidet, warf die blitzenden Augen umher, und ihre ganze Erscheinung umgab der undefinierbare Hauch des Pikanten.

»Donnerwetter,« entfuhr es mir unwillkürlich. »Famoses Weib! Wer mag das sein?«

Der Kamerad, der einem Potsdamer Garderegiment angehörte, lächelte.

»Sie heißt Gerda von Hahn und ist eine stadtbekannte Persönlichkeit.«

»Gerda v. Hahn?« Der Name weckte in mir eine Erinnerung. Wo hatte ich ihn doch schon gehört? Richtig, nach einigem Besinnen fiel es mir ein: Meine Freunde und Mitschüler vom Gymnasium in Küstrin, die Brüder Luckner, hatten mir von der Hahn erzählt. Ihr Vater, ehemaliger Offizier, war Polizeirat, welche Tatsache das temperamentvolle Töchterlein jedoch nicht hinderte, ein sehr ungebundenes Leben zu führen.

»Teufel, die möchte ich kennen lernen!« flüsterte ich und sandte einen Glutblick zu der uns Beobachtenden hinüber.

»Das können Sie leicht haben!« versetzte mein Begleiter. »Sie pflegt nicht spröde zu sein, wenigstens nicht, wenn ihr einer gefällt, und nach ihren Blicken zu schließen, scheint sich Ihr Wunsch mit dem ihrigen zu begegnen.«

In der Tat, bald darauf verließ das Objekt meiner Begierde das Lokal, nicht ohne vorher mich mit einem deutlich auffordernden Blick gestreift zu haben. Ich verabschiedete mich von dem Kameraden und folgte ihr. Draußen holte ich die Voranschreitende bald ein, redete sie artig an, und meine Begleitung wurde gern angenommen. Gerda v. Hahn hatte ein außerordentlich lebhaftes, gewandtes Wesen, wir kamen rasch in ein animiertes Gespräch; es war ein pointiertes Geplänkel, und Rede und Gegenrede sprühten wie Fechthiebe hin- und herüber. Schließlich lud ich sie ein, eine Spazierfahrt mit mir zu machen. Sie willigte ein, und an der nächsten Ecke bestiegen wir eines der in Potsdam Liebespärchen stets zur Verfügung stehenden Gefährte. Ich wurde zärtlich, sie war wirklich nicht zurückhaltend, aber als ich stürmisch wurde, meinte sie abwehrend und doch ohne alle Prüderie gewährend: »Nein, nicht hier in der Droschke! Lassen Sie uns nach einem Hotel fahren!«

Zugleich nannte sie mir einen Namen. Ich sagte dem Kutscher Bescheid. Wir fuhren an einem besseren Hause vor. Aber der Portier lehnte auf meine Frage nach einem Zimmer ab. Gerda v. Hahn gab eine andere Adresse, wir fuhren weiter. Aber dieselbe Geschichte. »Bedaure, alles besetzt.« Auch bei einem dritten Hotel ging es uns nicht besser. Ich fluchte über unser Mißgeschick, denn schließlich war viel Zeit vergangen, und als ich nach meiner Uhr sah, gewahrte ich, daß es höchste Eisenbahn war, nach der Kriegsschule zum Abendappell zurückzukehren. Mit großem Bedauern sagte ich meiner neuen Bekannten Lebewohl, natürlich nicht, ohne eine Verabredung mit ihr getroffen zu haben. Als ich ein paar Tage später pünktlich zum vereinbarten Rendezvousplatz kam, wartete ich vergeblich. Sehr ärgerlich mußte ich unverrichteter Sache abziehen. Was war geschehen? Hatte das galante Fräulein inzwischen eine für sie interessantere oder lohnendere Bekanntschaft gemacht? Ich war sehr betrübt, denn ich brannte darauf, mit diesem mich so reizvoll dünkenden pikanten und doch einer vornehmen Familie angehörenden Geschöpf in intime Beziehungen zu treten.

Bald darauf wurde mir eine erschreckende Aufklärung: Einer der Potsdamer Fähnriche brachte die Nachricht in die Kriegsschule: Gerda v. Hahn war von der Sittenpolizei als schwer syphilitisch erkrankt zwangsweise ins städtische Krankenhaus gebracht worden. Da ein Infizierter sie angezeigt hatte, war der Polizei nichts übrig geblieben, als ihre Pflicht zu tun. Übrigens war, wie ich jetzt hörte, das Fräulein schon in ganz Potsdam als feinere Prostituierte berüchtigt, und es wurde nun auch erzählt, daß einer der Fähnriche des dem unseren vorangegangenen Kriegsschulkursus sich bei ihr angesteckt und an der häßlichen Krankheit gestorben war. Mich durchschauerte es heiß und kalt bei diesen Mitteilungen. Da war ich einer großen Gefahr glücklich entgangen. Im stillen dankte ich den Hotelportiers herzlich, daß sie das ihnen wahrscheinlich bekannte Frauenzimmer nicht hatten aufnehmen wollen. So kam ich an schwerster Erkrankung und Siechtum haarscharf vorbei.

Bald darauf traf mich ein Mißgeschick, das mir das militärische Leben und die Lust, Offizier zu weiden, sehr verleidete. Ich erzählte schon, daß es in unseren Zimmern sehr unbehaglich und drückend schwül und besonders in diesen heißen Tagen, am meisten während der Arbeitsstunden beim Gaslicht, fast unerträglich war. Ich war gewöhnt, beim Rauchen auch etwas zu trinken, und da das Wasser in dem irdenen Krug, den die Ordonnanz vor Beginn der Arbeitsstunde ins Zimmer stellte – nach acht Uhr abends durfte der Bursche unsere Räume nicht mehr betreten – schon nach kurzer Frist fast ungenießbar geworden, so hatte ich ein für allemal angeordnet, daß der brave Litschke kurz vor Beginn der Arbeitsstunde ein Glas Eislimonade auf den Tisch stellte. Wochenlang hatte ich mich an diesem Getränk gelabt, ohne daß einer der inspizierenden Offiziere daran Anstoß genommen hätte. Wie hätte er auch, da doch die Bestimmung, daß Getränke während der Arbeitsstunden im Zimmer nicht vorhanden sein dürften, sich sicherlich nur auf Spirituosen beziehen konnte. An einem heißen Augustabend fiel es dem inspizierenden Leutnant ein, uns, auf meine unschuldige Limonade deutend, anzuherrschen: »Wem gehört das da?« Ich meldete mich, worauf mich der Offizier andonnerte: »Wissen 5ie nicht, daß das strengstens verboten ist? Fort mit dem Gesöff!« Sprach's und verschwand, ohne dem Untergebenen, dem militärischen Brauch gemäß, eine Entschuldigung oder Erklärung zu verstatten. Also ich stand auf und trug das noch halbvolle Glas nach der an der Wand stehenden Kommode und glaubte nun alles in bester Ordnung, und die wichtige Angelegenheit erledigt. Aber ich irrte mich. Es geschah nämlich das Außergewöhnliche, daß an demselben Abend, etwa ein halbes Stündchen später, ein zweiter Leutnant auf der Bildfläche erschien. Wir bemerkten wohl, daß er den Tisch scharf in Augenschein nahm. Er war schon an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte und einen Rundblick durch das ganze Zimmer warf. Dabei entdeckte er das ominöse Glas, in dem noch ein guter Rest der rötlichen Limonade schimmerte. Sah's und wie ein Berserker fuhr er auf mich los: »Ist Ihnen nicht befohlen worden, das Getränk zu entfernen? Wie können Sie sich unterstehen, einem vorgesetzten Trotz zu bieten? Ich werde Sie dem Herrn Major melden.«

Verschwand flugs wie sein Vorgänger, ohne mir auch nur zu der geringsten Rechtfertigung Zeit zu lassen, wir sahen uns alle verwundert an. Zu tun war vorläufig nichts; ich mußte der Sache ihren Gang lassen. Der Unterricht verlief am folgenden Vormittag wie gewöhnlich. Zwischen zwölf und ein Uhr fand tägliches Baden in der Schwimmanstalt des ersten Garderegiments statt. Hier stellte sich während dieser Stunde, in der die Anstalt für die Kriegsschüler reserviert war, auch oft der damals etwa achtjährige Prinz Friedrich Leopold, bekanntlich einziger 5ohn des Prinzen Friedrich Karl, ein, und auch dieser selbst kam zuweilen in einem kleinen Ruderboot von seinem Jagdschloß Glienicke herüber, um dem Schwimmunterricht des schwächlichen, mageren, kleinen Kerls zuzuschauen. Auch der damalige Kronprinz, spätere Kaiser Friedrich, erschien häufig von Neu-Babelsberg, um in der Schwimmanstalt zu baden. Meist schwamm er, stets von einigen Unteroffizieren begleitet, in die Havel hinaus. In der Regel plauderte er zuvor mit verschiedenen Fähnrichen, meist in humoristischer Weise. Naiv, wie man damals in diesen Dingen war, glaubte ich, daß solch ein Großer der Erde stets nur ganz Bedeutendes zu sagen habe und war nun sehr erstaunt zu hören, daß er nicht anders sprach wie ein ganz gewöhnlicher Sterblicher, und daß seine Scherze zumeist, gelinde ausgedrückt, sehr wenig geistvoll waren.

Als wir an diesem Mittag mit Baden fertig waren und eben zur Rückkehr antreten wollten, erschien der Kommandeur der Kriegsschule, Major v. d. Schulenburg. Er gehörte, wie ich schon erwähnte, dem Generalstab an und galt bei uns, die wir ihn übrigens wenig zu sehen bekamen, als humaner, wohlwollender und feingebildeter Offizier. Als wir Fähnriche seinerzeit von unsern Regimentern auf der Kriegsschule eingetroffen waren, hatte auch ich mich unter dem halben Dutzend Kriegsschülern befunden, die der Herr Kommandeur am ersten Tage zu sich auf sein Bureau beschied. Das galt als eine Auszeichnung, und er sagte mir damals tatsächlich mancherlei Freundliches. Daß ich sehr gute Zeugnisse mitgebracht hätte von der Examinationskommission sowohl wie vom Regiment und daß er sich freue, in mir einen vielversprechenden Kriegsschüler kennen zu lernen. Alles das hatte der Herr Major wohl vergessen, denn er donnerte mich ohne weiteres im gröbsten Kasernenton an: »Was fällt Ihnen ein? Wie können Sie sich erdreisten, gegen den ausdrücklichen Befehl eines Vorgesetzten zu handeln?«

Da er eine Pause machte, während er mich mit durchbohrenden, zornigen Blicken betrachtete, glaubte ich endlich den Moment gekommen, wo ich das Mißverständnis – als solches sah ich die ganze Angelegenheit an – aufklären konnte.

»Entschuldigen der Herr Oberstwachtmeister (das war damals noch die vorgeschriebene altpreußische Anrede eines Majors) ich habe –«

Weiter kam ich nicht.

»Halten Sie den Mund!« schrie mich der Gewaltige an. »Sie haben nur zu reden, wenn Sie gefragt werden, verstanden? Melden Sie sich nach Tisch sofort bei Ihrem Inspektionsoffizier: Drei Tage Garnisonarrest! Kehrt!«

Mit einer befehlenden Handbewegung entließ er mich; ich machte die befohlene Wendung, so stramm ich vermochte, und ging wie betäubt davon. Nach dem Mittagessen erstattete ich meinem Inspektionsoffizier die Meldung. Es war ein Premierleutnant von den Lübbener Jägern, ein sehr liebenswürdiger, wohlwollender Herr, dem wir alle, die zu seiner Inspektion gehörten, unbedingtes Vertrauen, große Hochachtung entgegenbrachten. Ihm konnte ich nun endlich den Hergang der Angelegenheit mitteilen und ihm die Überzeugung aussprechen, daß ich mich vollkommen schuldlos fühlte. Alle drei Herren, die mich ohne weiteres verdammt hatten, ohne auch nur die geringste Frage betreffs des ominösen Getränkes an mich gerichtet zu haben, waren wahrscheinlich überzeugt, daß es sich um Alkohol handelte. Aber meine drei Stubenkameraden, die Ordonnanz, die mir seit Wochen täglich das Glas Limonade in das Zimmer gebracht hatte sowie der Ökonom, der die Limonade zubereitet, könnten die Wahrheit meiner Angabe bezeugen. Die Bestimmung der Hausordnung, daß sich nach acht Uhr keine Getränke mehr im Zimmer befinden durften, hätte ich sinngemäß doch nur auf Spirituosen bezogen und nicht auf Wasser und Himbeersaft, das ich doch nur zur Löschung des Durstes getrunken hätte. Der Offizier, ein Freiherr von Rechenberg, hörte mich ruhig an und zuckte dann mit den Achseln.

»Ich glaube Ihnen,« erwiderte er, »aber ich kann Ihnen nicht helfen. Sie wissen, daß Sie, der militärischen Disziplin gemäß, sich zunächst der Ihnen zudiktierten Strafe unterwerfen müssen. Erst dann hat der Soldat das Recht, sich zu beschweren, falls er sich unschuldig fühlt. Wenn Sie mir dann Ihre Beschwerde dienstlich vortragen, werde ich sie weitergeben. Bis dahin kann ich nichts tun. Ich bin in keiner Weise befugt, irgendwie einzugreifen. Zu dem Herrn Major zu gehen und ihm privatim die Angelegenheit in Ihrem Sinn vorzutragen, ist ausgeschlossen.«

Ich kannte die militärischen Verhältnisse ja gut genug, um einzusehen, daß der Offizier recht hatte, und daß mir nichts übrig blieb, als meine Strafe abzusitzen. Das Materielle daran war freilich leicht zu ertragen, denn auch in dem Garnisonarrest war das Zimmer für den gelinden Arrest hell und freundlich, ich hatte ein gutes Bett, eine gute Verpflegung und Bücher zum Arbeiten. Die Unterrichtsstunden durfte ich freilich nicht besuchen, aber daran lag mir gar nichts. Ja, es bot sich sogar die Gelegenheit, Bier und Zigarren einzuschmuggeln. Dennoch waren es recht bittere Tage für mich. Das empörende Unrecht brannte mich wie Feuer und der Grund zu glühendem Hasse gegen dieses barbarische, menschenunwürdige System des Militarismus wurde damals in mich gelegt. Zunächst waren es freilich mehr die betreffenden Vorgesetzten, die so unbillig gegen mich gehandelt hatten, gegen die sich mein Unwille kehrte. Erst später bei ruhiger Erwägung erkannte ich, daß hier weniger eine persönliche Schuld vorlag als das Fluchwürdige des Systems, das den Menschen seiner Menschenrechte beraubte und ihn zu einem willen- und gefühllosen Objekt rechtloser Willkür machte. Im bürgerlichen Leben wurde jedem Verbrecher, dem schlimmsten, in weitestem Maße das Recht der Verteidigung gewährt. Kein Angeklagter durfte bestraft werden, bevor er ausgiebig Gelegenheit erhalten hatte, sich zu rechtfertigen. Der Soldat durfte ohne weiteres willkürlich vom Vorgesetzten ins Loch gesteckt werden und erst – o Hohn! – wenn er seine Strafe abgesessen, wurde ihm gnädigst erlaubt, sich zu beschweren und seine Schuldlosigkeit nachzuweisen.

Heute tut es mir ja leid, daß ich mir damals nicht das Vergnügen geleistet habe, mich über den Herrn Major und Kriegsschulkommandeur zu beschweren, der die nach meinem Empfinden ganz und gar ungerechte Arreststrafe über mich verhängt hatte. Es wäre doch interessant gewesen, zu erfahren, ob die höhere Instanz mich für unschuldig erklärt und dem hohen Vorgesetzten meinetwegen einen Verweis erteilt haben würde. Wer vermöchte das wohl zu glauben? Zu jener Zeit aber war ich noch zu sehr von der militärischen Denkweise beeinflußt, als daß ich mich einer solchen Keckheit vermessen hätte. Auch riet mir mein Inspektionsoffizier wohlmeinend davon ab. Zu meiner Resignation mochte auch das Gefühl seelischer Bedrücktheit beitragen, das sich in der letzten Zeit mehr und mehr meiner bemächtigt hatte, aus den Briefen meiner Mutter sprach die wachsende Sorge um die Zukunft, und halbe Andeutungen verrieten mir, daß die geschäftlichen Verhältnisse meines Vaters sich trüber und trüber gestalteten.

»Sieh nur zu, daß du bald Offizier wirst,« hatte mir die Mutter einmal geschrieben, »dann bist du versorgt und wir haben eine Sorge weniger.«

Aber ich wußte, daß ich als junger Leutnant noch keineswegs in sorgenfreier Lage war. Als Leutnant ohne Zulage zu leben, war ein Martyrium, dem ich ganz und gar nicht gewachsen war. Alles das lag lähmend auf mir, und in dieser Stimmung konnte ich kein rechtes Interesse mehr für die Unterrichtsstunden und für meine Arbeiten aufbringen. Die ehrverletzende Behandlung durch den Major hatte gerade noch gefehlt, um mich vollends gleichgültig gegen meine Pflichten als Kriegsschüler zu machen. So kam das zweite Tentamen heran, das Ende August stattfand, das letzte vor der Offizierprüfung. Und während ich das erste Ende Mai gut bestanden, erhielt ich diesmal die Note nicht genügend und meine Entlassung zum Regiment wurde verfügt. Zu diesem Resultat mochte wohl die Tatsache meiner Bestrafung wegen Ungehorsams beigetragen haben. Ich war nichts weniger als betrübt. Die kurze Zeit, die ich noch als Soldat verleben konnte, würde beim Regiment bei weitem angenehmer verstreichen, als hier im Kriegsschulgefängnis. Und so trat ich ganz wohlgemut die Rückreise nach meiner Garnison Straßburg an.


 

Ich saß im Eisenbahnzug; es war in der Gegend von Frankfurt a. M., als während der rasenden Fahrt des Schnellzugs die Rupeetür sich öffnete und der Schaffner, wie es damals noch unvernünftiger Brauch war, zum Knipsen der Fahrkarten hereintrat. Ich stutzte. »Den Mann kennst du doch!« fuhr es mir durch den Kopf, und im nächsten Moment rief ich erfreut: »Thielke!« Er war es, mein alter Kriegskamerad, der Sergeant, der in der Schlacht bei Champigny als mein Rottenführer schwer verwundet worden war. Die Freude des alten Haudegens war groß.

»Ich habe noch in ein paar Wagen abzufertigen,« sagte er. »Dann komme ich zurück und wir plaudern ein bißchen.«

Damit kletterte er wieder hinaus und nahm den gefährlichen Gang auf dem schwanken Trittbrett am wild dahinstürmenden Zug wieder auf. Nach einem Viertelstündchen kam er zurück, setzte sich zu mir – wir waren allein im Kupee – und wir schwelgten in den Erinnerungen an die gemeinsam verlebten Kriegsabenteuer.

»Sie sehen gar nicht gut aus, lieber Thielke,« konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken. Er war mager geworden, hatte eine gelblich krankhafte Gesichtsfarbe und seine Augen blickten nicht mehr so frisch und wohlgemut wie einst.

Er seufzte.

»Seit meiner Verwundung bin ich nie wieder so recht gesund gewesen. Zwei Rippen hat mir die französische Granate zerschlagen. Bei feuchtem Wetter habe ich ganz verdammte Schmerzen.«

»Und da hat man Ihnen keinen zuträglicheren Posten geben können?« erwiderte ich. »Dem Wind und Wetter ausgesetzt und Tag für Tag auf dem schmalen Trittbrett herumbalancieren!«

Er zuckte müde und resigniert mit den Schultern.

»Es gibt wohl so viele von uns zu versorgen. Schließlich muß man froh sein, seine bescheidene Existenz zu haben.«

Bis zur nächsten Station blieb er bei mir, dann trennten wir uns mit herzlichem Händedruck. Ich bin überzeugt, der arme Teufel, der der Politik von Blut und Eisen seine Gesundheit geopfert, hat nicht mehr allzulange seinen halsbrecherischen Beruf auszuüben brauchen.

Als ich mich in Straßburg bei dem neuen Regimentskommandeur meldete – Oberstleutnant v. Wölkern hatte inzwischen ein Grenadierregiment in Württemberg erhalten – hörte ich keine freundlichen Worte. Aber das verdroß mich wenig. Beim Militär mußte man eine dicke Haut haben, und wenn es nicht wie in der Kriegsschule allzu happig kam, schüttelte man es ab wie der Pudel die Flöhe. Premierleutnant v. Donat, der schon die Hälfte der Dreißig erreicht hatte, konnte mir als Muster dienen. Ich stand nun mit ihm in derselben Kompagnie bei Hauptmann Rommel, der als schärfster Kompaniechef im ganzen Regiment bekannt war, und hatte zuweilen Gelegenheit zu hören, wie der Hauptmann ihn ganz gehörig herunterputzte. Der Premierleutnant aber verzog keine Miene und sein »Zu Befehl, Herr Hauptmann,« klang so laut und hell, als habe ihm der Vorgesetzte statt einer Grobheit das schönste Kompliment gesagt. Ich konnte übrigens über den Hauptmann nicht klagen; er war streng, aber nicht ungerecht, und im übrigen, im Gegensatz zu meinem früheren Kompaniegewaltigen, einem rechten Kommißhengst, keineswegs pedantisch, sondern chevaleresk, und er bezeugte mir ein gewisses Wohlwollen. Mit den Leutnants hatte ich immer vortrefflich gestanden, und sie waren auch jetzt trotz meinem Mißgeschick liebenswürdig und kameradschaftlich zu mir. Es waren recht scharmante Leute darunter. Mehrere von ihnen hatten als Reserveoffiziere den Feldzug mitgemacht und waren nach Friedensschluß ins aktive Verhältnis übergetreten. Da war einer, der aus dem Künstlerberuf kam und in seinen Mußestunden noch immer Stift und Pinsel führte; ein anderer war Studiosus juris und ein dritter Kaufmann gewesen. Ich erinnere mich, daß sie mich einmal nach einer gemütlichen Kneiperei, obwohl wir alle in Uniform waren, mit nach einem Bordell nahmen, das ganz in französischem Stil eingerichtet war. Wir scherzten und amüsierten uns mit den Mädeln in dem großen Empfangszimmer, tranken ein paar Flaschen Sekt und zogen wieder gemeinsam ab. Besonders angenehm aber war es für mich, daß mein Freund Arthur Zeydel wieder zum Regiment zurückgekehrt war. Wir waren fast jeden Kbend zusammen, und auf das freundschaftlichste bot er mir, der ich in der Kaserne mein Zimmer hatte, seine kleine Wohnung – er bewohnte zwei Zimmer in der Stadt – zur gelegentlichen Benutzung an. Es dauerte gar nicht lange, als ich Gelegenheit erhielt, von seinem freundlichen Anerbieten Gebrauch zu machen. Des Nachmittags, wenn ich das Kasino verließ, begegnete ich auf dem Broglie-Platz öfters einem gutgekleideten, auffallend hübschen jungen Mädchen, das ein kleines Kind von etwa vier Jahren begleitete, wir hatten uns schon verschiedene Male tief in die Augen geschaut, und einmal gelang es mir, sie mit meinen Blicken nach einer weniger lebhaften Gegend zu dirigieren, wo ich mit ihr Bekanntschaft machen konnte. Sie erzählte mir, daß sie in der Familie eines Majors Kinderfräulein und die Tochter eines Eisenbahnassistenten in einer andern elsässischen Stadt sei. Wir verabredeten uns, und eine innige, leidenschaftliche Liebe entstand daraus. Sie war erst achtzehn Jahre alt, sehr verliebt, und bereitwillig ging sie darauf ein, als ich sie eines Tages bat, mich zu einem Stelldichein im Zimmer meines Freundes zu besuchen. Sie brannte mindestens ebensosehr danach, sich einmal ungestört mit mir küssen und herzen zu dürfen. Das gelegentliche verstohlene Küssen auf unseren Spaziergängen hatten bei ihr offenbar wie bei mir das heiße Verlangen noch mehr entzündet. Zeydel verschwand für ein paar Stunden und ich war Herr in seiner Wohnung. Aus ihrem ganzen Wesen, ihrem ganzen Verhalten und Mitteilungen – sie war erst wenige Monate in Stellung und zum erstenmal von Hause fort – konnte ich klar erkennen, daß sie die volle Liebe des Mannes noch nicht genossen hatte. Aber ihre Sinne schienen unter meinen Küssen zu erwachen, ihre Leidenschaft steigerte sich ersichtlich an der meinen, und willig folgte sie meiner Bitte, es sich bequem zu machen und Kleid und Korsett abzulegen. Aber, ach, als ich uns nun einriegeln wollte, fand ich, daß kein Riegel an der Tür vorhanden war. Den Schlüssel hate mein Freund wohl vergessen mir zu geben. Dazu hörten wir, wie die Wirtin, von der Zeydel seine zwei Zimmer gemietet hatte, in dem gemeinschaftlichen Korridor hin- und hertrippelte. Es hatte ganz den Anschein, als ob sie gemerkt hatte, welchem Zweck ihre Wohnung dienen sollte. Offenbar hatte sie wahrgenommen, daß ein weibliches Wesen zu Besuch gekommen, und daß ihr Mieter verschwunden war, um mir und meiner Schönen das Feld zu überlassen. Wir mußten damit rechnen, daß die anscheinend sittlich Empörte in das Schlafzimmer drang, in das wir uns in unserer Liebesglut zurückgezogen hatten, und uns hier überraschte. Natürlich war es unmöglich, mit dieser Befürchtung in der Brust, hemmungslos den Wallungen unseres Mutes nachzugeben. Es blieb uns nicht übrig, als in das Wohnzimmer des Freundes zurückzukehren und uns hier fein artig mit einem bißchen Plaudern und Kosen zu begnügen.

In der Tat teilte mir Zeydel am nächsten Tage mit, daß seine Wirtin sehr energisch mit ihm gesprochen und ihm gedroht hatte, ihn ohne Kündigung vor die Tür zu setzen, wenn er seine Zimmer noch einmal einem fremden Liebespaar überließe. Unter diesen Umständen war natürlich an einen erneuten Versuch, durch die Güte des Freundes mir bei ihm ein Schäferstündchen zu verschaffen, nicht zu denken. Selbst ein Zimmer zu mieten, mußte ich mir wegen allzu großer Ebbe in meiner Kasse versagen. Aber mein lieber süßer Schatz legte zu meiner freudigen Überraschung einen großen Eifer an den Tag, uns doch noch zu dem ersehnten Liebesglück zu verhelfen. Wer hätte der zarten achtzehnjährigen Blondine diese Leidenschaft zugetraut! Sie erzählte mir, daß sie zuweilen eine alleinstehende alte Tante besuche, die bei ihrem sehr vorgerückten Ater schon etwas stumpf und willenschwach sei. Der werde sie etwas vorflunkern von einem geheimen Verlöbnis und daß sie mit ihrem »Bräutigam« wichtiges über die gemeinsame Zukunft zu besprechen habe. Die alte Frau, die überdies sehr schwerhörig sei, würde uns sicherlich ihre Stube überlassen und uns nicht stören. Also richtig, eines Nachmittags stellte ich mich in der kleinen Wohnung ein, die nur aus Küche, Schlafkammer und einem Zimmer bestand. Ich wurde der Tante vorgestellt, wechselte mit Mühe ein paar Worte mit ihr, dann verließ uns die ahnungslose Alte, um sich in ihre Küche zurückzuziehen. Wir waren allein und saßen auf dem Sofa, nachdem wir den Riegel für alle Fälle vorgeschoben hatten. Wir herzten und küßten uns und die Flammen loderten hoch in uns. Und doch konnten wir nicht in den Himmel, den wir doch mit allen Sinnen ersehnten. Es war qualvoll. Mit einem Ohr immer nach der Tür lauschend, mühten wir uns vergeblich. Wäre mein Schatz nicht mehr so unerfahren, so unberührt gewesen, so hätten wir zweifellos unser Ziel erreicht. So aber gingen wir auseinander, erhitzt, erregt, bitter enttäuscht. Es sollte nicht sein!

Ungefähr dreiviertel Jahr später, als ich längst wieder in Berlin war, schrieb mir mein Freund Artur Zeydel: »Denk' dir, dein früherer Schatz, das schöne Kinderfräulein, ist Knall und Fall aus ihrer Stellung entlassen worden. Wie ich hörte, hat sie Verkehr mit einem Einjährig-Freiwilligen gehabt und diese Beziehungen sind nicht ohne Folgen geblieben.«

Bald nach diesen mißglückten Liebesunternehmungen, die einer gewissen Tragikomik nicht entbehrten, ging unser Regiment ins Manöver, was hätte eine ganz angenehme Abwechslung sein können, wenn nicht die scheußlichen Strapazen gewesen wären. Besonders in der letzten Zeit, als sich Regen eingestellt hatte, sank man bis in die Knöchel in den Morast und war schon nach kurzer Zeit totmüde. Am letzten Tage klärte sich der Himmel auf und wir machten Biwak. In der Nähe hatte sich ein Marketender eingestellt und wir erhielten prächtiges Münchener Bier. Zuvor war für das Offizierkorps ein köstlicher Punsch gebraut worden, dazu hatte der Hauptmann für ein leckeres Abendbrot gesorgt und wir ließen es uns in der Nähe des Biwakfeuers gut sein. Für die Offiziere jeder Kompanie war eine Strohhütte gebaut worden. In unserer Kompanie waren wir nur drei: der Hauptmann, Premierleutnant v. Donat und ich. Den dritten Zug führte ein Kompaniefeldwebel, der bei den Unteroffizieren kampierte. Ich grinste im stillen, als mich Hauptmann Rommel, nachdem er in die niedrige Bude gekrochen war, aufforderte ihm zu folgen. Mir war ja bekannt, daß zwischen seinem Leutnant und ihm ein gespanntes Verhältnis bestand. So mußte ich zwischen ihm und dem Premier die Grenze bilden. Geschnarcht aber haben wir drei ganz friedlich.

Wenige Tage nach unserer Heimkehr machte ich eine sehr interessante Bekanntschaft. Im Theater, das ich oft besuchte, denn wir hatten eine starke Preisermäßigung, waren mir in einer der ersten Ranglogen zwei Damen aufgefallen: eine ältere und eine jüngere, offenbar die Tochter. Diese war eine auffallende Erscheinung. Sehr elegant gekleidet, das Gesicht von klassischem Schnitt, sehr regelmäßige Züge und ein paar großer, ausdrucksvoller dunkler Augen. Aber sie besaß nicht mehr die so anziehende jugendliche Frische; sondern man konnte durch das Opernglas gut erkennen, daß der Schönheit des Gesichts mit Schminke, Puder und Untermalung der Augen künstlich nachgeholfen war. Eines Abends in der achten Stunde – die Straßenlampen brannten schon – erblickte ich, am Broglie-Platz flanierend, meine interessante Unbekannte am Parterrefenster eines der Häuser, die den Platz flankierten. Sie saß am offenen Fenster im dunklen Zimmer. Ich ging zweimal vorüber und tauschte Flammenblicke mit ihr. Schnell entschlossen wie ich in solchen Affären war, ging ich zum Café auf der gegenüberliegenden Seite des breiten durch eine prächtige mit schönen Bäumen bestandene Promenade in zwei Teile geschiedenen Platzes hinüber, ließ mir ein Blättchen Papier geben und warf ein paar Zeilen in meinem nicht ganz einwandfreien Französisch darauf: »Je suis enchanté de vous et je voudrais bien faire votre connaissance. Quand peux je vous faire ma visite?«

Kurz und bündig, gleich mitten in die Sache hineingestiegen. Ich wußte, daß diese kecke Art den meisten Frauen gefiel. Also ich machte mich wieder auf den Weg zu meiner Schönen hinüber, die immer noch, wahrscheinlich in Erwartung der kommenden Dinge, am dunklen Fenster sah. Im langsamen Vorüberschlendern legte ich das zusammengefaltete Blättchen auf das Fensterbrett. Beim Laternenschein sah ich, wie sie lächelnd das Blatt nahm, aufstand und verschwand. Ich wechselte zur Promenade hinüber und beobachtete von hier aus das Fenster. Es dauerte gar nicht lange, bis ich bemerkte, daß die interessante Unbekannte zu ihrem Platz zurückkehrte. Ich natürlich wieder möglichst unauffällig hinüber und siehe da, als ich in die Nähe des Fensters kam, hatte ich die Freude zu sehen, wie sie ein zusammengeknifftes Blättchen auf das Fensterbrett legte. Sofort griff ich natürlich zu, ein geflüstertes »Merci«, und ich verschwand eilig, stürmte zur Laterne auf der Promenade und las hier voll Spannung das Billetchen. Es lautete zurückhaltend und doch verheißungsvoll: »Pourquoi si pressé? Un peu de patience!«

Ich war sehr erfreut. Zwar wurde mir eine Wartezeit auferlegt, aber meine dreiste Annäherung war doch immerhin gnädig aufgenommen und mir Hoffnung gemacht worden. Da ich in Uniform war und Aufsehen im Interesse der Dame vermeiden wollte, überdies zufrieden mit dem Erreichten, trollte ich mich davon, um ins Münchener Kindl zu steigen und das so hübsch eingefädelte aussichtsreiche Abenteuer mit ein paar Schoppen zu feiern. Wie immer war das Lokal dicht gefüllt. Ganz im Münchener Stil saßen hier die verschiedensten Stände einträchtig beisammen. Offiziere, höhere und niedere Beamte, Studenten, Kaufleute und Handwerker. Die feschen Madeln bedienten flott und immer freundlich und rannten emsig mit den gefüllten Bierkrügen zwischen dem Büfett und den größeren und kleineren Tischen hin und her. Zum Scherzen und Unterhalten war keine Zeit; überhaupt durften diese hübschen Schenkmädchen nicht mit ihren zum größten Teil ja recht anrüchigen norddeutschen Kolleginnen verwechselt werden. Es herrschte strenge Zucht; alle wohnten im Hause unter Aufsicht der Familie des Wirts. Nur wenn sie Ausgehetag hatten, konnten sie sich außerhalb mit ihren Schätzen treffen, falls sie solche hatten.

Da ich kein Freund von langem Warten war, legte ich schon an einem der nächsten Abende Zivil an, promenierte wieder am Broglie-Platz und hatte auch die Freude, die schöne Elsässerin oder Französin am Fenster zu erblicken. Natürlich ging ich sofort zum Angriff über. Sie schien nicht unangenehm überrascht, als ich vor ihrem Fenster halt machte, sie artig begrüßte und mich ihr vorstellte, wir plauderten ein Viertelstündchen miteinander. Ich erfuhr, daß sie mit ihrer Mutter, der das Haus gehörte, allein lebe und daß ihr Vater, ein französischer Capitaine, im Kriege gefallen sei. Ihr Name war Emilie Brisard.

Die Sache zwischen uns entwickelte sich doch langsamer, als es meinen Wünschen entsprach, und es hieß, anderswo weiblichen Anschluß zu finden zur Befriedigung der nun einmal unbezwinglichen männlichen Gelüste. Das blonde Kinderfräulein hatte ich nicht wiedergesehen und auch das schöne Blumenmädchen, meine verliebte Caroline, schien ihren Blumenhandel eingestellt zu haben; ich bin ihr nie wieder begegnet. Da war es mir ganz angenehm, daß ich in einem kleinen Restaurant, in das mich der Zufall gelegentlich verschlagen, eine Kellnerin, ein ganz appetitliches Mädchen, einige zwanzig Jahre alt, kennen lernte, das mir einen sympathischen Eindruck machte. Das Lokal war sehr solide, der Wirt und seine Tochter waren ebenfalls tätig und es waren fast nur Stammgäste, die hier verkehrten. So eintönig und wenig erheiternd auch die Kneipe war, die schmachtenden, lockenden Augen der Kellnerin veranlaßten mich zu weitern Besuchen. Sehr rasch wurden wir einig; sie erzählte mir, daß sie im oberen Stockwerk ihre Kammer habe, während der Wirt und seine Tochter im Erdgeschoß schliefen. Es ließe sich wohl ermöglichen, daß ich nach Geschäftsschluß ihr einen Besuch abstatten könnte.

Zum Glück hatten wir damals viel freie Zeit. Mein Kompaniechef war auf Urlaub in seine württembergische Heimat gegangen und mein alter Gönner und Freund v. Donat, der vertretungsweise die Kompanie führte, gab mir in dieser ohnedies dienstlich stillen Zeit Dienstfreiheit. Nur ab und zu sollte ich mich auf einem Appell zeigen. Ich kam meist erst am frühen Morgen in die Kaserne, schlief bis zum Mittag, ging zum Essen ins Kasino und dann auf den Rummel. Es war das reine Dolce far niente. Des Nachmittags spielte ich häufig Billard mit meinem Premierleutnant, verlor natürlich meistens, und die Abende verbrachte ich in der Regel mit meinem Freunde Zeydel. Wir besuchten, natürlich in Zivil, allerlei interessante Lokale, in denen man elsässisches und auch rein französisches Leben und Treiben studieren konnte. So erinnere ich mich eines großen Tanzlokals, in dem es ganz französisch zuging und der Cancan der beliebteste Tanz war.

Nach einigem Zögern erlaubte mir Mademoiselle Brisard endlich, ihr meinen offiziellen Besuch zu machen. Und so ging ich eines Nachmittags in das Haus am Broglie-Platz, begrüßte meine schöne neue Freundin und wurde von ihr der Frau Mama vorgestellt. Die Besuche wurden nun zu einer regelmäßigen Einrichtung. Zwischen sechs und acht Uhr pflegte ich am Broglie-Platz Gast zu sein, und mit großem Vergnügen erinnere ich mich der angenehmen Stunden. Interessant war mir die Mitteilung, daß die Damen von mütterlicher Seite mit dem elsässischen Romanschriftsteller Erkmann von der berühmten literarischen Firma Erkmann-Chatrian verwandt waren. Emilie Brisard war sehr musikalisch; sie spielte vortrefflich Klavier und sang zur Mandoline allerlei hübsche französische Lieder. Ein in Wort und Melodie sehr sentimentaler Chanson: » Fleurs des Alpes« gefiel mir ausnehmend:

Jadis je possédais ton coeur,
plus d'amour et plus de bonheur,
Toi qui m'aimais si tendrement,
me regardais si doucement,
Aujourdhui tu ne m'aimes plus,
tes serments tu les as rompi
et n'ai plus que mourir.

Noch ein weiteres Liedchen, das von verliebten Überschwänglichkeiten überfloß, ist mir im Gedächtnis haften geblieben:

Je songe à toi, lorsque s'élève l'aurore,
je songe à toi pendant l'éclat du jour,
quand la nuit vient, la nuit me trouve encore
songeant à toi, songeant à mon amour.

Ton souvenir o ma chère amie
à chaque instant occupe seul mon coeur.
Graces, vertues, charmes de mon amie,
je vous revois, je revois le bonheur.

Sie sang es mit Verve, warf zündende Blicke auf mich und setzte mein weiches, gefühlvolles Herz in helle Flammen.

Die Mama war so liebenswürdig, häufig zu verschwinden und uns ganze halbe Stunden allein zu lassen. Durch den Gesang und Emilies Mienenspiel in die glücklichste Stimmung versetzt, angefeuert von dem feurigen Madeira oder andern spanischen Weinen, die mir meine schöne Freundin kredenzte, machte ich ihr eine leidenschaftliche Liebeserklärung, und süße Küsse gaben unserem Liebesbund die Weihe.

In den Pausen zwischen dem Gesang kam sie zu mir auf das Sofa, und ich zog sie auf meinen Schoß, wir herzten uns und kosten und meine Hand glitt hinab zu den stets in kleinen koketten Goldkäferschühchen und weißen Strümpfen steckenden Füßen; ich umspannte ihre Knöchel und rückte noch kühner etwas höher hinauf, bis sie mich, in der Gegend des Strumpfbandes, lächelnd, aber doch standhaft zurückwies. Dennoch löste ich ihr heimlich ein niedliches seidenes Bändchen, um es meiner Sammlung einzuverleiben. Nämlich das Kästchen, in dem ich meine Liebesbriefe aufbewahrte, barg auch eine ganze Kollektion von Strumpfbändern mannigfacher Art, und es gewährte mir immer viel Vergnügen, diese interessanten Trophäen zu betrachten und mich der damit verknüpften süßen Erlebnisse zu erinnern. Unsere Gespräche führten wir stets, indem sie französisch und ich deutsch sprach. Emilie Brisard war auch eine leidenschaftliche Raucherin, aber sie verschmähte die Zigaretten, und ich konnte ihr keinen größeren Gefallen erweisen, als wenn ich ihr eine recht starke Zigarre anbot.

Von der interessanten Französin ging ich hie und da zu der deutschen Kellnerin, die aus dem nahen Baden gebürtig war. Sehr frühzeitig, schon meist zwischen zehn und elf Uhr, wurde die kleine Wirtschaft geschlossen. Eine Viertelstunde vorher pflegte ich mich zu verabschieden und draußen zu warten, bis die Kellnerin herauskam mit der Mitteilung, daß die Luft rein sei. Leise tappten wir uns durch den dunklen Hausflur die Treppe hinauf zu der Kammer des Mädchens, und so ärmlich auch der kleine Raum und so wenig weich das Bett war, zu unserem Glück fehlte nichts. Mein Schatz für die leiblichen Bedürfnisse war ein sanftes, bescheidenes, sehr gefühlvolles, liebes Mädchen. Nichts von der berechnenden Raffiniertheit und der rohen Verderbtheit, die norddeutschen Kellnerinnen eigen zu sein pflegen und sie so wenig anziehend machen. Außer dem bescheidenen Trinkgeld in der Kneipe hat sie nie etwas von mir erhalten noch begehrt. Ach, ich war ja damals selbst immer knapp an Geld; die 100 Mark, die ich neben meinem schmalen Fähnrichssold erhielt, langten nicht hin und nicht her.

Hauptmann Rommel kehrte vom Urlaub zurück und die schönen Tage von Aranjuez nahmen ein Ende. Eines Tages nach dem Exerzieren rief er mich, nachdem er die Mannschaften hatte wegtreten lassen: »Portepeefähnrich Zell!«

»Herr Hauptmann?«

Es war nicht seine gefürchtete strenge Miene, mit der mich der Hauptmann ansah. In unverkennbarem Wohlwollen ruhte sein Blick auf mir.

»Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Sie – hm, an verschiedenen Abenden in Zivil gesehen worden sind. Es ist Ihnen bekannt, daß das gegen die Vorschrift verstößt?«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann.«

»Wie gesagt – hm, es ist mir nur gesprächsweise mitgeteilt worden. Und deshalb – hm, wollte ich Sie jetzt auch nur – hm, privatim warnen. Sollte mir aber –« der Hauptmann gab seinem männlich gebräunten Gesicht einen energischeren Ausdruck – »sollte mir ein derartiger Verstoß künftig offiziell gemeldet werden, so würde ich dagegen einschreiten müssen. Also nehmen Sie sich in acht!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann, danke gehorsamst, Herr Hauptmann.«

Er nickte, faßte an seinen Mützenrand; ich machte stramm kehrt.

Mit der Rückkehr des Hauptmanns kam ein Leutnant zur Kompanie, der aus einem andern Bataillon zu uns versetzt worden war. Er trat mir vom Anfang an sehr liebenswürdig entgegen. Bei den Nachmittagsübungen auf dem Kasernenhof amüsierten wir uns oft mit Bajonettfechten und boten gegenseitig unsere Kraft und Geschicklichkeit auf, einer dem andern soviele Stöße als möglich mit dem von einem dicken Puffer unschädlich gemachten Bajonett beizubringen. Des Mittags nach Tisch lud er mich zuweilen zu einer Flasche seiner Lieblingsmarke Liebfrauenmilch ein, und da er wußte, daß ich ein bißchen musikalisch war, forderte er mich auf zu spielen und zu singen. Er war dabei immer sehr aufgeräumt, aber es lag etwas forciertes, ich möchte sagen, krampfhaftes darin.

Eines Abends wurde mir die Aufklärung. Ich promenierte wieder einmal am Broglie-Platz, als Leutnant Korn in Zivil auf mich zukam.

»Guten Abend, Zell!«

»Guten Abend, Herr Leutnant.«

»Na, Zell, dann will ich Ihnen nur noch Lebewohl sagen.«

Seine Stimme zitterte; es lag eine verhaltene Bewegung in ihrem Ton.

»Der Herr Leutnant gehen auf Urlaub?« fragte ich verwundert.

»Auf Urlaub – nein! Für immer!«

Er streckte mir die Hand entgegen und drückte die meine herzlich.

»Lassen Sie sich's gut gehen, Zell!«

»Danke. Gleichfalls, Herr Leutnant!«

Er lüftete seinen Hut und eilte weiter. Am nächsten Tage klärte mich mein Freund Zeydel auf. Leutnant Korn ging nicht freiwillig. Er war vor das Ehrengericht des Regiments gestellt worden, weil er Wechsel und Ehrenscheine nicht hatte einlösen können; nun war er mit schlichtem Abschied entlassen worden. Ich ahnte nicht, wie nahe ich bereits einem ähnlichen Schicksal war. Zuguterletzt hatte ich noch eines Mädchens Liebe gewonnen, ohne daß ich es wollte und wußte. Auf meinem Weg nach dem Kasino kam ich täglich vor einem Hause vorbei, an dessen Parterrefenster sich stets ein junges Ding zeigte, das mich immer mit seinen Blicken anhimmelte. Rein mechanisch, denn das nichtssagende Gesicht und das strohblonde Haar des Backfisches gefielen mir nicht, warf ich ihr Kußhände, die sie mit strahlenden Mienen und glücklichem Lächeln erwiderte. Im übrigen dachte ich nicht daran, mich ihr zu nähern. Erst kurz vor meinem Abgang von Straßburg erfuhr ich, daß die kleine – sie war erst fünfzehn Jahre alt – sich die Äuglein rot geweint und in ihrer Verbitterung, gewissermaßen aus kindischem Trotz, den Bewerbungen eines ihr visavis wohnenden Premierleutnants nachgegeben hatte und seine Geliebte geworden war.

Ein Brief meiner Mutter, in dem sie mir mitteilte, daß das Bankinstitut meines Vaters zusammengebrochen war und auch seine anderen Unternehmungen bis auf ein einziges, die Kohlengrube und die Brikettfabrik, mit in das Verderben gezogen habe, reifte in mir der Entschluß, das Schlußzeichen hinter meine militärische Karriere zu machen. Ich stülpte den Helm auf, ging in das Regimentsbureau und trug unserem Adjutanten unter Angabe der Gründe meinen Wunsch, zur Reserve entlassen zu werden, vor. Er sagte mir sofort zu, dem Regimentskommandeur ohne Verzug mein Gesuch zu unterbreiten. Von einem der nächsten Tage ab wurde ich vorläufig auf vier Wochen beurlaubt mit der Zusage, daß ich noch vor Ablauf des Urlaubs meine Entlassung erhalten würde.

Zur gewohnten Stunde am letzten Spätnachmittag nahm ich von Emilie Brisard Abschied. Sie schwor mir ewige Liebe und Treue, was ich nicht sehr ernst nahm, denn ich dachte nicht daran, mein junges Geschick an das der mindestens zehn Jahre Älteren zu fesseln. Ihre schönen großen schwarzen Augen füllten sich mit Tränen und sie schluchzte ein weniges an meiner Brust; ich machte mich sanft los und rannte, nicht eben tief bewegt, davon. Und dann verbrachte ich die letzte Nacht mit meiner verliebten Kellnerin. Da sprudelte das Gefühl ungleich unmittelbarer, inniger, überzeugender. Sie weinte fast die ganze Nacht hindurch und badete sich förmlich in Tränen. Ihre Verzweiflung war echt; sie hatte mich wirklich von Herzen lieb; wir waren immer lieb und gut miteinander gewesen und sie verlor mit mir einen Menschen, an dem sie mit der ganzen Innigkeit ihres Gemüts gehangen, der in ihrem einförmigen, unerfreulichen, von häßlichen Auftritten nicht eben freiem Leben das schöne, erfreuende Element verkörpert hatte. Mit Erschütterung erkannte ich, daß auch in einem so gering geschätzten, verachteten Geschöpf wahres, tiefes Gefühl und ein höheres, seelisches Bedürfnis wohnen konnte.

Am frühen Morgen suchte ich meinen Freund Zeydel auf; er begleitete mich nach dem Bahnhof und wir gelobten uns, wenn auch nicht räumlich, so doch im Geiste mittelst regelmäßiger Korrespondenz einander nahe zu bleiben.


In Frankfurt a. M. hatte ich das Glück, ein Kupee – der Billigkeit wegen fuhr ich natürlich dritter Klasse mit Militärbillet – zu erwischen, in dem sich nur zwei junge Mädchen im Alter zwischen 18 und 20 Jahren befanden. Es waren zwei reizende hübsche Geschöpfe, die sehr lustig und sehr zutraulich waren und gleich in der ersten Viertelstunde über ihre Verhältnisse eingehend berichteten. Sie kamen von einer Besuchsreise bei Verwandten und kehrten zu den Eltern nach einer Kleinstadt zurück. In Frankfurt a. M. hatten sie sich köstlich amüsiert und ein freieres Leben kennen gelernt, in dem natürlich der Flirt, die Liebe, die Hauptrolle gespielt hatte. Es war kein Zweifel, ich hatte gleichgestimmte Seelen gefunden, mit gleichen Anforderungen an das Leben, mit gleichen Wünschen, Lüsten und Begierden. Wozu soll ich lange Umschweife machen: wir scherzten, plänkelten und küßten und kosten und schließlich, da wir uns gegenseitig gar zu sehr gefielen und das Zusammensein doch nur kurz sein würde und viel Zeit nicht zu verlieren war, setzte sich die eine ohne weiteres Zieren in die entgegengesetzte Ecke, schloß die Augen (vielleicht hat sie doch verstohlen ein bißchen geblinzelt) und wir anderen beiden gaben uns rückhaltlos unseren Gefühlen hin. Dann tauschten die beiden lieben Mädchen die Rollen, und an einer der nächsten Stationen schieden wir, sehr zufrieden miteinander, mit stillem Bedauern, daß das Schicksal uns keine Wiederholung des amüsanten Erlebnisses gestattete.

In Berlin trat der Ernst des Lebens an mich heran, freilich ohne meine Lebenslust zu beengen und mich zu anderen ernsteren Anschauungen und Bestrebungen zu bekehren. Es mußte erst anders, noch viel, viel schlimmer kommen, um mich zu einer anderen Auffassung vom Leben zu bringen und mich zu einem ernststrebenden, pflichtvollen, arbeitsamen Manne zu machen. Doch davon vielleicht später einmal; diese Aufzeichnungen gehören dem goldenen Leichtsinn der Jugend, dem Abschnitt meines Lebens, in dem die Liebe die richtunggebende, alles übrige beherrschende Macht war.

Meine Eltern hatten inzwischen die große Wohnung am Haackeschen Markt aufgegeben und eine bescheidene Fünfzimmerwohnung im dritten Stockwerk eines Hauses in der Weißenburger Straße im Berliner Norden bezogen. Von unserer Köchin erfuhr ich, daß Alma Witte sich während der beiden Jahre, in denen ich abwesend gewesen, zur Kindergärtnerin ausgebildet hatte und jetzt in einer Spielschule angestellt war. Auch die Adresse und die Stunde, in der Alma nach Schluß des Unterrichts den Heimweg zur Mutter antrat, brachte ich in Erfahrung. Freudigen Herzens, wenn auch mit einem bißchen schlechten Gewissen, denn ich hatte mich in der ganzen Zeit nicht um das liebe Mädchen, das mir so viel geschenkt, gekümmert, trat ich an einem der nächsten Tage den Weg zu der mir angegebenen, im Zentrum gelegenen Straße an. Zur bestimmten Stunde erschien die Ahnungslose. Bei ihrem Anblick war ich über die Maßen erstaunt, war das das harmlose, liebliche, sanfte, hingebungsvolle Geschöpf? Ich sah in ein ernstes Gesicht mit einem freudlosen, verbitterten Zug um Augen und Mund. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie mir den Rücken kehren und davonlaufen, aber schließlich nahm sie doch, wenn auch zögernd, meine Hand, in der nur für einen kurzen Moment die ihrige kalt und regungslos lag. Ohne daß sie mir auch nur mit einem Worte Vorwürfe machte, erkannte ich doch bald, daß das, was ich ihr angetan, sie in der verhältnismäßig kurzen Frist zum sehenden Weibe gemacht und ihr für immer die frühere Harmlosigkeit, die naive Lebensfreude und das Vertrauen in die Menschen genommen hatte. Was zwischen uns gesprochen wurde, weiß ich nicht mehr, es hatte auch keine besondere Bedeutung. Das aber machte sie mir durch ihre wortkargen Antworten, durch die Zurückhaltung und Gemessenheit ihres Wesens, durch das bittere Zucken ihrer Mundwinkel, so oft sie sprach, eindringlich klar, daß sie mir jetzt anders gegenüberstand als zu jener Zeit, da sie noch ein unerfahrenes, vertrauensvolles, törichtes junges Geschöpf gewesen. Mit schwerem Herzen, aufs tiefste beschämt, innerlich vernichtet, schlich ich davon. Erst jetzt kam mir die ganze große unsühnbare Verschuldung, die ich dem jungen Mädchen gegenüber auf mich geladen, zum vollen Bewußtsein, und ein heißes Verlangen, zu sühnen, wieder gutzumachen, erfaßte mich. Tagelang ging ich wie ein Verbrecher, grübelnd, in qualvollen Seelenkämpfen umher. Ach, ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich unfähig war, die Verführte, Betrogene mit mir auszusöhnen und vor sich selbst zu rehabilitieren. Ich war ja so unselbständig, so blutarm, so ganz außerstande, für mich selbst zu sorgen und konnte in absehbarer Zeit nicht daran denken, die Sorgen für ein anderes Wesen auf mich zu nehmen. So sehr es mich drängte, ihre Verzeihung zu gewinnen, ihr zu versichern, daß ich von Herzen gern meine Verpflichtungen ihr gegenüber erfüllen möchte, ich stand davon ab, mich ihr wieder zu nähern, wußte ich doch, daß das, was ich ihr hätte sagen können, nur inhaltlose Phrasen gewesen wären.

Mein Vater bemühte sich indessen, für mich eine Unterkunft, irgendeine Beschäftigung zu finden. Mein ältester Bruder verwaltete die Bergwerks- und Hüttengesellschaft und war später als Liquidator derselben tätig. Von meinen drei jüngeren Brüdern war der eine Volontär auf einem Gut, der zweite auf einem Technikum und der dritte besuchte noch das Gymnasium. Durch Vermittlung eines Stadtverordneten gelang es, für mich eine Anstellung im Bureau eines der großen städtischen Krankenhäuser zu finden. Es war ein sehr bescheidener Posten. Ich wohnte in der Anstalt, hatte freie Pension und erhielt einen kleinen Barbetrag. Außer mir war im Bureau noch ein Buchhalter, nicht viel älter als ich, aber mit allen Arbeiten durch jahrelange Tätigkeit vertraut. Der Direktor war ein ehemaliger mittlerer Beamter, genau und pedantisch in Kleinigkeiten, ein Bureaukrat von reinstem Wasser. Meine Obliegenheiten waren so einfach und kinderleicht, daß sie jeder Quartaner und auch ein besserer Volksschüler hätte bewältigen können, und zwar in den meisten Fällen wohl besser als ich. Denn erstens war meine Handschrift miserabel und zweitens war ich für Bureauarbeiten der ungeschickteste, ungeeignetste Mensch. Es war mir absolut nicht möglich, mit der Feder einen Strich in den großen, dicken Bureaubüchern zu ziehen, ohne das Papier zu verklexen. Außer den Vorhaltungen, die mir deshalb gemacht wurden, hatte ich nicht zu klagen. Mit dem Buchhalter vertrug ich mich sehr gut, und der Direktor kam nicht allzuoft in unser Bureau. Die Verpflegung aber war gut, wir erhielten beste Krankenkost aus der Anstaltsküche und zu jeder Mahlzeit Bier. Dennoch fühlte ich mich sehr wenig an meinem Platz, und eine gedrückte Stimmung konnte ich nicht loswerden. Auch zur dichterischen Muse konnte ich unter diesen Umständen keine Zuflucht nehmen, das verbot sich in dieser Umgebung und bei der abstumpfenden Tätigkeit von selbst. Seit Griesenheim, wo ich mich auch nur zu einigen wenigen Gedichten aufgeschwungen, hatte ich keine dichterische Arbeit mehr zustande gebracht. In der »Presse« und in der Kaserne war natürlich nicht die nötige Stimmung und innere Sammlung aufzubringen gewesen. Meine ganze freie Zeit hatte damals Bachus und Venus in Anspruch genommen, womit nicht gesagt sein soll, daß ich ein wüster Trinker gewesen und an langen Zechgelagen Gefallen gefunden hätte. Nein, keineswegs! Ich fühlte mich wohl in Gesellschaft meiner Kameraden und trank mit Genuß mein Glas Wein oder Bier, ohne in dieser Hinsicht auszuarten. Und was die Liebe betraf, welcher normale gesunde junge Mann fühlte sich nicht unwiderstehlich mit allen Sinnen zum weiblichen Geschlecht hingezogen? Ohne mich selbstverständlich mit ihnen nur im geringsten in Vergleich bringen zu wollen, man nehme Goethe, Byront Heine usw. usw.: hat in ihrer aller Leben nicht die Lebe einen großen Raum eingenommen? Flauber, sagt mit Beziehung auf einen jungen Mann: »Wenn er mit zwanzig Jahren enthaltsam ist, wird er mit fünfzig ein gemeiner Wüstling sein. Alles rächt sich! Die großen Naturen, zugleich die guten, sind vor allem verschwenderisch und nehmen es nicht so genau mit ihrer Hingabe. Man muß lachen und weinen, lieben, arbeiten, genießen und leiden und überhaupt soviel wie möglich nach dem Maße seiner Fähigkeiten in Schwingung sein. Das ist, glaube ich, das wahrhaft Menschliche.«

Und ein andermal sagt er: »Die Frau ist für uns alle der Spitzbogen der Unendlichkeit. Das ist nicht edel, aber es ist der wahre Kern des Männchens.«

Und Goethe singt: »Krone des Lebens, Glück ohne Ruh, Liebe, bist du!« Und ein anderes Lebensbekenntnis von ihm lautet:

»Wenn dir's in Kopf und Herzen schwirrt,
was willst du bess'res haben?
Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt,
der lasse sich begraben!«

So habe es auch ich allezeit gehalten, bis in mein hohes Alter hinein, ohne daß ich je ein Wüstling gewesen und mich in Ausschweifungen erschöpft hätte, wie es soviele Jünglinge und Männer tun, die mit vierzig völlig abgewirtschaftet haben. Noch Mitte der Fünfzig und später war meine Kraft zu arbeiten und zu lieben völlig ungebrochen und war Feuer und Glut in mir, wie bei einem Dreißigjährigen. Ich habe viel geliebt und habe viel Liebe gefunden, aber ich habe auch viel gearbeitet und habe mit ebensoviel Begeisterung und mit noch größerer Hingabe das in mir gepflegt und entwickelt, was die Natur an dichterischem Können und an Arbeitskraft und – Lust in mich gelegt hat. Doch davon will ich in anderen Bekenntnissen, die von meinen Mannesjahren handeln werden, berichten. Hier sei nur von dem Jüngling bis zum fünfundzwanzigsten Jahr die Rede.

Die einzige Freude und Ablenkung von der unerfreulichen Bureauarbeit bildete meine Korrespondenz mit meinem Freunde Artur Zeydel und mit Emilie Brisard. Wie wir uns seinerzeit persönlich unterhalten hatten, so hielten wir es auch mit unserer Korrespondenz: sie schrieb französisch und ich deutsch. Anfangs schrieb sie sehr nett und zärtlich. Sie sprach die Hoffnung und den Wunsch aus, daß wir möglichst bald einander ganz angehören möchten. Ich sollte mich bemühen, irgendeine feste Anstellung zu finden, damit wir alsbald heiraten könnten, auch wenn mein Einkommen nicht groß sein würde. Ihre und ihrer Mutter Einkünfte würden genügen, uns ein, wenn auch bescheidenes, so doch sorgenfreies Leben zu gewährleisten. Auf diese Anspielungen ging ich niemals ernsthaft ein. Ich hatte ja Emilie Brisard gegenüber keinerlei Verpflichtungen, hatte weder ihre volle Hingabe begehrt noch ihr irgendwelche Versprechungen gemacht. Wie früher in unserer Konversation schlug ich auch in meinen Briefen einen leichten, plänkelnden Ton an. Das mochte sie schon verdrossen haben, und als ich nun gar, als Erwiderung auf ihre Versicherung, daß sie, wenn es nicht anders ginge, auch bereit sei, ihr schönes Vaterland zu verlassen und nach Deutschland zu übersiedeln, meinem satirischen Humor die Zügel schießen lassend und ihre französische Unkenntnis in der Geographie und Ethnographie verspottend, der Befürchtung Ausdruck gab, sie würde sich in dem rauhen Klima Deutschlands, in dem man fast das ganze Jahr in Pelzen herumginge und unter den erst halb zivilisierten Landsleuten des Barbaren Bismarck nicht wohl fühlen können, da ergrimmte sie vollends. Heißblütig wie sie war (oder vielleicht auch inzwischen anderen Plänen nachgehend) schrieb sie mir einen zornigen Brief. Sie bedauere, erst jetzt meinen wahren Charakter erkannt zu haben und erkläre, alle Beziehungen zwischen uns für abgebrochen. Zugleich sandte sie mir alle meine Briefe und forderte auch die ihrigen zurück.

Ich erfüllte umgehend ihren Wunsch; ihr in Farben ausgeführtes Porträt und ihr Strumpfband behielt ich als Andenken an ihre feurigen Küsse und die schönen Stunden, die wir miteinander verlebt hatten. Wenn ich auch der interessanten Nichte Meister Erckmanns nie heißere und innigere Gefühle entgegengebracht hatte, so tat es mir doch aufrichtig leid, daß wir in so übler Weise auseinander gekommen waren und daß sich ihre Liebe (vielleicht hatte sie ein solches Gefühl gar nicht für mich empfunden) in Haß gewandelt hatte.

Ich war erst einige Monate in meiner Stellung als Bureaugehilfe, als eines Morgens in aller Frühe ein unansehnlicher älterer Herr in das eben erst von mir geöffnete Bureau kam. Er ließ mich gar nicht dazu kommen, nach seinem Begehr zu forschen.

»Sind Sie der neue Schreiber?« fragte er mich knapp und kurz.

»Allerdings,« gab ich ebenso kurz zurück.

»Der Buchhalter noch nicht da?«

»Wie Sie sehen, noch nicht,« warf ich ihm über die Schulter zu, geärgert über diese inquisitorische Art. Aber noch ehe ich die Frage, was ihn eigentlich zu diesem Inquisitorium berechtigte, an ihn zu richten vermochte, fragte er weiter: »Wann wird denn hier geöffnet?«

Es lag etwas in der Art des Unbekannten, das mich veranlaßte, unwillkürlich Bescheid zu geben.

»Um acht Uhr.«

»Und wann kommt der Buchhalter?«

Nun gewann doch der Ärger in mir die Oberhand. Den unscheinbaren schmächtigen kleinen Mann mit geringschätzigen Blicken messend, herrschte ich ihn an: »Das kann Sie doch nicht interessieren.«

»Doch, doch, das interessiert mich sehr!« trumpfte er auf.

Damit wandte er sich nach der Tür und verschwand. Nach einer Weile erschien der Buchhalter und gleich darauf der Direktor mit dem unbekannten alten Herrn. Das sonst farblose Gesicht des Bureaukraten war rot vor Erregung, und er zerging fast in Bücklingen und Untertänigkeit gegenüber dem Fremden.

»Zu dienen, Herr Stadtrat! Wie der Herr Stadtrat befehlen!« floß ihm unaufhörlich über die Lippen.

Wie ich erst jetzt merkte, war es der Dezernent vom Magistrat, der zur Inspizierung herausgekommen war. Noch an demselben Nachmittag erhielt ich vom Direktor, der vor Entrüstung zitterte über die nichtachtende Art und Weise, wie ich dem Herrn Stadtrat begegnet war, die Entlassung. Niemand war vergnügter als ich. Befreit aufatmend verließ ich die Anstalt, in der ich mich wie ein Gefangener gefühlt hatte. Zum Glück war mein Vater abwesend, so daß ich der gefürchteten strengen Philippika entging. Er war in Geschäften auf einige Zeit nach der Niederlausitz gereist, und so verlief meine Rückkehr in die Familie ohne stürmischen Auftritt. An einem der nächsten Tage machte ich einen kleinen Abstecher nach Frankfurt an der Oder, um dort einen Freund zu besuchen. Als ich am Abend auf dem Bahnsteig promenierte in Erwartung des Schnellzuges, der mich zurück nach Berlin bringen sollte, erblickte ich eine üppige junge Dame, die ohne weiteres mit mir zu kokettieren begann. Nachdem wir drei- oder viermal aneinander vorübergegangen und unsere Blicke immer ausdrucksvoller und feuriger geworden waren, faßte ich mir ein Herz und trat an sie heran. Nahezu vier Monate hatte ich in der Tretmühle einer langweiligen, handwerksmäßigen Tätigkeit geschmachtet, ohne Abwechslung, ohne Zerstreuung, ohne Erhebung. Mein Herz und meine Sinne dürsteten nach Betätigung. Die schöne Unbekannte – sie hatte wirklich ein sehr hübsches, sympathisches Gesicht und eine rhythmische volle Figur – erwies sich als sehr zugänglich und entgegenkommend. Als ich gehört hatte, daß sie zweiter Klasse fuhr, eilte ich noch einmal zum Billetschalter, um eine Zuschlagkarte zu lösen. Kurz darauf rasselte der Zug heran und wir bestiegen ein leeres Kupee. Bald kamen wir in ein lebhaftes Plaudern und natürlich auch in ein herzliches Küssen. Daß meine neue Bekanntschaft den gebildeten Ständen angehörte, war ihrer Art zu sprechen sofort anzumerken. Sie zögerte auch nicht, offenherzig und zutraulich wie sie war, mir einen kurzen Abriß ihrer Lebensschicksale zu geben. Eine Pastorstochter war sie, mit achtzehn Jahren von einem Studenten verführt, Mutter geworden und natürlich von ihrem Vater, sehr ungleich dem Beispiel und der Lehre Christi, mitleidlos verstoßen worden. Erst zweiundzwanzig Jahre alt, war sie in verschiedenen Stellungen tätig gewesen und nun eben kam sie von einem Besuch bei ihrem Kinde, das in Frankfurt in Pflege war. Die Fahrt verstrich sehr angenehm; bei der Trennung verabredeten wir eine Zusammenkunft, und ich habe sie auch ein paarmal in ihrem Chambregarnie in Berlin besucht, bis sie nach außerhalb in Stellung ging.

Gegenüber unserer Wohnung im ersten Stockwerk bemerkte ich einen alten Herrn, der, fast den ganzen Tag unmittelbar am Fenster sitzend, eifrig, mit fliegender Feder in ein kleines Oktavheft schrieb, nur hin und wieder gedankenvoll seinen Blick zum Himmel oder auf die Straße schweifen ließ. Ich wunderte mich über diese anhaltende Schreibtätigkeit und mein Erstaunen war groß, als ich hörte, daß das der bekannte Schriftsteller A.v.Winterfeld war, dessen Humoresken aus dem Soldatenleben ich als Knabe mit vielem Vergnügen gelesen hatte. Zuweilen ließ sich auch eine Dame im eleganten Schlafrock sehen, etwa eine Vierzigerin mit strähnigem, schwarzem Haar und quittengelbem, nichts weniger als hübschem Gesicht, dabei trocken und hager. Daß sie in vertrautem Verhältnis miteinander standen, konnte man unschwer erraten. Zuweilen gingen sie auch miteinander aus. Die dürre schmächtige, kaum mittelgroße Dame, die sich neben der Hünengestalt des ehemaligen Kürassieroffiziers nicht eben reizvoll ausnahm, war die Haushälterin des Humoristen, der übrigens stets ein ernstes, wenn nicht griesgrämiges Gesicht machte, in merkwürdigem Kontrast zu seinen von derbem Humor überquellenden Geschichten.

Das Beispiel des fleißigen Schriftstellers beschämte mich. In meinen frühen Knabenjahren, vom elften bis zum sechzehnten Jahr, hatte es für mich keine schönere, beglückendere Tätigkeit gegeben, als an meinem Kinderpult zu sitzen und meiner Phantasie und dem aus dem Innersten kommenden dichterischen Schaffensdrange nachzugeben. Äußere Anregung hatte ich dazu gar nicht. Niemand hatte mich aufgefordert und niemand in meiner Umgebung mir das Beispiel dazu gegeben. Ich erinnere mich noch, wie in mir nach der Lektüre einer dramatisch bewegten historischen Novelle – sie spielte in den Niederlanden während der Statthalterschaft Margarete von Parmas – sofort die Idee entstand, das mußte eine prächtige Tragödie geben, und wie ich mich dann an mein Pult setzte und jeden Tag ein paar Stunden der Arbeit widmete, bis ich richtig im fünften Akt bei dem Tode des Helden angelangt war. Kurze Zeit darauf las ich Schillers novellistisches Fragment: »Der Geisterseher«, und hieraus erwuchs in mir der Plan, das Fragment in einer ergänzenden Novelle zu Ende zu führen. Mit niemand hatte ich darüber gesprochen, niemand hatte mich dazu ermuntert oder mir einen Rat gegeben. Ganz spontan entwickelte sich in mir dieser Schaffensprozeß; es war wie etwas Elementares, das naturgemäß aus dem Innern hervorbrach.

Den arbeitslustigen Humoristen vor Augen setzte ich mich an den Schreibtisch, wenn auch nicht gerade unmittelbar am Fenster, und entwarf den Plan zu einer Novelle, in der ich ein erotisches Motiv aus meinen ja nicht gerade spärlichen Erfahrungen ausführen wollte. Es war eine harte Arbeit, nachdem ich mich so lange von den Musen ferngehalten hatte. Aber ich besaß schon damals den Eifer, den Ehrgeiz und die Kraft auszuharren und eine einmal begonnene Arbeit zu Ende zu bringen, so sehr sich auch die Schwierigkeiten häuften, und so schwer ich auch mit der Ausgestaltung der dichterischen Idee rang. Ich sandte das Manuskript an eine Zeitung, von der ich es nach zwei Wochen peinvollen Hängens und Bangens zurückerhielt. Als ich dasselbe negative Resultat auch bei einer zweiten Zeitung erzielt hatte, verbarg ich mein literarisches Erzeugnis schamhaft und mutlos in dem Schrank, aus dem ich es erst später wieder an das Licht brachte, bearbeitete und abermals, diesmal mit Erfolg, hinausschickte.

Eines Tages lehnte ich wieder einmal in einer meiner zahlreichen freien Stunden aus dem Fenster, als mir drüben an dem schräg gegenüberliegenden, dem Humoristen benachbarten Hause eine Dame auffiel, die anhaltend zu mir herüberstarrte und sich anscheinend große Mühe gab, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Wie ich später erfuhr, hatte sie dies schon früher getan, immer vergeblich, denn mein Interesse wurde, so oft ich am Fenster war, stets vollständig von dem fleißigen A.v.Winterfeld und den Vorgängen in seiner Wohnung in Anspruch genommen. Das Äußere der Nachbarin des Schriftstellers war auch nicht gerade danach angetan, meine Neugier von ihm auf sich abzulenken, soviel ich bei der Entfernung über die breite Straße hinüber urteilen konnte, besaß die Dame nichts Anziehendes. Ihre Toilette war schlicht bürgerlich und ihr Gesicht wies nicht unhübsche, aber auch nicht irgendwie reizvolle Züge auf. Es war ein Dutzend-Antlitz, das nichts Fesselndes, Charakteristisches hatte und das sich der Vorstellungskraft entzog, sobald es aus dem Gesichtskreis entschwunden war. Immerhin blinzelte ich in den nächsten Tagen gelegentlich hinüber, und immer gewahrte ich, daß sie auf dem Posten am Fenster war, ja, einmal bemerkte ich, daß sie hinter der Gardine stand und mit dem Opernglas zu mir herüberspähte. Was mir einiges Interesse einflößte, war die Beobachtung, daß zuweilen ein kleiner Mädchenkopf neben ihr auftauchte, der sich zärtlich an sie schmiegte. Und eines Nachmittags sah ich auch, wie sie unten aus dem Hause trat in Begleitung eines älteren Herrn und des Kindes. Also eine junge Frau.

Immerhin und trotz des Interesses, das sie mir andauernd bezeigte, dachte ich nicht an eine Annäherung. Mein Visavis aber war hartnäckig, wie ja die Frauen – auch nach meinen späteren Erfahrungen – in solchen Dingen sind, und sie hatte es sich in den Kopf gesetzt mit mir anzubandeln. Wie sie das ins Werk setzte, war etwas sehr außergewöhnlich und ist mir in dieser Art nur einmal in meinem in Liebessachen abwechslungsreichen Leben passiert.

Eines Abends kam meine Schwester zu mir ins Zimmer.

»Ein Junge ist da, der dir etwas bestellen will.«

Ich stutzte und schüttelte den Kopf, völlig ahnungslos.

»Das wird wohl eine Verwechslung sein. Was will er denn?«

»Das will er nur dir selber sagen.«

Nun war ich doch neugierig und rannte zum Korridor. Ein kleiner Bengel von etwa zwölf Jahren, ein richtiger Straßenjunge, stand an der Tür.

»Ein Herr ist unten und will Sie gern sprechen.«

Mein Staunen wuchs.

»Warum kommt er denn nicht herauf?«

Der Junge griente.

»Nee, Sie sollen 'runter kommen – aber gleich, er lauert uff Ihnen.«

»Das ist wohl ein Irrtum, mein Junge.«

Der Bengel schüttelte energisch den Kopf.

»Ausgeschlossen. Et is janz richtig. Der junge Herr im dritten Stock – det sind Sie doch!«

Damit machte der Lümmel kehrt und sprang die Treppe hinab. Ein Ulk, eine Mystifikation? fuhr es mir durch den Kopf. Aber ich hatte zu der Zeit keinen Freund in Berlin und auch sonst nicht den mindesten Verkehr. Schließlich: ich hatte ja Zeit und versäumte nichts. Überdies regte sich die Neugier in mir immer zwingender. Während ich die drei Treppen hinabeilte, wob meine Einbildungskraft allerlei Phantastisches zusammen. In der Jugend ist man ja in der Regel romantisch gestimmt und hält das Wunderbarste für das Mögliche und Wahrscheinliche. Ich erinnere mich, daß ich in dieser leeren und beschäftigungslosen Zeit und auch später immer auf das Wunderbare hoffte und immer erwartete, wenn ich von langen Spaziergängen heimkehrte, daß sich inzwischen etwas Besonderes ereignet hätte, oder daß irgendeine günstige Nachricht da war, die meinem aussichtslosen, ungewissen Geschick eine plötzliche glückliche Wendung gab.

Zu meiner grenzenlosen Überraschung fand ich unten an der Haustür mein Visavis, die junge Frau.

Sprachlos sah ich sie an; aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie sich vorher mit starker Entschlossenheit gewappnet, um ihr sehr ungewöhnliches Vorhaben auszuführen. Dennoch verharrte auch sie einen Augenblick verlegen, befangen, den Blick gesenkt. Aber im nächsten Moment raffte sie sich auf.

»Entschuldigen Sie! Aber ich – ich fand kein anderes Mittel.«

Damit steckte sie mir ein Briefblatt, das sie in der Hand hielt, entgegen.

»Bitte, wollen Sie das lesen!«

Ich griff mechanisch zu. Mein Erstaunen wurde immer fassungsloser. Ich starrte bald sie, bald das Blatt an. Schon wollte ich das Papier in die Rocktasche stecken, da rief sie flehend:

»Nein, bitte, lesen Sie es gleich! Es ist ein Brief und ich möchte um Antwort bitten.«

Ich trat in den Hausflur, um das Schreiben zur Gasflamme emporzuheben. Sie folgte mir und stand neben mir, während ich den in guter Handschrift geschriebenen Erguß überflog:

»Sehr verehrter Herr!

Seit Wochen sehe ich Sie täglich von meiner Wohnung aus. Noch nie hat ein Mann einen so bezwingenden Eindruck auf mich gemacht. Ihr Bild hat sich mir von Tag zu Tag tiefer in das Herz geprägt. Der Wunsch, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sie zu sprechen, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich für Sie interessiere, verzehrt mich. Vergebens ist alles Kämpfen und Ringen, alles Widerstreben in mir. Ich kann nicht anders; das brennende Verlangen, Sie kennen zu lernen, kann ich nicht länger beherrschen. Ich muß Sie sehen, ich muß Ihnen sagen, wie sehr ich Sie liebe –«

Noch eine ganze Seite ging es in diesem Ton weiter. Es war die rückhaltloseste, stürmischste, leidenschaftlichste Liebeserklärung, die ich je von einem weiblichen Wesen erhalten, wenn auch natürlich nicht die seelenvollste, tiefste, innigste. Den 5chluß bildete die flehentliche Bitte um ein bißchen Sympathie, ein bißchen Liebe.

Und während ich das alles las, diese offenherzige, bedingungslose Preisgabe einer Frau an einen ihr doch ganz fremden Mann, von dem sie nichts wußte, nicht wissen konnte, was er war, welchen Charakter er besaß, stand sie selbst, äußerlich ganz ruhig, vor mir, als sei sie nur eine unbeteiligte Zuschauerin bei diesem unerhörten Vorgang. Ich hatte vom Fenster aus ganz richtig gesehen: es war ein keineswegs bestrickendes Wesen, etwas über Mittelgröße, eine weder üppige, noch schmächtige Figur, doch wohlgestaltet, nichtssagende Gesichtszüge, mittelblondes Haar, blaugraue Augen, die nicht unschön waren, aber auch nichts Faszinierendes, Zündendes hatten. Die ganze Erscheinung trug das Gepräge schlichter, solider Bürgerlichkeit, ein spießbürgerliches Durchschnittsweib, das gar nichts abenteuerliches, nichts außergewöhnliches besaß und in dem gewiß niemand glühendes Temperament, brausende Leidenschaftlichkeit gesucht hätte. Wie kam diese so bescheiden, so schüchtern, ja, so trivial aussehende Frau zu diesem unglaublich verwegenen, um nicht zu sagen: schamlosen Schritt, zu dieser Abenteuerlichkeit? Wie stark mußte der Impuls, die Leidenschaft, das verzehrende Verlangen in ihr gewesen sein, um sie zu diesem bespiellosen Unternehmen hinzureißen!

Was sollte ich tun? Sie unfreundlich, mit kalten Worten fortschicken? Der gewiß im stillen bangen, bebenden jungen Frau diese entsetzliche Blamage zuzufügen, war ich ebenso unfähig, wie dem sich mir so unvermutet, ungerufen bietenden Abenteuer aus dem Wege zu gehen. Ich tat also das natürlichste, selbstverständlichste: ich nahm sie in meine Arme und küßte sie. Mit welcher Wonne sie an meinen Lippen hing, ist leicht auszudenken. Schließlich zog ich, da wir ja doch jeden Augenblick überrascht werden konnten, ihre Hand auf meinen Arm und ging mit ihr aus dem Hause zu dem unmittelbar benachbarten, damals noch häuser- und menschenleeren Platz, der später den Namen Wörther Platz erhielt. Hier berichtete sie über sich und ihre Verhältnisse. Als Waise sei sie mit siebzehn Jahren von ihrem fünfundzwanzig Jahre älteren Vormund, einem Eisenbahnsekretär, geheiratet worden. Seit sechs Jahren sei sie seine Frau und habe ein Kind, ein kleines Töchterchen, das ich ja schon gesehen haben würde. In ihrer Ehe fühle sie sich sehr unglücklich, unverstanden.

Ihr Mann sei durchaus nicht schlecht gegen sie, aber sein Wesen, seine Gewohnheiten seien nicht solche, daß sie die Liebe oder auch nur die Sympathie einer Frau erwecken könnten. Wenn er aus dem Amt käme, gegessen und geschlafen habe, besuche er sein Stammlokal, in das er sie gern mitnähme, so oft sie Lust dazu habe, und trinke mindestens seine zehn Glas Bier, einen Abend wie alle Abende. Danach schlafe er natürlich wie ein Murmeltier. Ob ich glaube, daß eine solche Ehe eine mit ganz anderen Erwartungen, mit den romantischsten Ideen in die Ehe getretene junge Frau befriedigen könnte? Ich verneinte natürlich und versicherte sie meiner Teilnahme, meines Interesses. Wir trafen uns von da ab häufig, wenn sie das Bedürfnis hatte, mich noch außer unseren Verabredungen zu sehen, schickte sie einfach ihr Dienstmädchen mit ein paar Zeilen. Der Ort unseres Stelldicheins war der alte große Kirchhof am Prenzlauer Tor. Manchmal waren auch Dienstmädchen und Kind in ihrer Begleitung. Natürlich sehnte sich die unverstandene junge Frau nach einer vollkommeneren Befriedigung ihrer erwachten Leidenschaft. Aber ich war damals so arm, daß ich nicht daran denken konnte, ein Zimmer zu mieten oder zu einem gelegentlichen Absteigequartier, wie sie in Berlin unter der Marke: »Zimmer auf Wochen und Tage« immer in Fülle zu Gebote standen, meine Zuflucht zu nehmen. Zu ihr zu gehen war zu gefährlich, denn die Nachbarschaft würde es merken. Der Zufall kam uns, wie so oft den Liebenden, zu Hilfe. Meine Mutter fuhr mit meiner Schwester und meinem jüngeren Bruder auf einen Tag zu Besuch zu meinem Vater, und so war ich allein in der Wohnung. Die verliebte junge Frau ließ sich natürlich nicht lange nötigen. In der Abendstunde kam sie zu mir. Dieses ungestörte intime Zusammensein hatte die Verliebte so glücklich gemacht, daß sie nach einer Wiederholung lechzte, und eines Tages erzählte sie mir, sie habe in einem Hotel garnie am Alexanderplatz für den nächsten Vormittag während der Dienstzeit ihres Gatten ein Zimmer bestellt. Ich dürfte ihr nicht abschlagen, mich dort mit ihr zu treffen. Etwas peinlich war es mir ja, aber ich lehnte selbstverständlich nicht ab. Diesmal mußte sich die Leidenschaftliche mit den Vorfreuden begnügen, denn ein böses Verhängnis ließ sie die verbotene Frucht, nach der junge Frauen seit Eva so lüstern sind, nicht genießen. Es war ein frischer Frühlingstag; leichtsinnig wie die Jugend ist, saß ich am Abend im Restaurationsgarten, und schon in der Nacht hatte ich Fieber und am Morgen fühlte ich mich so elend, daß ich am liebsten im Bett geblieben wäre. Was tun? Abzusagen war unmöglich. Die nach einem Wiedersehen unter vier Augen Schmachtende einfach vergebens warten zu lassen, brachte ich nicht übers Herz. In nichts weniger als liebesseliger Stimmung machte ich mich auf den Weg. Trotz der Ebbe in meiner Börse nahm ich eine Droschke. Die verliebte junge Frau erwartete mich bereits, ebenfalls mit fieberischer Nöte und glänzenden Augen, wenn auch die Ursache eine andere war als bei mir. Schweren Herzens ging ich mit ihr in das reservierte Zimmer hinauf, mit Bangigkeit und Mißtrauen der Entwicklung der Dinge entgegensehend. Mein Kleinmut war nur zu berechtigt, die Stimmung ließ sich nicht herbeizwingen, ich versagte elend. Der Enttäuschten traten die Tränen vor Ärger und Beschämung in die Augen. Ich entschuldigte mich, so gut es ging, auf mein Unwohlsein hinweisend. Aber ich sah, daß diese Entschuldigung sie nicht überzeugte. Wir trennten uns, verstimmt gegeneinander, und die Liebesepisode mit der unverstandenen jungen Frau war zu Ende. Ich habe sie nicht wieder gesprochen. Wenn wir uns begegneten, was nicht zu vermeiden war, taten wir, als hätten wir uns nie gekannt.

Eines Tages begegnete ich meinem »Adjutanten«. Man wird sich erinnern, daß ich von einem blonden jungen Mädchen berichtet habe, die mich, als ich etwa zwei Jahre zuvor bei meinen Eltern in der Rosenthaler Straße wohnte, oft auf meinen Spaziergängen begleitet hatte. Sie war sehr erfreut, mich so unverhofft wiederzusehen, und die alten Beziehungen wurden wieder aufgenommen. Fast täglich sahen wir uns stundenlang. Zu jeder Tageszeit war sie bereit, mir Gesellschaft zu leisten; ihr Vater war den ganzen Tag über im Amt, und ihre Mutter hatte dem einzigen Kinde gegenüber keinen Willen. Wir sahen uns ausschließlich auf der Straße und in Konditoreien. Aber ähnlich wie die Eisenbahnsekretärsfrau sehnte sich auch das zwanzigjährige junge Mädchen nach einem ungestörten Zusammensein mit dem Geliebten, und eines Tages erzählte sie mir, anscheinend gesprächsweise, daß sie am nächsten Abend bei dem Kinde einer verheirateten Cousine, die mit ihrem Manne ins Theater gehen wolle, ein Dienstmädchen aber nicht habe, die Wärterin spielen müßte. Dabei sah sie mich – ich merkte es wohl – erwartungsvoll an. Natürlich schlug ich vor, die schöne Gelegenheit zu benützen, uns einmal so recht aus Herzenslust zu küssen; schließlich sei es doch unerträglich, daß wir uns immer nur in einem Hausflur oder auf Promenaden verstohlen einen flüchtigen Kuß gönnen könnten. Nach einigen ersichtlich gekünstelten Einwendungen – o ihr ränkevollen listigen Evatöchter! – erklärte sie sich einverstanden. Meine Erwartungen aber wurden nicht voll erfüllt. Die frische Knospe ihrer Jungfräulichkeit pflückte ich nicht, wie ich doch bestimmt erwartet hatte, und die Bleichsüchtige entwickelte wenig Leidenschaft. So blaß wie ihr Teint war auch ihre Liebe. Als ich sie fragte, wer denn der Glückliche gewesen, dem sie ihre erste Hingebung gewidmet, wollte sie zunächst nicht mit der Sprache heraus. Endlich gestand sie etwas Ungeheuerliches: Als vierzehnjähriges Mädchen habe sie einmal ein paar Schuhe ihrer Mutter von einem alten Flickschuster in der Nachbarschaft abgeholt. Da habe ihr der gemeine Mensch trotz all ihrem Sträuben Gewalt angetan.

»Wieviel Jahre Zuchthaus hat der Schurke denn bekommen?« fragte ich.

Da schüttelte sie mit dem Kopf.

»Ich habe es niemand gesagt.«

»Wie? Auch deinen Eltern nicht?«

»Nein. Ich schämte mich doch so sehr ...«

Von zwei anderen Liebesepisoden aus jener liebeslustigen Zeit kann ich noch erzählen, wie sie nur in der Großstadt möglich sind. Eines abends flanierte ich, in der ausgesprochenen Absicht, irgendetwas Interessantes zu erleben. Da fiel mir ein hübsch gewachsenes junges Mädchen auf, die auch mir ihr Interesse zu schenken schien. Ich ging an ihr vorbei, verlangsamte meine Schritte, ließ sie passieren und folgte ihr, nachdem sie meinem Blick mit einem freundlichen, wenn auch dezenten Lächeln begegnet war. Eine käufliche Dirne war es nicht, das erkannte der Berliner auf den ersten Blick. Sowohl ihre Kleidung wie ihr Benehmen deutete auf ein lebenslustiges Geschäftsmädchen hin, die nach des Tages Last und Mühe sich gern ein bißchen Freude gönnen möchte. Da damals die jungen Mädchen noch nicht, wie heute, auch allein Konzerte und Restaurants besuchten, so suchte sie offenbar Anschluß. Aber ich sollte bald erfahren, daß es ihr um etwas anderes zu tun war. Von Zeit zu Zeit überzeugte sie sich durch eine schnelle, kurze Wendung des Kopfes, daß ich ihr nachstieg. Ich war erstaunt, daß sie, anstatt nach einer der Straßen des Zentrums zu steuern, ihre Schritte nach dem bescheidenen südöstlichen Stadtviertel lenkte, in dem es nur obskure Kneipen gab, nach denen doch unmöglich der Sinn einer vergnügungssüchtigen Berlinerin stehen konnte. So gelangten wir schließlich in die öde Reichenberger Straße, und hier verlangsamte die rätselhafte Schöne ihr Tempo auffallend. Offenbar wünschte sie eine Annäherung. Ich also unverdrossen heran, den Hut lüftend bot ich ihr meine Begleitung an. wir unterhielten uns ein wenig und sie erzählte mir, daß sie Buchhalterin in einem Engrosgeschäft sei.

»Dort wohne ich,« unterbrach sie sich plötzlich und deutete auf ein Haus auf der anderen Straßenseite.

»Bei Ihren Eltern?«

Sie verneinte.

»Meine Eltern sind nicht in Berlin. Ich bewohne ein möbliertes Zimmer im ersten Stockwerk.«

Es gab mir einen Ruck. Donnerwetter! Allein! Ich sah sie forschend an. Ein ermunterndes Lächeln schwelte auf ihren Lippen. Da ließ ich das letzte Bedenken fahren.

»Wäre wirklich neugierig, solche weibliche Junggesellenbude anzusehen.«

Sie lächelte noch deutlicher.

»So? Würde Sie das interessieren?«

»Aber sicher, mein schönes Fräulein. Sie würden mich sehr glücklich machen, wenn Sie mir gütigst gestatten – – –«

Noch einmal betrachtete sie mich prüfend mit einem langen Blick, dann offenbarte sie sich.

»Ich gehe voran,« raunte sie nur hastig, mit einer gewissen krampfhaften Entschlossenheit zu. »Folgen Sie mir, bitte, erst ein paar Minuten später; also eine Treppe, die Tür gradeaus!«

Sie nickte und bog über den Straßendamm. Ich war natürlich wie elektrisiert und höchst begierig auf die weitere Entwicklung des Abenteuers, das meine bisherigen Liebesromane um ein neues Kapitel bereichern würde. Ich tat, wie sie geheißen; es war ein heimisches, nettes Zimmer, das überall die ordnende, schmückende Hand eines nach ein bißchen Schönheit sich sehnenden weiblichen Gemütes verriet. Wir tändelten und kosten; sie war reizend und wußte mit ihrem Hinauszögern, halbem Verlangen und schließlich ganzem leidenschaftlichem Gewähren auch meine volle Glut zu entfachen. Zwei liebesselige frische junge Menschen bereiteten einander das höchste Glück.

Bevor ich mich verabschiedete, plauderten wir noch ein Weilchen. Sie schmiegte sich halb zärtlich, halb schämig an mich.

»Du wirst mich nun verachten und für ein leichtsinniges, liederliches Mädchen halten?« sagte sie.

Ich küßte sie statt einer Antwort.

»Ich will dir Aufschluß geben, wie ich so geworden bin,« fuhr sie fort, »vor zwei Jahren ging ich oft mit einem Volontär aus unserem Geschäft aus. Wir besuchten Konzerte und Weinrestaurants. Er war sehr nett und liebenswürdig zu mir und ich gewann ihn sehr lieb. Einmal nach einem üppigen Mahl mit Sekt bat er mich, ihn nach seiner Wohnung zu begleiten. In meinem Champagnerrausch hatte ich nicht die Kraft, zu widerstehen. Bin ich deshalb verdammenswert?«

»Nein,« erwiderte ich mit Überzeugung. »Ihr armen Geschäftsmädchen habt ja ein so kleines Gehalt und eine so große Lebenslust und ein so zwingendes Sehnen nach dem Glück ... Nun kam es, wie es unter diesen Umständen kommen mußte?«

Sie nickte.

»Ein halbes Jahr schwelgte ich, in vollem Glück kaum zur Besinnung kommend. Nichts hemmte unsere leidenschaftliche Liebe. Da mußte er, von seinem alten Herrn ins eigene Geschäft berufen, Berlin verlassen. Ich habe nichts mehr von ihm gehört.«

»Und dann?« drängte ich.

»Dann war ich der Verzweiflung, dem Selbstmord nahe. Aber man ist ja noch so jung und hat soviel Lebensenergie in sich. Er hat es jedenfalls leichter genommen, sagte ich mir voll Bitterkeit. Mit der Zeit wurde ich ruhiger, ich überwand die Enttäuschung, wie es Tausende und Abertausende getan, und ich sehnte mich wieder nach Liebe wie wohl ebenfalls unzählige andere.«

Ihre Züge nahmen einen Ausdruck ruhiger Energie an und ihre Stimme klang wieder fest und bestimmt.

»Ja, seit ich es kennen gelernt habe, das – das volle Liebesglück, kann ich nicht mehr so leben.«

Das Mädel gefiel mir und imponierte nur. Sie schien mir eine ebenso entschlossene wie ehrliche Natur. Sie leugnete nichts und beschönigte nichts, viel achtungswerter erschien sie mir als jene, die heuchlerisch ehrbar und zimperlich tun, innerlich aber voll Glut brennen und in der Phantasie sich hundertmal an einem vorgespiegelten Glück berauschen, das mit der Kraft der Wahrheit und Wirklichkeit zu erleben, sie nicht zu tugendhaft, sondern zu feig und innerlich unwahr sind.

Wir verabredeten uns für einen der nächsten Abende, aber es kam anders. Mein Vater kehrte zurück und mit dem Bummelleben war es vorbei. Nichts war dem arbeitsfreudigen, geschäftigen Mann so widerwärtig und verächtlich als der Müßiggang. Er sprach sofort mit Dr. Moßner und der riet ihm, da ich doch sonst zu keinem Beruf vorgebildet war, mich in die österreichisch-ungarische Armee eintreten zu lassen. Da herrsche nicht der übertriebene Luxus und der Zwang zu allerlei gesellschaftlichen Verpflichtungen wie in dem deutschen Offizierkorps. Mit einer Zulage von 20 Gulden monatlich würde ich durchkommen, bis ich Offizier geworden sein würde, und dann könnte ich dort viel eher ohne Zulage bestehen als in der deutschen Armee. Dr. Moßner kannte einen ungarischen Baron, der früher Oberleutnant in der österreichischen Armee gewesen. Der Herr beabsichtige nach Budapest zu reisen, wo er allerlei gute Verbindungen habe. Dem sollte ich mich anschließen; er würde mich dort in einem Infanterieregiment als Offiziersaspirant unterbringen. Wir überlegten nicht lange, sondern entschlossen uns, auf den Vorschlag einzugehen. Ich machte zwar ein saures Gesicht, als ich von den 20 Gulden Zulage hörte, andererseits aber sagte es meinem abenteuerlustigen Sinn zu, nach dem fernen Lande in so ganz andere Verhältnisse zu kommen. Mein Vater und ich suchten einen Notar auf, der einen notariellen Akt aufsetzte, durch den sich mein alter Herr zu der Zahlung der angegebenen Zulage verpflichtete. Dies war wesentlich, um als Offiziersaspirant angenommen zu werden. Mein Vater hatte noch einiges Geschäftliche mit dem Rechtsanwalt zu besprechen, ich verabschiedete mich also und schlenderte die Friedrichstraße hinab. Da kreuzte eine Dame meinen Weg, die mich scharf fixierte und sich hinter mir umdrehte und mir nachstieg. Sie überholte mich, sah mich wieder herausfordernd an, lenkte dann von der Straße ab und trat in den Flur eines der nächsten Häuser. Ich befand mich in durchaus gehobener Stimmung; die Freude auf die Reise in das schöne Ungarland, nach dem interessanten Budapest, von dem ich schon so viel schönes, anlockendes gehört hatte, beschwingte mich und brachte mein Blut in Wallung. Nur zwei Tage waren mir noch in Berlin vergönnt, da konnte ich mir zuguterletzt wohl noch ein kleines Abenteuer gönnen. Die Dame, die mich so deutlich zu der Bekanntschaft mit ihr eingeladen, hatte zwar wenig reizvolles in ihrem Äußeren, aber sie reizte doch meine Neugier, denn ich konnte annehmen, daß sich hier mir wieder eine neue Spezies der liebelüsternen Evatöchter erschloß. Die Unbekannte war unauffällig ganz in Schwarz gekleidet, mochte etwa fünfunddreißig Jahre sein, sah ernst und musterhaft solid aus und machte im ganzen den Eindruck einer Dame, die nichts weniger als ein Liebesabenteuer suchte. Wer mochte das sein und was wollte sie von mir? Sie hatte mich im Hausflur erwartet. Wenn ich noch im Zweifel darüber gewesen, das Aufleuchten ihrer dunklen Augen und ein freundliches Lächeln, das über ihre fast strengen Züge lief, bekundeten es mir. Um ihr die Annäherung zu erleichtern, sagte ich ein paar passende höfliche Worte. Ich war erstaunt, eine feingebildete Dame in der mir rätselhaften Person kennen zu lernen. Angeregt plaudernd schritten wir auf der Straße dahin. Sie sagte mir ein paar Schmeicheleien. Die Intelligenz und ein gewisser Zug schwärmerischen Idealismus, der meinem Gesicht aufgeprägt sei, habe sie zu dem Wunsche veranlaßt, mich kennen zu lernen. Im weiteren Gespräch verriet sie mir, daß sie Lehrerin sei, in der Besselstraße eine kleine Parterrewohnung innehabe und eine sehr schöne Bibliothek besäße, die mich gewiß interessieren würde. Ich beglückwünschte mich im stillen: das war wirklich etwas Originelles, eine neue Nuance. Also ich begleitete sie nach ihrem Heim, das ganz ungeniert lag, denn unmittelbar neben der Haustür war der Eingang zu ihrer Wohnung. In ihrem Studierzimmer sah ich auch die Bibliothek; sie machte mich auf dieses und jenes Werk aufmerksam, ich blätterte, während sie neben mir stand und sich an mich lehnte. Das Phosphoreszieren in ihren Augen und der weiche, hingebende Zug in ihren Mienen bekundete mir, daß sie wohl weniger meine angeblich von ihr vermutete Intelligenz als meine jugendliche Frische und meine wohlproportionierte Jünglingsgestalt angezogen hatte. In so jungen Jahren ist man ja immer bereit, ein Schäferstündchen zu feiern, zumal, wenn man einige Zeit gefastet hat und wenn einem die Partnerin nicht mißfällt. Und die Lehrerin, wenn sie auch keine Juno war, hatte doch auch nichts abstoßendes. Jedenfalls war sie mir interessant, und es gelüstete mich, zu erfahren, wie sie, die doch einen so ernsten Eindruck machte und ein geistig tätiges Weib war, in der Liebe sein mochte. Daß sie keine timide, temperamentlose, zimperliche Person war wie wohl viele ihrer Berufsgenossinnen, hatte sie mir ja schon bewiesen, indem sie so kuragiert die Bekanntschaft eines ihr ganz fremden jungen Mannes gesucht hatte. Freilich, gerade daß ich ihr fremd war, hatte ihr wahrscheinlich die Annäherung erleichtert, denn vor ihren Bekannten mußte sie ja die ehrbare, keusche Erzieherin der weiblichen Jugend markieren. Als ich eine Stunde später ihr Heim verließ, tat es mir keineswegs leid, daß ich einem alleinstehenden armen Weibe, der das harte Geschick die Ehe und den legitimen Genuß des Liebesglückes versagt hatte, und deren Sinne doch nach dem Manne schrien, eine Stunde süßer Selbstvergessenheit und des rückhaltlosen Auslebens ihrer Weiblichkeit bereitet hatte. Vor dem Scheiden gestand sie mir, daß ihre Natur den Verkehr mit dem Manne verlange. Die Palliativmittelchen, die ihr der Arzt verordnet habe: magere Kost, kalte Waschungen, viel Aufenthalt in freier Luft, hätten ihr auf die Dauer nicht geholfen, von Zeit zu Zeit verlangten ihre Nerven diese Entspannung, sonst sei sie unfähig zur ruhigen, gedeihlichen Ausübung ihres Berufes.

Arme Frau, der ein naturwidriges, unsinniges, unkulturelles soziales System ihr eingeborenes Menschenrecht verkümmerte und vorenthielt!

Zwei Tage später dampfte ich mit dem Baron Ryka von Madvanski nach Budapest ab.


Die Reise war höchst interessant, wir fuhren über Wien, übernachteten hier und begaben uns am anderen Morgen auf den Donaudampfer, der an den mir aus der Geographie und Geschichte her bekannten Donaustädten Waitzen und Komorn vorbei uns nach Budapest bringen sollte. Es war ein schöner, warmer Julitag. Auf Deck des Schiffes fiel mir ein Offizier auf, Anfang der Dreißig, ein schmächtiger Herr mit Kneifer. Der Umstand, daß er trotz seiner jungen Jahre Generalsuniform trug und ein paar Adjutanten um sich hatte, deutete auf eine hohe Persönlichkeit hin. Es war in der Tat, wie mir mein Begleiter Baron von Madvanski mitteilte, der Erzherzog Friedrich, ein Neffe des Kaisers Franz Joseph. In Komorn ging er an Land, wo ihn die Geistlichkeit und eine Anzahl von Offizieren empfing.

Die Ufer der Donau, besonders in Ungarn, waren zum Teil recht interessant. Meine Blicke fesselten u. a. die ungarischen Landleute in ihren weiten weißen Hosen, hohen Stiefeln und kurzen ärmellosen Jacken, aus deren Armausschnitten breite Hemdärmel heraussahen. Herrlich war die Einfahrt in Budapest. Rechts vom Dampfer der asphaltierte breite Kai mit den großen Budapester Hotels, Kaffees, Restaurants und anderen hohen Häusern. Links vom Schiffe erblickten wir die Schwesterstadt Ofen mit dem pittoresken Blocksberg. Elegant gekleidete Spaziergänger promenierten – es war in der siebenten Abendstunde – auf dem Kai. Die schönen schwarzäugigen Ungarinnen gefielen mir ausnehmend. In angeregter Stimmung landeten wir und stiegen in dem direkt am Donaukai gelegenen großen neuen Hotel Hungaria ab. Wir ließen uns ein gemeinsames bescheidenes Zimmer im dritten Stockwerk geben, dessen Fenster leider nicht nach dem Kai, sondern auf der anderen Seite der Front nach der Marie-Valerie-Gasse hinausgingen. Unsere Geldmittel erlaubten uns keinen Luxus. Für seine Gefälligkeit hatte mein Vater auch für den mit materiellen Gütern keineswegs gesegneten ungarischen Baron die Unkosten der Reise und des Aufenthalts in Budapest übernommen. Die nächsten Tage verwandten wir dazu, Budapest zu besichtigen. Die innere Stadt, abgesehen von den Vorstädten, machte einen vornehmen, gefälligen Eindruck, wenn auch einige, wie die Waitzer Gasse, in der ein reger, geschäftlicher Verkehr war, ziemlich schmal waren. Es war in jenen Tagen sehr warm, um einige Grade heißer als in Deutschland; fast das ganze Wirts- und Kaffeehausleben spielte sich im Freien ab. Als wir, der Baron und ich, vor einem am Kai gelegenen Kaffee eine Erfrischung nahmen, fiel uns ein Tisch mit Offizieren und deren Damen auf, in deren Mitte ein Paar: ein Oberst in den Dreißigeren, zur Korpulenz neigend, einen hornumränderten Zwicker auf der großen, gebogenen Nase, und seine Gattin, eine schöne, große Person mit stolzen, feinen Zügen, meine besondere Aufmerksamkeit erregte.

»Das ist der Prinz Philipp von Koburg-Cohary und seine Gemahlin, eine Tochter des Königs der Belgier,« flüsterte mir meine Begleiter zu. Damals ahnten wir alle noch nicht, daß die schöne Prinzessin, eine hohe, imponierende Gestalt, dereinst durch ihre Liebesaffären und durch ihre Millionenschulden die Chronique scandaleuse von Europa in so nachhaltiger Weise bereichern würde.

An demselben Nachmittag lernte ich eine literarische Persönlichkeit kennen, die mein starkes Interesse erweckte. Es war ein alter Bekannter des Barons, der drüben in Ofen wohnte, wohin wir mit einem der kleinen Lokaldampfer fuhren, in Ungarn »Propeller« genannt, die beständig die Donau kreuzten. In einem größeren, direkt an der Donau gelegenen Gebäude, in dem Badegäste von außerhalb wohnten, die in den heißen, natürlichen, vom Blocksberg kommenden Quellen in der nahen Badeanstalt Heilung oder Änderung ihrer Leiden suchten, wohnte der deutsch-ungarische Schriftsteller Kertbény, der zahlreiche Romane seines Freundes Jokai, des berühmten, sehr produktiven ungarischen Romanschriftstellers, außerdem Petöfis Dichtungen u. a. ins Deutsche übersetzt und auch sonst literarisch vielfach tätig gewesen und noch war. Es war ein alter Junggeselle von etwa fünfzig Jahren, der aber in seinem Aussehen und in seinem Wesen einen bedeutend älteren Eindruck machte. Kertény bewohnte ein schlichtes Zimmer, das ihm zugleich zum Arbeiten und zum Schlafen diente, herrlich war die Lage unmittelbar an der Donau, die man von seinem Fenster überschauen konnte. Der alte Literat begrüßte uns lebhaft und liebenswürdig, und er war auch in der nächsten Zeit unser häufiger Begleiter. Ich habe selten in meinem Leben eine so interessante und unterhaltende Persönlichkeit kennen gelernt. Einen großen Teil seines Lebens hatte er im Auslande: in Paris, London und Berlin, zugebracht, und überall war er mit den verschiedensten Persönlichkeiten in Literatur und Kunst in Beziehungen getreten. Sein Zimmer war förmlich tapeziert mit Bildern, die mit eigenhändigen Widmungen von Berühmtheiten der Literatur, der Musik und der Schauspielkunst geschmückt waren. Unerschöpflich war er im Erzählen von Anekdoten aus dem Leben der ihm persönlich bekannten großen Männer, und mit intensivstem Interesse hing ich an seinem Munde, denn etwas Interessanteres konnte es für mich überhaupt nicht geben. Wir besuchten gemeinsam Kaffees und Restaurants; Kertbény liebte gut zu speisen und zu trinken, obwohl er damals schon von dem Leiden geplagt wurde, dem er sieben Jahre später unterlag.

Eines Tages lud er den Baron Madvanski und mich ein, ihn zu Jokai zu begleiten, den er am nächsten Tage in seiner Villa im Ofener Gebirge besuchen wollte. Es schlug wie eine feurige Lohe in mir auf. Den berühmtesten ungarischen Schriftsteller, an dessen phantasievollen, packenden Romanen ich mich gerade in den letzten Jahren berauscht hatte, sehen und sprechen zu können, welch' ein Vorzug, welch' ein Glück! Jokai war in Ungarn zurzeit der populärste Mann. Nicht nur durch seine bereits über 100 Bände zählenden literarischen Werke, auch als Politiker und einer der besten Redner des ungarischen Parlaments hatte er sich ein großes Ansehen und eine kaum übertroffene Beliebtheit erworben. Daneben schrieb er für die großen politischen Zeitungen und redigierte selbst ein Witzblatt ( Üstökös), das speziell die politische Satire pflegte und für das er, auch mit dem Stift gewandt, selbst Karikaturen zeichnete. Einen weiteren Reiz erhielt seine gastfreie Häuslichkeit durch seine Gattin, die unter ihrem Mädchennamen Rosa Laborfalvi die größte Tragödin der ungarischen Bühne gewesen war.

Mein Enthusiasmus wich rasch einer ängstlichen Beklommenheit. Schon bei unserem Zusammensein mit Kertbény begnügte ich mit der Rolle des stummen Zuhörers, und nun sollte ich in meinem Nichts durchbohrenden Gefühle sogar vor das Antlitz eines der größten lebenden Romanziers der Welt treten! Wir Kinder waren im elterlichen Hause immer zur größten Bescheidenheit und Zurückhaltung in Gegenwart älterer Personen erzogen worden, und da hatte sich naturgemäß im Laufe der Jahre eine große Schüchternheit in uns Geschwistern entwickelt. In Gesellschaft Erwachsener ungefragt den Mund aufzutun, erschien uns als etwas unerhörtes, geradezu unmögliches. Und wenn ich mir nun ausmalte, wie ich vor dem Angesicht des berühmten Dichters und Politikers bestehen sollte, so erfaßte mich ein unüberwindlicher Kleinmut, eine unbesiegliche Scheu. Ich kam mir bei dem in Aussicht stehenden Besuch mindestens als überflüssig, in jedem Fall als traurige Figur vor, und so verzichtete ich, die beiden Herren zu begleiten. Noch heute kann ich es mir nicht verzeihen, daß ich damals meine unselige Schüchternheit nicht habe besiegen können.

Mittlerweile hatte Baron von Madvanski Beziehungen zu dem Offizierkorps des in Budapest garnisonierenden Infanterieregiments Coronini angeknüpft. Wir begegneten diesen und anderen Offizieren täglich auf dem Korso am Kai; die Uniform der Herren von Regiment Coromini gefiel mir ausnehmend. Der kurze blaue Rock mit den zweireihigen blanken knöpfen hatte als besondere Auszeichnung auf dem kirschroten Kragen und den gleichförmigen Ärmelaufschlägen silberne Raupen, was sich sehr hübsch ausnahm und dem Waffenrock nach deutschen Begriffen etwas Gardemäßiges gab. Der Baron stellte mich den Herren vor, und wir waren viel mit ihnen zusammen. Ich freute mich über den gemütlichen zwanglosen Verkehr der Herren untereinander, der mir weit besser behagte als die allzu großen Wert auf äußeren Formelkram legende preußische Etikette. Seltsam mutete es mich zuerst an, daß sich die Offiziere desselben Grades in der ganzen österreichischen und ungarischen Armee, auch wenn sie sich zum erstenmal sahen, mit dem kameradschaftlichen »Du« anredeten. Einer der Herren erzählte eines Abends eine hübsche Anekdote, die, wenn sie auch vielleicht nicht wahr, doch jedenfalls sehr gut und treffend erfunden worden war. Während des Feldzuges in Schleswig im Jahre 1864 saß ein deutscher Gardeleutnant in einem Restaurant einer schleswigschen Stadt. Da tritt ein junger österreichischer Offizier ein, nimmt an dem Tisch Platz und redet den Preußen nach seiner Gewohnheit sogleich mit dem kameradschaftlichen »Du« an. Der Gardeleutnant aber erhebt sich mit allem Aplomb seiner verletzten Würde steif und sagt in seinem Garde-Schnarrton: »Gestatten! Graf Solms.« Der Österreicher lächelt gemütlich und entgegnet: »Schau! Freut mich! Prinz Windischgrätz.«

Freude erfüllte mich bei dem Gedanken, nun bald selbst auf kameradschaftlichem Fuße mit diesen netten, liebenswürdigen Herren verkehren zu können. Aber es kam ganz anders. Der Eintritt in die österreichischungarische Armee ließ sich doch nicht so leicht bewerkstelligen, als wir gedacht hatten. Zuerst war die Erwerbung des ungarischen Bürgerrechts erforderlich, was auch wieder nicht so einfach war und mit der Zahlung eines Beitrages von über 100 Gulden verknüpft war. Die Wochen verstrichen und wir kamen nicht zum Ziel. Inzwischen machte sich in mir immer dringender das erotische Bedürfnis fühlbar. Mein Begleiter, der ungarische Baron, war mir bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Er, der damals 37 Jahre zählte und von dem ich wußte, daß er mit einer Berlinerin, ich glaube der Tochter seiner Wirtin, ein zärtliches Verhältnis unterhielt und alle paar Tage ein Briefchen von ihr erhielt, hatte mit einer schönen Budapesterin Bekanntschaft gemacht, einem elegant gekleideten hübschen Persönchen, mit der ich ihn eines Abends auf dem Korso promenieren sah. Für mich, der ich keinerlei Ortskenntnis hatte und mich in Budapest fremd und unsicher fühlte, war es schwierig, weiblichen Anschluß zu finden. Ich stimmte deshalb meine Ansprüche herab und fing an, mit einem zierlichen Hausmädchen, das im zweiten Stockwerk eines der Häuser der Marie-Valerie-Gasse, gegenüber unserem Hotelzimmer, diente, zu liebäugeln. Zweimal hatte ich sie auch schon gesprochen, was freilich seine Schwierigkeiten hatte, denn sie war eine Slowakin, wie viele der dienenden Geister in Ungarn, und radebrechte das Deutsche in scheußlichster Weise. Eines Tages, als ich wieder einmal hinüberspähte in Erwartung meiner Schönen, die alle Vormittage mit Staubwedel und Staubtuch in den Zimmern hantierte, streifte mein Blick ein anderes weibliches Wesen, das aus einem der Fenster im ersten Stockwerk desselben Hauses sah. Eine Kopfbewegung, die offenbar mir galt, machte mich aufmerksam auf sie. Sie schüttelte das mit schwerer dunkelblonder Flechtenkrone geschmückte Haupt und zeigte eine tadelnde Miene wie jemand, der seine Mißbilligung zum Ausdruck bringen will.

»Nanu!« dachte ich bei mir. »Was hat das zu bedeuten?«

Jetzt zeigte die Unbekannte nach oben und bewegte wiederum ihren Kopf.

Aha! Jetzt wußte ich es: sie mißbilligte mein Kokottieren mit dem Hausmädchen im zweiten Stockwerk. Aber warum? fragte ich mich, was konnte das die mir gänzlich Fremde kümmern? Ich wußte nichts zu erwidern und begnügte mich, mit den Achseln zu zucken, etwa als wenn ich sagen wollte, daß ich sie nicht verstände.

Das kleine Intermezzo aber hatte doch die Wirkung, daß ich mich nun vor meiner neuen Bekanntschaft, die wohl kaum dem dienenden Stande angehörte, wegen meiner Beziehungen zu dem Hausmädchen genierte. Eine natürliche weitere Folge war, daß ich mein Interesse nun dem auf der sozialen Stufenleiter höherstehenden weiblichen Wesen in der unteren Etage widmete. Es entwickelte sich rasch ein lebhafter pantomimischer Verkehr zwischen uns, und eines Tages warf ich einige der Blumen, die ich auf der Straße gekauft hatte, mit kräftigem Schwung in die Richtung ihres Fensters als beredte Huldigung. Ich bemerkte, daß sie zwar erfreut lächelte, dann aber mit bedauernder Miene auf die auf dem Straßenpflaster liegenden Kinder Floras deutete und auf sich und hinter sich in das Zimmer winkte.

Ich machte große Augen. Sollte das etwa heißen: »Komm herüber und überbringe mir die Blumen persönlich?«

Auf meine pantomimische Anfrage, ob sie wirklich meinen Besuch wünsche, nickte sie so entschieden bejahend, daß ich keinen Zweifel hegen konnte, meinen Hut ergriff, den Rest meiner Blumen zusammenraffte und so gerüstet ans Fenster trat, um ihr anzuzeigen, daß ich ihrer liebenswürdigen Einladung sofort nachkommen würde.

Also ich machte mich auf den Weg, erwartungsvoll und mich im stillen beglückwünschend, daß mein guter Stern oder mein Glück bei den Frauen mir wieder einmal ein interessantes Erlebnis in Aussicht stellte. Es war ein sehr großes breites Eckhaus mit großem Hof; rings um die Wohnungen lief nach orientalischer Bauart ein Gang. Als ich im ersten Stockwerk klingelte, öffnete meine schöne Unbekannte selbst. Sie war etwas über Mittelgröße mit hübschen Zügen, besonders fein geformter Nase, reizendem Mund mit leicht aufgeworfenen roten Lippen; in ihren hellbraunen Augen lag Leidenschaftlichkeit, und besonders schön war die wuchtige Fülle ihres in starken Zöpfen aufgesteckten Haares. Ihr Alter taxierte ich zwischen 26 und 28 Jahren.

Es schien, als wollte sie mir nach der etwas freien, formlosen Anknüpfung unserer Bekanntschaft nun durch um so strengere Würde imponieren, so daß ich im ersten Moment ganz verblüfft war.

»Mit wem habe ich die Ehre?« fragte sie, die Türklinke in der Hand, den Spalt der nur wenig geöffneten Tür mit ihrer Gestalt verdeckend, ernst und mit ostentativer Zurückhaltung.

Eingeschüchtert durch diesen gar nicht erwarteten Empfang, nannte ich ziemlich kleinlaut meinen Namen. Jetzt zeigte sie eine befriedigte Miene und ließ mich eintreten. Es war ein schlicht möbliertes Zimmer. Sie lud mich ein Platz zu nehmen, und als ich das etwas befangen getan hatte, erklärte sie mir: »Es war mein Wunsch, Sie über jenes Mädchen« – sie deutete nach der Decke – »aufzuklären. Ich habe bemerkt, daß Sie mit ihr anknüpfen wollen, und da Sie ein Fremder sind und allem Anschein nach von besserem Stande, hielt ich es für Menschenpflicht, Sie zu warnen. Es ist ein liederliches Mädchen, die Marinka, die –«

Ich unterbrach sie, indem ich versicherte, daß ich nur rein aus Langeweile und Übermut, ohne weitere Absichten mit dem Mädchen Scherz getrieben. Im stillen dachte ich: »Echt weiblich!« Sie fühlte sich natürlich gekränkt, daß ich einem so untergeordneten Wesen wie diesem Hausmädchen im zweiten Stockwerk süße Augen gemacht, ohne ihr im ersten Stockwerk irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich überreichte ihr meine Blumen und drechselte ein paar Komplimente, die sie, sichtlich geschmeichelt und erfreut, mit freundlichem Lächeln entgegennahm. Das hatte ich in den ersten fünf Minuten gemerkt, daß Eitelkeit und ein stark entwickeltes Selbstgefühl zu den hervorstechendsten Eigenschaften meiner neuen Bekanntschaft gehörten. Sie erzählte mir, daß sie dem Haushalt einer sehr reichen vornehmen alten Dame schon seit Jahren vorstehe, daß sie außer für diese noch für das leibliche Wohl einer Gesellschafterin zu sorgen habe, wobei ihr zwei Dienstboten zur Seite stünden. Wir plauderten lebhaft, als die Türklingel uns unterbrach; meine neue Bekannte – sie hatte sich Flora Stockel benannt – eilte hinaus und kehrte mit einem reizenden etwa achtzehnjährigen Mädchen zurück, die sie als ihre Stiefschwester Marie Berg vorstellte. Einschalten will ich hier, daß damals Ungarn noch nicht von dem nationalistischen Eifer erfaßt worden war, der später alle Ortsstraßen und Familiennamen magyarisierte. In Budapest waren neben den ungarischen auch noch die deutschen Straßennamen zu lesen und zahlreiche deutsche oder von Deutschen abstammende Familien hatten es noch nicht für nötig gehalten, ihre Namen ins Ungarische zu übertragen. Marie Berg war eine hübsche Brünette, deren blitzende, dunkle Augen mich neugierig musterten. Flora Stockel klärte ihre Schwester mit ein paar Worten über mich und die Ursache unserer Unterredung auf. Die Brünette warf geringfügig ihre Lippen auf.

»Die Marinka! An so anen – i hätt' beinah' g'sagt, Mistfink – solltens Ihnen doch nit wegwerf'n. Konntens denn in der ganzen Budapester Stadt nit a besseres Madel finden –?«

Ich lächelte über ihren Eifer, dann nahm ich eine zerknirschte Miene an.

»Ich fühle mich tief beschämt.«

Meine Augen bewundernd auf den frischen roten Wangen und der hübschen und ein wenig üppigen Gestalt der Achtzehnjährigen, die etwas kleiner war als ihre Schwester, ruhen lassend, fügte ich mit einer leichten Verneigung vor dem schönen Mädchen hinzu: »Nachdem ich das unverdiente Glück gehabt, zwei so anziehende, reizende junge Damen kennen gelernt zu haben, werde ich natürlich meine Bewunderung –«

Da unterbrach mich die Ältere, die es sichtlich nervös machte, daß ich der Jüngeren soviel Aufmerksamkeit schenkte: »wenn das dein Peppi hört', Marierl, was meinst –?«

»Ui jegerl!« versetzte diese und zog ihre Augenbrauen hoch. »Der ist ohnehin eifersüchtig g'nug. Wenn der sieht, daß i mit einem andern sprech', dann geht er gleich hoch wie angestecktes Feuer.« Und dann senkte sich plötzlich ein Schatten über die lieblichen freundlichen Züge. »Ja, der Peppi!«

Ich sah erstaunt, fragend von der einen zur anderen. Die Ältere gab die Erklärung.

»Sie müssen wissen, der Peppi ist der Sohn des reichen Brandhofer, der die große Wirtschaft in der Nachbargasse hat. Der Peppi soll später einmal die Wirtschaft übernehmen und der Vater will, daß er die Tochter seines Kollegen von der Deákgasse heiratet, der ebenso reich ist wie er selber.«

Marie Berg tippte mit ihrer zierlichen Rechten auf die feuchtschimmernden Augen.

»Wenn ich der Peppi wäre,« warf ich glühend ein, »dann würde ich mich einfach nicht an das Gebot des alten Herrn kehren und treu zu meinem schönen Marierl halten.«

»Wenn er doch von seinem Vater abhängig ist!« warf die Bekümmerte ein.

»Ganz egal!« rief ich mit Überzeugung. »Ich ginge einfach mit meinem Schatz durch.«

Das arme Marierl sah mir in das lodernde Gesicht.

»Ja, i glaub' Ihnen, Sie schau'n ganz danach aus. Aber mein Peppi hat halt nit die Kurasch.«

»Das versteh' ich einfach nicht,« beharrte ich. »Für meinen Schatz würde ich durchs Feuer gehn, und kein Vater und keine Mutter würde mich ihm abwendig machen können.«

Marie lächelte unter Tränen.

»I glaub', Sie fangen überhaupt leicht Feuer.«

Mit kräftigem Kopfnicken bejaht ich.

»Allerdings, wenn ich ein hübsches Mädchen seh', brenn' ich immer lichterloh und möchte es am liebsten gleich beim Schopf kriegen und küssen.«

Ich sah das hübsche Kind mit den frischen Wangen und den zündenden Glutaugen begehrlich an und strich mir unternehmend den Schnurrbart.

Sie lachte laut und machte ein komisch furchtsames Gesicht, während sie zugleich ein paar Schritte zurücktrat.

»Da muß man sich ja vor Ihnen fürcht'n.«

Ich trat mit ausgebreiteten Armen auf sie zu; sie flüchtete, ich rannte ihr nach, wir jagten uns durch das Zimmer, bis ich sie erreicht hatte. Die sich kokett Sträubende küßte ich herzhaft.

Die ärgerliche Stimme der Älteren veranlagte mich, daß ich mich rasch umdrehte.

»Wart', Marierl, das sag' ich dem Peppi!«

Flora Stockel saß auf dem Sofa und machte ein bitterböses Gesicht; aus ihren Augen blitzten Neid und Verlangen. Ich eilte hin zu ihr, warf mich neben sie, umschlang ihren Nacken und zog sie zu mir heran. Sie machte die mir von ähnlichen Situationen her bereits bekannte falsche Kopfwendung, und unsere Lippen fanden sich zu einem brennenden Kuß.

Das helle Lachen der Jüngeren erklang hinter uns. Ich sprang auf. Die Ältere, rasch versöhnt, sah zu der Schwester hinüber und lachte jetzt auch ihrerseits munter und fröhlich.

»Schaun's! Sie sind ja a netter Schneck!« rief das Marierl, offensichtlich ganz wirr und benommen von meiner kecken Attacke. »Sind alle Deutschen so –?«

»Alle, die ein warmes Herz und ein offenes Auge für Frauenschönheit haben!«

Dem flotten Anfang folgte in gleichem Tempo die weitere Entwicklung. Dem schwarzäugigen Marierl, das in ihren Peppi arg verschossen war und sich heimlich mit ihm traf, begegnete ich allerdings selten, aber mit Flora, die eine ernstliche Neigung zu mir gefaßt zu haben schien, gelangte ich bald in leidenschaftliche Beziehungen. Schon das Marierl hatte einmal gelegentlich eine Anspielung gemacht, den Namen eines Mannes genannt, der einen russischen oder polnischen Klang hatte, aber die Ältere hatte rasch mit einer heftigen Geste abgewehrt. Nun enthüllte mir Flora eines Tages etwas gänzlich unerwartetes, überraschendes. Sie sei seit einem Jahr verlobt, mit einem adligen Russen, der in Warschau Zollinspektor sei. Im vorigen Sommer, als sie mit ihrer Herrin in Karlsbad gewesen, habe sie ihn kennen gelernt. In sechs Wochen solle die Hochzeit stattfinden, Aber sie habe sich entschlossen, das Verlöbnis aufzuheben. Ich erschrak natürlich nicht wenig.

»Aber doch nicht etwa –?«

Sie nickte. »Jawohl, deinetwegen. Ich habe dich lieb; nie werde ich einem andern Mann angehören.«

Es lag eine solche Entschiedenheit, ich möchte sagen: fanatischer Zug in ihren Mienen, daß ich erkannte: hier kam mehr als eine Laune oder ein loses, leichtes Liebesspiel von ihrer Seite, hier kam vielmehr eine bezwingende Leidenschaft, eine tiefe, alles andere in ihr auslöschende große Liebe zum Ausdruck.«

»Aber was wird dein Verlobter sagen!« warf ich wie betäubt ein.

Sie zuckte die Achseln.

»Ich kann ihm nicht helfen. Soll ich ihn heiraten mit der Liebe zu einem anderen im Herzen?«

»Aber hast du ihn denn nicht geliebt?«

»Nein. Er ist viel älter als ich, über fünfzehn Jahre. Sie haben mir alle soviel zugeredet. Es sei eine glänzende Partie für mich. Da gab ich denn schließlich nach.«

»Aber ich,« stotterte ich ganz verwirrt, »ich kann dir doch nichts bieten. Du kennst doch meine Lage. Ich kann ja nicht daran denken, dich zu heiraten.«

5ie machte abermals eine Bewegung, die ihre volle Gleichgültigkeit gegenüber allen Bedenken bekundete.

»Wenn ich nicht deine Frau werden kann, so bin ich eben deine Geliebte, was liegt daran! wenn ich nur bei dir bin, wenn ich nur weiß, daß du mich liebst.«

»Ja, was soll denn werden? Wovon sollen wir leben?«

Ihre Augen blitzten voll Energie und Leidenschaft.

»Wir gehen weit fort von hier, nach Berlin, oder wohin du sonst willst. Mit der Zeit wirst du schon irgendeine Anstellung finden. Vorläufig reicht das, was ich von meinem Vater geerbt und mir in den letzten acht Jahren erspart habe; außerdem habe ich eine volle Ausstattung, auch Hauswäsche.«

Alle meine Einwendungen prallten ab an ihrer leidenschaftlichen Entschlossenheit. Sie hatte sich bereits so ganz in die Idee hineingelebt, daß wir zwei zueinander gehörten und daß uns nichts mehr trennen könne, daß alle meine Vernunftgründe nicht dagegen aufkommen konnten. Mit Stolz führte sie mich zu ihrem Wäscheschrank. Da lag Unterkleidung jeder Art aus Leinwand und Battist, Taschentücher usw., alle Arten in Dutzenden von Exemplaren, ferner Bettwäsche, Handtücher, Servietten und was man sonst noch im Haushalt braucht. Ebenso reichlich war ihre Garderobe: Kleider, Jacken, Mäntel und Stiefel verschiedenster Art. Kurz: zur Hochzeit mit dem Russen war alles vorbereitet worden.

Mir wirbelte noch der Kopf, als ich ins Hotel zurückkehrte. Der Baron empfing mich mit düsterer Miene.

»Der Geschäftsführer des Hotels hat mich schon gemahnt,« sagte er. »Wir schulden noch die Rechnung der letzten Woche. Am besten, ich kehre nach Berlin zurück und spreche mit Ihrem Vater.«

»Und ich?«

»Sie bleiben gewissermaßen als lebendes Pfand,« erwiderte er mit grimmigem Humor, »wenn Ihre Eltern das Geld zur Erlangung des Bürgerrechtes nicht schicken, können Sie auch nicht als Offiziersaspirant eintreten.«

Die Lust, noch einmal Soldat zu werden, war mir mit der Zeit völlig vergangen. Mir schwirrten Floras Worte im Kopf herum. So nahe stand mir der ungarische Baron nicht, als daß ich ihm von dem schweren Konflikt, in dem ich mich befand, Kenntnis gegeben hätte. Ich erklärte mich nur kurz mit seinem Vorschlag einverstanden.

Schon am nächsten Morgen reiste Baron v. Madvanski ab. Ein paar Tage später sandte mein Vater den Betrag, den wir dem Hotel schuldeten, und das nötige Reisegeld zur Rückkehr. Zugleich schrieb er, daß er beschlossen habe, mit der Familie – meinen ältesten Bruder und meine verheiratete Schwester ausgenommen – nach Amerika überzusiedeln, um sich dort eine neue Existenz zu schaffen. Dort, wo uns und unsere glänzende materielle Vergangenheit niemand kannte, würde ihm das leichter sein als im Vaterlande, wo Vorurteil und allerlei Demütigungen ihn auf 5chritt und Tritt behinderten, vorläufig wolle er mit meinem jüngeren Bruder, der die technische Schule absolviert hatte und in Amerika am schnellsten passende Beschäftigung finden werde, hinübergehen und uns andere erst später nachkommen lassen.

Der Brief erregte mich aufs äußerste. Stundenlang ging ich in meinem kleinen Hotelzimmer auf und ab und rang in schwersten Kämpfen mit mir. Flora verlassen, nachdem ich ihre ganze Zukunft, freilich, ohne es zu ahnen, zerstört hatte? Würde sie es überwinden? Ich kannte ihre Leidenschaft, ihre jähe Impulsivität genügend, um zu fürchten, daß sie irgendetwas gewaltsames tun würde, wenn ich nun plötzlich auf und davon ging und sie ihrem Schicksal überließ? würde sie zu dem Russen zurückkehren? Schwerlich! Nachdem sie mich kennen und lieben gelernt, hatte sie sich in einen förmlichen Haß, in eine gründliche Verachtung ihm gegenüber hineinphantasiert. würde nicht eine schwere Verantwortung auf mich fallen, würde ich je darüber hinwegkommen, wenn sie in ihrer Verzweiflung Hand an sich legte? Aber was sollte ich tun? Heiraten, mich für das ganze Leben an eine Frau binden, die ich erst seit vier Wochen kannte, die in so ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen war, so ganz andere Ansichten hatte wie ich? Ihre Bildung hatte doch große Mängel, wenn sie auch viel natürliche Intelligenz und sogar dichterische Begabung besaß, wie ich gelegentlich konstatiert hatte. Aber sie verlangte ja gar nicht, daß ich ihr meinen Namen gab, sie wollte ja nur meine Liebe.

Ich warf mich auf einen Stuhl, stützte die heiße Stirn in die Hand und sann. Lange grübelte ich über dieses Problem: was war zweckmäßiger und für mich vorteilhafter, sie als Frau oder als Geliebte mit mir zu nehmen? Endlich kam ich zu einem Entschluß, wenn ich überhaupt meine Zukunft mit ihrer verflocht, dann mußte ich sie zu meiner Frau machen. Anders wäre es allzu gewissenlos gewesen, sie aus ihren gesicherten Verhältnissen herauszureißen, um ihr eine so ungewisse, so demütigende Stellung zuzuweisen. Ich durfte nicht nur an mich, ich mußte noch mehr an sie denken. Sollte ich von dem Gelde meiner Geliebten leben? Nein, nimmermehr! wenn sie meine Frau war, durfte ich ihre Ersparnisse in Anspruch nehmen, um uns beiden eine Existenz zu gründen, von meiner Geliebten durfte ich das nicht. Aber sollte ich nicht doch lieber zu meiner Familie zurückkehren? Eine heftige Unlust erfaßte mich bei diesem Gedanken. Ich war nahezu 25 Jahre alt. Sollte ich in ihrer bedrängten Lage meinen Eltern noch weiter zur Last fallen? Wieder in Berlin müßiggehen, um dann in Amerika wer weiß welche niedrige Tätigkeit auszuüben? Ich hatte den Widerwillen gegen das Dollarland von meinem ersten Aufenthalt her, wo ich zweimal in kurzer Zeit bestohlen worden war, wo die rohe, abstumpfende, wilde Jagd nach dem Gelde noch widerwärtiger, zügelloser, härter ausgeübt wurde als in Europa, noch nicht überwunden. Nie und nimmer konnte ich dort das Glück finden, viel eher konnte ich, eine so energische, auf eigenen Füßen stehende, mir ganz ergebene Frau wie Flora Stockel zur Seite, mir im Vaterlande eine meinen Wünschen und Fähigkeiten entsprechende Zukunft zimmern.

Als ich der Geliebten am Nachmittag meinen Entschluß mitteilte, erfaßte sie ein wahres Delirium von Freude. Und je froher und glücklicher sie sich gebärdete, desto ruhiger wurde es in meinem Innern, desto mehr verflüchtigten sich die Bedenken und Zweifel, die mich innerlich noch gequält hatten. Flora sowohl wie mich drängte es, aus den immerhin für beide Teile wenig angenehmen Verhältnissen hier herauszukommen. Ich wußte, daß Floras Eltern, besonders ihr Stiefvater, unsere Beziehungen, die ihnen nicht ganz verborgen geblieben waren, heftig tadelten, und daß sie in mir den Zerstörer der schönen, glänzenden Zukunft sahen, die sie für ihre Tochter von der Ehe mit dem russischen Zollinspektor erwarteten, auch Floras Herrin, die ihr sehr wohl wollte, mochte, obgleich ich nichts darüber gehört hatte, nicht gerade Sympathie für mich hegen.

Damals gab es in Ungarn noch keine Zivilehe. Wir hatten nur mit unseren Papieren zum Pastor zu gehen und unsere Trauung anzumelden. Der katholische Pfaffe versuchte, meine Frau, die gläubige Katholiken war, von der Heirat mit dem »Ketzer« zurückzuhalten, und als sie seine Bemühungen mit aller Entschiedenheit zurückwies, zu dem Versprechen zu überreden, unsere Kinder katholisch taufen zu lassen. Meiner Instruktion gemäß verweigerte sie auch das. Darauf begaben wir uns zu dem evangelischen Pfarrer und die Trauung wurde für den drittnächsten Tag angesetzt. Es war zufällig Freitag, der dreizehnte August, und es regnete in Strömen, als wir zur Kirche fuhren. Aber Floras Glück war so groß, daß sie, obwohl sie sehr abergläubisch war, sich nicht daran stieß. Mit uns fuhren nur Floras Schwester, das Marierl, und ein den beiden befreundetes Ehepaar zur Trauung. Floras Herrin, eine höchst liebenswürdige, mit feinstem Herzenstakt begabte Greisin, lud uns beide, Flora und mich, zu einem solennen Mahl, an dem noch ihre Gesellschafterin, auch eine schon bejahrte Dame, teilnahm. Am Abend fand in einigen Räumen, die uns die gütige alte Dame überlassen hatte, für unsere Trauzeugen und ein paar Freundinnen meiner jungen Frau eine vergnügte Hochzeitsfestlichkeit statt. Da tanzte ich zum ersten- und letztenmal in meinem Leben den Czardas. In der Nacht noch fuhren wir nach Wien, wo wir zunächst unseren Aufenthalt nehmen wollten. Meinen Eltern gab ich erst von hier Nachricht von dieser bedeutungsvollen, folgenschweren Wendung meines Schicksals.

So war ich also in die Ehe »gestiegen«. Der studentische Ausdruck ist wohl für diesen so plötzlichen, so leichtfertigen, gewissermaßen improvisierten Abschluß meines bewegten Jünglingslebens nicht ganz unpassend. Und dann? Dann kamen zwölf Jahre eines schweren Martyriums für uns beide, die mir harte, schwere äußere Kämpfe und noch viel bitterere, schmerzlichere seelische Leiden brachten, die jedoch auch eine läuternde, heilsame Wirkung auf mich ausübten und mich zum ernsten, fleißigen Manne reiften. Unsere gleichen heißen und impulsiven Temperamente und gleich empfindlichen Nerven und die so klaffend große Verschiedenheit unserer Erziehung, unserer Gewohnheiten und Anschauungen schufen vom ersten Tage unserer Ehe an bis zum Schluß scharfe Konflikte, verbitternde, oft recht geräuschvolle Auseinandersetzungen. Flora war eine brave, fleißige, vor keiner Anstrengung und Arbeit zurückscheuende, eine mir in den schwersten Zeiten stets treu und opferbereit zur Zeite stehende Frau. Aber unsere Ehe war und blieb ein beständiger aufreibender, die Nerven aufs äußerste zermürbender Kampf, der mich um und ummodelte, mir keine Ruhe, keine seelische Sammlung zur gedeihlichen Arbeit ließ, der mich seelisch aufs tiefste darniederdrückte, ja, mich dem Wahnsinn, dem Selbstmord nahebrachte, bis endlich infolge gegenseitiger friedlicher Vereinbarung die Stunde der Erlösung schlug und die äußere gesetzliche Scheidung der seelischen Trennung folgte.

In einer zweiten Heirat lernte ich dann das Glück der Ehe kennen in seiner ganzen Schönheit, Tiefe und Vollendung, freilich auch neue Wirrungen, neues Kämpfen und Ringen mit dem Zwiespalt der seelischen und körperlichen Natur des Mannes, das wohl keinem Ehemann ganz erspart bleibt. Doch davon ein andermal!


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