Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Was gibt es Trostloseres als einen späten Herbsttag im Hochgebirge! Stumm sitzt das zusammengeschmolzene Häuflein der Gäste in einer Ecke des großen Hotelsaals in Überziehern und friert, während draußen ein eisiger Wind das Tal hinunterfegt und der düster bewölkte Himmel das bißchen Sonne gänzlich fernhält. Der einzige noch übriggebliebene Kellner hat seinen Frack schon längst an den Nagel gehängt. Der Mensch wagt sich bei ihm wieder an die Oberfläche, selbst er friert trotz seines warmen Rockes und seiner Filzschuhe. Auch der Wirt hat seine ewig gleiche Physiognomie verändert. Er ist jetzt mit dem Saisanabschluß beschäftigt und seine Trostsprüche auf gutes Wetter klingen weniger hoffnungsvoll; augenscheinlich sieht er mit einer gewissen Spannung dem Schluß des Hotels entgegen. Den einzigen Lichtpunkt bildet schließlich ein gemeinsamer Grog. Mag das Wetter jetzt toben wie es will, was schadet's! Doch wie sieht es am andern Morgen aus! Man reibt sich die Augen, um recht zu sehen. Draußen liegt der erste Schnee, fußtief, dicke Wolken hängen an den Bergen und es schneit unaufhörlich weiter. Das Gehen ist so gut wie unmöglich geworden, die Post ist ausgeblieben und die Kälte unerträglich, was ist da noch zu machen, als schleunigst das Weite zu suchen! Der Schlitten wird angespannt, freundlich holt der geschäftige Wirt noch einige wollene Decken hervor und wünscht ein fröhliches Wiedersehen im nächsten Jahre. Die Saison ist geschlossen, und man ist herzlich froh, wieder unter Menschen zu kommen. Nichts ist natürlicher als das. Arbeitet doch auch die Phantasie die gewonnenen Eindrücke noch weiter aus und umgibt die Landschaft hier oben mit märchenhaften Vorstellungen von Schneemassen, Kälte, Unwetter, Lawinen und sonstigen Gefahren, welche den Wanderer abschrecken. Aber so rauh und häßlich der Einzug des Winters auch sein kann, so unfreundlich er sich nach den schönen Herbsttagen anläßt, er ist doch ganz anders, als man es sich vorstellt. Die Wolken ziehen das Tal hinab, und während sie wie ein bleierner Mantel über dem menschlichen Getriebe dort unten lagern, wölbt sich ein herrlich klarer, beständiger Himmel über den luftigen Höhen, und die Sonne wirft ihre freundlichen Strahlen über eine Welt von Schnee und Eis, wie sie gewaltiger kaum gedacht werden kann. Welche Pracht entfaltet sich da, welch gewaltige Größe ergreift das Gemüt in staunender Ahnung des Unendlichen! Wer aber, der Lust am Wagen hat, wollte nicht eindringen in diese eigen fremde Welt und ihre Rätsel erforschen? Freilich, man befindet sich da nicht auf gebahnten Pfaden und findet weder Rat noch Hilfe. Alles ist anders und die Schwierigkeiten sind ganz unberechenbar. Man geht also ernsten Prüfungen des Willens entgegen, und die unsicheren Verhältnisse verlangen die angespannteste geistige und seelische Tätigkeit ebenso, wie ein sicheres, entschlossenes Urteil. Wer also ein leichtes Vergnügen sucht, für den ist das winterliche Hochgebirge nicht geschaffen. Wer aber weiß, daß jeder wahre Genuß erkämpft werden muß, daß jede Leistung auch ihre Befriedigung mit sich bringt, der gehe getrost im Winter in die Berge, er wird sich reichlich belohnt finden. Die Freiwilligkeit, mit welcher man Mühen und Gefahren auf sich nimmt, die intensive Anspannung des Geistes und Gemütes, das Schweben zwischen Furcht und Hoffnung und das Bewußtsein, daß Tatkraft und Ausdauer alles leisten können, verschaffen ein erhebendes Gefühl und eine Befriedigung, die das Alltägliche niemals gewährt.«
Diese und ähnliche Worte, die ich anfangs der neunziger Jahre schrieb, deuten auf den Umschwung hin, der damals zugunsten des alpinen Wintersports einsetzte. Wie bei der ersten bergsteigerischen Eroberung des so lange mißachteten Gebirges plötzlich alte Vorurteile über Bord geworfen wurden, so brauste jetzt noch viel schneller ein erfrischender Hauch über das Gebirge hinweg, um es sich auch in der bisher so verpönten Winterszeit dienstbar zu machen. Wenn man heutzutage sieht, wie alle Welt dem alpinen Wintersport huldigt, wie von den Hauptstädten des Flachlandes allsonntäglich übervolle Züge ins Gebirge eilen und auf die stets wachsende Zahl der Sportszentren blickt, denen die Wintersaison beinahe mehr bedeutet, als die des Sommers, so kann man sich kaum einen Begriff davon machen, wie ganz anders die Dinge früher lagen. Was jetzt ein selbstverständliches Vergnügen ist, galt als verrückt, ja beinahe als gemeingefährlich. Ein rodelnder Mann konnte sich überhaupt nicht oder höchstens bei Nacht sehen lassen und fiel, wenn er sich erwischen ließ, der Polizei zum Opfer. Mir selbst hat die heilige Hermandad einmal unter entsprechender Belehrung 1 Mark Strafe abgenommen, und ich tröstete mich nur damit, daß auch eine rodelnde Königin einst deshalb hatte verhaftet werden sollen. Im Gebirge selbst aber betrachtete es jeder als seine heilige Pflicht, einem alle nur möglichen Hindernisse in den Weg zu legen, denn das Bergsteigen galt geradezu als eine Art von Selbstmord.
Inzwischen wurde nun allerdings in dem Ski ein Mittel zur Überwindung des Schnees, dieser Hauptschwierigkeit und Gefahr, geschaffen, das unermeßliche Erleichterungen brachte und die Dinge völlig veränderte. Die wenigen skilosen Touren von damals sind deshalb nur noch historische Reminiszenzen und als Übergangsstadium für immer abgetan. Die ungeheuerlichen Anstrengungen aber, die dabei auch auf den kleinsten Vorberg verwendet werden mußten, und von denen man sich jetzt kaum noch einen Begriff macht, sind schon deshalb interessant, weil sie auf die Unsumme von Begeisterung hinweisen, die den eigentlichen Wintersport in Schwung brachte, denn dieser konnte erst dann seine richtige Verbreitung finden, nachdem die Schönheiten des winterlichen Hochgebirges erschlossen waren.
Diese Schönheit wurde einst vor allem durch das Gefühl der Verlassenheit beeinträchtigt, das gerade die bewohnten und zugänglichen Regionen im Winter unwillkürlich erwecken. Man sah in dem Schnee nur ein Leichentuch, das die blühende Farbenpracht der Natur vernichtete und verdeckte, und man kann sich ja auch kaum etwas Trostloseres denken, als ein einsames, verschneites Häuslein, um das die Bäume ihre kahlen Arme flehend nach dem düstern Himmel hinausstrecken, als eine Bank im Schnee, auf der sonst Liebende zu sitzen pflegen, ein Kreuz am Wege, ein Muttergottesbild, oder was sonst an Menschen-Freude, Glauben oder Leben erinnert. Mit dem Eindringen in das Gebirge wuchs dann aber doch das Gefühl für seine eigenartige Schönheit, für die weihnachtliche Pracht der Tannen zum Beispiel, deren Zweige sich so malerisch unter der Schneelast beugen, des Rauhreifs, der auch die feinsten Gegenstände mit seinem Silberkorn überzieht, für den Farbenreichtum des Schnees überhaupt, dessen langgestreckte Schatten die tiefstehende Sonne in beständiger Bewegung hält und ihnen ein so plastisches, geisterhaftes Leben gibt. Und welch beinahe überirdische Wucht nehmen die Felsenriesen über der verschneiten Landschaft an! Man betrachte sich nur unser Bild von den Grödner Alpen! Wie ganz anders stehen sie da, wieviel kälter, riesenhafter, unnahbarer über den verschneiten Hütten, als im Sommer! Daß das eigentliche Hochgebirge durch den Winter verhältnismäßig wenig verändert wird, ja zum Teil an Gestaltenreichtum einbüßt, ist ja richtig. Die Spalten der Gletscher sind verschneit, viele Rauhheiten eingeebnet, aber auch hier bieten Farbe und Lebhaftigkeit der wandernden Schatten prächtige Blicke, und ich brauche in dieser Hinsicht nur auf das Bild von dem winterlichen Grindelwalder Eismeer hinzuweisen. Freilich solche Schönheit, die sich aus der Einsamkeit und Kälte ergibt und das Gemüt bedrücken möchte, verlangt ein ganzes Herz, bedarf der befreienden Tat, die damals noch mehr als heutzutage notwendig war.
Doch kehren wir wieder in das Jahr 1884 und in die Hohe Tatra zurück, der ich den ersten winterlichen Besuch abstattete, den sie überhaupt erhalten hat. Es heißt da in meinem, an einen Freund gerichteten Tagebuch:
Sonntag, Poprad.
»Welch prächtige Eisenbahnfahrt so unmittelbar an dem winterlichen Gebirge entlang! Berg an Berg, Zacken an Zacken in nächster Nähe, alles unermeßlich hoch und tief verschneit! Herrlich!«
Montag, Schmecks.
»Ich befinde mich schon mitten in der Krisis. Alle raten mir ab, beziehungsweise sträuben und weigern sich mitzugehen.«
Dienstag früh, Schmecks.
»Tiefer frischer Schnee ist gefallen, aber ich ziehe doch los.«
»Da bin ich also inmitten der winterlichen Hochgebirgswildnis! Welch ein Kampf, bis ich heute früh endlich von Schmecks wegkam! Aber ich habe doch jetzt wenigstens einen Führer, der Schneid zu haben scheint, Jakob Horway aus Neu-Walddorf. An den Marsch hierher werde ich denken. Ein zehnstündiges Waten in metertiefem Schnee! Dazu noch mitten durch den Urwald, denn sofort hatten wir den Weg verloren.
Unsere Blockhütte ist wunderbar am Poppersee, einem richtigen »Meerauge«, gelegen. Der Nebel, der an den Bergen hängt, macht das prächtige Winterbild noch düsterer und einsamer.
Als wir endlich hier ankamen, fällten wir ein paar Bäume, machten ein Riesenfeuer und kochten drauf los, daß es eine wahre Freude war. Und wie das schmeckte! Jetzt sitzen wir am Kamin, trinken Ungarwein und schwätzen. Draußen heulen ein paar Biester, hin und wieder gehe ich hinaus. Man kann sich ja gar nicht satt sehen an solch einsamer Großartigkeit, die im Mondlicht doppelt wild wirkt. Ringsum diese riesigen Berge über den verschneiten Tannen! Drüben am See steht eine Gemse. Kein Rufen oder Pfeifen vermag sie in Bewegung zu bringen.
»O Winterwaldnacht, stumm und hehr
Mit deinen eisumglänzten Zweigen,
lautlos und pfadlos, schneelastschwer,
Wie ist das groß – dein stolzes Schweigen!«
K. Stieler
»Nun hab ich wieder einmal meinen Willen durchgesetzt! wie hat man mich gewarnt und verhöhnt wegen meiner »verrückten« Idee, im Winter auf die Berge gehen zu wollen. Und die Redensarten machen doch etwas aus. Man wird schließlich scheu vor sich selber.
Die Nacht habe ich auf einer schmalen Holzbank verbracht. Sie war hart um Steine zu erweichen, und es fror mich zum Erbarmen. Als ich um fünf Uhr aufwachte, fiel mein rechter Arm wie tot vom Leib herab. Er hatte besser geschlafen als ich, und ich brauchte volle 10 Minuten, um ihn durch Reiben und an die Wand schlagen wieder einigermaßen zum Leben zu bringen. Horway meinte, das Wetter sei miserabel, und einen Augenblick lang war ich schwach genug, trotz aller Qualen, mich wieder aufs Ohr legen zu wollen. Dann ging ich doch hinaus ins Freie. Einladend sah's ja da allerdings nicht aus. Dicker Nebel überall, alles grau in grau, dazu eine Hundekälte. Die brachte mich aber auch in Bewegung und zur Vernunft. Was sollte ich denn den ganzen Tag über in dem Loch da drinnen, das mir gestern abend ja ganz romantisch erschienen war, jetzt aber so entsetzlich öd und schmutzig aussah!
Du weißt, daß ich mich seinerzeit zweimal vergeblich an der Meeraugspitze versuchte und – alte Liebe rostet nicht, vornehmlich wegen diesem Berg war ich hierher gekommen, er sollte der erste sein und er wurde es.
Der Schnee war recht gut. Wir gingen glatt über die Tannenbäumchen weg, die bis auf die obersten Spitzen eingefroren waren, so daß wir schon nach Fünfviertelstunden die Froschseen erreichten und damit 400 Meter Höhendifferenz überwunden hatten. Dann stiegen wir ein steiles, schluchtartiges Tal nach rechts hinauf. Anfangs ging's gut. Später mußten Tritte gehauen werden, und glatt vereiste Felsen machten Schwierigkeiten. Dann kamen weite Kessel mit ungeheuren Steilwänden. Rechts die Tatraspitze, links die Meeraugspitze, dazwischen das Hunfalvy-Joch, alles noch immer unermeßlich hoch über uns. Welches Gefühl, wir zwei Menschlein zwischen solchen Schneemassen! Bald blendete uns dann der Sonnenreflex trotz unserer Brillen, und das Gesicht brannte recht schmerzhaft in der Glut, aber wir stiegen unentwegt weiter und erreichten nach langen Mühen das ersehnte Joch. Die Neugierde hatte mich vorwärts getrieben, und ich konnte es schließlich kaum mehr erwarten, bis die Mauer, die uns den Blick dort hinüber verbarg, sich senkte. Und der war ein Leben wert in seiner überwältigenden Wildheit! Dazu die Erinnerung! Ich sah die alten Wege wieder, die ich damals gemacht, tief, tief unten, und alles wurde wieder lebendig, was ich geschaut, gehofft, gefühlt und erlebt.
Der weitere Anstieg wurde ziemlich gefährlich. Der zum Gipfel führende Grat war von überhängendem Schnee bedeckt, der leicht durchbrechen konnte. Ein Glück, daß Horway sich nicht darauf verstand. Schließlich kamen wir auf eine Art Vorgipfel und kletterten rittlings weiter, das eine Bein in diesem, das andere in jenem Tal, bis Horway erklärte, daß er da nicht mehr mitmache, wir versuchten es also auf dem steilen Hang zur Linken, wo uns der tiefe Schnee viel zu schaffen machte. Aber schließlich erreichten wir nach einigen Kletterkunststücken über vereiste Felsen doch gegen 1 Uhr den Gipfel.
Wie triumphierte ich! Dazu diese Aussicht! Dort unten über der Welt ein Wolkenmeer, das nur in den weitesten Fernen die schneebedeckten Karpathengipfel hervortreten ließ, hier oben sämtliche Tatrariesen im eisigen Schneegewand, phantastisch über den tiefen Tälern mit ihren verschneiten, winzig kleinen Tannen und vereisten Seen.
Wir ließen uns alle Zeit, kochten Tee und freuten uns königlich, wer weiß wie lange.
Beim Abstieg kam dann sofort der Ernst wieder. Wir hatten uns zu lange aufgehalten. Der Schnee war von der Sonne so erweicht, daß wir bis über die Ohren einsanken und die Gefahr, Lawinen loszutreten, in nächste Nähe rückte. Eine Zeitlang überlegten wir ernsthaft, ob wir bis zum andern Morgen dableiben sollten bis der Schnee wieder gefroren war, dann aber siegte doch der Untersuchungsgeist, und wir kämpften uns durch so gut es ging.
Jetzt sitze ich am Feuer und philosophiere. So etwas macht hier oben Spaß. Man ist da empfänglicher für Ewigkeitsmomente und ahnt den Weltengeist eher.«
»Heute war's nichts. Wir versuchten uns vergeblich an der Tatraspitze (2562 m). Alles ließ sich zunächst gut an. Das Wetter war herrlich, der Schnee gut gefroren und die Aussicht prächtig. Nachdem wir das Trümmertal hinaufgestiegen waren, machten wir kurz vor dem Eissee linksum, in einen gewaltigen Kessel hinein, über dem unser Gipfel thronte. Er hat zwei durch eine Kluft voneinander getrennte Spitzen, zu deren Sattel eine steile Schneerinne hinaufführt. Auf sie hielten wir uns zu. Im übrigen merkte ich bald, daß ich mich in den Höhenverhältnissen verschätzt hatte. In endlosem, monotonem Schneebrechen, scheinbar ohne irgendwie vorwärtszukommen, kämpften wir uns unter unermeßlichen Mühen Stunde für Stunde vorwärts. So wurde es 11 Uhr, die Sonne brannte glühend herab, und der Schnee wurde weicher und weicher. Immer mehr zeigte es sich, daß wir zu spät losgezogen waren, wenn wir auch den Gipfel erreichten, so mußte es mit dem Abstieg doch eine recht bedenkliche Sache werden. Was Wunder, daß wir uns schließlich entschlossen, die Sache aufzugeben und nach einer Scharte im Hauptgebirgskamm zur Rechten hinaufzusteigen, um wenigstens noch jenseits hinübersehen zu können. Nach meiner barometrischen Messung waren wir 2400 Meter hoch, also etwa 150 Meter unter dem Gipfel.
Den Rückweg trat ich mit etwas beklommenem Herzen an, doch ging es besser, als ich gedacht. Wir versanken zwar bis unter die Arme im Schnee, aber die Geschichte hielt doch. Mächtig anstrengend war's natürlich. Morgen geht's auf den Krivan (2496 m), deshalb der Wohnungswechsel.«
»Mein gestriges Quartier war großartig. Insassen: Ein Bauer mit Frau und Töchterchen und ein Troglodyt, als Sklave sozusagen. Letzterer sah fürchterlich aus. Ein langes, rabenschwarzes Flechtenhaar hing über das unterwürfige Gesicht, dazu als Anzug ein einziger großer Schmutzlumpen. Kein Quadratzoll war ungeflickt. Halb sitzend, halb liegend, kauerte das Ungetüm hinter dem großen Ofen und erinnerte mich lebhaft an die Höhlenbewohner in Shakespeares »Sturm«.
Der Bauer und seine Frau waren freundlich und zuvorkommend. Sie holten mir alles herbei, was sie an Vorrat hatten. Während der Nacht schlief ich und Horway auf dem Boden, der Troglodyt hinter dem Ofen, das Töchterchen in der Wiege, daneben in der von unserem Zimmer durch eine offene Tür getrennten Küche das Ehepaar im Bett.
Um 3 Uhr morgens brachen wir auf und zogen beim Schein einer Laterne unseres Weges, schweigend, nachdenklich, bis es allmählich Tag wurde, herrlich, als dann die Sonne kam! Hinter uns ein graues Wolkenmeer, ringsum der Tannenwald in seinem weißen Gewand, über uns die mächtigen Gipfel mit ihren kalten Dunstkappen, die das heranflutende Sonnengold mehr und mehr verschwinden ließ. Dazu über allem dieser bläulich rosafarbene Hauch, wie ein unbeschreiblich feines Gewand! Auch einige Birkhühner flogen vorbei, und da und dort begannen Vögel schüchtern zu zwitschern, als ahnten sie den Frühling. Ist es nicht etwas Wunderbares um so einen einsamen Winterwald? Immer wieder schmetterte ich mein Leiblied in die Lüfte hinaus: »O Morgenluft, o Waldesduft, o goldner Sonnenstrahl.« Nach etwa 3 Stunden kamen wir an den Fuß unseres Berges, an dem wir uns mühsam, aber ohne besondere Schwierigkeiten emporkämpften, bei jedem Schritt vorwärts einen halben Schritt zurückrutschend. Eine Zeitlang hatten wir einen prächtigen Rückblick über die Hochebene bis zu den Liptauer Alpen. Auch drei Gemsen zeigten sich, die uns aus nächster Nähe verwundert ansahen. Dann kamen treibende Nebel, die die mächtigen Felsgestalten des Grates allerhand phantastische Formen annehmen ließen.
Auf dem Rückweg zur Majlath-Hütte schneite es in großen Flocken. Es war ordentlich mollig in dem tiefen, stillen Winterwald. Jetzt sitzen wir um ein Riesenfeuer, und Horway erzählt ungarische Räubergeschichten. Kann man sich's romantischer denken?
Morgen geht's über das Gebirge.«
Die beiden folgenden Tage brachten zwei verzweifelte Versuche, den Übergang über den Wildererpaß zu erzwingen. Das erstemal kam am Hinzen-See ein furchtbarer Schneesturm mit allerdings gewaltig wilden Ausblicken durch die schwarzen, tobenden Wolken, und jeglicher Versuch, vorwärts zu kommen, erwies sich als völlig aussichtslos. Tags darauf, bei schönem, kaltem Wetter kamen wir wesentlich höher, ertranken aber dann derartig im Schnee, daß wir wiederum, unter zum Teil recht bedenklichen Umständen, umkehren mußten. Nun, in Schmecks war's dann um so behaglicher bei Ungarwein und einem richtig gehenden Bett.
»Am Montag bestiegen wir die Schlagendorfer Spitze (2453 m). Es war anstrengend, aber kinderleicht, soviel Gerede die Leute in Schmecks auch daraus machten. Wenn nur der Ungarwein von tags zuvor nicht gewesen wäre! Auf dem Gipfel herrschte dicker Nebel, und nach einer Stunde frostigen Wartens kehrten wir wieder um, ohne die Hand vor dem Gesicht gesehen zu haben. Dafür konnten wir die ganze Strecke abrutschen, wie das Spaß machte!
Nachmittags gingen wir nach Neuwalddorf, Horways Heimatsort, wo es zu einem scharfen Krawall kam. Als ich zufällig in das Wirtshaus kam, fand ich eine erregte Gesellschaft von Führern vor, die unsere Touren bestritten, was Horway so in Harnisch brachte, daß eine richtige Keilerei zu entstehen drohte. Ich selbst nahm die Sache philosophischer, indem ich, auf mein Heldentum verzichtend, den Leuten erklärte, ihretwegen sei ich nicht gestiegen, sie könnten glauben oder nicht glauben, was sie wollten, das sei mir »Wurst im Superlativ«. Das brachte dann einigermaßen verdutzte Gesichter, und wir hatten unsere Ruhe.
Später zeigte mir Horway die im Dorf ansässigen Zigeuner. Es war das Tollste an Schmutz, was ich je gesehen. Eine niedere, nur durch ein kleines Loch einigermaßen erhellte Lehmhütte, war völlig von Menschen angefüllt. Dutzende von Weibern und Kindern lagen zerlumpt und halbnackt auf dem Baden herum. Tiere hätten es da nicht ausgehalten, und als ich eine Handvoll Kreuzer hineinwarf, ging ein Handgemenge los, von dem man sich keinen Begriff macht.
Sehr unterhaltsam war mein Nachtquartier, Horway brachte mich zu einem reichen Bauern, mit der Bitte, mich aufzunehmen. Der Mann, ein stattlicher Ungar, musterte mich von Kopf bis zu Fuß, dann, als ich wohl seinen Beifall gefunden hatte, nickte er stolz und bot mir Gastfreundschaft an. Ganz einfach war die Sache ja freilich nicht. Er und seine Frau, sein Schwiegersohn und seine Tochter und schließlich meine Wenigkeit hatten alle in einem Zimmer zu schlafen, die beiden Paare je in einem Bett, ich auf dem Boden, so daß es immerhin einiger Formalitäten bedurfte, bis wir endlich glücklich auf unsern respektiven Lagern untergekommen waren.
Der Dienstag brachte uns zunächst nach dem Kopapaß. Dabei hatten wir unterwegs einen herrlichen Blick auf die prächtige Umgebung des Grünen Sees. Weiße Seespitze, Grüne Seespitze und Lomnitzer Spitze ragen in himmelhohem, gezacktem Kranz um das stille Wasser, neben dem sich der sagenumwobene Karfunkelturm, ein kolossaler Felsblock, phantastisch erhebt. Alles im weißen Gewande, über den schneebedeckten Tannen!
Beim Abstieg auf der Nordseite des Passes fing dann unser Elend an. Wir ertranken einfach in den ungeheuren, pulverigen Schneemassen, waren wohl auch in beträchtlicher Lawinengefahr, und es ist kein Wunder, daß Horway schließlich wild wurde und nicht mehr mitmachen wollte. Ich kurierte ihn, indem ich ihn stehen ließ und mich allein weiterkämpfte. Ein Zurückgehen war ja doch ausgeschlossen.
Da es mit meinen Barmitteln ziemlich bedenklich stand, so machte ich vor Javorina halt und kochte ab. Dabei versöhnte sich auch Horway wieder, und wir zogen voll Fidelität in das Wirtshaus ein, wo es noch tüchtige Mengen Glühwein und zur Abwechslung auch wieder ein richtiges Bett gab.
Gestern ging's bei Nebelwetter zur Roztoka-Hütte, und ich ließ es mir nicht nehmen, auch zum Fischsee hinaufzusteigen, im Gedenken an damals.
Der Marsch hierher war fürchterlich. Auf der Nordseite, wo keine Sonne tagsüber den Schnee erweicht, so daß er des Nachts gefrieren kann, sind die Verhältnisse sehr viel schlimmer, als im Süden. Ob wir wohl wieder zurückkommen über das Gebirge? Meine Tage sind gezählt, und ich muß doch rechtzeitig wieder zu Hause sein! Im übrigen habe ich mich absichtlich in eine Zwangslage versetzt, wenn man wirklich muß, geht ja alles.
Heute früh traten wir uns den Weg zum Grünen See hinauf, als Vorbereitung für die morgige Tour. Es ist hier wohl einer der wildesten Teile des Gebirges und die Szenerie überaus großartig. Man kann sich kaum einen Begriff von diesen düstern, übereinander liegenden Felskesseln machen, von denen jeder gewissermaßen eine Welt für sich bildet.
»Heut war's wieder eine Gewalttour. Schon kurz nach 2 Uhr zogen wir hinaus in die nächtliche Stille des verschneiten Tannenwaldes. Über den Spitzen der Berge lagerten die Nebel. Sie verdeckten den Mond, der nur zeitweise sein Licht an den weiten Hängen herabfluten ließ, während man die Riesen nur wie Silhouetten sah. Ich fühlte mich doch etwas bedrückt. Würden wir hinüberkommen? Der Schnee war nicht besonders, aber unser Wegetreten von gestern lohnte sich. Die allmählich eintretende Dämmerung entfaltete eine eigenartige Pracht, überall langsam streichende Nebel in den abgelegenen Felskesseln, dort unten in dem verschneiten Tal unsere einsame Hütte und hoch über den Nebeln die zackigen Gipfel.
Es war ein schwerer Kampf zum polnischen Kamm hinauf, und mehrfach kam ich in Streit mit Horway, der wie immer die Felsen vorzog, während ich mehr Vertrauen zum Schnee hatte, auch wenn er noch so tief war. So trennten wir uns öfter, aber schließlich wurde die Paßhöhe doch erreicht, wir hatten gewonnen! Und welch merkwürdig ergreifendes Bild sich uns da bot! Die Nebel hatten sich gesenkt und lagerten bleiern über den Tälern, über uns aber fluteten neue Wolken durcheinander, die Bergspitzen bald bedeckend, bald frei lassend. Dazwischen Kämpften sich Sonnenstrahlen hindurch und gaben der Schnee- und Felsenwildnis eine geradezu magische Beleuchtung. Ich habe nie ein solches, ich möchte sagen überirdisches Chaos gesehen. Der Gedanke, daß es da Menschen geben könne, ging einem völlig verloren.
Der Abstieg sah ziemlich schlimm aus und wurde es beinahe auch. Der Erfolg hatte mich übermütig gemacht, und in meiner Achtlosigkeit trat ich eine regelrechte Lawine los, die uns beide eine gute Strecke weit mit sich nahm, so daß wir erst nach gewaltsamen Anstrengungen wieder zum Halten kamen. Horway schimpfte mächtig, während ich, bis über die Ohren im Schnee, laut lachen mußte. Sehr zu Unrecht, denn die unter uns dröhnenden Schneemassen ließen erkennen, daß es auch anders hätte gehen können.
Zum Schluß wurde die Schneewaterei immer entsetzlicher. Dazu ein eisiger Sturm, der durch Mark und Bein ging! Es schien, als habe sich noch einmal alles gegen uns verschworen.
Wie ich jetzt aussehe! Die Kleider zerfetzt und zerrissen und von dem Trocknen am Feuer verbrannt, das Gesicht voll Bartstoppeln und völlig verwildert. Na ja, sei's drum! Schön war's doch. Man wird eben wieder Mensch dort oben, nur Mensch, und darauf allein kommt's doch an! Was nützt mir alle Zivilisation, wenn ich nicht ein Kerl bin, der auch vor sich selber Respekt hat. Den aber bekommt man erst, wenn's wirklich gilt.«
Die tiefen Eindrücke, welche diese Reise auf mich machte, sind lange bestimmend für mich gewesen. Die Tat war zum erstenmal ganz zu ihrem Recht gekommen, und wenn es dabei auch weiter nichts Heroisches gab, so hatte ich doch eine unermeßliche Freude an ihr. Ja, hier konnte ich endlich den Kräfteüberschuß los werden, konnte mich austoben, ganz ich selbst sein, ohne die ewige kritische Sucht, die mich einst beständig hinderte, wirklich voll und rückhaltlos zu erleben. Hier mußte ich bedingungslos an mich und mein Tun glauben, wenn ich überhaupt etwas erreichen wollte, und dieser sieghafte Glaube war mehr wert, als alles, was mir das frühere Bummeln durch die Lande geben konnte, das eben doch nur ein Bummeln war. Welche Lust schon allein für meinen Trotz, die Widerstände zu brechen, meinen Willen immer wieder durchzusetzen gegen Menschen und Berge! Dazu die Einsamkeit, die meinem Hang zum Sinnieren so entgegenkam! Wie konnte ich mich da in mir selber verlieren, wie Abstand von der »kleinen Welt dort unten« gewinnen! Ja, die winterlichen Berge hatten es mir angetan, und ich wußte jetzt, wohin ich mich zu flüchten hatte.
Bald darauf war die schöne Berliner Studienzeit zu Ende und es hieß Abschied nehmen von guten Freunden, Freiheit und Ungebundenheit, um endgültig in den Alltag hineinzuschreiten, von dem ich mir die trübsten Vorstellungen machte. Nun, er erwies sich auch diesmal freundlicher, als ich gefürchtet. Zunächst konnte ich die Rückreise über die Schweiz machen und bei dieser Gelegenheit die stolze Jungfrau besteigen, was meinen Blick mächtig weitete. Dann war es in der kleinen Universitätsstadt keineswegs so schlimm. Nicht allein hatte ich es bei aller Anstrengung des Dienstes, die mir im übrigen behagte, in militärischer Beziehung recht angenehm, auch das studentische Leben, mit dem ich viel in Berührung kam, sagte mir zu, die hübsche Umgebung lockte mit ihren Wäldern, Hügeln, Weinbergen und Ruinen zum Nachdenken, und auch das Herz blieb nicht unbeschäftigt. In meinen Studien aber nahm ich erneut einen Anlauf, indem ich ganz zur Philosophie als dem letzten Hoffnungsanker überging. Eigentlich war es merkwürdig, daß ich das nicht schon längst getan, denn auf das Philosophieren und Grübeln lief ja doch alles bei mir hinaus. Was nützten mir alle Kenntnisse, wenn sie sich nicht zu etwas Lebenspendendem verdichteten, zu einer heiligen, alles umfassenden Überzeugung, zu einem Glauben, der Licht und damit auch Wärme ausstrahlte, mich über den Wechsel der Dinge stellte und sie begreifen ließ! Das aber sollte mir jetzt die Philosophie geben, nachdem ich solange vergeblich herumgeirrt war. Ich nahm es wirklich ernst damit und hörte neben meinem Dienst wohl mehr Vorlesungen als mancher Student, bis mich dann allemal wieder die Abenteuerlust hinaus in die winterlichen Berge trieb.
Da war zunächst ein Weihnachtsausflug auf die Scesaplana (2969 m), der so recht die Schwierigkeiten zeigte, die man damals einer solchen Tour auch in den Alpen in den Weg legte. In Brand, dem letzten Ort am Fuße meines Berges, wurde mein unvorsichtigerweise ausgeplaudertes Vorhaben sofort allgemeines Tagesgespräch, das heißt, man entrüstete sich darüber, verhöhnte mich und erklärte, ich könne froh sein, wenn ich bis zum »Bösen Tritt« unterhalb des Lüner Sees komme, weiter sei völlig ausgeschlossen. Außerdem sei keine Rede davon, daß jemand diesen Unsinn mitmache und mich begleite. Nun, der Wirt versprach, mir insgeheim zu helfen, und nach einigen Tagen ärgerlichen Wartens teilte er mir denn auch mit, er habe jemand gefunden, der mitgehen wolle. Es sei zwar kein Führer, aber ein kouragierter Kerl, der nichts zu verlieren habe. Im übrigen solle ich mich nicht mit ihm zeigen, da es sonst Streit geben und man ihn zurückhalten würde. So empfing ich ihn denn unter allerhand Vorsichtsmaßregeln auf meinem Zimmer. Er war etwa in den vierziger Jahren, sah recht zerklüftet aus und stand mit seinem Schicksal auf einem keineswegs freundschaftlichen Fuß. Seine Eltern habe er nie gekannt, auch wisse er nicht, wo er geboren und wie er hierher gekommen sei. Man habe ihn auf Gemeindekosten erzogen, sehe ihn nur über die Achsel an, werfe ihm alle Arbeit hin, die man selbst nicht verrichten wolle, und so schlage er sich eben durch, wie es gerade komme. Es sei ein Hundeleben, und er würde gerne weggehen, aber dazu gehöre Geld, und das habe er nicht. Die Scesaplana kannte er nicht, meinte aber, die Besteigung werde sich schon machen lassen. Jedenfalls sei er bereit, auch den Teufel aus der Hölle zu holen, ihm sei alles gleichgültig. So trafen wir uns denn am andern Morgen vor dem Dorf und zogen das Tal hinauf. Nach mehrstündigem, anstrengendem Waten im tiefsten Schnee kamen wir an eine niedere, das Tal versperrende Felswand, die mit blankem Eis bedeckt war. Also das war der »Böse Tritt«, vor dem die Leute sich so gefürchtet hatten! Ich mußte lachen, und mit ein paar Dutzend Stufen waren wir darüber hinweg. Bald darauf wurde der prächtig gelegene Lüner See erreicht, aber von der Douglashütte, die dort liegen sollte, war trotz allen Suchens weit und breit nichts zu erblicken. Schließlich erklärte mein Begleiter, unter einem mächtigen Schneehaufen, der sonst keinerlei Besonderheit verriet, müsse sie verschneit sein, und so stellten wir eine Art von Tunnel her, der uns nach langer Arbeit glücklich zur Tür führte. Drinnen war es im übrigen ganz gemütlich. Man hatte so eine Art Eskimogefühl unter der tiefen Schneedecke, auch war zur Genüge Holz vorhanden, so daß wir die doch etwas kühle Finsternis erwärmen und einigermaßen beleuchten konnten. Dann ging's hinunter zum See, in dessen 60 cm dicke Eisdecke ein Loch gehauen wurde, um das für unsere Kochkünste nötige Wasser zu erhalten.
Am andern Morgen, den 2. Januar 1885, waren wir schon früh auf den Beinen und voll froher Hoffnung, denn der klare Sternenhimmel kündete einen schönen Tag an. Er hat auch gehalten, was er versprach. Anstrengend war ja der Marsch in dem mehr als metertiefen Schnee, und gegen die grimme Kälte konnte nur beständige Bewegung schützen, so daß von einem Ausruhen keine Rede war. Eigentliche Schwierigkeiten aber gab es nicht. Auch das »Kamin« unter dem Gipfel brachte nur Arbeit, ebenso wie der flache Brandner Ferner. Zum Schluß wurde eine Eiswand erklettert, und gegen Mittag standen wir auf unserem Gipfel bei freiem Blick über die herrlich gezackte Winterlandschaft, die nur über dem Bodensee durch leichte, kalte Nebel verdeckt war. Welche Wonne!
Beim Abstieg konnte größtenteils gerutscht werden, und es gefiel mir in unserer Hütte so gut, daß ich unseren Aufenthalt um einen Tag verlängerte. Schade nur, daß ich keine Schlittschuhe bei mir hatte, denn das Eis auf dem See war spiegelglatt. Interessant war auch der Abend, wo mir mein Begleiter sein Herz ausschüttete und über die Verhältnisse drunten erzählte, wie die Dorfhierarchie in ihrem Kastengeist nach uralten Regeln lebte, die ebenso feierlich gehalten werden, wie das Zeremoniell bei Hofe. So bleibt der Mensch eben Mensch, und auch die Alpenwelt vermag ihn nicht zu ändern.
Beim Rückweg am andern Morgen wollte ich direkt über den See gehen, um mir den Umweg durch den tiefen Schnee am Ufer zu sparen. Auf die Einrede meines Begleiters, es sei da heute nicht geheuer, hörte ich natürlich nicht und ging lachend allein. Ich war aber kaum hundert Schritte gegangen, als ein dröhnendes Krachen ertönte, das aus einiger Entfernung kommend, unter meinen Füßen wegrollte und sich nach weithin fortpflanzte. Ich machte mir erst nichts daraus, aber als sich die Sache bei jedem Schritt wiederholte und das unterirdische Krachen über den ganzen See weglief, war's schließlich auch mir nicht mehr geheuer, und ich ging vorsichtig wieder ans Ufer zurück, wo mein Begleiter jetzt lachte, woher der eigentümliche Vorgang kam, ist mir nicht recht klar geworden. Vielleicht weil das Eis hohl lag und sich infolge des Drucks auf das Wasser setzte. Warum war das dann aber nicht gestern schon der Fall gewesen, wo wir uns den ganzen Tag darauf getummelt hatten?
In Brand gab's die üblichen Zweifel an unserer Besteigung, aber wir kümmerten uns nicht darum, luden unser Gepäck auf einen Hörnerschlitten und sausten mit einer Geschwindigkeit in die bewohnte Welt hinein, die ich nicht für möglich gehalten hätte.
Einige Monate darauf hatte ich die Freude, einen jugendlichen Freund auf den noch winterlichen »Hochvogel« zu führen und das strahlende Glück zu sehen, das er bei dem Ausblick von dort oben empfand. Ich werde nie den Händedruck vergessen, den er mir da gab. Ja, ja, wenn der Blick so zum erstenmal in die endlosen sonnenbestrahlten Fernen schweift und man die schöne Welt zu seinen Füßen hat, welches Erlebnis!
Im übrigen blieben mir die Niederlagen nicht erspart. Dies sollte ich bei meiner nächsten Winterpartie, Weihnachten 1886, in der Silvretta erfahren. Ich war kurz vorher in die Residenz versetzt worden und in den Alpenverein eingetreten. Da hatte man mich denn von allen Seiten aufgefordert, der Hütte der Sektion im Jamtal einen Besuch abzustatten und von da aus einige Besteigungen zu machen. Trotz des gewaltigen Schnees, der allenthalben gefallen war, reiste ich ab und hatte zunächst eine prächtige Fahrt auf der Arlbergbahn durch das nächtliche Gebirge unter einem klaren Sternenhimmel. Nie sind mir die Berge so hoch erschienen, nie so belebt. Das kam und kam, immer höher und wilder und huschte vorbei ohne Unterlaß, der Schnee nahm kein Ende. Auch die Schlittenfahrt durch das Paznaun war hochinteressant, so kalt der Wind wehte. Dann aber wurde die Sache geradezu katastrophal. Von Galtür zur Hütte, die im Sommer in zwei Stunden bequem erreicht wird, brauchten wir, immer im Schnee bis an die Hüften, volle acht Stunden und wurden dann derartig eingeschneit, daß wir froh waren, nach vier Tagen Galtür überhaupt wieder zu erreichen. Wir ertranken beinahe in dem weichen Schnee, mußten schließlich liegend weiterkriechen, ein Stück unseres Gepäcks nach dem andern mußte zurückgelassen werden, und eine lange Reihe von Gegenständen aller Art kennzeichnete unseren traurigen Rückzug, wer aber den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen. Das merkte ich bei meiner Rückkehr zur Sektion.
Die Niederlage im Jamtal ließ mich nicht lange ruhen. Die Berge steckten mir in den Gliedern, Ostern stand vor der Tür, und das Wetter war prächtig. Also hinaus!
Wir waren diesmal zu zweien. Fritz, der Donaufahrer, hatte mich gebeten, ihn mitzunehmen. Unser Ziel war das Allgäu, insbesondere die Mädeler Gabel, und so fuhren wir am Gründonnerstag im Einspänner durch das breite Illertal gen Oberstdorf. Es war ein herrlicher Morgen. Ein milder Frühlingsduft lag über der sonnenbestrahlten Landschaft, ringsum färbten sich die Wiesen im Blumenflor, die Mühlen klapperten, und vor uns über den dunkeln Wäldern erhob sich das winterliche Gebirge in seiner eisigen Pracht, unnahbar, majestätisch. Eine fröhliche Stimmung war in unser Herz eingezogen, das Rößlein zog uns munter durch das Land, wir sangen heitere Lieder und freuten uns des Frühlings.
In Oberstdorf war's schon winterlicher. Erstaunt blickten die Leute aus den kleinen Fenstern hervor ob solcher Gäste. Beim Marsch nach Einödsbach kam ich dann auf meine Pläne zu sprechen und meinte im Hinblick auf die Jamtaler Geschichte, daß wir unter keinen Umständen umkehren dürften. Fritz aber, der Neuling, war forsch und meinte, ich renommiere und mache mich nur wichtig. Nun, das mußte sich ja bald zeigen.
Einödsbach verdiente seinen Namen in der Tat. Tief unten am Ausgang des Bacher Lochs gelegen, dessen zackig wilde Kämme den Himmel zu berühren schienen, boten die paar eingeschneiten Häuschen ein Bild trostlosester Verlassenheit. Schraudolf, der Nestor der Allgäuer Führer, begrüßte uns als die ersten Gäste des Jahres und meinte, man könne es ja einmal mit der Mädeler Gabel versuchen. Für heute aber riet er ab, noch zum Waltenberger Haus zu gehen, es sei zu spät wegen der Lawinen. Was tun? Ich war noch unschlüssig und gab ihm wohl innerlich Recht, aber Fritz meinte, wir seien nun einmal da, man brauche nicht zu warten.
Also vorwärts! Um 2 Uhr nachmittags traten wir mit Schraudolf und einem Träger den hochinteressanten Marsch an. Der ganze Talgrund war ein Trümmerfeld von Lawinen. Einige waren die seitlichen Hänge herabgestürzt und hatten sich unten in haushohen Massen gestaut, andere waren die Talsohle entlang gerollt und hatten über mannstiefe Rinnen in den festgefrorenen Schnee gerissen, mit senkrechten seitlichen Wänden, so glatt, als ob sie mit einem scharfen Messer abgeschnitten wären. Man ging da wie in einem Hohlweg, von der nächsten Umgebung getrennt und ohne sie überblicken zu können. Hoch oben aber herrschte ein beständiges Leben. Bald da, bald dort hörte man ein leichtes Rieseln von rutschendem Schnee und rollenden Steinen. Schraudolf war es dabei gar nicht wohl zumute. Besorgt blickte er um sich und drängte nach vorwärts; er fürchtete Lawinen. Und er hatte recht. Plötzlich erhob sich ein gewaltiges Getöse hinter uns. Wir hatten gerade Zeit, uns umzudrehen und zu sehen, wie hoch oben am Talhang eine dicke Schneewolke gespenstig herabschritt. Mächtige Blöcke flogen aus ihr heraus, ein donnerndes Getöse hallte von allen Seiten wieder und immer schneller rollten die Massen scheinbar gerade auf uns zu. Entsetzt rannten wir erst ein Stück weit, dann standen wir lange sprachlos da und wurden nur ganz allmählich unserer Sinne wieder mächtig. Das Ungetüm lag nur wenige 100 Schritte weit hinter uns. Schließlich gingen wir zurück und sahen uns die Zerstörung an. Ein Chaos von Schneemassen und Felsen hatte unsere Fußspuren haustief begraben. »I hob mir's glei denkt!« meinte Schraudolf und trat mit dem Träger den Rückweg an. Sollten auch wir umkehren? Nach der Szene mit Fritz gewiß nicht. Wohl aber ließ ich mir den Weg zeigen. »Erst gangen's das ganze Tal aufi, nochher machen's linksum in a Schneerinnen. Do is a Wandl mit 'nem Drahtseil. Wann's dös finden, nochher haben's g'wonnen. A halbe Stund drüber is die Hütten.« So die Erklärung Schraudolfs, der bald darauf verschwand.
Unser Marsch verlief zunächst genau dieser Beschreibung entsprechend. Ich war etwas voraus und stieß an einem steilen Felsenvorsprung direkt auf das Drahtseil an dem »Wandl«. Ohne auf Fritz zu warten, ging ich nun auf dem hier wagrecht entlang führenden »Band« entlang, das mit schräg abfallendem Schnee bedeckt war. Aber kaum war ich ein paar Schritte gegangen, als Fritz mir zurief. Schrecken auf dem Gesicht, stand er in höchster Erregung da, und erklärte, da gehe er unter keinen Umständen weiter. Ich lachte erst und redete ihm zu, aber alle Versuche, ihn ans Seil zu nehmen und den Weg zu treten, waren erfolglos. Auch er kehrte um und eilte den Hang wieder hinunter
Ich war also allein! Das Wändle hatte ich bald passiert und kam dann auf ein weites, schräg ansteigendes Schneefeld, wo es schnell zu dunkeln anfing. Wenn ich nun die Hütte nicht fand? Lange watete ich nervös hin und her, bis ihre Umrisse schließlich doch aus der Dunkelheit hervortraten. Welche Freude, aber auch welch ein eigenes Gefühl, als ich die einsame Stube betrat! Bisher hatte die Gewalt der Verhältnisse mich vorwärtsgetrieben und mich nicht zu mir selber kommen lassen, jetzt sah sich alles plötzlich ganz anders an. Wie gespenstig und drohend die Schneeriesen das einsame Haus umstanden! War es nicht doch Vermessenheit, sich allein da herauf zu wagen? Drinnen in der Stube war dunkle Nacht, und laut hallten meine Tritte von den Wänden wieder, als fragten sie mich, was willst denn du da oben? Ich glaube doch, mir gruselte etwas. Plötzlich durchfuhr mich ein jäher Schreck. Hatte ich auch Proviant und Lichter bei mir? Beim Abmarsch aus Einödsbach hatten wir das Gepäck dem Gewicht nach an uns genommen, und als wir uns trennten, dachte ich nicht daran, die Sachen richtig zu verteilen. Zum Glück fand sich alles vor, Proviant, sechs Lichter, und nach langem Suchen auch ein paar Zündhölzer. Pietätvoll wurde eines angezündet, die Lichter aber mußten alle brennen. Jetzt konnte ich mir die Bude erst recht betrachten. Sie war geräumig, sauber und mit allem versehen. Prächtig! Nun konnte ich mir's ja bequem machen. Zwar war ich recht müde, aber die Aussicht auf einen behaglichen Abend ließ mich alles vergessen, und munter ging's an die Arbeit, die allerdings nicht gering war.
Vor allem mußte eingeheizt werden, denn es war kalt, und der Schnee an den Kleidern fing an aufzutauen. Aber alle meine Bemühungen waren vergeblich. Der Kamin war verstopft, und bald füllte ein unerträglicher Qualm die ganze Stube. Nun, konnte ich mich äußerlich nicht wärmen, so wollte ich es wenigstens innerlich tun. Dort stand ja eine Kochmaschine, mit der ich mir Tee machen konnte. Aber jetzt war kein Spiritus da. Also mußte eben ein Feuer angezündet werden, draußen im Freien, da es in der Stube wegen der hölzernen Dielen nicht ging. Bald war nun auch ein mächtiger Holzstoß aufgerichtet, aber der Wind wirbelte den Schnee hoch auf und erstickte jeden Funken im Keim. Da, ein neuer Gedanke, wozu hatte ich denn meine sechs Lichter! Ich füllte eine Kanne mit Schnee, rückte zwei Lichter zusammen und hielt mein Gefäß darüber. Es ging etwas langsamer als ich gedacht, und bald wurde wiederum alles fraglich. Je mehr Wasser sich erhitzte, um so schneller brachte die ausstrahlende Wärme die Lichter zum Schmelzen. Ich hatte schon 4 Stück verbraucht, und die Sache fing an bedenklich zu werden. Da, als das Wasser doch einigermaßen zu kochen anfing, warf ich schnell meinen Tee hinein. Ich triumphierte, denn Hunger und Durst waren riesenhaft, und es fror mich zum Erbarmen. Zunächst wurde nun alles sauber hergerichtet, meine Herrlichkeiten ausgepackt, und das fröhliche Mahl konnte beginnen. Ein Hoch den Bergen!
Ich habe keinen Tropfen getrunken. In der Eile war zu viel Tee in das Wasser geraten, und ich hatte eine Lauge angebrüht, der auch die dickste Magenwand nicht hätte widerstehen können. Jetzt ging mir der Humor aus. Mit dem Essen war's natürlich auch nichts mehr, und so legte ich mich denn aufs Ohr, hungrig, durstig, frierend, mürrisch. Aber bald hatte der Schlaf die müden Glieder umfangen, ich fühlte mich ordentlich mollig unter meinen Decken, und in der Grabesstille kam ich mir vor wie in einem verwunschenen Schloß. Und in gewissem Sinn war's auch so. Leise öffnete sich die Tür, und langsam, feierlich kamen die Schatten des Gebirges herab von ihren luftigen Höhen und huschten ins Zimmer. Wie mancher alte Bekannte der Alpen, Karpathen und vom fernen Schottland nickte mir da zu und erzählte von früheren Zeiten!
Da, ein lautes Gepolter. Kein Zweifel, es war ein richtiges Gepolter, was konnte das sein? Erregt starrte ich in die dunkle Stube hinein und rieb mir die Augen. Endlich stand ich auf und ging hinaus. Es war heller Tag, den nur die dichten Fensterläden abgehalten hatten. Und da stand die ganze Gesellschaft, Schraudolf, der Träger und sogar Fritz. Sie lachten ordentlich über mein verschlafenes Gesicht. Dann wußte Fritz viel zu erzählen von dem Marsch und den Schrecken des »Wändles«. Es sei eine Höllenarbeit gewesen, bis man ihn da hinübergeschleppt hätte, und er war ordentlich stolz auf seine Leistung. Aber als ich ihm den Vorschlag machte, mit mir zur Bockkarscharte zu gehen und den Weg zur Mädeler Gabel zu erkunden, war er nicht zu haben.
Am Abend sah's diesmal anders aus in der Hütte. Wohl heulte draußen der Sturm und wirbelte den Schnee an den Fenstern empor, hier drinnen aber brannte ein lustiges Feuer, eine kräftige Suppe dampfte auf dem Tisch und draußen im Schnee standen 3 Flaschen Sekt und harrten ihrer Bestimmung. Sie sollten nicht lange warten. Nach dem Essen ließ sich Fritz eingehend erzählen, wie es droben am Bockkar aussehe, meinte aber, er gehe nicht hinauf, dazu sei ihm sein Leben zu lieb. Zu lieb! Was steckte da dahinter? Nach einigem Zögern rückte er denn auch heraus mit der Sprache und gestand, daß er sich kurz vor unserem Weggang verlobt habe, »weißt du«, meinte er elegisch, »wenn man erst einmal verlobt ist, dann wird man ein ganz anderer Mensch.« Dies belegte er mit allerhand sinnigen Sprüchen, ich aber ging hinaus, holte eine Flasche und ein donnerndes Hoch auf die Braut durchtönte die Stube. Wie das schmeckte aus den zinnernen Kaffeeschüsseln, kalt wie Eis und belebend wie Feuer! Dann wollte ich natürlich auch meine Flasche haben, auf fröhlichen Mut und Abenteuerlust, und schließlich konnten wir die letzte doch auch nicht so allein draußen stehen lassen. Ja, ja, wenn die Braut da ihren Fritz gesehen hätte!
Am andern Morgen war dicker Nebel und Fritz schon zeitig reisebereit. Wir nahmen Abschied, und er verschwand in der Tiefe, während ich mit Schraudolf sinnend zum Bockkar hinaufging. Steig du hinunter zu den andern, ich beneide dich nicht! Mein Herz schlug nach oben, zum fröhlichen Kampf, zum Wagen und Streiten. Da war ich Herr der Schöpfung, frei und ungebunden, und ich gedacht' es zu genießen.
Das Glück war uns diesmal hold. Bald lagen die Nebel unter uns, und wir befanden uns auf den sonnenbestrahlten Höhen in warmer Frühlingsluft, trotz allen Schnees. So wurden nacheinander Mädeler Gabel (2646 m), Hochfrottspitze (2649 m) und Bockkarkopf (2608 m) erstiegen, unter starken Mühen wohl, aber ohne größere Schwierigkeiten. Nur das Kamin der Hochfrottspitze war wegen tiefen Schnees unangenehm. Im übrigen war dies die schönste Tour unter den dreien, so selten sie sonst gemacht wird. Die Aussicht ist hier wilder als auf der Mädeler Gabel, man steckt mehr zwischen den Bergen drin, und der Gipfel selbst mit seinem prächtigen Grat ist interessanter. Wunderbar ist auch die Aussicht vom Bockkarkopf. Wenn diese Reise durchaus harmonisch verlief, so ging es bei einer Winterbesteigung der Zugspitze (2968 m) weniger friedlich zu, ja sie endigte beinahe mit einer blutigen Katastrophe.
An einem schönen Januarmorgen war ich mit einem Ehrwalder Führer und seinem Sohn nach der Wiener Neustädter Hütte gegangen, und wir hatten, da uns nur Schneewasser zur Verfügung stand, während der Nacht mächtig Durst gelitten, so daß der auf dem Lager sich hin und her wälzende Führer in freier Zitierung Richards III. immer wieder rief: »Eine Flasche Bier, eine Flasche Bier, einen Kronentaler für eine Flasche Bier!« Ich schickte also am andern Morgen seinen Sohn nach Ehrwald, um von dem Gewünschten zu holen, so viel er tragen könne. Dann erstiegen wir nicht ohne Schwierigkeiten die steile, verschneite Felswand mit ihren vielen Klammern und kamen glücklich auf den westlichen Vorgipfel unseres Berges, der wohl eine hübsche kleine Hütte, nicht aber ein meteorologisches Observatorium, wie heutzutage, trug. Es war recht nett da drinnen, und der Blick durch das Fenster auf den schroffen, uns nur vier Meter überragenden Ostgipfel hochromantisch. Das Fremdenbuch wies eine Menge Namen auf, darunter auch einen Winterbesuch Münchner Studenten, die aber nach Angabe meines Führers nicht auf den Ostgipfel hinübergegangen waren.
Einige Zeit war vergangen, als ich hinausging, um mir den Ostgipfel näher zu betrachten. Ein nach der Seite schräg abfallender Hang aus fest gefrorenem Schnee führte zu dem Schlußgrat hinüber, der tief verschneit in senkrechten Felsen abstürzte und an seinem äußersten Ende ein den höchsten Punkt des Berges bezeichnendes Kreuz trug. Es war ja nicht leicht, da hinüber zu kommen, immerhin ging es meiner Ansicht nach. Der Führer aber geriet in höchste Erregung: »Herr, do gangen's net nüber! Jetzt san's auf den Gipfel kommen, was haben's au na do drüben verloren! Dös is Gott versucht!« Ich verstand erst gar nicht, was fiel dem Mann auf einmal ein, der sich doch bis jetzt ganz ordentlich gehalten hatte. Als ich dann schließlich den Marsch allein antrat, kam er vollends ganz außer sich. »Dös kann i net mit ansehen! I gang jetzt in die Hütten und do bleib' i. Wenn d' abi keist, i laß di liegen, i seh net nach dir num! Mach' was du willst, mi geht's nix mehr an!« Nun, ich arbeitete mich ruhig über das Schneefeld hinüber, passierte eine kleine Schlucht und kletterte dann hinauf zu dem Schlußgrat. Er war sehr schmal, und ich kroch schließlich liegend weiter, bis ich das Kreuz erreichte, das ich mit beiden Armen umschlingen mußte, um einen Halt zu haben. Auch der Rückzug ging gut vonstatten, und so kam ich wieder glücklich in der Hütte bei meinem vortrefflichen Führer an, der unbeweglich dasaß und nun nicht recht wußte, was er machen sollte. »Sehen Sie, es ging doch!« meinte ich humorvoll und suchte ihn wieder zu guter Laune zu bringen. Äußerlich gelang das auch, ja er war sogar damit einverstanden, andern Tags den Schneefernerkopf zu besteigen und bot sich an, Stufen in der Richtung dahin zu treten, was ich gerne annahm. Wir trennten uns also auf dem Sattel unterhalb des Gipfels, und ich eilte rasch hinunter zur Hütte, wo sich inzwischen auch der junge Bursche mit 6 Flaschen Bier eingefunden hatte. Später kam dann auch der Führer. Er war recht schlechter Laune, »Wo ist ein Bier?« schrie er und fiel gierig über die dargebotene Flasche her, indem er maßlos auf das Stufentreten schimpfte, das eine ganz niederträchtige Arbeit sei. Auch die Suppe, die ich ihm vorsetzte, fand seinen Beifall nicht. Sie sei miserabel. So war ich schließlich froh, als er sich auf die Pritsche legte und schlief. Ich verabschiedete den jungen Burschen und ging nach einiger Zeit daran, die Films meines photographischen Apparats zu wechseln, nachdem ich vorher das Licht gelöscht hatte. Ich war eben fertig und daran, die Kassette wieder zu schließen, als mein vortrefflicher Führer erwachte. Er schimpfte sofort fürchterlich, daß es so kalt sei, warum ich nicht besser geheizt habe. Nun, das Feuer brannte und ich erklärte, sofort Holz nachlegen zu wollen, er solle nur einen Augenblick warten, bis ich meine Kassette verschlossen habe, da sonst alles zugrunde gehe. Inzwischen tobte er wie ein Rasender fluchend und schimpfend in der Hütte auf und ab. Wohl eine Viertelstunde lang hörte ich ihn an, erst beschwichtigend, dann, als alles nichts nützte, ohne ein Wort zu erwidern. Als er dann aber gar kein Ende finden konnte, riß mir doch die Geduld. Ich sagte, er solle sich nunmehr mäßigen, sonst werde ich anders mit ihm reden. Das schlug dem Faß den Boden aus. Außer sich, sprang er auf mich zu und erhob die Faust zum Schlage, während ich den Pickel ergriff. So standen wir uns eine Zeitlang gegenüber, er schäumend vor Wut, ich bereit, ihn niederzuschlagen, denn auch meine Geduld hatte ein Ende. Es war ein grimmiger Moment da oben in der einsamen Hütte, und eine Katastrophe schien unausbleiblich. Da plötzlich besann der Mann sich eines Besseren und stürmte zur Tür hinaus, die er schallend zuschlug. Meine Körpergröße und Entschlossenheit hatten ihm doch wohl imponiert. Es war 9 Uhr abends, und da ich allein da oben nichts mehr machen konnte, so trat ich am andern Morgen den Rückweg an.
Daß dieses Erlebnis meiner Begeisterung für den winterlichen Gebirgssport keinen Eintrag tun konnte, brauche ich wohl kaum zu sagen. Immerhin wurde mir aber allmählich klar, daß das alles nur ein Übergangsstadium sein konnte, der Sturm und Drang zu etwas Höherem führen mußte. So ganz im stillen empfand ich doch eine gewisse Einseitigkeit, einen Mangel an Abwechslung und Reichhaltigkeit, und damit an innerem Erleben. Auch war ja nicht immer Winter, der Sommer hatte seine Reize keineswegs für mich verloren, und die verhältnismäßig kleinen Objekte, an denen ich meinen Tatendrang ausließ, schienen mir doch manchmal außer Verhältnis zu ihm zu stehen. Whympers Buch, das mich für den eigentlichen Alpinismus und die großen Schweizer Berge begeistert hatte, steckte mir noch immer im Kopf, die Besteigung der Jungfrau hatte diese Begeisterung vertieft, und oft genug sehnte ich mich danach, sie in die Tat umsetzen zu können. Freilich, in einem so gebundenen Leben gab es der Hindernisse genug, und insbesondere die pekuniären Schwierigkeiten waren beinahe unüberwindlich. Als ich dann aber 1886 einen längeren Urlaub zur Erlernung der französischen Sprache erhielt, der mich zunächst nach Paris führte, war ich entschlossen, meine Zeit, so weit irgend möglich, auch in dieser Hinsicht auszunützen.
Wenn ich so im Begriff stand, bei meinen Alpenwanderungen einen Aufschwung zu nehmen, so ging es umgekehrt bei meinem geistigen Wanderleben. Wie schon bemerkt, hatte ich mich schließlich der Philosophie in die Arme geworfen und mir redlich Mühe gegeben, mit ihrer Hilfe jene Lebenshöhe zu erklimmen, die mir eine heitere, über den Dingen schwebende, innere Harmonie geben sollte. Aber ich war über den Zwiespalt, der mich beständig verfolgte, nicht hinausgekommen. Auch in Paris arbeitete ich noch fieberhaft daran und hatte mir, so komisch es klingen mag, geradezu einen Termin, die Vollendung des 28. Lebensjahres, gesetzt, bis zu dem ich fertig, meine wachsenden Zweifel an der Realisierbarkeit meines Strebens los sein wollte. Entweder – oder! Als ich dann, wie zu erwarten, immer noch keinen Ausweg sah, gab ich das Studieren endgültig auf. Wenn überhaupt, so war mein Ziel auf diesem Wege nicht zu erreichen. Die Wissenschaft in allen Ehren, aber ich hatte etwas von ihr erwartet, das außerhalb ihres Bereiches lag.
Blicke ich jetzt auf diese Periode glühenden Strebens und innerer Kämpfe zurück, so kann ich wohl zu meinen Gunsten anführen, daß ich in gewissem Sinn ein Opfer meiner Zeit geworden war, jener materialistischen Periode der 70er Jahre, in der ich meine ersten bestimmenden Eindrücke aufgenommen hatte. Die Überschätzung des Greifbaren, die sich aus dem Aufschwung der Naturwissenschaften ergeben hatte, war damals ziemlich allgemein, und gar mancher glaubte und lehrte, daß Verstand und positives Wissen die entscheidenden, glückbringenden Mächte seien, die allein den Menschen wahrhaft befriedigen könnten. Daran hatte auch ich geglaubt und war gescheitert. Nun, ich habe nicht umsonst gekämpft. Einmal sollte mich mein Beruf bald höheren Zielen zuführen, die mich für die Grübelei vollauf entschädigten, und dann, war dieses fieberhafte Greifen nach dem Höchsten nicht doch nur eine Jugenderscheinung, ein Übergangsstadium, das ich vermöge meiner ganzen Veranlagung eben durchmachen mußte? Auch hatte ich ja ehrlich gekämpft, ein Urteil über gar manches gewonnen, mich zu einem selbständig denkenden Menschen erzogen, der sich nicht in blinder Gefolgschaft andern unterzuordnen brauchte. Endlich sagte mir eine innere Stimme, daß sich die Dinge schon von selbst weiter entwickeln würden. Jedenfalls fand ich mich mit der Einsicht ab, daß ich der Kompliziertheit des Lebens wissenschaftlich doch nicht beikommen könne, und das unbestimmte Gefühl, daß es noch etwas Höheres gäbe als Verstand, Logik und Metaphysik, verließ mich nicht. Was konnte es sein? Nun, ich machte mir keine weiteren Gedanken mehr und war geradezu glücklich, es nicht zu wissen. In gewissem Sinn hatte ich mein Sach' nun auch hier auf nichts gestellt, hatte den Grübler überwunden.
Was nun Paris anbelangt, so machte es mir einen besonderen Spaß, mich mit den Absonderheiten der dortigen »Kultur« abzugeben. So besuchte ich allerhand Versammlungen, hörte unter anderem die hagere, von der Kommune her berüchtigte Petroleuse Louise Michel, die mit dem ewig gleichen, verbissenen Tonfall des Fanatismus nichts als Gift und Verderben spie, und genoß als Gegenstück den russischen Prinzenrevolutionär Fürst Krapotkin, den wohlgenährten, scheinbar gemütvollen Lebemann, der behaglich von den Schrecken russischer Gefängnisse und Revolutionen erzählte. Auch zahlreiche andere Größen der sozialen Revolutionspartei konnte ich bewundern, und wohnte einer Vorstellung des »Lumpensammlers von Paris« zugunsten des Streiks von Decazeville bei, wo der leitende Ingenieur aus dem Fenster geworfen und von einem Haufen rasender Weiber buchstäblich zu Tode getreten worden war. Diese Vorstellung ließ an dramatischer Steigerung der Verhetzung nichts zu wünschen. Als der künstlich auf die Spitze getriebene, tragische Jammer des Stückes seinen Höhepunkt erreicht hatte, traten einige Stadträte vor die mit roten Fahnen bekränzte Freiheitsstatue und hielten eine Ansprache an die erregte Zuschauermenge: »Da seht ihr, wie das arme, unschuldige Volk von den reichen Schuften unterdrückt wird. Also auf, helfet ihm!« Am schlimmsten war der Schauspieler dran, der den reichen Bösewicht darzustellen hatte. Ein Grinsen des Abscheus begleitete sein Auftreten, dann ein Toben und Rasen, und des öftern hatte er gegen Apfelsinenschalen und andere, noch schlimmere Projektile anzukämpfen.
Auch Held Boulanger, den Exkriegsminister und vorbeigelungenen Usurpator, konnte ich eingehend bewundern, da ich das Glück hatte, eine Zeitlang in einem Hotel mit ihm zusammen zu wohnen. Es war unterhaltsam zu sehen, wie er alltäglich von Hunderten von Bittstellern belagert wurde, die nicht bloß sein Vorzimmer, sondern auch die Treppe und den großen Lichthof des Hotels so anfüllten, daß jeder sonstige Verkehr beinahe ausgeschlossen war, bis er allemal gegen 11 Uhr die Reihen der ehrfurchtsvoll Platz machenden durchschritt, um seinen berühmten 30 000-Franks-Rappen – oder war es ein Schimmel? – zu besteigen und sich dem Volk zu zeigen. Im übrigen sah der gedrungene Mann mit seiner gebückten Haltung keineswegs besonders kriegerisch aus, eher wie ein behäbiger Bürger, und kein Unparteiischer hätte ihm so ehrgeizige oder gar revanchedurstige Eroberungspläne zugetraut. Nun sein Tod – obgleich verheiratet, erschoß er sich nach dem Scheitern seines Ehrgeizes am Grab seiner Geliebten – deutet ja auch darauf hin, daß er eine vorwiegend romantische Natur war.
Ein unterhaltsames militärisches Abenteuer hatte ich in Fontainebleau. Ohne eine Ahnung von den dortigen Verhältnissen zu haben, ging ich in dem schönen Wald spazieren, als mich plötzlich ein bewaffneter Posten anhielt, keineswegs um mich zu verhaften. Nein, er bestand darauf, daß ich eine größtkalibrige Kanone neuester Konstruktion ansah, mit der besonders interessante Schießversuche gemacht wurden. Dabei erklärte er mir alles auf das eingehendste und ließ nicht locker, bis ich einen Blick durch das Rohr getan und mir den Verschluß auf das genaueste angesehen hatte. Nun er wurde ja auch mit einem Franken belohnt.
Das alles hatte ich fröhlich genossen, den Schluß der Reise aber bildete ein Besuch von Zermatt und dem Berner Oberland, wobei ich neben kleineren Touren den Monte Rosa und das Finsteraarhorn bestieg. Auch an dem Matterhorn machte ich einen Versuch, der jedoch angesichts verschiedener ungünstiger Umstände mit einer Niederlage endigte. Es war nicht viel, aber immerhin ein Anfang im wirklichen Alpinismus, der mich meinem Ziel bedeutend näher rückte. Doch davon später!