Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 1
Ernst von Wolzogen

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Neuntes Kapitel.

[Eins der ereignisreichsten in dieser wahrhaftigen Geschichte, in welchem die Lizzi sich ernsthafte Gedanken macht, schlecht diniert und gut soupiert, ihren wahren Beruf, Freundschaft, Liebe und schließlich gar ein Nachtquartier findet.]

Das Abschiedsherzeleid machte Lizzi nicht allzulange zu schaffen. Als sie auf dem Lehrter Bahnhof angekommen war, ihr Gepäck zur Aufbewahrung gegeben und nach Hamburg telegraphiert hatte, kam sie sich in ihrer Selbständigkeit so bedeutend und mit ihren zwanzig Mark in der Tasche so reich vor, daß sie, ohne irgend vor der Abenteuerlichkeit ihres Unterfangens zu erschrecken, oder sich um die gänzlich ungewisse Zukunft Sorge zu machen, vielmehr nur mit kindlichem Uebermut die berauschende Freiheit der Gegenwart genoß.

Der Telegraphenbeamte hatte ihr gesagt, daß in zwei Stunden spätestens Antwort da sein könne, und dann hatte sie sich nach den Zügen erkundigt, die nach Hamburg gingen und dritte Klasse führten. Ihre Mittel erlaubten ihr ja jetzt sogar dritter Klasse zu fahren. Als sie so alle Vorbereitungen getroffen hatte, verließ sie den Bahnhof und steuerte aufs Geratewohl über den weiten Platz stadtwärts. In dem knapp anliegenden grauen Regenmantel, der von oben bis unten mit riesigen Perlmutterknöpfen zugehalten wurde, den Trauerflor um den Arm, die Hände in die kleinen Vordertaschen versenkt, Regenschirm unter den Arm geklemmt, Kuriertäschchen umgehängt, schwarzes Filzhütchen mit Federstutz und grauem Schleier auf dem Kopfe, sah sie unternehmend und hübsch genug aus, wie sie mit ihren gewohnten großen Schritten so flott und frei einherstiefelte.

Sie hatte das letzte Mittagessen im Hause der Tante stolz verschmäht, und nun stellte sich ein ganz gehöriger Hunger ein. Da sie nicht die geringste Lokalkenntnis besaß, so war die Frage, wie sie den stillen sollte, nicht so ganz leicht zu lösen. In der Gegend, wo sie sich befand, gab es überhaupt keine Restaurants. Sie stand mitten auf dem Königsplatz und starrte eine Minute lang das goldstrotzende Scheusal, Siegessäule genannt, ohne besonderen Genuß an. Vor ihr dehnte sich der Tiergarten aus. Ein Spaziergang bei dem prächtigen Sonnenschein wäre unter anderen Umständen ganz verlockend gewesen. Zurzeit aber deuchte ihr eine einfache Kalbskotelette im Magen erstrebenswerter. Um sich nicht etwa in dem weiten Parke zu verlaufen, hielt sie sich an der bebauten Seite und folgte der Sommerstraße bis zum Brandenburger Tor und bummelte dann etwas langsamer die Linden hinauf. Hier gab es ja nun Restaurants die Hülle und Fülle. Aber die sahen mit ihren Spiegelscheiben und all dem Prunk der Einrichtung, den sie durch diese wahrnehmen konnte, so abschreckend vornehm und teuer aus, daß die Lizzi sich nicht hineintraute. Nachdem sie bis zur Friedrichstraße hinuntergegangen war, bog sie, die Linden aufgehend, in diese ein, und als sie zwischen Dorotheen- und Mittelstraße auf ein kleineres Restaurant mit Münchener Bier stieß, trat sie kurz entschlossen ein.

Lauter Männer saßen darin, und eine abscheuliche Atmosphäre, aus Speisendunst und Tabaksqualm gemischt, schlug ihr erstickend entgegen. Sie wäre am liebsten gleich wieder hinausgelaufen. Aber das hätte doch zu dumm ausgesehen! So ließ sie sich am ersten besten freien Tisch nieder und verlangte die Speisekarte. »Menü a 1 Mk.« stand darüber. Suppe, Gemüse mit Beilage oder Fisch, Braten mit Salat und Kompott und Speise oder Butter und Käse. Von den Fleischgerichten sogar mehrere zur Auswahl. Das alles für eine Mark. Da hatte sie's also gut getroffen. Sie entschied sich für Krebssuppe, Schellfisch mit Butter, Gänsebraten und Zitronenauflauf. Dann knöpfte sie in froher Erwartung eines fürstlichen Diners ihren Mantel auf, zog die Handschuhe aus und schlug den Schleier zurück.

Es schien hier doch selten eine Dame sich hineinzuverirren, oder war es am Ende, weil sie so auffallend hübsch war, daß fast alle diese Herren sich nach ihr umwandten und sie mit ihren dreisten Blicken in Verlegenheit setzten? Es war nur gut, daß der schmierige Kellner ihr sehr bald die Suppe aus einem blinden, wie Blei aussehenden Blechgefäß in den Teller goß. Da konnte sie sich mit dem Essen beschäftigen und brauchte die Augen nicht aufzuheben. Was sich Krebssuppe nannte, war ein geschmackloser, lauwarmer, verdünnter Kleister, mit schlechtem Fett und rötlichem Farbstoff versetzt, ein Zeug, das sie trotz ihres Hungers nicht auszulöffeln vermochte. Das verschwindend kleine Stückchen Schellfisch war hart und trocken, wie ein weißer Kreidefels aus dem gelben See der schlechten geschmolzenen Butter hervorragend. Desto bedeutender nahm sich der Gänsebraten aus. Doch erwies sich seine Größe als eine schmähliche optische Täuschung. Ein raffinierter Querschnitt durch das ganze Knochengerüst, von fast verbrannter Haut überzogen, von dem Lizzi mit größtem Fleiß kaum vier oder fünf Bissen Fleisch abzulösen vermochte. Das Ganze schwamm in einer mehligen, braunen Tunke, die nicht eben den Wohlgeschmack erhöhte. Auch der oft aufgewärmte, vertrocknete Zitronenauflauf mit der dünnen Weinsäure vermochte das hungrige Mädchen nicht für die vorausgegangenen Enttäuschungen zu entschädigen. Aber das Pschorrbräu war wenigstens gut, und sie aß viel Brot dazu. Dann beeilte sie sich zu zahlen und verließ hastig das Lokal.

Ohne Zweck und Ziel ging sie die Friedrichstraße wieder zurück, blieb vor jedem Laden stehen, sah mit naiver Bewunderung jeder auffallend gekleideten Dame nach und benahm sich überhaupt ganz wie das Mädchen aus der Fremde.

Mit Eifer studierte sie die Anschlagsäulen und besonders die Theaterzettel. Es wäre doch eigentlich zu dumm, dachte sie sich, wenn sie von Berlin fort sollte, ohne daß sie ein einziges Mal im Theater gewesen wäre. Auf der Gesellschaft beim Onkel Professor hatte sie soviel vom Deutschen Theater und besonders von seinen Sternen Joseph Kainz und Agnes Sorma gehört. Und gerade für heute war Grillparzers »Weh dem, der lügt!« angezeigt und jene beiden Namen unter den Mitwirkenden. Sollte sie nicht den Tag ihrer Freiheit dazu benutzen, sich einmal einen Genuß zu verschaffen, der ihr sonst vielleicht nie wieder im Leben geboten wurde? Aber diese Preise! Sieben Mark fünfzig – sechs Mark – vier Mark fünfzig, bis herunter zu einer Mark für die Galerie. Eine Mark konnte sie wohl dranwenden, es ging ja noch ein Personenzug spät abends nach Hamburg, und das Geld reichte immer noch, auch wenn noch Abendessen dazukam. Sie drehte und wendete den Gedanken in ihrem Kopfe herum, während sie sich von dem auf und nieder flutenden Menschenstrom der belebten Straße forttragen ließ. Bei jeder Anschlagsäule blieb sie stehen, um den Zettel des Deutschen Theaters durchzulesen. Und beim drittenmal stand der Entschluß bei ihr fest, heute abend für eine Mark »Weh dem, der lügt!« zu sehen. Das mußte doch ein Stück sein, das ihr selbst die bösartige Tante nicht verbieten konnte. Der Titel klang schon so moralisch.

Sie war über ihren Entschluß so stolz, wie wenn sie sich einen Orden für Tapferkeit vor dem Feinde errungen hätte und den sie zum erstenmal auf stolz geschwellter Brust im Sonnenschein spazierenführte. Sie trug den Kopf noch einmal so hoch, und ihr lieblich volles Gesicht mit den frischen Farben leuchtete unter dem grauen Schleier so überaus lustig hervor, daß manch bewundernder Blick sie traf und gar viele Leute stehenblieben, um dem reizenden großen Mädchen nachzuschauen. Die Einfachheit ihrer Kleidung und die Unbefangenheit ihres Auftretens gewährten ihr auch ausreichenden Schutz vor den Zudringlichkeiten seitens der Männerwelt, die sonst gerade in diesem Teile der Stadt für ein auffallend hübsches Mädchen zu befürchten sind.

Als die zwei Stunden abgelaufen waren, es war gegen vier Uhr, kehrte sie nach dem Lehrter Bahnhof zurück. Es war noch keine Antwort von Hamburg eingelaufen. Sie bekam anfänglich einen gelinden Schreck. Was sollte sie anfangen, wenn die Frau Konsul Thormälen etwa gar nicht daheim war? Sie konnte doch nicht nach Hamburg reisen ganz aufs Ungefähr. Sollte sie nicht doch vielleicht zunächst die freundliche Majorin von Goldacker aufsuchen und sie um Aufnahme bitten, bis sie eine briefliche Antwort von Frau Thormälen erhalten hatte? Aber nein, dann hätte sie gewiß nicht heute abend ins Deutsche Theater gedurft; und das hatte sie sich einmal so fest in den Kopf gesetzt, als ob von der Ausführung dieses Vorhabens ihre ganze Zukunft abhinge. Sie genoß im Bahnhofrestaurant eine Tasse Kaffee, ruhte sich eine halbe Stunde aus und fragte dann wieder am Telegraphenamt nach. Noch keine Antwort! Da schlug sie zum zweitenmal den Weg zum Brandenburger Tor ein und dachte: jetzt ist schon alles eins. Um elf geht der letzte Zug – bis dahin hab' ich »Weh dem, der lügt!« gesehen, und bis dahin muß ein Telegramm da sein.

Diesmal ging sie nicht die Linden hinauf, sondern bis zum Potsdamer Tor und bog dann in die Leipziger Straße ein. Sie war noch nie am Abend durch die Hauptverkehrsstraßen gekommen, und als sie sich in den schwarzwimmelnden, brausenden Menschenstrom hineingleiten ließ, da empfand sie jenes Gefühl bänglicher Lust, mit welchem ein Binnenländer zum erstenmal bei starkem Wellenschlag ein Seebad nimmt. Durch ihre entschlossene Befreiungstat hatte sie sich selbst mündig gesprochen. Nicht mehr trottete sie wie ein Kind ängstlich am Schürzenbande eines fremden Willens zwischen den Bretterzäunen der sogenannten Erziehung einher. Sie stand allein auf weitem Plan, frei zu gehen, wohin sie wollte, stark genug, ihre Ellbogen zu gebrauchen in den ungeordneten Schlachtreihen rücksichtsloser Kämpfer ums Dasein, frei auch, sich von einem gefälligen Strome unbekannten Zielen zutragen zu lassen. Das war nicht eine Entdeckungsreise in Berlin W, ein harmloser Spaziergang durch die Leipziger Straße, das war das brandende Leben selbst, in das sie mit keckem Sprunge hineingetaucht war, ohne seine Tiefe zu kennen, seine verborgenen Klippen zu ahnen. Und so wenig sie wußte, daß diese Leipziger Straße auf dem Spittelmarkt endet, und daß von dort die Gertraudenbrücke über die Spree führt, so wenig wußte sie, an welche Küste sie der Strom setzen würde, von dem sie sich jetzt treiben ließ. Aber sie war guten Mutes, sie hatte in dem reinlichen, mit glatten Kacheln ausgelegten Bassin der höheren Töchtererziehung schwimmen gelernt, was konnte ihr das fremde Gewässer auch anhaben, mochte es gleich noch so tief sein?

Nein, Furcht hatte sie nicht, und die Aufregung, in welche der Lärm des Verkehrs, das drängende Gewühl rastloser Menschen ihre Nerven versetzte, nahm alle ihre Sinne zunächst wie ein angenehmer Rausch gefangen. Sie wollte möglichst viel auf einmal beobachten. Sie hatte die Augen und die Ohren überall und wollte doch nicht auffallen mit ihrer kindischen Neugier, nicht als ein dumm erstauntes Gänschen aus der Provinz entdeckt werden. Das war nicht leicht. Und als sie sich eine halbe Stunde lang so zweck- und ziellos durch den Menschenstrom hindurchgeschlängelt hatte, da kam ihr auf einmal ihre gänzliche Verlassenheit peinvoll zum Bewußtsein. Nicht nach mütterlicher Aufsicht, nach freundschaftlicher Führung sehnte sie sich, sondern die Erkenntnis quälte sie, daß sie ein gänzlich nutzloses Ornament an dieser gewaltigen, in ehrlicher Anstrengung laut schnaufenden, hart donnernden Arbeitsmaschine sei. Diese Hunderte und aber Hunderte von Männern und Frauen jeden Standes und Alters, bis zu halben Kindern herunter, welche mit ernsten Gesichtern und dem raschen Schritt derer, für die Zeit Geld ist, an ihr vorübereilten, die beschämten sie und lenkten ihre Gedanken auf eine Bahn, die sie bisher noch nie betreten hatte. Was bedeutete denn ihr Dasein für die Allgemeinheit der menschlichen Gesellschaft? Wovon leitete sie ihre Berechtigung zum Genusse dieses Daseins ab? Was hatte bis zum heutigen Tage ihr Sinnen und Trachten ausgemacht? Für welche Leistung durfte sie von der Zukunft den Lohn fordern? Sie hatte Regen und Sonnenschein, wie just der Himmel ihn schickte, über sich ergehen lassen und war gewachsen, groß und stark geworden und blühte nun wie eine Lilie auf dem Felde, ohne Zweifel lieblicher anzuschauen, als der alte König Salomo in aller seiner Herrlichkeit. Sie hatte die guten Menschen, die sie liebten, wieder liebgehabt und mit mehr oder minder Eifer gelernt und getrieben, was man von ihr verlangte. Aber aus ihrem eigenen Willen und Wesen heraus hatte sie noch nichts getan, noch nichts erstrebt, was ihr als eine nützliche Arbeit im großen Kontobuche des Lebens gutgeschrieben werden konnte. Nichtigkeiten über Nichtigkeiten hatten ihr müßiges Gehirn erfüllt, keine schöpferische Leidenschaft noch ihr Herz bewegt. Eine kleine Heimlichkeit mit einem Kadetten oder einem Studenten, die Sehnsucht nach einem schwer erreichbaren Vergnügen, ein klein wenig Angst vor den Folgen eines harmlosen kecken Streiches, das waren bisher so die Sonntagsereignisse ihres friedlichen Seelenlebens gewesen, während sie sich alltags darauf beschränkte, zu existieren und so nett zu sein, wie es ihr natürlich war. Und wenn ihr Leben glatt weiter verlief, auf neuen Schienen und gutgeschmierten Rädern, wie es müßige Töchter der höheren Stände zu verlangen pflegen, so bedeutete es eben weiter nichts als Essen, Trinken, Schlafen und die Zeit hinbringen in mehr oder minder angenehmer Gesellschaft, bis vielleicht eines Tages ein fremder Mann auf die kühne Idee kam, dies hübsche Nichts an sein Herz zu ziehen, ihm den Ertrag seiner Arbeit in den Schoß zu schütten und es noch obendrein wie eine Heilige oder Heldin zu verehren, wenn es ihm mit den unvermeidlichen Schmerzen Kinder gebar. Und wenn sich so ein merkwürdiger Mensch nicht fand – was dann? Es ging dem sinnenden Mädchen eine Ahnung auf, eine wie traurige Lächerlichkeit in diesem energischen modernen Leben die Frau bedeute, die nichts ist, nichts will und nichts kann. Blühen, Frucht tragen und vergehen – im günstigen Falle – am Boden wurzeln, dem Zufalle preisgegeben, gänzlich auf dem Standpunkte der Pflanze verharrend, während die Mitgeschöpfe gleicher äußerer Prägung schon eine zehnmal höhere Stufe der Entwicklung erreicht haben! Nein, sie wollte sich mit einem solchen Blumenschicksal nicht bescheiden. Sie wollte nicht Dame sein und vegetieren, sondern als Mensch unter Menschen frei ihre Kräfte regen.

Sie begann sich zu prüfen. Was hatte sie denn nützlich Verwendbares gelernt? Just etwas zu wenig, um andere zu lehren oder gar aus ihrem Wissen eine Wissenschaft zu machen, und doch schon zu viel, um es noch auf die Dauer auszuhalten in einer der weiblichen Berufsarten, die nur eine geschickte Hand oder aber einen offenen Kopf und die vier Spezies voraussetzen. Ja, wenn sie irgend eine freie Kunst hätte ausüben können – der hätte sie sich mit ganzer Seele hingegeben, in der hätte sie ernsthaft arbeiten wollen; aber hatte sie denn irgend ein ausgesprochenes Talent, drängte es sie denn unwiderstehlich zu künstlerischer Gestaltung? Sie tuschte ein wenig, sie spielte ganz nett Klavier und sang sogar ungewöhnlich hübsch. Nun ja, musikalisch war sie ganz entschieden; vielleicht war aus ihrer Stimme etwas zu machen. Die war ja nur klein, aber eine fleißige Uebung und gute Schulung konnte sie ja stärken. Wenn die Frau Konsul Thormälen oder die Frau von Goldacker oder sonst ein wohlhabender Freund die Mittel vorschoß, so konnte sie es ja damit versuchen. Und wenn sie auch keine große Sängerin wurde, so gab sie doch schließlich eine brauchbare Gesangslehrerin ab. Freilich, das Beispiel ihrer eigenen Mutter zeigte ihr ja, was dabei herauszukommen pflegte. Wenn man sich nicht gerade einen großen Namen machen konnte, herzlich wenig. Ja, wenn Talent und Kraft zur Bühnensängerin ausreichten – aber so hoch wagte sie sich gar nicht zu versteigen.

Bei dem Gedanken an die Bühne fiel es ihr wieder ein, daß sie ja heute abend das Deutsche Theater besuchen wollte. Sie fragte sich durch bis zur Schumannstraße, und als sie nach langer Wanderung sehr müde dort ankam, war es bereits sechs Uhr geworden und die Kasse eben eröffnet. Sie kaufte sich ein Galeriebillett und dann ließ sie sich völlig erschöpft auf einer der Polsterbänke im Vestibül nieder. Sie war ganz heiß von dem langen Weg, und der Kopf wirbelte ihr von dem ungewohnten Lärm, der stundenlang ihre Ohren umbraust hatte. Sie schloß für ein paar Minuten die Augen, riß sie aber erschrocken wieder auf, als sie merkte, daß sie dabei einschlafen würde, trotz des Kommens und Gehens, des Auf und Zu der Türen und des kalten Luftzugs, der dann jedesmal hereinströmte. Schlafen konnte sie hier doch unmöglich, schon der Taschendiebe wegen nicht, die nach ihrer Vorstellung selbstverständlich in einer Stadt wie Berlin allgegenwärtig waren. So blickte sie denn mit angestrengter Aufmerksamkeit umher. Viel war nicht zu sehen, denn nur vereinzelt kamen zu dieser frühen Stunde die Leute an die Kasse.

Aber jetzt wurde ihr Blick gefesselt von einer auffallenden Erscheinung. Ein junges Mädchen hatte sich eben ein Billett gekauft und wandelte nun, um die Zeit totzuschlagen, zwischen den Säulen auf und ab. Es war mittelgroß und sehr schlank. Eine recht abgetragene Plüschjacke umschloß formlos den Oberkörper. Von dem grünen Tuchkleid hing an der Seite ein Stück abgetretenen Saumes unordentlich herunter. Ein kleiner Kragen um den Hals und ein schief auf den Kopf gestülptes Mützchen waren von dem gleichen billigen Pelzwerk. Aber das schmale, bleiche Gesichtchen, das zwischen diesem Pelzwerk und einem Wust zerzauster, dunkelbrauner Locken hervorleuchtete, nahm sofort Lizzis Teilnahme gefangen. Es sah so düster und energisch aus, trotz der weichen, etwas schlaffen Züge. Um das etwas zu kleine, puppenhaft geschweifte Mündchen hatten sich zwei Falten eingegraben, die von schweren jungen Leiden erzählten und die großen, tiefliegenden Augen, in denen ein verhaltenes Feuer fast unheimlich glühte, blickten finster und wie verächtlich umher. Ihre dichten schwarzen Brauen waren über der schmalen, feingeformten Nase fast zusammengewachsen, und das aus dem schmalen Oval des Umrisses etwas zu spitz hervortretende Kinn zeugte von trotziger Entschlossenheit. Die farblosen, welken Wangen und die nicht ganz reine Haut machten es schwer, das Alter des Fräuleins zu bestimmen. Lizzi, wie alle Frauen geneigt, ihresgleichen lieber älter als jünger zu machen, schätzte sie auf fünf- oder sechsundzwanzig.

Als die junge Dame sich so aufmerksam beobachtet sah, stutzte sie, blickte Lizzi scharf an, schritt dann rasch auf sie zu und setzte sich mit einem kurzen Kopfnicken neben sie. Sie holte aus ihrer Tasche ein Reclambändchen hervor und begann mit düster zusammengezogenen Brauen zu lesen. Lizzi konnte das Titelblatt sehen. Es waren die »Gespenster« von Ibsen.

Aber nicht lange las das Mädchen, dann schüttelte es sich und murmelte vor sich hin: »Brrr, eklig kalt!« und dann wandte es sich mit der Frage an Lizzi, ob sie vielleicht eine Uhr bei sich habe?

»Nein, ich habe keine Uhr bei mir«, bemühte sich Lizzi rein hochdeutsch zu antworten. »Aber ich mein, 's müßt schon bald halber sieben sein.«

»So spät schon? Da wär's hohe Zeit hinaufzuklettern. Sie haben wohl Parkett?«

»Nein, dees grad net – Galerie«, erwiderte Lizzi zaghaft und errötend.

»So so«, lachte die Fremde und zeigte eine Reihe scharfer kleiner Zähnchen. »Dann kommen Sie nur mit mir hinauf, wenn Sie etwas fremd sind. Auf dem Olymp sind die freien Geister zu Hause. Auf den teuren Plätzen bläht sich das Herdenvolk, das stumpfsinnige Protzentum. En avant, Fräulein, excelsior

Sie lachte wunderlich vor sich hin und schritt voran, und Lizzi folgte ihr auf dem Fuße, ein wenig verschüchtert durch das seltsam harte Wesen dieses Mädchens, aber doch froh, eine Gefährtin gefunden zu haben, mit der sie ein wenig schwatzen konnte.

Oben angekommen, warf die Unbekannte einen Blick in den Zuschauerraum und sagte: »Bah, wir haben noch Zeit. Es scheint heute nicht so schlimm zu werden. Stehen müssen wir noch genug. Kommen Sie! Nehmen Sie hier Platz.« Und sie führte sie nach der Treppe zurück, setzte sich auf deren oberste Stufe und hieß sie ihrem Beispiel folgen. Dann holte sie wieder ihre »Gespenster« aus der Tasche und schickte sich an zu lesen.

»Haben Sie keine Lektüre bei sich?« wandte sie sich an Lizzi, und als diese verneinte, fuhr sie lächelnd fort: »Sie kennen also die Technik des Galeriebesuchs noch nicht. Man muß manchmal eine Stunde vorher schon am Platze sein, wenn man in die vorderste Reihe kommen will. Die Zeit kann man gut ausnutzen, um sich zu bilden. Lieben Sie Ibsen? – Sie werden doch Ibsen kennen?«

Lizzi besann sich ein Weilchen, und dann fiel ihr auf einmal ein, daß das ja der stadtbekannte, wunderliche Herr mit dem gesträubten Haupthaar und den steifen, grauen Bartkoteletten sei, den man in München tagtäglich um zwei Uhr nach dem Café Maximilian wandeln sehen konnte. Sie sagte das der Fremden. Aber gelesen habe Sie nichts von ihm. Das sei doch auch wohl nichts für junge Mädchen.

Die andre zog verächtlich die Mundwinkel herunter. »Nichts für junge Mädchen! Erst recht – bitter und gesund ist er. Ich studiere jetzt die Regine. Ist ja nur 'ne kleine Rolle; aber so schön verzwickt, so hübsch angefault. So was reizt mich immer am meisten.«

»Ah, Sie sind wohl selbst Schauspielerin?« fragte Lizzi neugierig.

»Nein«, versetzte jene. »Ich bin leider Malerin. Aber das ist eine dumme Kunst. Flach in des Wortes verwegenster Bedeutung. Um Stilleben oder fette Möpse zu malen mein lebelang, dazu bin ich nicht stumpfsinnig genug. Und zur Malerei großen Stils fehlt mir's am Können. Das kostet auch barbarisch viel Geld. Teure Modelle kann ich nicht bezahlen. Außerdem: einem Frauenzimmer glauben sie ja so was doch nicht. Ich möchte es mit der Bühne versuchen. Da kann man doch sein bißchen Persönlichkeit einsetzen, kann sich austoben, wenn man wirklich was herzugeben hat – und dann verhungert man auch nicht so leicht wie bei der faden Kleckserei. Was sind Sie denn?«

Wenn ihr plötzlich gesagt worden wäre: »Ich sehe Ihnen an, Sie haben schon einmal silberne Löffel gestohlen«, so hätte die arme Lizzi kaum mehr erschrecken können, als jetzt über diese Frage. Das herbe, entschiedene Wesen dieses Fräuleins, ihre männlich-derbe Art, sich auszudrücken, flößten ihr eine Art scheuer Bewunderung ein. Sie würde sie gewiß tief verachten und kein Wort mehr an sie verschwenden, wenn sie ihr gestände, daß sie nichts sei, rein gar nichts, außer einer jugendlichen Person weiblichen Geschlechts. Und so stammelte sie denn tief errötend: »Ich bin – ich wollte mich auch für die Bühne ausbilden, aber . . .«

»Na aber, – was denn?« drängte die Fremde. »Papachen und Mamachen erlauben's wohl nicht?«

»Ich hab' keine Eltern mehr.«

»Na, dann wohl eine gräßliche alte Tante?«

»Ja, dees schon, aber der bin ich grad heut davong'laufen.«

»Bravo!« lachte das Fräulein und musterte Lizzi mit lebhafterer Teilnahme. »Da scheinen Sie also Talent zu haben! Das hätt' ich Ihnen gar nicht zugetraut. Sie sehen noch so verwünscht unreif aus, nehmen Sie mir's nicht übel! Viel zu rund und weich und hübsch. Damit erreichen Sie entweder gar nichts oder es wird Ihnen viel zu leicht gemacht. Sie duften ja ordentlich nach Illusionen, wie ein Baby nach Milch. Haben Sie denn schon die Kinderkrankheiten durchgemacht? Ich meine so die erste bis xte Liebe. Herrgott, wie Sie rot werden! Hahaha! Ich mein' es gar nicht böse. Erzählen Sie mal. Mir können Sie alles sagen. Ich bin abgebrüht wie 'n alter Pope. Was wollen Sie denn jetzt zunächst anfangen?«

»Ich möcht' heut nacht noch nach Hamburg«, antwortete Lizzi zaghaft.

»Nach Hamburg? Sie wollen doch nicht etwa gar nach Amerika durchbrennen?« rief das Fräulein mißbilligend.

»O nein, g'wiß net!« beeilte sich Lizzi zu versichern. »'s is nur, weil ich in Hamburg eine alte Dame kenn', die mir vielleicht helfen tät.«

»Ach was, Unsinn! Lassen Sie nur die alte Dame aus dem Spiel. Wenn Sie zur Bühne wollen, dann sind Sie hier grade am rechten Ort. Haben Sie Geld?«

»Ja, ich hab' beinah noch zwanzig Mark.«

Die Fremde lachte aus vollem Halse. »Na, wissen Sie, Kindchen, aus Ihnen kann noch was werden. Sie scheinen ja ein famoses Mädel zu sein! Zwanzig Mark! Hahaha! Kommen Sie, Kapitalistin, es ist höchste Zeit, daß wir hineingehen. Sie müssen mir mehr erzählen von sich. Ich werde Sie unter meine Flügel nehmen. Uebrigens, damit Sie doch wissen, mit wem Sie 's zu tun haben: meine Name ist Milka Grönroos, und ich bin aus Finnland.«

»Lizzi Mödlinger aus München.«

Fräulein Milka beugte steif den Kopf und näselte, den Studententon nachahmend: »Angenehm!« Dann aber zog sie freundlich ihren Arm unter den eigenen und betrat mit ihr die Galerie, die sich unterdessen schon ziemlich gefüllt hatte. Trotzdem fanden sie aber noch in der vordersten Reihe Platz.

Lizzi ließ sich nicht lange bitten, der neuen Freundin ihre kurze Lebensgeschichte zu erzählen, worauf jene ihr mehr offenherzig als höflich versicherte, daß diese Geschichte recht gewöhnlich und uninteressant sei. Und dann setzte sie, nachdem sie ein Weilchen nachgedacht hatte, ernsthaft hinzu: »Ja, Kindchen, was man mit Ihnen anfangen soll, das weiß ich wirklich nicht. Sie gefallen mir eigentlich recht gut. Den Männern werden Sie jedenfalls noch viel besser gefallen. Und das ist schlimm, wenn Sie die Kunst ernst nehmen wollen. Vorläufig scheinen Sie mir allerdings keine Ahnung von der Kunst zu haben, Sie grünes Münchner Kindl, Sie. Wenn ich Ihnen meine Geschichte erzählte, würden Sie mir wahrscheinlich gleich in Ohnmacht fallen.«

Lizzi war doch ein wenig gekränkt über den Ton, den Fräulein Milka anzuschlagen beliebte. Sie verzog ihren Mund und sagte ärgerlich: »Für so a dumm's Ganserl brauchen S' mich doch net z' halten. Und vor die Männer fürcht' ich mi schon gar net, daß Sie's nur wissen!« fügte sie stolz hinzu. »Was wollen denn Sie überhaupts damit sag'n, weg'n 'm Hübschsein, daß dees g'fährlich wär'? Sie sind doch selber net so wüst, daß S' kein Angst haben brauchen.«

»Ich! o, ich war sogar einmal schön; aber das liegt schon in der Vergangenheit. Jetzt bin ich überhaupt fertig mit den Männern. Die haben jetzt Angst vor mir, wenn ich will! Aber freilich, bis man so weit kommt, das kostet . . . Na, Sie werden's ja auch durchmachen müssen. Das gehört so mit zur Theaterschule, wissen Sie.«

»Was denn?« fragte Lizzi betroffen. »Meinen S' etwa, daß ein anständiges Mädchen . . .«

»Beim Theater eine Unmöglichkeit sei?« ergänzte Fräulein Milka rasch. »O nein, nicht absolut. Aber die großen Künstlerinnen, die haben alle nichts getaugt. Muß also doch wohl nötig sein, daß man sich erniedrigt, um erhöht zu werden.«

Lizzi war froh, daß jetzt das Klingelzeichen ertönte. Die Finnin war doch so schrecklich mit ihren Erfahrungen und mit ihrer höhnischen Weisheit. Der Vorhang ging auf, und es dauerte gar nicht lange, so hatte Grillparzers herb-liebliche Dichtung und besonders Joseph Kainz als Koch Leon mit seiner heißsprudelnden Beredsamkeit und seinem wunderbar reichen, die Nervenenden gleichsam weich bürstenden Organ alle ihre Sinne dermaßen gefangen genommen, daß sie gar nicht mehr wußte, wo sie war, und das Gespräch von vorher, überhaupt alles, was sie den Tag über so heftig bewegt hatte, gänzlich vergaß.

Im zweiten Akt wurde sie vom Aufgehen des Vorhanges an, wo das wilde Waldmädchen mit seinen nackten Füßen und dem wüsten, langen Haarschopf auf der Rasenbank liegt, durch Agnes Sormas köstliches Spiel so aufgeregt, daß sie, ohne es zu wissen, die Mimik und die Gesten der Künstlerin auf der Bühne unwillkürlich nachahmte, so daß ihre Nachbarn auf der Galerie aufmerksam wurden und ein allgemeines Kichern und Sichanstoßen entstand. Sie lachte nie, selbst nicht über den polternden Bärenhumor, den Pittschau als rotköpfiger Riese entwickelte. Aber ihre Wangen glühten, ihre großen, weichen Augen strahlten vor Begeisterung, und wenn ihr eine Stelle besonders gefiel, wenn ein Ton oder eine mimische Nuance der Schauspieler sie besonders traf, so packte sie das Fräulein Grönroos am Arm und drückte und kniff sie so stark, daß jene mehr als einmal leise »Au!« rufen mußte.

Als der Akt vorüber war, klatschte sie wie toll, und die Tränen liefen ihr stromweis über die Wangen, obwohl in dem Stück gar nichts besonders Rührendes passiert war.

»Allmächtiger Gott, Kindchen, was heulen Sie denn?!« rief Fräulein Milka, indem sie ihr mit ihrem eigenen Taschentuch die Zähren abwischte.

»I weiß net, was dees is,« versetzte Lizzi selig lächelnd, »ich kann m'r net helfen, 's is halt gar so schön. Dees wenn i könnt, ui je!«

»Sie werden's einmal können«, sagte Milka leise, indem sie ihr warm die Hand drückte. »Sie haben die Begeisterung, die ganz goldechte. Ich habe Sie beobachtet. Sie haben ja die ganze Komödie mitgespielt. Beneidenswertes Mädchen! Sie haben eine Zukunft vor sich, auf die hin Sie getrost hungern können.«

Die beiden Mädchen hatten sich während der Pause auf ein Paar gerade freie Sitzplätze gesetzt. Milka ließ Lizzis Hand nicht los. Sie war ganz verliebt in sie und redete fortwährend auf sie ein. Sie war wirklich sehr klug, hatte alles gelesen, viel gelernt und war ganz durchtränkt von jenem Fin de siècle-Titanismus, der im Gefühl der brennenden Scham über seine Ohnmacht, des dumpfen Schmerzes über die zertrümmerten Ideale, den Hohn zu seinem Schutzpatron, das Nichts zu seinem Gott erkoren hat. Lizzi vermochte dem hohen Flug ihrer Gedanken nicht zu folgen. Sie hörte auch nur mit halbem Ohre hin, noch ganz verloren in der Märchenwelt dieser eigenartigen Dichtung, die ihr da in so wunderbarer Verkörperung auf der Bühne lebendig geworden war.

Wie eine Schlafwandelnde ließ sie sich nach Schluß der Vorstellung von ihrer neuen Freundin die Treppe hinunterführen. Von dem vielen Laufen und dem langen Stehen taten ihr die Beine weh, und die schlechte Mahlzeit, die sie heute genossen, hielt natürlich auch nicht von zwei bis zehn Uhr abends vor. Aber dennoch war sie noch kaum zum Bewußtsein ihres Hungers und ihrer Müdigkeit gekommen. Sie empfand nur eine matte Sehnsucht, sich jetzt sogleich von lieben mütterlichen Händen sich auskleiden und in ein schönes Bett bringen zu lassen. Schlafen – und weiterträumen – und glücklich sein!

Drunten im Vestibül gerieten sie in den dichten Schwarm der langsam hinausdrängenden Theaterbesucher hinein, und die dummen Alltagsbemerkungen, die faden Witze, die abscheulichen Berliner Organe schwirrten beleidigend wie Ohrfeigen um Lizzis wirres Haupt.

Auf einmal klang eine bekannte Stimme an ihr Ohr. Sie wandte sich erschrocken um – und war plötzlich wieder in die Wirklichkeit versetzt. Niemand anders als ihr Gregor Krajesovich von Nemes-Pann war's, der da vor ihr stand und, artig seine Pelzmütze lupfend, sie anredete.

»Ist es möglich, Fräulein Mödlinger? O, das ist aber reizend! – Pardon, darf ich bitten, mich der Dame vorzustellen?«

Lizzi wies mit der Hand auf Fräulein Grönroos und murmelte etwas ganz Unverständliches. Sie hatte in der Verwirrung sogar den Namen ihrer neuen Bekanntschaft vergessen. Plötzlich zog sie sie am Arm rascher vorwärts, als ob sie in dem Gedränge ihrem Anbeter entfliehen wollte.

Da flüsterte ihr Fräulein Milka zu: »Sie, Liebchen, tun Sie mir einen Gefallen – nehmen Sie mich mit; ich habe so lange kein warmes Abendbrot gegessen, und ein Gläschen Sekt müssen wir doch auch trinken auf unsre neue Freundschaft. Ihr Freund da scheint ja ein scharmanter Herr.«

Gregor war schon wieder an ihrer Seite. »O, ich bitte, die Damen werden mir doch erlauben, sie zu begleiten?«

Lizzi drückte ängstlich Fräulein Milkas Arm, was diese als eine Aufforderung betrachtete, ihr zu Hilfe zu kommen.

»Ja, gewiß, gern!« antwortete sie, indem sie den schwarzbärtigen Galan einladend anlächelte. »Wir wissen nur selbst noch nicht, wohin. Schlagen Sie doch etwas vor!«

Herr von Nemes-Pann hob ganz verdutzt seine dichten schwarzen Brauen in die Höhe. Und dann blickte er, wie um Aufklärung bittend, Lizzi an.

Die sah ihm ängstlich in die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, dees geht net. I muß ja auf 'n Bahnhof. Um elf Uhr fahrt der Zug.«

»Der Zug! Ja, wollen denn gnädiges Fräulein verreisen, i bitt'? Doch nicht etwa ganz fort von Berlin?«

Und wieder ergriff Milka für die Zaghafte das Wort und sagte: »Jawohl, mein Herr, ganz fort von Berlin. Sie hat sich mit ihrer Tante gezankt, und jetzt will sie zu irgend einer alten Dame in Hamburg, die sie kaum kennt. Es ist nur gut, daß wir einen Freund treffen, der mir helfen kann, ihr das auszureden. Haben Sie je so einen Unsinn gehört? Ein junges Mädel, das zur Bühne will, geht von Berlin fort und nach Hamburg. Lassen Sie sich das nicht gefallen, wenn Sie ihr Freund sind. Da haben Sie sie, reden Sie ihr einmal ins Gewissen.«

Damit gab sie Lizzi einen leichten Stoß und blieb einige Schritte zurück, um die beiden sich ungestört aussprechen zu lassen.

Gregor nahm Lizzi bei der Hand und zog sanft ihren Arm durch den seinen. »Aber, liebes Fräulein,« sagte er ganz verwirrt, »versteh' ich doch kein Wort. Ich bitte dringend, erklären Sie mir.«

Lizzi berichtete in ihrer Verwirrung das Vorgefallene ziemlich unklar, so daß er nicht gleich daraus klug wurde. Und als er endlich durch vielfache Fragen aus ihr herausgebracht hatte, was sie mit sich anzufangen gedenke, da redete er ihr sehr entschieden von ihren unklaren Plänen ab. Die Absicht, zum Theater zu gehen, nahm er, als aus der kindlichen Begeisterung über das eben gesehene Schauspiel entsprungen, gar nicht ernst, und den Gedanken, bloß auf eine telegraphische Anfrage hin zu einer so gut wie fremden Dame in aller Nacht nach Hamburg zu fahren, erklärte er für ganz sinnlos. Sie könne ja gar nicht wissen, ob die Aufforderung ihrer flüchtigen Reisebekanntschaft, der Frau Konsul Thormälen, nicht nur eine freundliche Redensart gewesen sei. Zum mindesten müsse sie doch der Dame erst einmal brieflich ihre Lage schildern und sie um ihren Rat bitten. Wenn sie sie dann aufforderte, zu ihr zu kommen, so sei es etwas andres. Außerdem hätte sie sich doch erinnern sollen, daß sie in Berlin selbst Freunde hätte, die ihr doch wohl näherstünden, als jene Reisebekanntschaft.

»Ach, Sie meinen die Frau von Goldacker?« versetzte Lizzi mit einem Seufzer. »Ja, an die hab' i freilich auch schon denkt. Aber wissen S', die is doch verwandt mit dem Onkel und da könnt's doch am End' . . .«

»Nein, ich meinte einen Freund, der Ihnen noch viel, viel näher steht!« fiel Gregor flüsternd ein und drückte ihren Arm an sich.

Es überlief Lizzi heiß, und sie fand keine Antwort.

Schweigend gingen sie ein Weilchen nebeneinander her, und sie waren bereits an der Weidendammer Brücke angekommen, als Gregor fragte, was denn nun zunächst einmal geschehen solle?

»Niedersitzen möcht' i; i hab' so Hunger«, erwiderte Lizzi kläglich.

»Aber, mein Himmel, so gehen wir doch soupieren!« rief Gregor. Er ließ ihren Arm los, faßte sie um die Taille und drückte sie zärtlich an sich. »Armes, liebes Fräulein, nein, verhungern sollen Sie wenigstens nicht!« Und er blieb mit ihr stehen, um Fräulein Milka herankommen zu lassen.

»Nun, fahren wir noch nach Hamburg?« fragte die lachend, indem sie sich ohne Umstände an des schönen Serben linken Arm hing.

»Nein, jetzt wollen wir erst einmal gut soupieren.«

»Bravo!« rief Milka. »Sie laden mich hoffentlich auch dazu ein?«

»O, mit dem größten Vergnügen, mein gnädiges Fräulein!« versicherte Gregor, konnte sich aber doch nicht enthalten, sie von Zeit zu Zeit ein wenig mißtrauisch von der Seite anzusehen.

Wenige Minuten später waren sie in der Dorotheenstraße und stiegen in den Keller des Restaurants Zeppenfeld hinunter. Gregor hatte dieses Lokal gewählt, weil man da unten an kleinen Tischen in abgeteilten Nischen speisen konnte. Es war zunächst recht unfreundlich kalt und das Gas tief heruntergeschraubt, weil sich gerade keine andern Gäste mehr da befanden. Er wählte eine Nische mit einem Ofen und bestellte zunächst einmal ein tüchtiges Feuer zur äußeren und eine Flasche Burgunder zur inneren Erwärmung. Dann wählte er, da die Damen ihm ganz freie Hand ließen, aus der Speisekarte ein Fischgericht, Schneehühner und Chateaubriand mit Sauce Béarnaise, und ließ eine Flasche Pommery kaltstellen.

Lizzi trank, ehe noch der Fisch kam, zwei Gläser von dem feurigen Chambertin ziemlich rasch hintereinander aus. Davon wurde ihr alsbald so warm, daß sie ihren Mantel auszog. Fräulein Grönroos dagegen war auf keine Weise zu bewegen, ihre Plüschjacke abzulegen. Sie flüsterte Lizzi zu, daß sie sich in der alten roten Bluse, die sie darunter verbarg, unmöglich sehen lassen könne. Der Fisch war ausgezeichnet und zauberte im Verein mit dem Burgunder alsbald eine äußerst behagliche Stimmung unter den drei Tischgenossen hervor. Lizzi aß mit wahrer Andacht. Ihre Augen glänzten, und sie lächelte bald die Freundin, bald den Freund holdselig an, ohne jedoch sich an der Unterhaltung viel zu beteiligen.

Welch ein glücklicher Zufall war's doch, der ihr diese merkwürdige Finnländerin zugeführt hatte! Allein hätte sie sich nimmer getraut, mit ihrem Anbeter soupieren zu gehen; aber so zu dreien war es doch reizend und gar nicht einmal so schlimm. Milka kannte ja das Leben so genau! Unter ihrem Schutz konnte ihr doch gewiß nichts passieren. Was für ein Glückskind sie doch war, daß dieser prächtige junge Mann sich gleich so in sie verliebt hatte! Zu nett war er. So gewandt im Benehmen, galant gegen die Damen und so klug. Er blieb dem Fräulein Milka keine Antwort schuldig, wie scharf sie ihn auch vornahm. Die war mit den Männern fertig!? Ja, Schnecken! Sie hatte eben bisher noch keinen Krajesovich von Nemes-Pann kennen gelernt! Der würde es ihr einmal ordentlich zeigen, was ein ganzer Mann sei! Ganz stolz war sie auf ihren Gregor. Die redeten von Idealismus und Naturalismus, von Zola und Dostojewski, vom Panslawismus und der Propaganda der Tat, von Autosuggestion und Perversität, von Dekadenz und Neurasthenie, von Egoismus und Altruismus usw. Die arme Lizzi kam sich schrecklich dumm vor. Von allen diesen schönen Dingen hatte sie nie etwas gehört, und das ewige »ismus, ismus« schwirrte ihr in den Ohren, wie etwa die volltönenden Endsilben: »ados, mados, dados«, wenn man dem Gespräche pathetischer Spanier lauscht.

Schließlich aber, als bereits die Schneehühner vertilgt und der Braten mit dem Sekt erschienen war, ohne daß man ernstlich versucht hatte, sie mit an der geistreichen Unterhaltung teilnehmen zu lassen, begann sie eifersüchtig zu werden auf Fräulein Milka, nicht nur weil sie ihren Gregor dermaßen mit Beschlag belegte, sondern auch weil sie jetzt, wo der Wein und der Eifer der Diskussion ihr die Wange rötete und die Augen glänzen machte, wirklich gefährlich schön aussah. Und sie schlug mit zwei Fingern laut auf den Tisch und sagte in possierlichem Zorn: »Ihr redt's immer von iß muß und i muß alleinig essen! Jetzt wann's net bald von was anderm red't, nachher geh i!«

»Keine Rettung mehr«, lachte Gregor. »Der letzte Zug nach Hamburg ist fort. Aber Fräulein Lizzi hat recht, reden wir menschlich.« Er schenkte die Gläser voll des perlenden Göttertranks und stieß mit Lizzi an. »Ce que nous aimons!« sagte er leise. »Aber austrinken, i bitt!«

Während sie die Kelchgläser leerten, sahen sich die beiden jungen Menschen fest in die Augen, und als bald darauf Fräulein Milka in sicherer Ahnung dessen, was kommen mußte, sie auf ein paar Minuten allein ließ, da stand Gregor auf, zog die Vorhänge zu und trat vor Lizzi hin, indem er ihr beide Hände entgegenstreckte.

Sie senkte den Kopf, aber sie wußte, daß es kein Entrinnen mehr gab. Sie wollte ja auch gar nicht entrinnen. Die Stunde war ja so schön! Das Blut rann ihr heiß und rasch durch die Adern – und sie hatte nie in ihrem Leben so gut gegessen und in so geistreicher Gesellschaft! Wenn sie jetzt hätte einsam und verlassen auf harter Holzbank in die Nacht hinein fahren müssen, ins finstere Ungewisse – o weh! Statt dessen saß sie nun warm, satt und selig und fühlte den festen, zwingenden Druck der Freundeshand. Und willig ließ sie sich zwingen. Langsam erhob sie sich und legte sich einfach in ruhiger Hingabe an seine Brust. Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, bog ihn zurück und versenkte seinen dunkelglühenden Blick in das leuchtende Blau ihrer Kinderaugen, und dann heftete er seine Lippen auf die ihren zu einem langen, lautlosen Kusse. Und dann küßte er sie auf Augen, Wangen und Ohren und hielt sie an den Schultern von sich ab und schaute sie selig lächelnd an. Und dann preßte er sie fest an sich und biß sie ins Ohrläppchen und flüsterte heiß: »O du, du, du – hast du mich lieb?«

Und sie reckte wie suchend die Arme empor, bis sie sein Haupt in ihren Händen hielt, und stumm, nur selig lächelnd lechzten ihre halbgeöffneten Lippen ihm entgegen.

Er war zufrieden mit der Antwort und dankte ihr mit neuen Küssen. Und dann setzten sie sich wieder, rückten ihre Stühle nahe aneinander, und er legte seinen Arm über ihre Schultern.

Gleich darauf steckte Fräulein Milka den Kopf durch den Vorhang und sagte neckisch: »Darf man eintreten?«

Gregor nickte nur mit dem Kopfe, und Lizzi blieb ruhig in ihrer Stellung, ohne sich zu schämen.

Milka schlüpfte herein, küßte Lizzi flüchtig auf das prachtvolle, kastanienbraune Haar und sagte: »Auf so was könnt' ich nun neidisch sein!« Dann kehrte sie auf ihren Platz zurück, trank ihr Glas auf einen Zug aus und rief mit krampfhafter Lustigkeit: »Also sprechen wir von der Liebe.«

»O, Fräulein Milka, ich fürchte . . .« begann Gregor bedenklich. »Sie sehen gerade so aus, als ob sie eine Gotteslästerung auf Ihren Lippen hätten.«

»Ei, bewahre«, lachte die Schöne, die Mundwinkel herabziehend. »Ueber die Toten soll man nur Gutes sprechen.«

»Ueber die Anwesenden auch«, erwiderte Gregor, sein Liebchen an sich drückend.

»Geben Sie mir noch ein Glas Sekt!« sagte Fräulein Milka, ihr Glas über den Tisch reichend und dann, als Gregor es gefüllt hatte, stieß sie an Lizzis Glas an und fragte mit versteckter Ironie: »Wie denken Sie denn über die Liebe, Fräulein Mödlinger?«

Lizzi fuhr wie aus einem Traum empor, strich sich mit beiden Händen das Haar aus der Stirn und sagte in müder Trägheit: »Gar nix denk i, müd bin i! Bringt's mich heim.«

Heim? Ja, das war die schwere Frage! Gregor suchte ratlos Milkas Blick und las darin einige boshaft leichtfertige Gedanken. Er schüttelte den Kopf und zog die Brauen zusammen.

Die Finnin zuckte die Achseln und trommelte ein Weilchen, ihre Lippen nagend, auf den Tisch. Dann sagte sie: »Wenn Sie sie nicht ins Hotel bringen wollen, kann sie ja bei mir übernachten, schlecht und recht.«

»Willst du, Lizzi?« fragte Gregor.

Sie nickte nur mit dem Kopfe. Sie war ganz fertig – auf einmal. Gregor steckte ihr noch die Tasche voll Rosinen und Mandeln, und dann zahlte er und half ihr in ihren Mantel hinein. Schwer hing sie an seinem Arm, als er sie die Treppe hinauf und auf die Straße führte. Er nahm eine Droschke und sie stiegen alle drei ein. Milka bestand darauf, auf dem Rücksitz zu sitzen. Die Liebenden namen also den Vordersitz ein und hielten sich fest umschlungen während der langen Fahrt.

Weit draußen in der Landsberger Straße wohnte das Fräulein. Eine halbe Stunde wohl fuhren sie bis da hinaus. Sie sprachen kein Wort, und küßten sich nur immer wieder, während die Finnländerin mit weit offenen Augen, nichts sehend, vor sich hinstarrte.

Wie sie Abschied genommen, was Gregor dabei gesagt und wie sie dann die vier Treppen hinaufgekommen, das wußte Lizzi nicht. Nun saß sie auf einem alten, zerschlissenen Sofa in dem fremden, kalten Zimmer, und in dem matten Schein der flackernden Kerze schimmerten von den Wänden gespensterhafte Gebilde, nackte Körper von Männern und Frauen, roh hingestrichen auf ungerahmter Leiwand. Es roch nach Firnis und Terpentin und nach kaltem Zigarettenrauch.

»Uh, sperr 's Fenster auf!« stöhnte Lizzi und taumelte vom Sofa empor.

Fräulein Grönroos tat ihr den Willen. Und dann half sie ihr beim Ausziehen und räumte ihr ihr eigenes Bett ein. Und als sie ihr gute Nacht bot, küßte sie sie auf die weißen, vollen Schultern und murmelte mit geschlossenen Zähnen: »So schön wie du – und so jung – und so entzückend dumm! – Ach was – vorbei!«

Sie ließ das schwere Mädchen, das sie heftig an sich gerissen hatte, in die Kissen fallen und lief an das offene Fenster. Da stand sie noch lange und sah über die Dächer hinweg in die sternenklare Nacht hinauf.


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