Ernst von Wolzogen
Das Mädchen mit den Schwänen
Ernst von Wolzogen

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Das Mädchen mit den Schwänen

An einem grimmigen Novembertage des Weltkriegjahres 1914 um die Morgenstunde war es, als dem Schulzen des armseligen Dorfes Schlagedotten, irgendwo an den Masurischen Seen, der Befehl zuging, er habe dafür zu haften, daß binnen vierundzwanzig Stunden sämtliche Einwohner ihre Wohnstätten verlassen hätten, da das Dorf zu jeder Stunde in den Schußbereich der russischen Artillerie gelangen könne.

Dem harten, schwerfälligen Manne rannen zwei dicke Tränen über die zerfurchten Wangen in den Stoppelbart. Seine zahlreiche Familie war um ihn versammelt, als der Meldereiter den Befehl überbrachte, und so hatte er nicht erst nötig, ihn durch den Dorfbüttel auschellen und am Schwarzen Brett anschlagen zu lassen. Seine Kinder, seine Leute hatten in weniger als zehn Minuten die Schreckensbotschaft verbreitet, und in jedem Hause, in jeder Hütte Schlagedottens wurde das letzte Mittagsmahl durch reichliche Tränen versalzen.

Freilich waren die Leute darauf gefaßt gewesen, daß der Ausweisungsbefehl kommen mußte, denn der Kanonendonner, der ihnen nun schon wochenlang tagtäglich und allnächtlich von weither in die Ohren klang, war in den letzten Tagen merklich näher gekommen, und in der letzten Nacht hatten sie am anderen Ufer ihres Sees auch schon deutlich Flintengeknatter hören können. Lange Züge von Flüchtlingen aus den Ortschaften, die der russischen Grenze näher lagen, waren ebenfalls seit Wochen auf der Landstraße, die eine Viertelstunde Weges seitab von Schlagedotten zwischen den Seen hindurchführte, vorbeigezogen. Leiterwagen, vollgepackt mit Betten und dem notwendigsten Hausrat, Weiber, Kinder, alte Leute in dumpf verzweifeltem Schweigen darin hockend, Vieh hinten angebunden und zwischen den Wagen hergetrieben, alles durcheinander, Pferde, Kühe, Schafe, Schweine, Geflügel. Und was sich unterwegs verlor oder nicht Schritt halten konnte, das irrte auf den verschneiten Feldern umher und fand sich, vor Hunger kläglich brüllend, blökend, meckernd, in den verlassenen oder auch bewohnten Gehöften ein.

Nun war auch an Schlagedotten die Reihe gekommen und es hieß die kurze Frist nach Möglichkeit auszunutzen, in aller Eile die notwendigsten Habseligkeiten aufzupacken, und was sich von dem Erntesegen des reichen Herbstes nicht mitschleppen ließ, vergraben, in fest verrammelten Kellern verstecken, oder zum mindesten im Freien zu Feimen aufstapeln, wo es immerhin noch sicherer war als in den Scheunen, wenn die Brandgranaten geflogen kamen.

Und sie kamen geflogen. Schon am Abend dieses Tages. Am frühen Nachmittag nämlich war auf der Landstraße ein Regiment südwärts marschiert, und die russischen Flieger mußten seinen Vormarsch bemerkt haben. Um die Truppen beim Eingraben zu stören, hatte die feindliche Artillerie bei Einbruch der Dunkelheit ein paar Schrapnelle und Granaten tastend hinabgeworfen. Die erste dieser Granaten war weit über das Ziel hinausgeflogen, hatte vom Dache des wohlhabenden Bauern Starsinski ein großes Stück weggerissen und war im Hofe aufgeschlagen und krepiert. Starsinskis Schäferhund hatte dabei sein Leben lassen müssen. Alle späteren Geschosse von drüben schlugen weit vor dem Dorfe ein; aber der große Schrecken war nun einmal da. Kaum daß die Kinder in dieser Nacht Schlaf fanden: alle Erwachsenen schafften in fieberhafter Eile, die Weiber weinten, jammerten und beteten, und die wenigen Männer fluchten und schrien, weil sie ihnen überall im Wege waren und in ihrer kopflosen Angst das gänzlich Unnütze herbeischleppten und das Notwendige liegen ließen.

Mit Tagesanbruch begann der Auszug, und als um elf Uhr vormittags eine Landwehrkompagnie Quartier machen kam, fand sie alle Häuser geräumt bis auf eins. Das war eine elende Hütte dicht am See; sie schien halb versunken in den moorigen Untergrund, das Gehöft verborgen unter der ungleich verteilten Last, und die Lehmwände zwischen dem Fachwerk vielfach geborsten, hier und da ganz herausgefallen. Der Schulze, der sich als letzter dem Zuge der flüchtenden Schlagedottener angeschlossen hatte, war dem Hauptmann der einrückenden Landwehrkompagnie noch unterwegs begegnet. »Herr Hauptmann,« hatte er ihn angeredet, »bei Gott, ich habe getan, was in meiner Macht stand; aber was soll man machen, wenn doch die Leute gar so dämlich sind? Da ist der Häusler Suberski – arme Leute im letzten Hause am See. Ich habe mich erbarmt über das arme Volk und habe ihm die Aufsicht über die Schwäne im See zugeteilt, daß ihm das sollte noch ein paar Dittchen eintragen. Der Mann ist ja so weit verständig; aber den haben sie fortgeholt zum Landsturm. Nu ist doch bloß der Großvater und die Frauensleute noch zu Hause, da müssen der Herr Hauptmann schon selber zusehen, was Sie ausrichten – ich habe die Gesellschaft nicht fortgekriegt.«

Nachdem der Hauptmann seine Kompagnie untergebracht hatte, ließ er sich den Großvater Suberski kommen; doch der verstand kaum ein Wort Deutsch, es war nicht mit ihm zu reden. Mit der Großmutter noch weniger, die verstand gar kein Deutsch und war außerdem fast taub. Die Schwiegertochter war die einzige der Familie, mit der sich verhandeln ließ.

Der Hauptmann legte dem kränklichen, blassen Weibe die Hand auf die Schulter und redete ihr mit milder Eindringlichkeit zu: »Was muß ich von Euch hören, Frau?! Ihr wollt nicht fort? Ja, das hilft nun nichts: Ihr müßt fort, so gut wie die anderen. Nehmt doch mal Vernunft an. Es geschieht doch zu Eurem Besten – der Schaden wird Euch ja doch ersetzt. Oder wollt Ihr lieber von den Russen totgeschossen werden? Ihr seid ja Eures Lebens keine Stunde mehr sicher. Also nun man fix, vorwärts! Meine Leute werden Euch helfen.«

Mit angstweiten Augen und offenem Munde hatte das verhärmte Weib den Worten des Hauptmanns gelauscht; nun strich es sich das wirre Haar unter das wollene Kopftuch zurück und trat, tief knicksend, ganz nahe an ihn heran. Zaghaft streichelte ihre rauhe knochige Hand seinen Ärmel, und dann sagte sie, indem sie sich zu einem Lächeln zu zwingen suchte: »Nu ja, ja – wir wissen ja, wir müssen fort; da gibt's nichts weiter. Wir wollen ja auch, gnädiger Herr Offizier. Es ist ja auch bloß von wegen der Marjell.«

»Was für eine Marjell?«

»Nu was meine Tochter ist. Stasinka schreibt sie sich; wir sagen Stasinka dazu, getauft ist sie Anastasia. Sie ist ja wohl nicht ganz ... Ich weiß nicht recht, wie ich sagen soll. Das Köpfchen ist ja wohl nicht ganz richtig, gnädiger Herr Offizier. Was die Marjell ist, die will ja nicht fort. Sie hört ja nicht und hört ja nicht. Was soll man machen? Erbarmen Sie sich! Man kann doch nicht fortziehen und lassen sein Kind allein unter all die Masse Soldaten.«

»Ja eben darum,« lachte der Hauptmann. »Also ich will Euch was sagen, Frau. Habt Ihr aufgepackt? Gut. Dann setzt Euch man eben drauf auf Euren Wagen und die Stasinka heben wir zu guter Letzt dazu. Da wird ihr kein Sträuben helfen. Wo steckt sie denn, die Stasinka?«

»Im Schwanstall, gnädiger Herr.«

»Was, im Schweinestall?«

»Aber nein! Im Schwanstall, sag' ich. Was mein Mann ist, der hat doch die Schwäne im See zu versorgen, und nu haben wir doch der Marjell zwei junge Schwäne zum Aufziehen gegeben, und seit der Zeit ist die Stasinka wie verrückt mit das Viehzeug. Seit der See gefroren ist, hat sie doch ihre Schwäne im Stall, und da steckt sie den ganzen Tag dabei und erzählt sich mit ihnen, gerade, als ob's Menschen wären. Und nu hat sie sich eingeschlossen in den kalten Stall mit die beiden jungen Schwäne und geht nicht raus und sagt: sie will lieber sterben, als daß sie von die Schwäne fortgeht. Erbarmen Sie sich, Herr Offizier! Was soll man tun?«

Der Hauptmann drehte seinen Schnurrbart und wußte nicht, was er sagen sollte. Er winkte den Feldwebel heran und befahl ihm kurz, die Sache mit möglichster Schonung zu erledigen.

»Zu Befehl, Herr Hauptmann,« versetzte der stramme Soldat, indem er grinsend seine gesunden Zähne zeigte. »Ich will dem verrückten Frauenzimmer schon Beene machen. Schweinebraten haben wir ja nun hier zu Lande mehr wie reichlich genossen – wir können ja mal zur Abwechslung probieren, wie Schwanebraten schmeckt.«

»Das lassen Sie gefälligst bleiben!« verwies der Hauptmann ihn stirnrunzelnd. »Sie dürfen nicht vergessen, daß wir hier doch nicht in Feindesland sind. Das Mädchen ist offenbar nicht ganz normal. Also schonen Sie ihre Empfindlichkeit. Verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann,« sagte der Feldwebel und machte seinem Ärger über die empfangene Zurechtweisung dadurch Luft, daß er die Frau Suberski ziemlich unsanft beim Handgelenk nahm und ohne weiteres zur Türe hinausbugsierte.

Er ließ sich von ihr den Weg nach dem schiefen Häusel am See zeigen und winkte unterwegs zwei Landwehrmänner heran: »Wittlowski und Kaczmarek, kommt mal mit! Ihr könnt doch Polnisch, ihr Oberschlesinger.«

Gehorsam rafften sich die beiden Gerufenen auf, die ihre Tornister eben abgeschnallt und sich auf ein paar Baumstämme, die vor einer verlassenen Hofreite lagen, niedergelegt hatten, und trotteten schwerfällig hinter dem Feldwebel und der Suberska her.

Alle drei Männer mußten sich bücken, so niedrig war die Türe der elenden Hütte, und in dem engen Vorraum, aus dem eine Holzstiege zum Speicher hinaufführte, war es so finster, daß sie die Löcher im Estrich nicht sehen konnten. Der Feldwebel kam darüber beinahe zu Fall und fluchte nicht wenig über die polnische Wirtschaft. Dann stieß die Suberska eine Türe auf und rief auf masurisch hinein, die Stasinka sollte herauskommen.

Aber es kam niemand. Da gingen die drei Männer hinein und sahen sich suchend in dem niederen Stübchen um. Es war nichts mehr von Möbeln darin als eine wacklige, rot angestrichene Kommode und die Lagerstatt, für die der Name Bett eine lächerlich anmaßende Bezeichnung gewesen wäre: vier rohe Bretter, fest an die Wand und untereinander vernagelt, darin ein klaffender Strohsack und, unordentlich darüber gehäuft, schmutziges, zerrissenes Bettzeug und Lumpen von alten Frauenkleidern. Was aber am meisten an dem Zimmer auffiel, das war die Tapezierung der Wände mit Bildern aus illustrierten Blättern. Bis nahe unter die Decke, deren Kalkbewurf arg geborsten, verräuchert und mit Spinnweben behaftet war, reichten die wahllos nebeneinander geklebten Bildchen, und sonderbarerweise hatte der Simplizissimus weitaus am reichlichsten dazu beisteuern müssen. Die Sonne schien durch die vorhanglosen Fensterchen hinein, so daß die Eintretenden zunächst gar nicht gewahr wurden, welch eine grimmige Kälte in dem wunderlich ärmlichen Stübchen herrschte. Das eiserne Öfchen mit dem langen Abzugrohr war zwar noch vorhanden, sah aber nicht danach aus, als ob es noch zum Feuern tauglich wäre.

»Was sollen wir denn hier? Das Frauenzimmer ist doch nicht da! In die Kommode kann sie sich doch nicht verkrochen haben,« schimpfte der Feldwebel. »Vorwärts los, Haussuchung! Ich werde am Eingang stehen bleiben, daß sie nicht raus kann. Wittlowski, durchsuchen Sie die Stube links. Was habt Ihr sonst noch für Räumlichkeiten, Mutter?«

»Die Küche und den Boden. Sonst keine, Herr,« versetzte das vergrämte Weib.

»Kaczmarek, in die Küche!« kommandierte der Feldwebel.

Die Soldaten kehrten alsbald unverrichteter Dinge wieder zurück. Das Mädchen war unten nicht zu finden. Während Kaczmarek hinausgeschickt wurde, um noch einmal in den Schwanenstall und in den elenden Schuppen im Hof hinaufzuschauen, stieg Frau Suberski die Bodentreppe hinauf. Die beiden lauschenden Männer in dem dunklen Vorraum hörten den schlürfenden Schritt der Frau auf der oberen Treppe und dann das Klappen einer lockeren Holztüre. Gleich darauf ertönten, gleichzeitig aus zwei Kehlen, durchdringende, schrille Schreie.

Der Feldwebel stutzte: »Das sind doch keine Weiber nicht?!« –

»Sind sich Ganse,« sagte der Wasserpolack grinsend. »Grußmächtige Ganse.«

Er hatte noch nicht ausgeredet, als die großmächtigen Gänse sich zum Speichereingang hinausdrängten und, gellende Klarinettentöne ausstoßend, über die Stiege hinunterflatterten. Ihre gewaltigen Schwingen schlugen im Vorbeistreifen dem Feldwebel den Helm vom Kopf, während Wittlowski durch rasches Ducken dem Schlage entwich. Die geängstigten Tiere hüpften zu Boden und watschelten, so schnell sie konnten, durch die offene Haustüre hinaus.

Jetzt wurde auf dem Speicher die Stimme der Suberska laut: »Herr Feldwebel, was mach' ich? Hier ist die Marjell, aber sie will ja nicht mit!«

»Los, ruff! Machen Sie ihr Beine,« grobte der Feldwebel den Landwehrmann an, während er im Finstern nach seinem Helm herumtappte. Wittlowski kletterte die gebrechliche Hühnersteige vorsichtig hinauf und schrie das widerspenstige Mädchen auf polnisch an. Inzwischen kam auch Kaczmarek wieder herbei und blieb neugierig horchend am Fuße der Treppe stehen. Auf dem Speicher rumorte es schlürfend, dumpf polternd herum, die Mutter weinte und jammerte, von dem Mädchen hörte man keinen Laut.

Endlich wurde sie oben am Speichereingang sichtbar, die Stasinka. Der Landwehrmann hielt sie fest um die Oberarme gepackt und schob sie gewaltsam vor sich her. Sie schrie nicht; aber sie sträubte sich aus Leibeskräften.

»So ist's recht!« rief der Feldwebel hinauf. »Man bloß nicht lange Komplimente gemacht. Geben Sie ihr doch 'n Tritt, daß sie ihren Schwänen nachfliegt, das blödsinnige Frauenzimmer. Wir werden's schon uffangen.«

»Herr Feldwebel,« mischte sich Kaczmarek bescheiden ein: »ist sich doch nicht Stück Vieh, was man Tritt gibt.« Und er trat an den Fuß der Treppe, winkte zum Gruße mit der Hand hinauf und redete polnisch auf das Mädchen ein. Seine Stimme klang warm, begütigend.

Da erweichten sich die von der wütenden Kraftanstrengung hart gespannten groben Züge in dem breiten unschönen Gesicht, und aus tränenlosen, hellblauen Augen blickte das verängstigte Geschöpf auf den Soldaten herunter, der so gut zu ihm sprach. Es schien sein Polnisch zu verstehen und ließ sich, nur noch schwach widerstrebend, die Treppe von Wittlowski hinunterschieben. Unten angekommen, ergriff Kaczmarek das Mädchen bei der Hand, und so gelang es ohne weitere Schwierigkeiten, es zum Hause hinauszubringen. Die Mutter wollte noch dies und jenes mitnehmen; aber der Feldwebel trieb zur Eile. Die Granaten könnten jeden Augenblick wieder geflogen kommen, und er hätte die Verantwortung dafür übernommen, daß die letzten Einwohner unversehrt ihre Wohnstätten verließen.

Am Ausgang des Dorfes hielt als letztes noch das elende Wägelchen, auf dem die Suberskis ihr bißchen Habe geborgen hatten. Ein abgetriebener alter Klepper mit geschundenem Fell stand in der Deichsel mit krummen Knien und stieß seinen Kopf dösend herunterhängen. Oben auf einem Haufen Betten hockte der Großvater, ebenso stumpf in sein Schicksal ergeben wie sein Gaul. Die ältere Tochter hatte noch ein paar herrenlose Hühner erjagt, die sie an den Flügeln herbeigeschleppt brachte, und die Mutter Suberski folgte dem Soldaten, in deren Mitte die Stasinka ging, und ermunterte sie durch Scheltworte zu rascherem Ausschreiten.

Wie sie aber beim Wagen angelangt waren, machte das Mädchen noch einem Versuch sich loszureißen. Vergeblich. Vier derbe Fäuste hielten sie fest an den Armen gepackt. Sie stemmte sich aus Leibeskräften und warf ihren Körper hin und her, bald den einen, bald den anderen mit den beiden Wasserpolacken gegen Schulter rammend. Der Feldwebel kommandierte: »Nu man kein Theater gemacht! Angepackt, ihr beiden: eins, zwei, drei – hoppla!«

Die beiden Polen faßten sich gegenseitig bei der Hand, schoben so ihre Arme unter die Knie der Stasinka und packten sie mit den freien Händen unter den Achseln; mit einem Schwung beförderte sie sie über die Rückwand des niedrigen Wägelchens hinüber. Sie fiel mit einem Schrei vornüber in die Betten hinein. Die Männer lachten und halfen der Mutter nachklettern, damit sie unterwegs nicht wieder durchginge. Die ältere Tochter grinste schadenfroh, verstaute ihre Hühner zu den anderen in einen großen Korb, und dann weckte sie den schimmernden Gaul durch einen ganz unvermuteten Peitschenschlag. Erschrocken fuhr der alte Braune auf und zog an.

In diesem Augenblicke rauschte es über den Köpfen der Leute daher, daß sie alle nach oben blickten. Ihre gellenden Klarinettentöne ausstoßend, kamen Stasinkas beide Schwäne vom See hergeflogen und begannen über dem langsam davonholpernden Wagen zu kreisen. Da richtete sich das Mädchen auf die Knie auf, reckte ihre Arme in die Luft wie eine Sonnenanbeterin und stieß einen milden Schrei aus, einen sonderbaren, langgezogenen Gellschrei, den sie sich als Lockruf für ihre Lieblinge angewöhnt haben mochte.

Die drei Soldaten sahen einander verlegen lächelnd an. Selbst der Feldwebel fühlte sich beinahe gerührt durch das merkwürdige Schauspiel. »So was ist mir aber noch nicht vorgekommen,« sagte er, zu den beiden Polen gewendet: »Ich glaube gar, die Schwäne ziehen der Hexe nach. Na, um so besser, dann hat sie ja ihren Willen.«

Kaczmarek aber setzte sich plötzlich in Laufschritt und holte in ein paar Sprüngen den Wagen ein. Er hielt sich an der Linstenstütze und redete zu der Stasinka hinauf: »Du, Mädel, sei nur ohne Sorge: wenn deine Schwäne wiederkommen, ich werde mich um sie annehmen, solange wir in eurem Dorfe sind, und wenn wir fortkommen, trage ich es einem Kameraden von der Ablösung auf. Behüt dich Gott! Laß dir's gut gehen in der Fremde, Mädel.«

Da wendete die Stasinka ihm ihr Gesicht voll zu. Die hellblauen Augen standen ihr voll Tränen, und so starrte sie in höchster Verwunderung dem Landwehrmann in das gutmütige, breite Gesicht. Dann reckte sie ihre Hände, so weit sie konnte, über den Wagenrand und fuhr ihm streichelnd mit den Fingerspitzen über die Wange: »Du bist gut zu mir,« sagte sie leise: »Dank' dir recht schön.« Und dann zog sie in drolliger Verlegenheit den Arm zurück und deckte ihn über ihre Augen.

Kaczmarek ließ los, winkte ihr noch ein Lebewohl zu, und dann machte er kehrt und trollte sich zu seinen Kameraden zurück.


NACH dem Mittagessen waren der Kompagnie, bis auf die Posten und Patrouillen, ein paar Stunden Ruhe gegönnt, denn erst mit Einbruch der Dunkelheit war daran zu denken, mit dem Ausheben eines Schützengrabens vor dem Dorfe zu beginnen. Die müden Soldaten hatten in den leeren Häusern Quartier bezogen, reichlich Stroh zusammengeschleppt und in die Öfen hineingestopft, was sie irgend Brennbares erwischen konnten. Bald lagen sie alle in warmen Stuben in tiefem Schlafe und stärkten sich so für die schwere Nachtarbeit.

Die beiden Polen waren zusammen in ein Quartier gekommen, in ein Haus, das der elenden Hütte der Suberskis gegenüber auf der anderen Seite der Dorfstraße lag. Wittlowski sägte schon lange an einem dicken Ast; aber Kaczmarek konnte keinen Schlaf finden, nicht, weil die Kameraden so gewaltig schnarchten, sondern weil ihm die Stasinka nicht aus dem Kopfe wollte. So leid tat ihm das arme Ding, und das breite Gesicht mit den slawischen Backenknochen, dem großen Munde und der flachen Nase sah er immer vor sich. Er konnte das Gesicht nicht häßlich finden, seit die wasserblauen Augen durch den Tränenschleier ihn so dankbar angeblickt hatten. Es war doch ein Mädchen, rund und weich und warm, und er war seit fast vier Monaten auf dem östlichen Kriegsschauplatze, fern von seiner Heimat und hatte so etwas nie wieder in seinen Armen gehabt. Er war seit kurzem Witwer; aber sein Weib war älter als er selber gewesen, lang und knochig, hatte den ganzen lieben Tag mit ihm herumgeschimpft und ihm kaum Sonntags sein Schnäpschen gegönnt. Er liebte seine Kinder; aber seine Alte vermißte er nicht, und nach dem Schwanenmädchen sehnte er sich. Und wie er die Kameraden alle so fest schlafen sah, erhob er sich und machte sich auf den Zehen hinaus. Er ging hinüber in die Fischerhütte und quartierte sich auf eigene Faust in dem Städtchen mit der Bildertapete ein. Torf fand er in der Küche; damit heizte er das elende Öfchen, bis es schier glühte, und dann brachte er das jämmerliche Bett einigermaßen in Ordnung, streckte sich lang darauf aus und deckte sich seinen dicken Mantel über. Da fand er endlich Schlaf. Bis er erwachte, war es bereits stockfinster. Erschrocken raffte er sich auf, zog seinen Mantel an und trat ins Freie. Er hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte. Die Kompagnie konnte ja schon abgerückt sein zum Schanzen, und wenn man ihn beim Appell vermißt hatte, wurde er womöglich gar bestraft. Er fand die Dorfstraße menschenleer; da ging er in sein Quartier zurück und sah Wittlowski und zwei andere Kameraden noch behaglich auf dem Stroh ausgestreckt. Er hatte Glück gehabt. Die Kompagnie sollte in Schichten abwechselnd am Schützengraben arbeiten, und er war unter denen, die erst um zehn Uhr abends an die Reihe kamen. Jetzt war es Acht; er hatte also noch zwei Stunden vor sich und konnte in aller Ruhe sein Abendbrot verzehren und noch mehrere Pfeifen rauchen. Die Kameraden fragten neugierig, wo er denn gesteckt habe; aber er verriet es ihnen nicht, um sich nicht ihrem Gespött auszusetzen. Er hatte vor ihrem wüsten Geschnarche nicht schlafen können, log er ihnen vor, und sei lieber draußen herumgebummelt.

Während sie alle Kaffee tranken und ihr Kommißbrot mit Blockwurst dazu kauten, begann Wittlowski von dem Schwanenmädchen zu erzählen, denn die Kameraden konnten nicht genug von dem seltsamen Abenteuer hören. Derbe Witze flogen hin und her, und dann behauptete einer von den Soldaten, er habe die Schwäne gesehen, als er beim Abrücken der ersten Arbeitsschicht mit draußen auf der Straße gewesen sei. Hoch oben aus der Luft seien sie kreisend im Gleitflug heruntergekommen und hätten sich schreiend auf dem Dache der Jammerbaracke drüben niedergelassen. In der Dunkelheit hätten die Riesenvögel ganz grau ausgesehen, ordentlich unheimlich sei es ihnen allen zumute gewesen, denn es sei ihnen ja erst gar nicht bewußt gewesen, daß sie es mit Schwänen zu tun gehabt hätten. Und dann hätten sich die Tiere vom Dache hinunter in das Höfchen geschwungen und wären suchend darin hin und her gewatschelt. Er hatte sich herangemacht, um sie aus der Nähe zu sehen, da seien sie zischend auf ihn los mit ausgebreiteten Flügeln und hätten wild um sich geschlagen, so daß er sich schleunigst davongemacht habe, denn er habe sagen hören, so Schwäne könnten mit ihren Flügeln einen Menschen leicht den Armknochen kaputt schlagen.

Kaczmarek lauschte aufmerksam der Erzählung, und wie just niemand seiner achtete, verließ er die warme Stube und schlich sich hinüber zur Fischerhütte. Wirklich fand er die Schwäne noch vor. In einer Ecke zwischen der Umfassungsmauer und dem Holzschuppen hockten sie eng aneinander gedrückt, und als er ihnen nahe kam, streckten sie die Hälse lang aus und zischten ihn mit aufgesperrten Schnäbeln an. Er fürchtete sich nicht, sondern redete ihnen mit leiser Stimme begütigend zu. Er grüßte sie von der Stasinka und sagte, er habe versprochen, für sie zu sorgen. Sein Polnisch mochte ihnen vertraut ins Ohr klingen, die Tiere schmiegten ihre Hälse auf ihren Rücken und stellten ihr feindliches Zischen ein. Mit Hilfe seiner elektrischen Taschenlampe fand Kaczmarek alsbald den Schwanenstall mit der Gattertüre, öffnete sie weit und lockte seine Schutzbefohlenen, wie man Gänse lockt; aber darauf gingen sie nicht ein. So machte er sich davon, auf die Suche nach etwas Eßbarem. In einem großen Bauernhause traf er ein paar Kameraden, die sich Kartoffeln in der Asche geröstet hatten. Sie gaben ihm bereitwillig von ihrem Überfluß ab, und als er mit seiner Beute zurückkehrte in die Suberskische Behausung, fand er die Schwäne im Stalle. Er brach ihnen die noch warmen Kartoffeln auseinander und warf sie ihnen vor. Gierig stürzten sich die hungrigen Tiere darauf. Er sah ihnen lächelnd zu, bis sie alles vertilgt hatten, und dann schloß er das Gattertor. Befriedigt gesellte er sich wieder zu seinen Kameraden und streckte sich noch eine Stunde aufs Stroh, bis er zur Arbeit hinausmußte.

Aus tausend blinkenden Augen sah der wolkenlose Nachthimmel zu, wie sich die emsigen Menschlein in die Erde eingruben, um dem Feinde Trutz zu bieten, wenn er irgendwo in der Finsternis der mondlosen Nacht lauerte. Das leise Schlürfen und dumpfe Pochen der Spaten und Pickel war das einzige Geräusch, das die Todesruhe der eiligen Winternacht belebte. Auch die Anordnungen der Vorgesetzten wurden flüsternd gegeben, und nur zuweilen sprang ein heller Klang auf, wenn die Spitze eines Pickels wider einen Stein stieß. Dann hielten jedesmal die Arbeitenden instinktiv inne und lauschten einige Sekunden lang in die Nacht hinaus.

Den Kaczmarek wollte es bei solcher Gelegenheit bedünken, als hörte er aus der Ferne, vom Vorgelände her, das gleiche leise Schlürfen und gelegentliche helle Klirren. War es ein Echo, war es eine Ohrentäuschung – oder gruben sich da vorne auf dem nächsten Hügelrücken die Russen gleichfalls ein?

Da klang es plötzlich hell durch die Nacht: päng, päng, päng! Dreimal kurz hintereinander. Die sämtlichen Landwehrleute hielten mit ihrer Arbeit inne und reckten sich lauschend auf.

»Was geht's euch an!« schalt leise der Leutnant: »Eine von unseren Patrouillen hat mit den Russen Fühlung bekommen. Nun werden wir ja bald hören, was es gibt. Nur fleißig zugeschanzt, daß wir bis Tagesanbruch fertig werden. Kaczmarek, was stehen Sie denn und träumen?«

Eine Viertelstunde später kehrte eine Patrouille zurück und berichtete, daß sie etwa einen Kilometer weit vor der Stellung auf eine Windmühle gestoßen wären; wie sie sich da nahe herangemacht hätten, um sie zu untersuchen, hätten sie Feuer bekommen. Sie hätten es jedoch nicht erwidert, sondern sich eilig auf einem anderen Wege zurückbegeben.

»Gut,« sagte der Leutnant: »Schlaft euch aus. Wir melden das nach hinten, da hat morgen früh unsere Artillerie ein Ziel. – Kaczmarek, Sie träumen ja mit offenen Augen. Warten Sie, ich werde Sie schon munter halten; Sie gehen mit der nächsten Patrouille nach der Windmühle, verstanden? Unteroffizier Plaschke, Sie haben ja Schneid! Ich gebe Ihnen sechs Mann mit; Schauen Sie zu, daß Sie sich unbemerkt heranschleichen und die Gesellschaft da drin überrumpeln können. Ein paar Gefangene wären uns jetzt sehr wichtig, und erinnern Sie mich daran, daß der Kaczmarek mitgeht. Von Zwölf bis Zwei können Sie noch schlafen, dann los in Gottes Namen.«


ALS um zwölf Uhr die Ablösung erfolgt war, kehrte Kaczmarek mit den anderen Kameraden in sein Quartier zurück. Er konnte keinen Schlaf finden. Diesmal war es weder das Schnarchen der Landwehrleute noch auch das Bild des Schwanenmädchens, das ihn wach hielt. Die Erwartung des gefährlichen Abenteuers peitschte ihm die Nerven auf. Wohl hatte er schon zahlreiche Gefechte mitgemacht und war auch schon oft Patrouille gegangen; nie aber doch, wie heute, einer ganz bestimmten, bekannten Gefahr entgegen. Er war ein derber Kerl, dem es an Mut und Wagelust ebensowenig gebrach wie an Kraft und Selbstvertrauen. Was ihn jetzt bis zum Verzagen aufregte, das war der Gedanke, daß er vielleicht den Todesgang antreten mußte, bevor er dem seltsamen Geschöpfe, das ihm so wohlig warm gemacht hatte, sein Versprechen voll erfüllen konnte. Was wurde aus den Schwänen, wenn er nicht für sie sorgte? Es war ihm zumute wie einem, der im Augenblicke höchster Gefahr daran denkt, daß er kein Testament gemacht hat und sein Teuerstes unversorgt zurückläßt.

An die anderthalb Stunden quälte er sich so schlummerlos auf seinem Stroh dahin, hilflos preisgegeben dem harten Wogenprall bitterer Ängste und schäumenden Lebensdranges. Er erhob sich von seinem Lager, schlich sich hinaus in die eisige Nacht und hinüber zur Hütte. Er wollte sich erst überzeugen, ob die Schwäne in ihrem Stall auch schliefen.

»Diawu, was ist das?« entfuhr es ihm, und er bekreuzte sich unwillkürlich. Das Gatter stand auf und der Stall war leer! Und er wußte doch bestimmt, daß er den Stift durch die Löcher der Eisenklammern gesteckt hatte. Er hastete zur Haustüre und drückte auf die Klinke. Sie gab nicht nach. Verschlossen von innen?

Er stand und lauschte unschlüssig, sein Herz pochte ungestüm. Hatten ihm die Kameraden einen Streich gespielt, oder war etwa wirklich das tolle Mädel heimgekehrt durch die finstre Nacht? Er entschloß sich endlich, leise ans Fenster zu klopfen. Nichts regte sich darin. Er klopfte stärker – er flüsterte zärtlich: »Stasinka, bist du drin? – Mach mir auf, du!«

Immer noch regte sich nichts. Da leuchte er mit seiner Laterne zum unverhangenen Fenster hinein, und er sah im Hintergrunde des Stübchens, auf Stasinkas ärmlichen Bette, ein weißes Gewühl sich erheben: die Schwäne. Wahrhaftig, die Schwäne! Von dem plötzlichen Lichtschein erschreckt, fuhren sie aus ihrem Schlummer empor, reckten die Hälse und breiteten, wie zur Abwehr oder zur Flucht, ihre gewaltigen Schwingen aus. Und unter diesen Schwingen wurde das blasse Gesicht ihrer Herrin sichtbar. Zwei angstweite Augen starrten nach dem Fenster. Kaczmarek steckte die Taschenlampe ein und trommelte rücksichtslos gegen die Scheiben. Er dachte nicht daran, daß das Geräusch vielleicht einen Wachposten aufmerksam machen, Kameraden, die sich zur Ablösung richteten, herbeilocken könnte. Er dachte gar nichts. Sein Blut schoß ihm heiß ins Hirn und er wußte nur eins: da drin ist die Stasinka, lebendig, weich und warm – und du sollst in den Tod, armer junger Kerl. Reiße sie an dich!

Da klirrte das Fensterlein und ein Flügel tat sich auf. Er griff in die Dunkelheit hinein und erhaschte einen bloßen Arm. Das Mädchen schrie leise auf. Da drückte er den Arm an seine heiße bärtige Wange und flüsterte ihr zu: »Hab' doch keine Angst, du! Ich bin's doch. Kaczmarek Joseph schreib' ich mich. Ich bin es, der dir versprochen hat, deine Tiere zu versorgen. Laß mich doch rein, Mädel. Es ist doch so elend kalt hier draußen.«

In seiner Aufregung verstand er ihre fremde Mundart nicht; aber ihre Stimme klang nicht bös und abwehrend, nur angstvoll und traurig.

»Versteh' dich nicht,« klagte er ungeduldig: »Sag's doch noch einmal. Willst du mich nicht zu dir lassen? Ich mein's doch gut mit dir. Wir müssen doch alles bereden, wie wir's anstellen, daß du hierbleiben kannst, ohne daß sie es merken und dich wieder mit Gewalt fortschleppen. Ich muß jetzt gleich Patrouille gehen; die Russen haben schon geschossen, sie werden mich auch schießen, ich komme vielleicht nicht wieder, und dann habe ich dich nicht gedrückt und geküßt. Armes Mädel, du, dann hast du niemand, der dich beschützt. Mach' auf, mach' auf! Laß mich herein!«

Da bewegte sich die Stasinka ein wenig zum Fenster hinaus und sprach, so deutlich sie irgend konnte: »Ich kann dich doch nicht hereinlassen. Die Schwäne leiden's nicht. Ich gehe nicht fort von den Schwänen, und wer mir nahe kommt, den schlagen sie tot, die Schwäne.«

Mit der Rechten hielt Kaczmarek des Mädchens Arm umklammert, mit der Linken griff er nach ihrer Schulter und schüttelte sie zornbebend. Seine Stimme war heiser vor Aufregung: »Zum Teufel, die Schwäne! Ich will nicht Patrouille gehen und totgeschossen werden! Ich will dich erst haben, Mädchen! Wenn ich soll denken, ich bin bald tot, und ein anderer soll dich haben, dann werde ich wütig! Ich habe doch so heißes Blut, mir ist alles eins. Ich fürchte mich doch vor dem Teufel nicht, wenn ich wütig bin!«

Das Mädchen stöhnte vor Schmerz unter seinem harten Griff: »Ich kann doch nicht, ich kann doch nicht!« jammerte sie leise: »Sie leiden's nicht, meine Schwäne. Stärker sind sie als wilde Hunde! Weiße Wölfe sind sie, meine Geliebten!«

In diesem Augenblicke wurde es auf der Straße lebendig. Schwere Soldatenschritte klangen durch die Nacht, und auch im Hause gegenüber, Kaczmareks Quartier, ward die Haustüre aufgetan und ein Lichtschein drang in die Nacht hinaus: die Ablösung trat an. Da riß Kaczmarek das Mädchen an sich und drückte seinen Kopf gegen ihre volle Brust. Einen kurzen Augenblick nur spürte er ihr warmes Leben, dann stieß sie ihn zurück und schloß das Fenster. Und er taumelte wie trunken, das Dunkel suchend, nach dem Hause gegenüber und machte sich zu seinem gefährlichen Nachtgang zurecht.

Der Unteroffizier Plaschke war ein Teufelskerl. Er war einer der ersten in der Kompagnie, die sich für verwegene Patrouillengänge das Eiserne Kreuz erobert hatten. Auch heute wieder stürmte er dem gefährlichen Abenteuer mit wahrer Knabenlust entgegen. Im Schutze eines Hohlweges ging er mit seinen sechs Mann vor, bis die Höhe, auf der die Windmühle stand, erreicht war. Dann hieß er die Leute in weiten Abständen bäuchlings herankriechen, und zwar sollten die an den Flügeln sich rascher vorwärts arbeiten, so daß eine Einkreisung der Mühle ermöglicht wurde.

Kaczmarek befand sich in der Hütte, in nächster Nähe des Unteroffiziers. Das war eine saure Arbeit, dieses Vorwärtskriechen über verschneiten Sturzacker, zumal da sie die Gewehre nicht auf den Rücken hängend trugen, sondern sie in der Hand nachschleiften, um gleich schußbereit zu sein, falls sie Feuer bekamen.

Die Mitte der kleinen bogenförmigen Schützenlinie war bereits bis auf fünfzig Meter heran. Wenn der Auslugsposten in der Mühle nicht schlief, dann mußte er auf dem weißen Schnee unbedingt die herankriechenden Gestalten gewahr werden. Unteroffizier Plaschke befahl den nächsten Leuten durch ganz leisen Zuruf, haltzumachen, während die beiden Flügel bis zur völligen Umfassung weiterkriechen sollten. Die Stilliegenden begannen jetzt die Kälte ganz empfindlich zu spüren. In ihren bloßen Mänteln hatten sie bei der Anstrengung der kriechenden Fortbewegung über mindestens hundertfünfzig Meter Sturzacker nicht wenig Schweiß vergossen; jetzt aber spürten sie, wie ihnen die Kälte an Brust, Bauch und Knie kroch. Zudem hatte sich als Vorbote des Morgens ein eisiger Wind aufgemacht, der ihnen gerade ins Gesicht blies.

Kaczmarek fror, daß es ihn nur so riß und die Zähne aufeinanderschlugen.

»Kerl, du klapperst ja wie'n Storch!« flüsterte ihm Unteroffizier Plaschke heiser zu: »Halt deine Schnauze mit die Klauen zu, du bringst uns ja ins Unglück, Mensch!«

Wirklich richtete sich Kaczmarek auf dem rechten Ellenbogen ein wenig auf, stützte sein Kinn in die hohle Hand und preßte den Oberkiefer mit den Fingern dagegen.

Immer noch kein Schuß! Sonderbar. Der Unteroffizier gab durch ein leises Zischen das Signal zum Weiterkriechen. Und wirklich kamen alle die sieben Mann bis dicht vor die hölzerne Mühle unbehelligt heran. Der Unteroffizier richtete sich zuerst auf, und die anderen folgten seinem Beispiel. Sie hielten leise Rat; dann klingte Plaschke vorsichtig die Türe auf und ließ Kaczmarek und noch drei andere Leute über das Treppchen hinauf. Es war finster da drin und kein Laut zu vernehmen. Kaczmarek ließ seine Laterne aufleuchten, während seine drei Kameraden die Gewehre in Anschlag brachten. Das Nest war leer.

»Kinder,« sagte Plaschke, sich hinter den Ohren kratzend: »Das hat was zu bedeuten, daß die Russen hier den Posten zurückgezogen haben. So unverrichteter Dinge dürfen wir nicht wiederkommen. Wenn ihr jetzt denkt, wir werden kehrtmachen und wieder in die warme Klappe kriechen, dann kennt ihr Plaschken schlecht. Ein Mann kann zurückgehen und melden. Zwei bleiben hier in die Mühle. Nach hinten raus sind ja zwei Luken; da könnt ihr rausgucken. Aber gut aufpassen, nicht schlafen! Ich mache mich mit den drei übrigen weiter ran, wenn's sein kann, bis an den russischen Schützengraben. Wenn wir Feuer kriegen und müssen laufen und werden verfolgt, dann pfeffert ihr zwei aus der Mühle feste raus. Wenn die Kugeln pfeifen hören, werden sie schon umdrehen, die Brüder. Na, Kaczmarek, wissen Sie, was Sie zu tun haben? Sie sind ja nicht auf den Kopf gefallen: übernehmen Sie mal hier die Leitung und machen Sie Ihre Sache gut.«

»Jawohl, Herr Unteroffizier. Ich wünsche viel Glück auf den Weg.«

»Danke, Polack. Nu man los mit Gott für König und Vaterland.«

Von seinem Auslug sah Kaczmarek die vier grauen Gestalten aufrecht über die Schneefläche schreiten; aber schon nach kaum einer Minute waren sie seinen Blicken entschwunden. Die Nacht hatte sie verschlungen, oder aber das Gelände senkte sich schon dicht hinter der Mühle und entzog sie dadurch der Sicht. Kaczmarek besprach sich mit seinen Kameraden. Daran hatte der Unteroffizier nicht gedacht, daß sie hier schon einen toten Winkel so nahe vor sich haben könnten. Wenn es wirklich so kam, wie Plaschke annahm, daß die Patrouille vom russischen Schützengraben aus verfolgt wurde, dann konnten sie ihr mit dem wildesten Geschieße von der Mühle aus keinen Beistand leisten. Die beiden Kameraden öffneten die Fensterchen und lauschten angestrengt hinaus. Der kalte Südwestwind blies schneidend herein; aber das mußte ausgehalten werden, den sie waren einzig auf ihre Ohren angewiesen.

Eine ganze Stunde verrann, ohne daß sie einen anderen Laut vernommen hätten als das leise Pfeifen des Windes um die Ecken und Flügel der Windmühle. Dreiviertel Vier war die Uhr bereits, und die Müdigkeit drohte die beiden Männer ungeachtet ihres Pflichteifers zu überwältigen, als einige Schüsse aus anscheinend nicht allzu weiter Entfernung sie aufschreckten. Kaczmarek schlug vor, die Mühle zu verlassen und so weit vorzugehen, bis sie die nächste Talmulde überschauen konnten. Sein Kamerad stimmte ihm bei. Kaum zwanzig Schritt brauchten sie zu gehen, als sich der Sturzacker bereits zu senken begann. Sie hockten sich nieder und suchten mit ihren Augen die Finsternis zu durchdringen. Vergeblich. Da unten in der Mulde war es noch pechdunkel, während oben auf der Höhe das erste Morgengrauen von Osten her einen schwachen Schimmer vorbereitete.

»Hat sich kein Zweck,« wendete sich Kaczmarek an seinen Kameraden: »Wir machen sich retour in das Mühle und warten, bis heller wird.«

Er richtete sich auf und der Kamerad folgte seinem Beispiel. Doch kaum hatten sie ein paar Schritte nach rückwärts getan, da pfiff es von unten herauf: piff, piff, piff! ihnen dicht um die Ohren. Erschrocken wendeten sie sich um und sahen im kurzen Aufblitzen zahlreicher Gewehrschüsse, daß vom Grund herauf mehr als nur eine Patrouille, vermutlich eine ganze Schützenlinie in Anmarsch sein müsse.

»Marsch, marsch!« kommandierte Kaczmarek. Und sie liefen ums Leben.

Noch ein paar Kugeln pfiffen ihnen nach, ohne zu treffen. Bald fiel der eine, bald der andere lang hin über die verdammten harten Schollen; aber nach wenigen Minuten hatten sie glücklich den Fahrweg erreicht, und bald darauf waren sie in sicherer Deckung. Keuchend stürmten sie vorwärts.

In kaum einer Viertelstunde legten sie den Weg zurück, für den sie beim Ausmarsch fast eine ganze Stunde gebraucht hatten, und atemlos erstattete Kaczmarek dem Leutnant seine Meldung: »Feindliche Schützenlinie in Anmarsch, Herr Leitnampt!«

»Na, da ist nur gut, daß ihr da seid. Unteroffizier Plaschke hatte schon Angst, ihr könntet abgeschnitten werden. Er ist auf der Straße zurück mit seiner Patrouille und hat schon gemeldet. Laßt sie nur kommen, wir wollen sie eklig empfangen.«

Die ruhende Schicht der Schanzer war bereits alarmiert worden. Kaczmarek und sein Kamerad waren kaum wieder zu Atem gekommen, als sie anrückten und sich auf den Graben verteilten. Der war freilich kaum halb fertig und noch ohne Drahthindernis, doch immerhin hat er für kniende und liegende Schützen bereits ausreichend Deckung. Der Hauptmann schritt die ganze Linie ab und ermunterte die Leute, nicht zu schießen, bis die Russen so nahe heran wären, daß man ihre Gestalten in der kahlen Dämmerung deutlich erkennen könne. Er werde mit seinem Pfeifchen das Signal zur Eröffnung des Feuers geben.

Eine halbe Stunde verrann in gespanntester Erwartung. Mit geöffneten Patronentaschen, ein Häuflein loser Patronenrahmen zur Rechten, lag die ganze Kompagnie in Anschlag und achtete in ihrer heißen Erregung weder der grimmigen Kälte noch der unbequemen Lage in dem unfertigen Graben. Der östliche Horizont begann sich bereits gelbrötlich zu säumen, doch nur ein paar Minuten lang leuchtete der helle Streifen weit hinten über den dunklen Wäldern, dann verblaßte er rasch, wie wenn ein dicker Schleier davorgezogen würde. Novembernebel begann zu brauen; der schändlich tückische Nebel, den der anrückende Feind sich wie eine Tarnkappe über den Kopf ziehen kann. Der Hauptmann sah nach der Uhr. Er ließ seine elektrische Taschenlampe aufblitzen, um das Zifferblatt zu beleuchten, und fast gleichzeitig pfiff ihm eine Kugel dicht am Kopf vorbei. Ehe er noch sein Pfeifchen an den Mund setzten konnte, hub von hüben und drüben ein tolles Schießen an. Der Feind mußte ganz nahe herangekommen sein. Aus dem Schützengraben sprangen von hier und da laute Rufe auf: »Ich sehe sie! Sie sind da!« – »Zwanzig Meter! – fünfzig Meter! – tief halten! – Schnellfeuer!« Es hätte der Befehle gar nicht bedurft. Wenn sie auch noch nie in einer solchen Lage gewesen waren, die kampferprobten Landwehrleute taten instinktiv, was die Not gebot.

Der Angriff schien abgeschlagen. Das rasende Feuer wurde von den Russen nur schwach erwidert und die Kugeln gingen alle über die Köpfe weg. Da kam ein Mann auf allen vieren gekrochen und rief nach dem Hauptmann. Er hatte auf dem rechten Flügel Posten gestanden und meldete, daß eine dichte Schützenlinie von der rechten Flanke her im Anmarsch sei. Da entschloß sich der Hauptmann, um nicht flankiert zu werden, sich ins Dorf zurückzuziehen und sich in den äußersten Häusern zu verteidigen, so lange es anging, wenn irgend möglich, bis Hilfe kam. Er sandte einen Radfahrer zum Abschnittskommandanten mit der Bitte um schleunige Entsendung beträchtlicher Verstärkung, und dann ließ er den Befehl durch den Graben weitersagen, daß der rechte Flügelzug liegenbleiben und den Frontalangriff des Feindes aufhalten sollte, während der linke Flügelzug sich im Schutze des Nebels nach dem Dorfe zurückziehen und die äußersten Häuser besetzen sollte. Ob der Befehl wirklich den ganzen Schützengraben durchlief, oder ob er in dem tollen Lärm des Schnellfeuers und in der Aufregung halbwegs erstickte, das vermochte der Hauptmann nicht mehr festzustellen. Eine Menge Leute krochen aus dem Graben heraus; deren Führung übergab er dem Leutnant und hieß ihn, sie im Laufschritt nach dem Dorfe zurückzukehren. Er selbst kroch auf allen vieren nach der Mitte des Grabens zurück, um da Feuergefecht weiter zu leiten. Sein gutes Glas zeigte ihm auch nicht mehr, als seine unbewaffneten Augen aufnahmen: aufblitzende Schüsse in nächster Nähe, im Nebel sich bewegende undeutliche Gestalten. Er ließ das Feuer stopsen, um zu sehen, was die Russen dann unternehmen würden; und sobald Stille eintrat, hörte er nicht nur dicht vor sich, sondern auch vom rechten Flügel her in größerer Entfernung russische Kommandorufe. Nur wenige Sekunden währte die Pause; da stürmten die Russen mit lautem »Urri« vor. Er ließ sein Pfeifchen ertönen, und sofort feuerten seine Leute drauf los, daß die Schüsse rasselten wie ein Wirbel auf eiserner Trommel. Man sah im Nebel das Zurückfluten der Angreifer, man hörte die Hilfeschreie niedergebrochener Verwundeter. Ein paar tollkühne Gesellen waren aber doch unverwundet bis an den Graben gelangt, standen gespenstisch groß auf der ausgeworfenen Erdwelle der Brustwehr und schwangen ihre Gewehrkolben hoch durch die Luft. Doch die Landwehrmänner kamen ihnen zuvor; den einen Russen packten zwei von ihnen gleichzeitig um die Beine und brachten ihn dadurch zu Falle, ein paar andere wurden durch Kolbenschläge gegen den Leib taumelnd zurückgejagt, zwei andere gleichzeitig von mehreren starken Fäusten an der Brust und an den Armen gepackt und in den Graben hineingezerrt.

Es blieb keine Zeit, sich des Sieges zu freuen, denn jetzt erhob sich von rechts her das grimmige »Urri« einer anstürmenden, anscheinend geschlossenen Truppe, und das rasche Getrappel der Stürmenden näherte sich mit einer Geschwindigkeit, daß keine Zeit zu langem Überlegen blieb. Der Hauptmann ließ das Kommando: »Raus aus dem Graben! Kehrt marsch, marsch nach dem Dorf zurück!« durchlaufen, und als er die Leute auf allen vieren herauskriechen sah, schrie er mit dem äußersten Aufgebot seiner Stimmkraft: »Auf, mir nach! Gefangene und Verwundete mitnehmen. Im Laufen alle zehn Schritt kehrtmachen und schießen! Daß sich keiner gefangennehmen läßt! Vorwärts Kinder: Sprung, marsch, marsch!«

Offenbar war der Feind von der Front nicht gar so weit zurückgewichen, denn sobald die Landwehrleute den Rückzug antraten, setzte sein Verfolgungsfeuer ein. Der Hauptmann war einer von den ersten, die eine blindlings in den Nebel hineingejagte Kugel traf. Kaczmarek lief dicht hinter ihm. Er hörte ihn aufschreien und nach der Hüfte greifen, und unmittelbar darauf brach er zusammen und stürzte mit dem Gesicht lang in den Schnee. Kaczmarek und noch zwei Kameraden packten ihn unter den Armen und unter den Knien und schleppten den schweren Mann mit, so rasch es ging. Sie blieben beträchtlich hinter den anderen zurück und gerieten überdies in die Gefahr, von den Kugeln der Kameraden getroffen zu werden. Die hundert Meter, die sie noch etwa zu durchmessen hatten, bevor sie das erste schützende Haus von Schlagedotten erreichten, deuchten den vier Männern endlos. Die Verwundung des Hauptmanns schien eine schwere zu sein; durch seine Kleider hindurch sickerte das warme Blut den Leuten, die ihn auf ihren unter seinem Gesäß verschlungenen Händen trugen, über Ärmel und Handgelenk; aber er war noch bei Bewußtsein. »Danke euch, brave Jungens, danke euch,« stöhnte er matt: »Laßt mich nur nicht denen in die Hände fallen. Herr Leutnant soll sein Bestes tun, das Dorf zu halten, bis Verstärkung kommt. Au verdammt! – wenn bloß der verfluchte Nebel ... daß man wüßte, wie viele man vor sich hat. – O, mein Gott! Ich kann nicht mehr.«

Als die Leute schweißtriefend, schwer keuchend ihren Hauptmann in einer Scheune weiter hinten im Dorf niederlegten, hatte er schon die Besinnung verloren. Glücklicherweise waren sie unterwegs auf den Sanitätsunteroffizier gestoßen, der ihm die böse Wunde alsbald kunstgerecht verband.

Sobald Kaczmarek einigermaßen wieder zu Atem gekommen war, trat er auf die Dorfstraße hinaus und versuchte, sich über die Kampflage klar zu werden. Natürlich hatte er keine Ahnung, wo seine Gruppe hingekommen sein mochte. In diesem rückwärtigen Teil des Dorfes sah er keinen der Kameraden und keinen Feind. Es wollte ihn bedünken, als ob auch das Gewehrfeuer aus den Häusern am Rande des Dorfes bedenklich abgeflaut wäre. Er faßte sich entsetzt an den Kopf: Herrgott, sollte am Ende die Kompagnie nicht mehr zusammenzuhalten gewesen und, während sie um den Hauptmann beschäftigt waren, über Schlagedotten zurückgelaufen sein? – Er besprach sich mit seinen Kameraden und sie kamen dahin überein, daß sie in jedes Haus hineinschauen wollten, bis sie zu den vordersten durchkämen, oder aber auf den Feind stießen. Wo sie Kameraden träfen, da wollten sie bleiben; oder aber, wenn die schlimme Vermutung sich bestätigte, daß die ganze Kompagnie bereits über Schlagedotten hinausgeflutet sei, ein Wägelchen mit Stroh aufzutreiben suchen und ihren Hauptmann nachfahren.

Sobald die Kameraden außer Sicht waren, sprang Kaczmarek in weiten Sätzen der Seespitze zu. Das Mädchen mit den Schwänen war ihm plötzlich wieder in den Sinn gekommen. Ganz gleich, was daraus wurde, er mußte sich die Zeit nehmen, sich nach ihr umzuschauen. Er konnte das arme Geschöpf unmöglich hilflos seinem Schicksal überlassen.

Die Stasinka stand schon vor der Türe, als er die Fischerhütte erreichte. Sie steckte den Kopf zu dem Spalt heraus und lauschte mit weit aufgerissenen Augen auf das Schießen am anderen Ende des Dorfes. Kaczmarek ergriff sie beim Handgelenk und zerrte sie mit einem festen Ruck über die Schwelle. Heiser vor Aufregung herrschte er sie an: »Mädel, verrücktes, da bist du ja noch! Wirst du wohl machen, daß du fortkommst! Der Russe ist uns auf den Fersen. Lauf, Mädel! Lauf! Immer rückwärts den See entlang, bis du zu unseren Leuten kommst, da werden sie dir schon weiter helfen. Was ist denn? Was guckst du denn?«

Sie hielt die Augen starr auf seine Hand gerichtet, mit der er immer noch ihren Arm fest umkrallt hielt. »Oh, ooh!« sagte sie in kindisch weinerlichem Ton: »Was hast du da? Bist du geschossen?«

»Nein, ich nicht. Das ist unserem Hauptmann sein Blut. Was geht es dich an! Hör' doch, was ich sage: laufen sollst du, sonst packen dich die Russen. Die werden nicht lange fackeln; machen dich kaputt und fressen dich auf. Herrgott, verstehst du mich denn nicht?«

Sie nickte und strich sich die Haare aus der Stirn.

»Na, dann lauf doch!« knirschte Kaczmarek ingrimmig und gab ihr einen Stoß gegen die Schulter, daß sie ein paar Schritte vorwärts stolperte: »Ich kann nicht bei dir bleiben. Ich muß zu meinen Leuten: Russen totschießen.«

Da wandte sie den Kopf nach ihm zurück über die Schulter und sagte dumpf ergeben: »Geh nur. Ich bleibe da, wo meine Schwäne sind.«

Kaczmarek wußte nicht mehr aus und ein vor Verzweiflung. Er hielt dem Mädchen seine geballten Fäuste vors Gesicht und rief: »O, schwarze Mutter Gottes von Czenstochau! Den Bestien gehört der Hals umgedreht! Versteh doch, es ist dein Tod, Mädel, wenn du jetzt nicht laufst. Was haben die Schwäne davon, denn der Russe dich aufspießt! Nimm doch Vernunft an!«

Statt aller Antwort drückte Stasinka ihre Hände vor die Augen und begann still zu weinen.

Da versuchte es der arme Wasserpolack auf andere Art. Er nahm die Weinende in die Arme, drückte sie fest an sich und streichelte ihr mit ungefüger Zärtlichkeit über den blonden Scheitel: »Sollst's gut haben, Stasinka, wenn du vernünftig bist und mir folgst. Ich habe dich doch gern. Ich will dir alles zuliebe tun. Laß die Schwäne raus und lauf! Gestern sind sie dir ja auch nachgeflogen. – Horch, jetzt schießen sie wieder stärker. Ich muß fort. Mach', Mädel, mach'! Wir treffen uns schon wieder.«

Er küßte sie gewaltsam auf den zuckenden Mund; dann lief er davon, ohne sich nach ihr umzusehen.

Unterwegs stieß er auf zwei Männer, die mit Meldung zurückgeschickt waren. Die gaben ihm Bescheid, wo der Leutnant zu finden sei, und klärten ihn in aller Eile über das auffällige Abflauen des Feuers auf. Die Russen waren freilich nachgestürmt, aber dicht vor dem Dorfrand von so heftigem Schnellfeuer empfangen worden, daß sie abermals stutzten und in den Nebel zurückwichen. Sie fürchteten offenbar, daß das Dorf stärker besetzt sein könnte, als sie selber waren, und wollten lieber erst vorsichtig ihre Fühler ausstrecken, ehe sie einen Vorstoß durch die Dorfstraße wagten.

Kaczmarek verfügte sich nunmehr eilends zum Leutnant und meldete ihm die schwere Verwundung des Hauptmanns. Der Leutnant befahl, daß zunächst einmal der Hauptmann und die übrigen Verwundeten, deren glücklicherweise nur sehr wenige waren, in Sicherheit gebracht werden sollten. Da die flüchtige Bevölkerung alle Wagen mitgenommen hatte, mußte dies mit Tragbahren bewerkstelligt werden. Der Russe hatte es offenbar mit seinen neuen Angriffsversuchen nicht so eilig, so wurde denn die willkommene Gefechtspause dazu benutzt, um in dem Waschkessel eines der größten Bauernhöfe Kaffee für die ganze Kompagnie zu kochen. Mit einem warmen Frühstück im Leibe ließ es sich den kommenden Dingen schon zuversichtlicher entgegenharren.

Heiße Arbeit stand der Kompagnie sicher bevor, auch wenn die erbetene Verstärkung geschickt wurde. Das Schlimmste bei der ganzen Lage war eben der Umstand, daß es an Mitteln zur raschen Verständigung mit dem Regimentsstab fehlte, der mindestens anderthalb Marschstunden hinter Schlagedotten lag. Radfahrer waren freilich in der Kompagnie reichlich vorhanden; aber die kamen auf den ausgefahrenen, vereisten und verschneiten Feldwegen in dem hügeligen Gelände auch nicht rascher vorwärts als Fußgänger. Es war also nicht darauf zu rechnen, daß vor frühestens zwei Stunden Verstärkung eintraf. Inzwischen benutzte der nunmehrige Kompagnieführer den Nebel, um die Vorkehrungen zur Verteidigung in sämtlichen besetzten Häusern zu prüfen und die Zug- und Gruppenführer zu unterrichten, wie sie sich in den verschiedenen möglichen Kompagnien verhalten sollten.

Stunde um Stunde verrann, ohne daß der Feind sich irgendwie bemerklich machte. Erst als die Sonne hoch genug am Himmel stand, um den Nebel aufsaugen zu können, erlangten die Auslugposten der Landwehrkompagnie die Gewißheit, daß das ganze Vorgelände von feindlichen Truppen wimmelte. Sämtliche Kämme der zahlreichen Bodenwellen schienen mit Schützenlinien besetzt, die braunen Mäntel der Russen hoben sich deutlich genug von dem weißen Schnee ab. Es war ja möglich, daß das nur weit auseinandergezogene Gruppen von Schützen waren, es konnte aber auch sein, daß in den der Sicht entzogenen Einsenkungen, in den kleineren Waldstücken und einzelnen Gehöften mehrere Kompagnien verborgen waren. Die nächste Schützenkette lag so nahe, daß man die Gesichter deutlich erkennen konnte. Es war schwer, der Versuchung zu widerstehen, ein wohlgezieltes Feuer auf sie zu eröffnen. Doch der Leutnant hatte streng verboten zu schießen, bevor die erbetene Verstärkung nahe genug herangekommen wäre. Seine Hauptsorge war jetzt, daß seine Leute sich etwa unvorsichtig an den Fenstern sehen lassen und dadurch den Feind zur Eröffnung des Feuers bewegen könnten. Er mußte sich jetzt sagen, daß er am klügsten getan hätte, sich mit der ganzen Kompagnie im Schutze des Nebels zurückzuziehen; aber es widerstrebte seinem Ehrgeiz, seine Kompagnieführerschaft mit einer solchen Betätigung ängstlicher Vorsicht einzuleiten. Sich jetzt, bei hellem Tageslicht, zum Rückzug zu entschließen, war unmöglich. Er mußte den Angriff der Russen abwarten und Haus für Haus verteidigen, bis die Verstärkung kam. Auf diese Weise konnte er wenigstens dem Feinde erhebliche Verluste zufügen, wenn auch schwerlich verhindern, daß er mit überlegenen Kräften das Dorf durchstieß und ihnen den Rückweg verlegte.

Kaczmarek stand ganz in der Nähe des Leutnants, als er mit einem der Zugführer und etlichen Unteroffizieren die schwierige Lage besprach. Er konnte jedes Wort verstehen und begriff recht wohl die ganze Größe der Gefahr. Wenn einer von ihnen heute lebendig davonkam, so war das ein Wunder Gottes. Er betete inbrünstig zu seinem Lieblingsheiligen und gelobte ihm alle Kerzen, die in seinem Dorfe aufzutreiben waren. Dann fiel ihm wieder die arme Stasinka ein. Er faßte sich ein Herz und redete den Leutnant an: »Herr Leitnampt, ich bitte zu melden, hier im Ort ist sich noch ein Weibsperson, das wo gegen Befehl sich wieder retour ist gekommen. Suberska Stasinka schreibt sie sich. Will sich nicht fortmachen.«

»Ach was! Laß mich mit dem Frauenzimmer zufrieden,« fuhr ihn der Offizier unwillig an: »Das ist das Schwanenmädchen, was? Wir haben jetzt mehr zu tun, als uns um verrückte Weibsbilder zu bekümmern.«

In diesem Augenblicke ertönte das wohlbekannte heulende Sausen durch die Luft. Die erste Granate flog im Bogen heran und landete mit scharfem Krach kaum zwanzig Meter vor dem Haus. Hoch auf spritzten die braunen Erdschollen, und dann surrten die Geschoßsplitter wie große Insekten herum.

Der Leutnant war gleich ans Fenster gesprungen: »Da haben wir die Bescherung!« knirschte er, mit dem Fuße aufstampfend. »Der Russe will Numero Sicher gehen und das Nest erst zusammenschießen, ehe er stürmt. Jetzt wird es ernst, Leute. Nur nicht nervös werden! Vielleicht bleibt er dabei und schießt weiter zu kurz. Was Besseres könnte uns nicht passieren, denn so lange er funkt, sind wir vorm Sturm sicher.«

Aber diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Schon die nächste Granate flog fünfzig Meter weiter und in eine Scheune, in nächster Nähe des Hauses, das der Leutnant mit einem Halbzug besetzt hielt. Wenige Minuten später züngelte die Flamme aus dem Dache des getroffenen Gebäudes hervor. In immer kürzeren Abständen folgten sich die Granaten, untermischt mit Schrapnells, die über dem Dorfe platzten und ihren Kugelregen über Häuser und Gassen ausstreuten. Eine Viertelstunde noch hielten die wackeren Landwehrleute in ihren Verstecken aus, ohne sich zu rühren oder zu schießen; dann aber schlug ein Volltreffer in das nächste besetzte Gebäude jenseits der Dorfstraße. Es gab einen furchtbaren Krach von einstürzendem Balken- und Mauerwerk, einen dumpfen Knall, Wehegeschrei Verwundeter und Verschütteter, und dann kamen etliche Leute, taumelnd, über und über mit weißem Staube bedeckt, auf die Straße hinaus und, ob befohlen oder nicht, die Flinten gingen hüben und drüben los, und das Völkchen der Spitzkugeln mischte sich in das Heulen der schweren Geschosse und das wüste Krachen der Einschläge.

Stürmen konnte der Feind nicht, ohne ins eigene Feuer hineinzulaufen; aber zu warten, bis die Kanonade aufhörte, wäre Wahnsinn gewesen, denn die konnte so viele Opfer fordern, daß eine Verteidigung gegen eine stürmende Übermacht erst recht aussichtslos gewesen wäre. Der Leutnant ließ also den Befehl weiter sagen, daß die Kompagnie sich nach Möglichkeit ungesehen hinter das Dorf zurückziehen solle. Das geschah in leidlicher Ordnung. In dem weiten Hofe des größten Anwesens, am rückwärtigen Ende des Dorfes sammelte sich die Kompagnie. Sie wies schon große Lücken auf. Leichtverwundete kamen nachgehumpelt, Schwerverletzte wurden von Kameraden gestützt und getragen, Namen wurden gerufen, von den Vorgesetzten, von einzelnen Männern, die ihren Nachbar im Gliede vermißten. Rufe, die keine Antwort fanden. Man gab den Verwundeten einen Vorsprung, bevor die übrige Kompagnie sich in Bewegung setzte; hinter einer Erdwelle wollte sie versuchen, ungesehen den zur Verteidigung geeigneten Geländeabschnitt zu erreichen.

Auch Kaczmarek fehlte beim Aufruf seines Korporalschaftsführers; aber nicht etwa, weil er verwundet oder gar verschüttet war, sondern weil er es nicht übers Herz gebracht hatte, Schlagedotten zu verlassen, ohne sich noch einmal nach dem Schwanenmädchen umzutun. Das Häuschen der Suberskis hatte er noch unverletzt gefunden; aber dicht an der niedrigen Hofmauer war eine Granate krepiert, hatte ein großes Loch in die Mauer gerissen und durch die herumfliegenden Steine und Eisenstücke arge Verwüstung in der nächsten Umgebung angerichtet. Der Schuppen war halb zusammengebrochen, der Schwanenstall zerstört, die Fensterscheiben in Stasinkas Stübchen zertrümmert. Das Mädchen selbst fand Kaczmarek im Hofe, auf einem Strohbündel hockend und in ihren Schoß einen der Schwäne hingeschmiegt, während sein langer Hals wie eine Schlange ihr an der Brust hinaufkroch und der Kopf auf ihrer Schulter ruhte. Sie hielt mit den beiden Händen die Flügel auseinandergespreizt und starrte, mit verzweifelter Trauer in den Mienen, auf das rote Bächlein, das zäh quellend über das schneeweiße Rückengefieder des verwundeten Tieres rann. Der andere Schwan hatte sich, gleichfalls wie Hilfe suchend, von rückwärts an seine Herrin geschmiegt und seinen Hals auf dem Strohbündel lang vorgeschoben.

»Heiliges Blut! Bist du immer noch da?« schrie Kaczmarek das hockende Mädchen an: »Sie schießen ja den ganzen Klumpatsch kaputt. Ist dir denn dein junges Leben schon so leid, dummes Ding? Ich laß dich nicht hier. Auf! Marsch! Jetzt mußt du fort! Verstanden?«

Sie hatte gleich bei seinen ersten Worten den Kopf ihm zugewendet und mit dem Ausdruck angestrengten Lauschens zu ihm emporgeäugt. Statt aller Antwort bewegte sie nur verneinend den Kopf und wies dann durch die Richtung ihres Blickes auf die Wunde des Schwans.

»Ach, was macht denn das!« schalt Kaczmarek ungeduldig: »Davon wird der große Vogel nicht gleich hin werden. Jag' das Viehzeug raus ins Freie, wird schon selber für sich sorgen. Sind sich alt genug. Warte, die Wunde kann ich ihm fix verbinden.« Er lehnte sein Gewehr an die Hauswand, holte aus der vorderen Schoßtasche seines Rockes ein Verbandpäckchen heraus, riß die Fadenverschnürung mit den Zähnen entzwei und wickelte den Verband vorschriftsmäßig auf. Dann hieß er das Mädchen mit allen zehn Fingern die Federn rings um die Wunde nach Möglichkeit beiseite schieben, drückte den präparierten Wattebausch fest darauf und wand die beiden Enden des Gazestreifens unter den Flügelansätzen hindurch, um den Körper des Schwanes herum, und band sie unterm Bauch so, daß sie an den Keulen einen Halt fanden, zu einem festen Knoten zusammen. Stasinka unterstützte ihn bei dem schwierigen Werke geschickt und vorsichtig, und der verwundete Vogel ließ in dankbarer Ergebenheit alles mit sich geschehen.

Während Kaczmarek noch auf dem Boden kniete und sich überzeugte, daß der Verband unter den Flügeldecken festsaß, schlang plötzlich Stasinka ihre beiden Arme um seinen Hals und drückte ihre Wange an sein wildbärtiges Gesicht, immer noch ohne ein Wort dabei zu sprechen.

»Nun also,« lachte der Polack zufrieden: »Glaubst du es jetzt, daß ich es gut mit dir meine? Dann sei auch vernünftig und komm' mit. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Rums! da schlägt wieder so'n Luder ein.«

Gegenüber in dem Haus, wo er die letzte Nacht sein Quartier gehabt hatte, fuhr das Geschoß in eine Ecke des Daches schräg hinein und im untersten Stockwerk zur Wand hinaus. In den gepflasterten Hof riß es noch ein großes Loch, und Steine, Balkensplitter, Lehmklumpen flogen bis über die Straße hinüber in das Suberskische Anwesen. Stasinka schrie auf vor Schrecken, beugte sich tief über den verwundeten Schwan hin und drückte ihre Arme schützend über ihren Kopf.

»Verpucht! Jetzt habe ich genug von dem Getue,« schrie Kaczmarek: »Auf, du! Fort!« Damit packte er sie fest unter den Achseln und riß sie mit einem Ruck auf die Füße; aber sie wehrte sich mit allen ihren Kräften gegen seinen Versuch, sie fortzuziehen. Da bückte er sich rasch, verschlang seine Arme unter ihren Knien und hob sie auf.

Keine drei Schritt kam er. Sie stemmte sich mit den Händen von seinen Schultern ab, so daß er das Gleichgewicht verlor. Er mußte die schwere Last auf das Stroh zurückfallen lassen, und die Schwäne richteten sich auf, spreizten die Flügel, reckten die Hälse vor und zischen ihn feindselig mit aufgesperrten Schnäbeln an.

Kaczmarek keuchte vor Wut und Anstrengung: »Wenn du jetzt nicht gutwillig mitgehst, du Mehlsack, dann weiß ich, was du bist. Melden werde ich es, daß du es mit den Russen hältst. Dann werden sie dich totschießen. Weißt du, was du bist? Spion bist du! Spion, verfluchter!«

Sie sah ihn verständnislos an: »Was ist das? Ich weiß nicht.«

»Stell' dich nicht dumm, sonst bist du erst recht verdächtig. Also wir zwei haben ausgeredet. Ich werde mich wegen deiner lassen strafen. Sieh zu, wie du fertig wirst mit den Russen. Deine Schwäne werden sie dir abschlachten, und du wirst sie müssen braten.«

Er war schon ein ganzes Stück den Feldweg am See hinunter, als er ihr das noch höhnisch zurief. Dann machte er sich ans Laufen, um die Kompagnie noch einzuholen, die er schon weit weg, in der Deckung einer lang gestreckten Bodenwelle, sich dahinschlängeln sah.


NACH stundenlanger Beschießung erst hielten die Russen das Dorf für sturmreif. Sobald ihre Artillerie schwieg, rannten sie an, überschwemmten im Nu ganz Schlagedotten mit Hunderten und aber Hunderten von Menschen, drangen mit gefälltem Bajonett in die paar noch unversehrt gebliebenen Häuser ein und waren vermutlich herzlich froh, keine Gegner mehr darin zu finden. Ihr Tatendrang war mit dieser Eroberung erschöpft, denn sie dachten nicht daran, weiter vorzustoßen. Sie erbrachen alle Keller, Kisten, Kasten, Türen und Schlösser, um etwas Eßbares oder Stehlenswertes aufzutreiben, fanden aber zu ihrer wütenden Enttäuschung nichts außer Kartoffeln und einigen hungrig und verängstigt umherirrenden Ferkeln.

Sie waren im besten Schmausen, oder auch in tiefem Schlafe auf dem Stroh, als ihre Vorposten am frühen Nachmittag das Vorrücken der Deutschen meldeten.

Und der Meldung folgten auf dem Fuße die deutschen Granaten. Sie fanden ihren Weg nach dem unglücklichen Schlagedotten ebensogut wie am Morgen die russischen; aber sie machten es kürzer. Bereits nach halbstündiger Beschießung setzte sich ein ganzes Bataillon in Schützenlinie in Bewegung und arbeitete sich sprungweise vor. Und obwohl die Russen jetzt eine viel größere Front besetzt hielten als vorher die Deutschen, fügten sie den Angreifern doch nur verhältnismäßig geringe Verluste zu, weil sie, wie gewöhnlich, zu hoch schossen.

Die frühe östliche Abenddämmerung begann schon hereinzubrechen, als die vorderste Schützenlinie in die Häuser eindrang. Mit wütender Erbitterung kämpfte Mann gegen Mann mit dem Bajonett, mit dem Kolben, mit Fäusten und Zähnen. Wildes Geschrei erfüllte die Luft, Türen zersplitterten, Fenster klirrten, Kugeln pfiffen den Fliehenden über die Straße nach, Kommandorufe, schrille Pfeifensignale und endlich ein vielhundertstimmiges Hurra zweier nachstoßener frischer Kompagnien. Die brachten die Entscheidung. Zahlreiche Tote, Verwundete und Gefangene zurücklassend, flohen die mongolischen Hilfsvölker des weißen Zaren einzeln und in kleinen Trupps ins graue, dämmernde Feld hinaus, von den siegestrunkenen Landwehrleuten mit dem gefällten Bajonett verfolgt.

Kaczmareks Kompagnie hatte den ersten Sturm unternommen, die blutigste Arbeit und die größten Verluste gehabt. Zum Lohn dafür sollte sie jetzt aber auch ihre Ruhe haben und nach kurzer Rast in ein Dorf hinter der Verteidigungslinie in Quartier rücken.

Der Wasserpolack hatte einen Kolbenschlag auf den Kopf bekommen. Sein steinharter Schädel hatte ihn ausgehalten; aber eine halbe Stunde hatte er doch bewußtlos dagelegen. Sobald er wieder zu sich kam, richtete er sich auf und stellte fest, daß seine Beine und Arme noch ihren Dienst taten und seine Haut heil davongekommen war. Bloß ein wenig übel und schwindlig fühlte er sich noch. Doch das hielt ihn nicht ab, sofort den Gang nach der Fischerhütte anzutreten. Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen, und seine Kehle war ihm vor Aufregung so fest zugeschnürt, daß er nicht einmal die Stasinka beim Namen zu rufen vermochte. Er fand das Häuschen, wie er es verlassen hatte, von weiteren Einschlägen war es verschont geblieben; aber die Zimmer waren leer, die Küche und der Speicher gleichfalls. Da stolperte er durch den finsteren Vorplatz in den Hof hinaus und durchsuchte hart jeden Winkel. Schon wollte er es aufgeben, als sich ein lautes, durchdringendes Kreischen hoch über seinem Kopfe erhob. Er trat unter dem halb niedergebrochenen Schuppendach hervor und sah die beiden Schwäne über dem Häuschen der armen Herrin ihre Kreise ziehen.

Da fand er seine Stimme wieder: »Seid ihr da?« rief er hinauf: »Wo ist sie, ihr da oben? Sagt mir's doch, ihr Schwäne und zeigt mir den Weg!«

Als wollte er Botschaft bringen, senkte sich der niedriger fliegende Schwan mit matten Flügelschlägen herab. Er erreichte den Dachfirst, aber seine Schwimmfüße vermochten sich da nicht zu halten. Über den steifen Giebel glitt er hinab und sank mit ausgebreiteten Flügeln in den Hof herunter. Es war der verwundete Schwan. Sein Gefährte schwebte, laut kreischend, unermüdlich in kleinen Kreisen über dem Fischerhaus.

Kaczmarek beugte sich über den matten Vogel und strich ihm schier zärtlich über die abwehrend gespreizten Schwingen; da fühlte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich rasch um und sah sich – Stasinka gegenüber.

Fest umschlang er sie mit beiden Armen, schaute ihr nahe in das bleiche, zuckende Gesicht und sagte: »Bist du da, Mädel? Lebst du? Bist du heil? Herrgott, so sprich doch ein Wort! Wie ist es dir denn ergangen, du?«

Sie näherte ihren Mund seinem Ohr und flüsterte kaum vernehmbar: »Nicht fragen. Bitte, bitte, nicht fragen. Da! Da!«

Sie befreite sich aus seiner Umklammerung und wies mit ausgestreckter Hand auf einen offenstehenden Verschlag, der noch fast bis an das niedere Dach mit Heu vollgestopft schien.

»Hast du dich dort versteckt gehabt?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf und dann nahm sie ihn bei der Hand, als wollte sie ihn nach der offenen Gattertüre hinziehen, deutete mit der Linken immer eindringlicher daraufhin und wiederholte nur immer das eine Wörtchen: »Da, da, da!«

Kaczmarek glaubte sie zu verstehen; er brachte sein Gewehr in Anschlag und ging auf den Heuschuppen los.

Drei Schritte nur noch war er von dem offenen Gattertor entfernt, als plötzlich ein großes Heubündel ihm entgegenflog, und unmittelbar hinter diesem Wurfgeschoß, das ihm die Augen voll Staub streute, stürzte ein brauner Kerl mit einer zottigen Fellmütze, anzuschauen wie ein Bär, breit und plump, auf ihn los und entriß ihm mit raschem Griff sein Gewehr. Kaczmarek sprang mit einem Fluch zurück, rieb sich den Staub aus den Augen und bückte sich suchend umher. Einen Stein, einen Kloben Holz, irgendeine Waffe oder ein Wurfgeschoß suchte er, um damit dem Russen zu Leibe zu gehen.

Da krachte ein Schuß und Kaczmarek hielt – er wußte nicht wie ihm geschah – die Stasinka in seinen Armen.

»Mädel! Mädel! Herrgott, Stasinka! Was ist denn das mit dir? Du blutest ja. Jesus Maria, links in der Brust! Mädel, liebes Mädel, hast du das für mich ... Hast du die Kugel aufgefangen?«

Der schwere Körper wurde schlaff. Kaczmarek sank in die Knie und stützte im Niedersinken ihren Kopf und ihre Schultern. Auf seinen Schoß bettete er sie.

Da traf ihn der letzte Blick ihrer brechenden Augen, und sie röchelte mit höchster Anstrengung: »Die Schwäne – meine Schwäne ...«

Noch einmal reckte sich ihre blutüberströmte Brust empor, und dann sank sie mit einem tiefen Seufzer entseelt zusammen.

Kaczmarek ließ die Tote zu Boden gleiten, raffte sich auf die Füße empor, ballte seine Fäuste und schrie in die Dämmerung hinein: »Hundeblut, russisches, verfluchtes! Du hast sie mir totgemacht! Jetzt geht dir's ans Leben!« Er stieg über die Leiche weg und rannte blindwütig durch das Hoftor auf die Straße hinaus. Der Russe war fort; aber auf der Dorfstraße, in allen Höfen und Häusern wimmelte es von deutschen Kameraden, und er hörte ihr wildes Geschrei: »Halt' ihn auf, halt' ihn!« Vereinzelte Schüsse fielen – der entging der Rache nicht.


DER ganze westliche Himmel war in Purpurglanz getaucht, und an den Stämmen der Föhren, die den kleinen Hügel des Dorffriedhofes bestanden, rieselte der Widerschein der untergehenden Sonne wie rotes Gold hinab, als Kaczmarek mit ein paar Kameraden die tote Stasinka in das frische Grab bettete.

Er konnte es nicht mitansehen, wie der arme junge Leib unter der hastig darübergeschaufelten Erde allmählich verschwand. Abgewendet stand er dabei, die immer noch schmerzende Stirn gegen einen Föhrenstamm gedrückt, und weinte bitterlich.

Als die traurige Arbeit getan war, traten die Kameraden, einer nach dem anderen, zu ihm heran, ergriffen seine Rechte und drückten sie kräftig in stummem Mitgefühl.

Als letzter kam der Feldwebel. Er legte ihm den Arm um die Schulter und sagte: »Kopf hoch, Mann! Auch das muß tapfer ausgehalten werden.« Und seine harte Stimme klang weich und väterlich.

Kaczmarek wandte sich um und hielt beschämt sein tränenüberströmtes Gesicht auf die Brust geneigt: »Herr Feldwebel, bin ich ein armer Kerl, aber fester Kerl. Kann viel vertragen; aber das Mädel, die Stasinka ... hat es mir doch das Leben gerettet.«

Der Feldwebel drückte ihm noch einmal ermunternd die Hand und sagte: »Ja, ja, ein braves Mädel. Wir wollen ihr Andenken in Ehren halten in der ganzen Kompagnie, und für die Schwäne wollen wir sorgen, solange wir in der Gegend bleiben. Vorwärts marsch, Kaczmarek: es ist Zeit zum Abrücken.«

Mit raschen Schritten eilten die beiden Männer durch die Dämmerung davon, ohne sich noch einmal nach dem Grabe umzusehen.

Und hoch über den blutenden Föhren kreisten in weitem Bogen Stasinkas Schwäne.


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