Theodor Wolff
Der Krieg des Pontius Pilatus
Theodor Wolff

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII

Auf den Fächer einer Madame Beulé, die diesen leichten Gegenstand mit Autographen berühmter Männer verzieren liess, hat einst Alexander Dumas fils einen Spruch geschrieben, der eine allgemeine Beobachtung enthält. »Der Mensch«, lautet diese Lebensweisheit, »ist nicht so gut, wie er versichert, und nicht so böse, wie man meint.« Daran erinnert eine Aeusserung des ehemaligen italienischen Botschafters Pansa, die Fürst Bülow in der Unterhaltung häufig vorbrachte und die, etwas erweitert, auch in seinen Memoiren ihren Platz erhalten hat. »Herr von Bethmann und seine Mitarbeiter«, sagte Alberto Pansa, im Garten der Villa Malta, »sind weit weniger verbrecherisch gewesen, als die Feinde Deutschlands behaupten, und tausendmal törichter, als man glaubt.«

Wenn Fürst Bülow im Gespräch und bei der Niederschrift seiner »Denkwürdigkeiten« von der deutschen Politik des Juli 1914 sprach, ging er mit den Worten »Dummheit«, »Stümperei« und »Eselei« verschwenderisch um. So oft er mit dem mild bedauernden Ausdruck, den er bei solchen Gelegenheiten anzunehmen pflegte, den »armen Bethmann« einer Art Intelligenzprüfung unterwarf, endete die Sache mit einer vernichtenden Zensur. Bethmann, heisst es in dem Buche unter anderem, sei nicht der Wolf im Schafsfell gewesen, wie die Feinde wähnten, sondern das mit dem Wolfspelz drapierte Schaf. Häufig – und er hatte den Satz allmählich so fest geprägt, dass nichts darin sich verschieben konnte – erklärte er mir, feierlich und als wollte er die Hand aufs Herz legen: »Ich würde es für eine Realinjurie halten, für eine Realinjurie, wenn jemand von mir glauben könnte, ich hätte im Juli 1914 das Ultimatum Oesterreichs an Serbien gutgeheissen und das alles mitgemacht.« Es ist verständlich, dass die Anhänger und Freunde des Herrn von Bethmann-Hollweg und die persönlich interessierten Ueberlebenden des damaligen Auswärtigen Amtes entrüstet eine Anmassung zurückweisen, die über seine und zum Teil auch ihre intellektuellen Fähigkeiten so rücksichtslos richten will. Das Bestreben, sich abwehrend vor ein Grab zu stellen, ist immer pietätvoll, und menschlich berechtigte Notwehr ist die Erwiderung der Schläge durch denjenigen, der sich persönlich getroffen fühlt.

Der Unparteiische wird der Meinung sein müssen, dass man auf beiden Seiten recht und unrecht hat. Die Anhänger des Herrn von Bethmann sind berechtigt, zu finden und zu sagen, Fürst Bülow habe eine fehlerhafte Politik getrieben, und die nicht mehr zahlreichen Freunde des Fürsten Bülow dürfen ein ganz gleiches Urteil über das fällen, was die Politik des Herrn von Bethmann war. Bülow und Holstein hatten mit der Ablehnung des englischen Bündnisangebotes, mit der Tanger-Fahrt, mit der Algeciras-Konferenz, mit der Nibelungentreue bei der Annexion 434 Bosniens – wo Holstein noch als Pensionierter sekundierte – und mit einigen andern Manövern die falsche Richtung eingeschlagen, soviel verdorben, wie im Zeitraum eines Jahrzehntes irgend verdorben werden konnte, und man kann sagen, sie haben nichts versäumt. Bethmann und Kiderlen, die, der eine mit ethischem Ernst und der andere mit der maliziösen Ueberlegenheit des alten Praktikers, sich über Bülows Sündenregister klar waren, machten jeden Fehler, den er gemacht hatte, noch einmal, liessen auf den Coup von Tanger den Coup von Agadir folgen, traten in der serbischen Hafenaffäre noch nibelungenhafter auf, als er in der bosnischen Affäre aufgetreten war, und schliesslich wurde dann, nicht mehr mit Kiderlen, auf diesen Turmbau die Krönung, unter der alles zusammenbrach, der Pakt vom Juli 1914 gesetzt.

Man kann natürlich verschiedener Meinung darüber sein, welche der Fehler, die vor dem Sommer 1914 geschahen, die schlimmsten und folgenschwersten gewesen sind. Ich für mein Teil glaube, dass diesen beiden: der Zurückweisung des englischen Bündnisvorschlages und dem Hilfsdienst bei dem österreichischen Widerstand gegen die serbische Hafenforderung, der Vorrang gebührt. Durch den deutschen Verzicht auf die Allianz wurde England, wie seine Staatsmänner offen und loyal angekündigt hatten, an die Seite Frankreichs und Russlands gedrängt. Durch die völlig ungerechte, vom moralischen Standpunkt aus ziemlich skandalöse und vom realpolitischen aus unsinnige Weigerung, Serbien an das Adriatische Meer zu lassen, wurde der siegreiche Balkanstaat nicht nur bis aufs äusserste gereizt und erbittert, sondern es wurde auch die Gelegenheit verpasst, ihn mit dem italienischen Beherrscher der gegenüberliegenden Küste zu entzweien, ihn zunächst einmal dort zu beschäftigen, seine Eifersucht von Oesterreich auf Italien abzulenken und den Zustand zu schaffen, der sich zwischen den beiden Küstenbewohnern dann nach dem Kriege ergeben hat. Aber hätte Herr von Bethmann-Hollweg, der gegen Tirpitz, Wilhelm II., die Kaiserin und die Marinenationalisten kein Flottenbau-Abkommen mit England durchsetzen konnte, um 1910 herum ein Bündnis mit England zustande bringen können, das sich doch nicht mit dem grossen Gedanken des wilhelminischen Reiches, mit dem Ehrgeiz des Herrn von Tirpitz und seiner Seeoffiziere, mit dem kaiserlichen Traum von der mächtigen deutschen Flotte, mit der Vorstellung von dem in die fernste Zukunft hineinragenden Denkmal »Wilhelm, der Eroberer des Meeres« vereinigen liess? Auch Herr von Bethmann hätte, wenngleich gewiss gramvoller und widerstrebender als Bülow, auf dieses Bündnis verzichten müssen und sich den »gottgewollten Abhängigkeiten« gefügt. Und hätte Bülow es abgelehnt, die Oesterreicher in der Hafenfrage zu unterstützen, und hätte er den Serben den begehrten Platz an der Adriasonne verschafft? Selbst wenn sein besonders freundschaftliches Verständnis für die italienische Seele seine Erwägungen nicht beeinflusst hätte – er hätte auch für Oesterreich nicht weniger als Bethmann und Kiderlen getan. 435 Nur eben vor dem letzten Schritt wäre er wahrscheinlich, und fast könnte man es mit Bestimmtheit annehmen, zurückgeschreckt. Oder er hätte sich noch im Absturz irgendwo festgeklammert und wäre, nach einigem Schweben über der Höllentiefe, wieder auf den sichern Pfad zurückgelangt. Er hätte sich vor dem Publikum verbeugt, bereit, den Beifall entgegenzunehmen, der einem gelungenen Kunststück gebührt. Solche Kunststücke, die mit einem Straucheln, einem Fehltritt begannen und nicht mit absolut lebensgefährlichem Absturz endeten, pflegte er so darzustellen, als wären es glänzende diplomatische Erfolge, und als hätte er damit alles Gewollte und Gewünschte erzielt. Niemals im Besitz grosser Ideen, aber immer im Besitz kleiner Mittel, hätte er selbst nach einem schlechten Start nicht ganz die Besinnung und den Ueberblick verloren, und sich nicht so hilflos im Labyrinth verirrt. Und wenn auch er, was, trotz seiner sarkastischen Ablehnung einer derartigen Möglichkeit, keineswegs unmöglich erscheint, in das Labyrinth hineingegangen wäre, ohne sich durch einen Ariadnefaden vorsichtig den Rückweg gesichert zu haben, so wäre er doch vermutlich durch eine Seitenspalte hinausgeschlüpft.

 

Nach seinem Tode habe ich aus einem langen Brief, den mir Fürst Bülow geschrieben hatte, ein Stück veröffentlicht, in dem er erklärte, was er als Reichskanzler im Sommer 1914 getan hätte und was nicht. Er behauptet, sein politisches Handeln hätte folgendermassen ausgesehen:

»Ich finde kaum etwas absurder als die Vaticinationes ex eventu, in denen seit dem für uns unglücklichen Ausgang des Weltkrieges deutsche ›Historiker‹ schwelgen. Ich möchte aber doch wahrheitsgemäss und bestimmt nachstehendes feststellen:

  1. Ich würde Oesterreich für sein Vorgehen gegen Serbien keinen Blankowechsel ausgestellt, vielmehr rechtzeitige Einsicht in das Ultimatum verlangt haben. Jedenfalls hätte ich, als das Ultimatum 24 Stunden vor seiner Uebergabe auf dem Tische des Auswärtigen Amtes lag, die ganze Aktion mit dem stärksten Nachdruck und der grössten Schärfe gestoppt.
  2. Ich würde nie und unter keinen Umständen den Oesterreichern erlaubt haben, nach hastiger Prüfung der serbischen Antwort diese für ungenügend zu erklären, die diplomatischen Beziehungen zu Serbien abzubrechen und eine militärische Aktion zu beginnen. Serbien hatte fast alle österreichischen Forderungen angenommen. Wir mussten das mit Dank für die weisen Friedensbemühungen aller Mächte und den guten Willen der Serben anerkennen und gleichzeitig vorschlagen, dass die von Serbien noch nicht akzeptierten beiden (sehr dubiosen) österreichischen Forderungen zur Prüfung und Entscheidung dem Haager Tribunal unterbreitet werden sollten. 436
  3. Ich würde Russland und Frankreich nicht von uns aus den Krieg erklärt haben, denn damit setzten wir erst Rumänien und Italien ex nexu foederis. Das war eine grosse Dummheit von Bethmann und Jagow. Selbst unsere Freunde in Italien, die uns im übrigen damit entschuldigen, dass sie sagen, wir hätten im Sommer 1914 nicht aus Bosheit gesündigt, sondern aus Einfältigkeit, wissen sich diese lourde bêtise nicht zu erklären. Sie ist und bleibt auch schwer erklärlich. Ballin hat mir versichert, Bethmann habe auf der von uns ausgehenden Kriegserklärung an Russland deshalb bestanden, weil er geglaubt hätte, nur so die Sozialdemokratie mitzubekommen, auf die der (unserer ganzen Linken verhasste) ›Zarismus‹ wirken sollte wie das rote Tuch auf einen gewissen Vierfüssler.
  4. Ich würde natürlich nie unsern Einmarsch in Belgien zugelassen haben, solange die belgische Neutralität nicht von unsern Gegnern verletzt worden war.
  5. Ich würde darauf bestanden haben, dass unsere Kampfflotte nach Kriegsausbruch sofort und à tout risque et péril eingesetzt wurde. Es ist mir fraglich, ob ich den U-Bootkrieg zugelassen hätte. Keinesfalls hätte ich ihn in dem Zeitpunkt und mit den Modalitäten zugelassen, wie das leider der Fall gewesen ist.
  6. Ich würde 1915 die Ernennung von Sthürmer benutzt haben, um mich mit den Russen zu arrangieren, denen ich freudig all ihre Polen und Litauer gelassen hätte. Ich hätte nie und nimmer Polen wieder hergestellt. Das war der grösste der während des Krieges begangenen Fehler.
  7. Ich hätte 1916 alles darangesetzt, um zum Frieden mit England zu kommen. Ich hätte die alberne Friedensresolution des Reichstages nicht zugelassen, ebensowenig den larmoyanten Friedensbrief des Kaisers an Bethmann. Ich hätte die gutgemeinten, aber plumpen Kreuz- und Quersprünge und Reisen des kindlich ungeschickten Erzbergers sistiert. Aber ich hätte durch einen ernsthaften Vermittler (den König von Dänemark oder den Papst, den König von Spanien oder von Schweden) den Engländern spätestens vor unserer letzten Offensive sagen lassen, dass ich bereit wäre, auf Belgien ohne jeden Hintergedanken, ohne jede Einschränkung noch Servitut nettement et clairement zu verzichten. Ich würde, wenn es unerlässlich gewesen wäre, auch eine »Kombination« mit Französisch-Lothringen in Erwägung gezogen haben. War auf englischer Seite gar keine Friedensneigung vorhanden, was ich bezweifle, so durften wir noch immer nicht so täppisch auf Wilson hereinfallen, sondern mussten im Innern die Zügel schärfer anziehen, wie dies in Frankreich geschah, und bis aufs Messer fechten. Schlimmer, als es uns nach unserer Kapitulation erging, konnte es ja gar nicht kommen.«

437 Dies mögen, zum Teil wenigstens, nachträglich erdachte Weisheitsregeln sein. Die ruhige Sicherheit, mit der Fürst Bülow alles zugunsten seines eigenen Ruhmes wendet und seine staatsmännische Klugheit betont, ist bewundernswert. In diesem nach dem Kriege geschriebenen Briefe an mich sagt er, er würde den Einmarsch in Belgien nicht zugelassen haben, und auf Annexionen in Belgien hätte er »ohne Hintergedanken« verzichten wollen. Aber während des Krieges hat er mir gegenüber mündlich und schriftlich den Einmarsch in Belgien gebilligt – diesen strategischen Plan hatte er übrigens schon als Reichskanzler gutgeheissen –, und in einer brieflichen Auseinandersetzung mit mir hat er den Verzicht auf belgische Annexionen hartnäckig für unmöglich erklärt. Vielleicht hätte er auch im Juli 1914 nicht ganz nach seinen vorzüglichen Rezepten gehandelt, und vielleicht hätte er auch auf den österreichischen Appell an die deutsche Bündnistreue eine Antwort ohne die notwendigen Vorbehalte und Rückendeckungen erteilt. Aber es war nicht absolut unmöglich, sich hinterher wieder aus der Schlinge zu befreien, und diese Aufgabe erforderte nur gute Nerven und diplomatische Geschicklichkeit. Im zweiten Teil der Handlung konnten Einfälle, zu denen Geistesgegenwart und Erfindungsgabe befähigen, mehr ausrichten als ein Reichtum an staatsmännischen Ideen. Das Seiltanzen musste man verstehen.

 

Es wäre eine lästige Wiederholung, würden noch einmal die Gefühlsregungen und Stimmungen – denn von Gedanken kann man dabei nicht sprechen – blossgelegt werden, die in Wilhelm II. aufwallten, als er das sogenannte Handschreiben des alten Franz Joseph empfing, und die Herrn von Bethmann beeinflussten, als er auf dem Parkspaziergang Schicksal und Leben des deutschen Volkes in die Hand der Wiener Kriegsmacherklique legen liess. Bei dem einen die etwas theatralische »Ritterlichkeit« gegenüber dem Nestor der Monarchenfamilie, der ewige Wunsch, sich selbst und der Weltgalerie Tapferkeit zu beweisen und die Spottreden zu widerlegen – bei dem andern die Erinnerung an die geglückten Bluffunternehmungen Bülows, der Eifer, das allseits beschädigte Prestige der eigenen Person und des Auswärtigen Amtes durch einen glänzenden Erfolg wieder herzustellen, und bei beiden die Ueberzeugung, gar zu schlimm werde es nicht werden, für die Mörder Franz Ferdinands werde Europa sich nicht in einen unabsehbaren Krieg stürzen, und Russland, mit verschlampter und unvollständiger Rüstung, sei ein Bär, dem nach einigem Gebrüll nur übrigbleiben werde, sich in seine Höhle zurückzuziehen. Aber nachdem man, im ersten Elan, den entscheidenden Beschluss nach Wien geschickt hatte, stellte man die tiefen politischen Gründe, die für ihn sprechen sollten, zusammen. Nunmehr wurden an den Schreibtischen von Diplomaten und Professoren ausgezeichnete Schulaufsätze verfasst, aus denen jeder die Richtigkeit, die Weitsichtigkeit und die Notwendigkeit dieses Entschlusses ersah.

438 An der Spitze stand wieder das alte Lieblingsargument des Auswärtigen Amtes: man musste Oesterreich folgen, weil es sonst bestimmt die Neigung verspüren würde, vom Dreibund abzufallen und ins feindselige Lager überzugehen. Und dann wäre Deutschland isoliert gewesen, allein in einer feindlichen Welt. In der Tat, die Neigung hätten die Wiener Grafen wohl verspürt. Aber solche Bestrebungen wären zweifellos missglückt. Wie hätten Oesterreich und Russland sich auf dem Balkan und über die Aspirationen der slavischen Brüder verständigen sollen? Hätte Oesterreich dann das von Russland beschützte Gross-Serbien, mit dem Badestrand, erstehen lassen, auf den Weg nach Saloniki verzichtet, oder hätte Russland den Balkan aufgegeben und so den Preis für den österreichischen Uebertritt bezahlt? Es gab weder die eine noch die andere Möglichkeit. Die Befürchtung, dass Oesterreich sich von Deutschland lossagen und sich den Gegnern nähern könnte, war angesichts des ausserordentlich breiten Grabens, der es von Russland trennte, eine Kinderphantasie. Dann der zweite Satz: Das Geschwür musste ausgebrannt werden, Oesterreich musste das fressende Uebel durch eine Gewaltkur heilen, der Zersetzung ein Ende machen, die von Serbien aus seine Lande durchdrang. Gut, aber wenn die österreichische Armee sich für eine bestimmte Zeit auf dem serbischen Territorium einquartiert, die österreichische Militärjustiz allen Verdächtigen den Strick gedreht und die österreichische Militärmusik täglich auf den Dorfplätzen »Gott erhalte Franz den Kaiser« gespielt hätte – hätte das der slavischen Propaganda ein Ende gemacht? Prozesse hatte man ja schon genug erlebt. Hatte man nicht erfahren, dass sich mit solchen Gerichtsschauspielen, und selbst mit Hängen und Würgen, der nationale Fanatismus nicht ausrotten liess? Natürlich hätte Oesterreich – wenn kein Weltkrieg dazwischengekommen wäre – das billig eroberte Gebiet nicht ganz wieder herausgegeben und die Integrität Serbiens ebensowenig wie die Souveränität respektiert. Das Habsburger Reich hätte sich also noch ein fremdes Stück Land und noch eine gewisse Zahl feindseliger, hasserfüllter Bewohner zugelegt, und diese Erwerbung hätte das Geschwür nicht gerade beseitigt, sondern ausgebreitet, die Zersetzungserscheinungen nicht vermindert, sondern vermehrt. Oesterreich, sagte man in Berlin, brauchte Garantien. Weder durch eine vorübergehende Okkupation und strenge Gerichte noch durch eine Zerstückelung Serbiens konnte es diese Garantien für seine Ruhe und seine Sicherheit gewinnen. Das war nur zu erreichen durch eine gradlinige und ehrliche Versöhnungspolitik, wie sie den Bärenreither, Redlich, Szillassy, Graf Thurn und andern vorgeschwebt hatte und, mit gelegentlichen Unterbrechungen, auch dem sonst oft sturen Franz Ferdinand. Ohne den serbischen Hafen wäre sie freilich nicht möglich gewesen – nicht ohne den serbischen Balkon an der umstrittenen Adria.

Aber das Auswärtige Amt spann, nachdem einmal das Treuegelübde vorlag, noch ein besonders feines diplomatisches Gewebe dazu. Auf 439 der aus Gedankenlosigkeit entsprungenen Tat wurde ein geistvoller Plan aufgebaut. Es handelte sich ganz einfach darum, den gegnerischen Verband, die Entente zwischen Russland, Frankreich und England durch diese Bombe zu sprengen. Frankreich werde vor dem Kriege zurückschrecken, England werde die andern im Stich lassen, Russland, erniedrigt und gedemütigt, unfähig, allein dem niedergeworfenen Serbien zu helfen, werde mit rasendem Grimm den Verrat der Genossen sehen. Einer werde die Schuld immer dem andern zuschieben, die dreieckige Ehe werde unheilbar vergiftet sein. Deutschland werde die Trümmer auflesen, sich die Allianzen so, wie es ihm passte, aussuchen können. Dass man die Bündnistreue der Franzosen unterschätzte, war bedauerlich, und noch bedauerlicher, dass man die vielen Erklärungen der britischen Minister vergass oder nicht für ernsthaft hielt. Aber dieses ganze Zukunftsbild, das man sich entwarf, war ein mit unendlicher Naivität errichtetes Luftschloss und ein Produkt jenes minderwertigen Optimismus, der – unausrottbare Neigung zum Selbstbetrug – stets seine Wünsche für Wirklichkeiten nimmt. Wenn alles so, wie man hoffte, gegangen wäre, die österreichische Armee Serbien zerstampft und Russland nur geschrien, nicht losgeschlagen, im Jahre 1914 kein Weltkrieg begonnen hätte, welche Folgen hätten sich gezeigt? Ein ungeheurer, unstillbarer, brennender Hass hätte Russland ergriffen, die nationale Schmach wäre nicht nur von den obern »Sphären«, nicht nur von der Armee, sondern auch von den Linksparteien der Duma als unerträglich empfunden worden, eine Militärrevolte hätte vielleicht wirklich, wie Bülow meinte, den schwachen Zaren beseitigt und jedenfalls hätte mit ganz anderer Gewalt als der Ruf »Revanche für Sadowa!« das »Rache für Belgrad!« sich durchgesetzt. Frankreich und England, die diesmal nicht hatten helfen können oder wollen, hätten den Eindruck ihrer Schwäche durch noch lautere Anklagen gegen Deutschland und Oesterreich und durch noch kräftigere Bindungen ausgelöscht. Alles wäre nur vertagt, alles hundertfach verschlimmert gewesen, keine Spur von der erhofften Reinigung der Atmosphäre, über Europa hätte, bis zu dem unvermeidlichen Ausbruch, ein erstickender Dunst gelagert, mit dem verglichen die Luft vor dem Juli 1914 der Ozon eines Höhenkurortes war.

 

Es ist immer wieder erschreckend, zu sehen, wie wenige Politiker sich eine Vorstellung von der psychologischen Wirkung ihrer Handlungen machen und sich in die Lage des Gegners hineindenken können, und wie viele dem Narzissus gleichen, der in die verliebte Betrachtung des eigenen Bildes versunken ist. Und doch hängt jeder Erfolg einer aussenpolitischen Aktion von der richtigen Beurteilung der Frage ab, wie tief sie einschneiden und bis zu welchem Grade sie die Geister erregen wird. Es ist nicht minder erschreckend, zu beobachten, wie wenige dieser Politiker die Fähigkeit oder auch nur den energischen Willen haben, eine diplomatische Aktion bis zum letzten Ende und in all ihren 440 Möglichkeiten zu überdenken, bevor sie beginnt. Hier lag die Grösse Bismarcks, hier hat das nachfolgende Geschlecht, vom Staatslenker herab bis zu denen, die für die Geburtstage Bismarcks die anbetenden Festartikel schreiben, vollkommen versagt. Vom hohen Sockel herab prüfte der Alte sorgfältig das internationale Terrain und wog mit seiner genauen Kenntnis der fremden Staaten, der fremden Staatsmänner und der politischen Beziehungen das Für und Wider, die Chancen und das Risiko ab. Die Kleinern und Spätern sind wie mittelmässige Komödienverfasser, die in dem Augenblick, wo sie sich an die Arbeit machen, nur den ersten effektreichen Akt vor sich sehen, und die dann dem Schicksal nicht entgehen, beim Schlussakt durchzufallen.

Mir scheint, dass derjenige, der als Motiv des deutschen Handelns klar und wahrheitsgetreu die politische Unzulänglichkeit bezeichnet, weit mehr die Versailler Schuldthese entkräftet, als liebevolle Advokaten, die auch die Intelligenz ihrer Klienten nicht anzweifeln lassen wollen. Ja, diejenigen, die diese Intelligenz bestreiten, erfüllen eine doppelt lobenswerte Aufgabe: einmal, weil sie die Wahrheit sprechen, und zweitens, weil sie die doch wirklich falsche Behauptung widerlegen, Deutschland oder die Leitung des Reiches habe aus lang gehegter böser Absicht planvoll und hinterlistig den Krieg provoziert. »Es ist der Brauch, den hier einflussreichen Männern schlimme Absichten und Grundsätze und ein mit heuchlerischer Gewandtheit durchgeführtes System zuzuschieben«, sagt Heinrich von Sybel bei einem freilich ganz anders liegenden Falle, bei der von Preussen 1795, in der Zeit des Rastatter Kongresses, befolgten Abstinenzpolitik. »Ich habe jedoch«, fährt er fort, »nicht den geringsten Zweifel, dass die Auslandspolitik, der ich hier begegne, nicht so sehr die Folge von Bosheit als von Schwäche ist. Die Ursache . . . ist Mangel an Fähigkeit und nicht ein tiefer und verruchter Plan.« Er fügt hinzu: »Leider bleibt die Wirkung dieselbe« – und das gilt auch für die Politik von 1914, die unglücklicherweise, im Gegensatz zu der von ihm getadelten, keine Abstinenzpolitik war.

Ob in irgendeiner der Persönlichkeiten, die an einer der verantwortlichen Stellen standen, hinter dem ablehnenden Gedanken bisweilen andere Ideen schattenhaft vorbeihuschten, das gehört zu den Geheimnissen, bei denen die Versuche der Enträtselung aufhören und zu denen kein Taucher vordringen kann. Die Seele hat viele Etagen, die Vorstellungen des Bewusstseins und die Regungen des Unterbewusstseins rinnen durcheinander, und ein Wort Benjamin Constants, das den »Vater des Liberalismus«, wie sein Biograph Dumont Wilden bemerkt, vorzüglich kennzeichnet, hat auch auf allgemeine Gültigkeit Anspruch: »Man ist niemals völlig aufrichtig und niemals völlig unaufrichtig« – »on n'est jamais ni tout à fait sincère, ni tout à fait de mauvaise foi.« Immerhin besass Wilhelm II. zwischen, oder besser gesagt, hinter seinen unaufrichtigen Mienen und Gesten eine absolut echte Eigenschaft – nichts 441 konnte echter als seine Abneigung gegen Krieg und Abenteuer sein. Er hatte die Ausbrüche launischer Gereiztheit, die Plötzlichkeit unsinniger Befehle, die dilettantische Lust an Intrigen, die niemals dem Gegner verborgen blieben, aber er wollte so wenig ein Feuer anzünden, wie das Kind, das mit den Streichhölzern spielt. Er war die vollkommene Widerlegung des Spruches, dass das erste Gefühl immer das beste ist. Nachdem man ihn oft vor den Folgen solcher ersten Impulse bewahrt hatte, leitete ihn am 5. Juli, am Tage der habsburgischen Werbung, leider niemand in das kühlere Klima des Ueberlegens zurück. Wenn manche Ankläger die Randbemerkungen, mit denen er, auch während der Krise, die diplomatischen Berichte überreichlich verunzierte, als Beweis für seinen kriegerischen Drang verwenden, haben sie seine Natur entweder nicht begriffen, oder sie machen aus der Verbreitung falscher Begriffe ihr Geschäft. Je mehr Wilhelm II. den Krieg fürchtete, je sehnlicher er ihn vermieden sehen wollte, desto mehr war er, der noch im Nachthemd vor sich selber Komödie spielte, auf dem Papier, das die Generaladjutanten und Geheimräte in die Hand bekamen, Friedrich, der Friedrich von 1757, Friedrich, angefallen von der Koalition Marie Theresiens, Russlands, Schwedens und der Pompadour. Waldersee hatte zu Bülow gesagt: »Der Kaiser macht andern viel vor, aber am meisten belügt er sich selbst.« Und Waldersee hatte die Steigerung dieser Manie nicht mehr erlebt. Die Heftigkeit und der durchaus unfriderizianische Stil seiner gegen Serbien und alle Beschützer Serbiens geschleuderten, in überkochendem Zorn auf das Blatt hingeworfenen Schmähworte zeigen nur, dass der Kaiser erkannte, in welchen Engpass man sich verrannt hatte, und wie erschrocken und fassungslos er vor dem nicht gewollten Unheil stand. Und er war der erste, der dann, von der Kriegsfurie geängstigt, den unglücklicherweise nicht mehr wirksamen, dank der Wiener »Schlauheit« nun zu spät eintreffenden Befehl zur Umkehr gab. In der Brutalität seiner Ausdrücke pflegte sich ja in Momenten der Aufregung jener Hintergrund seiner Natur zu offenbaren, der sonst hinter der gereckten Paradehaltung, der einstudierten majestätischen Hoheit und der huldvollen Liebenswürdigkeit verschwand und dem Publikum und den Zuhörern seiner Kulturgespräche immer verborgen blieb. Es gibt viele Menschen, die den Sirokko nicht vertragen können und unter seinem Einfluss vom Fieber geschüttelt werden, und Wilhelm II. fieberte in der Luft, die jetzt über seinem kaiserlichen Haupt und über Deutschland hing.

Wer von den andern Akteuren, denen in Deutschland eine entscheidende Mitwirkung zukommen konnte, hätte mit klarer Absicht an der Entfesselung des Krieges gearbeitet, ihn kaltherzig und mit hartem Willen zu erzwingen versucht? Gewiss, der Fall Moltke erscheint als ein dunkler Punkt. Die telegraphische Ermunterung: »Deutschland wird mobilisieren!«, die er am 30. Juli, als der Kaiser und der Reichskanzler noch Vermittlungsversuche unternahmen, an den 442 österreichischen Kameraden schickte, verhindert einen Freispruch, aber es ist doch nicht zu vergessen, dass am 30. Juli auch die Generale in den Ententeländern schon eifrig in Bewegung waren, in Petersburg der am 29. Juli beschlossene, dann vom Zaren zurückgenommene Mobilmachungsbefehl am Nachmittag des 30. endgültig wurde, in Paris der Generalissimus Joffre Massregeln forderte, die aufs Haar einer Mobilisierung glichen, und in London Churchill, Admiralität und Generalität mit munterem Eifer an die Arbeit gingen. Und mit so heissem Verlangen, so jünglingshafter Ungeduld und so jahrelang planvoll fortgesetzter Anspannung, wie der radfahrende englische General Wilson, oder wie Nikolai Nikolajewitsch und der General Januschkewitsch, hat der unglückliche Erbe eines berühmten Namens, der zwischen hohen Ideologien und preussischer Soldatenmentalität schwankende Günstling des Kaisers, den Krieg nicht herbeigewünscht.

Und Bethmann? – selbst die Gegner Deutschlands haben nie geglaubt und behauptet, er habe absichtlich und mit Ueberlegung den Frieden gestört. Alle sind überzeugt, dass er sich nur aus Mangel an Augenmass auf den Kriegspfad verirrt hat und dass schliesslich andere, vorwärtstreibende Gewalten stärker gewesen sind als er. Aus einer der Unterhaltungen, die ich während des Krieges mit ihm hatte, möchte ich einen Teil hier wiedergeben, Worte, in denen, gewiss nicht zu seinem Nachteil, die Wandlung seines Wesens deutlich wird. Dieses Gespräch fand am 5. Februar 1915 in seinem Arbeitszimmer statt.

 

Bethmann: »Wenn man von der Schuld an diesem Kriege redet, – wir haben auch unser Teil der Schuld, das müssen wir ehrlich bekennen. Wenn ich sagen wollte, dieser Gedanke bedrückt mich, so wäre das zu wenig – der Gedanke verlässt mich nicht, ich lebe darin. Ich spreche nicht von dieser oder jener diplomatischen Aktion, die vielleicht anders hätte gemacht werden können.«

Ich: »Ich sage ganz offen – und Sie wissen es ja auch –, dass ich die Politik, die zu unserer Unterstützung der österreichischen Ultimatumsnote geführt hat, nicht zu begreifen vermag.«

Bethmann: »Wir haben die Note nicht gekannt. Ich habe sie absichtlich nicht kennen wollen. Ich wollte nicht darin korrigieren – wenn man korrigiert, ist man nachher immer der, der es falsch gemacht hat, und das wollte ich nicht. Wir haben eben geglaubt, dass man Oesterreich stärken müsse, dass man es in dem Moment, wo es sich endlich zu einer tatkräftigen Politik entschloss, nicht im Stiche lassen dürfe. Man hat uns in Russland gesagt: ›Lâchez les Autrichiens et nous lâcherons les Français‹ – das konnte ich doch nicht. Ich habe Sasonow dann während der Krise – dies ganz unter uns – sagen lassen, er möge doch die Oesterreicher ihre Strafexpedition machen lassen, der Moment würde kommen, wo wir uns arrangieren würden. Natürlich nicht auf dem Rücken der Oesterreicher, aber gewissermassen auf ihren Schultern. 443 Dann gewann die russische Kriegspartei die Oberhand. Ich bin noch heute überzeugt, dass Grey den Krieg hätte verhindern können, wenn er von Anfang an erklärt hätte, England mache nicht mit. Ich will damit nicht sagen, dass ich glaube, er habe den Krieg gewollt. Er hat ihn ganz ehrlich zu verhindern gewünscht und ist hineingerutscht. Er wollte den Krieg nicht, aber ich möchte sagen, ihm war die Triple-Entente mehr wert als der Friede, er hat sie über den Frieden gestellt. – Aber der Krieg ist doch nicht aus diesen einzelnen diplomatischen Aktionen entstanden, er ist das Ergebnis von Volksstimmungen – und da haben wir unser Teil der Schuld, haben die Alldeutschen ihre Schuld. Wir haben ja in unserer innern und in unserer äussern Politik in der Lüge gelebt. Ein schreierischer, überforscher, renommistischer, schwatzhafter Geist war in unser Volk gebracht worden. Es ist ja eine Aufgeblasenheit, ein völliges Verkennen bei diesen Leuten, alle andern Völker taugen nichts, nur wir. Und diese Schlagworte – es ist ja sehr hübsch: ›Am deutschen Wesen soll die Welt genesen‹ – ich weiss nicht, wer es zuerst gesagt hat.«

Ich: »Der Kaiser hat es wiederholt gesagt.«

Bethmann: »Ja, aber es ist nach den Freiheitskriegen entstanden. Gewiss ein hübsches Wort. Aber was würden wir sagen, wenn die Franzosen oder die Engländer so etwas von sich behaupten wollten? Der Kaiser hat mit manchem Wort, das er in seinen Reden gesagt hat, gewiss auch dazu beigetragen – er ist der Exponent seines Volkes, er ist in vielem auch sein Repräsentant. Bismarck hat in seinem Leben nur sehr wenig Schlagworte geprägt – ›Wir Deutschen fürchten Gott und sonst niemand in der Welt‹. Fürst Bülow liebte solche Worte mehr, und er verstand es, sie glänzend zu verwenden. Man jubelte ihm zu. Es kann sein, es ist sehr wohl möglich, dass Fürst Bülow mit seiner grossen Geschicklichkeit aus einer solchen Krise herausgegangen wäre, indem er sich mit Schlagworten half. Es ist vielleicht mein Fehler, dass ich diese Art der Rhetorik nie angewendet habe. Man hat mich deshalb schlapp genannt, einen Schwächling. Auch als ich die Militärvorlage einbrachte – ich konnte reden, wie ich wollte, denn ich wusste ja, dass die Vorlage im voraus angenommen war –, habe ich kein einziges Kraftwort gebraucht. Man hat das getadelt, ich war den Alldeutschen zu schwach. – Und dieser irrsinnige Hass! Und diese ekelhaften Karikaturen auf den Postkarten! Ich versichere Sie, unsere Soldaten an der Front sind ausser sich darüber, sind empört, wenn sie das sehen. Ich war vor kurzem wieder vorn an den Schützengräben. Es ist wundervoll, den tiefen Ernst unserer Soldaten dort zu sehen – sie sind ernst, aber sie hassen nicht. Der Hass ist nur hier. – Es wäre furchtbar, wenn nach dem Frieden diese Renommiererei, diese Ueberforschheit, diese Ueberhebung bei uns herrschend bleiben sollten. Ein furchtbarer Gedanke. – Nach dem Kriege werden neue Menschen kommen. Aber wenn mich nach diesem Kriege etwas würde aufrechterhalten können, würde es 444 diese Aufgabe sein, die innere Politik Deutschlands auf eine neue Basis zu stellen. Ich habe in einem Jahr meine Frau und einen Sohn verloren, mein Haus ist leer. Jetzt komme ich darüber hinweg, ich denke gar nicht daran, ich denke nur an den Krieg. So geht es ihnen draussen auch. Aber hinterher wird jeder den Verlust fühlen, darüber dürfen wir uns nicht täuschen, das alles kommt erst hinterher. Die einzige Möglichkeit für mich, darüber hinwegzukommen, sehe ich darin, dass ich mich bemühen will, die innere und die äussere Politik Deutschlands neu zu schaffen. Denn sie muss neu geschaffen werden, wir müssen aus der Lüge heraus, davon bin ich durchdrungen . . .«

 

Es ist hier schon gesagt worden, dass die Persönlichkeit des Herrn von Bethmann-Hollweg nach dem Ausbruch des Krieges eine Entwicklung durchmachte, sich über die Vergangenheit erhob und in dem täglichen Kampf erstarkte, soweit ihr das möglich war. Man erkennt auch in der hier mitgeteilten Unterredung, mit welchen seelischen Nöten Herr von Bethmann-Hollweg rang, und mit welchem selbstquälerischen Ernst er die Stadien der Läuterung durchschritt. In seinen »Betrachtungen zum Weltkrieg«, die er 1919 erscheinen liess, wehrte er sich dagegen, irgendeinen Fehler zu bekennen. In seinen Reden vor dem Reichstag klagte er, wie es für einen Kriegskanzler selbstverständlich war und sich gar nicht vermeiden liess, immer nur die andern an. Wer übrigens hätte in dieser Zeit, wo draussen auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben Millionen starben und das Glück unzähliger Familien zusammenbrach, ohne Widerstreben einen Anteil an der Schuld auf sich genommen? Es war begreiflich, dass Herr von Bethmann-Hollweg vor diesem Schatten floh. Aber in der Verborgenheit seines Arbeitszimmers kannte er nicht immer diese Ruhe, diese Selbstverständlichkeit, und in diesem Gespräch hier sieht man den Zweifel, der ihn umkreiste, ihn umspann. Sein schwerblütiges Naturell gestattete ihm nicht das gleichmütige Achselzucken, mit dem mancher Kavalier der Kriegspolitik sich an den Leichenbergen vorüber zum Diner begab. Er wollte auch in dieser Unterhaltung die heimliche Wunde nicht aufdecken, er gab nur zu, dass vielleicht der fingerflinke und schlagfertige, schlagwortkundige Bülow sich besser herausgewunden hätte, und seine Worte, scheu vorbeigleitend an »dieser oder jener diplomatischen Aktion«, suchten und trafen einen andern Schuldigen, den Geist der Unwissenheit und Prahlerei. Den Geist des Hasses, des Grössenwahns, den »Lügengeist«. Und doch, diese schöne, tief empfundene Sehnsucht, dem deutschen Volke noch durch Wahrheit dienen, ihm eine hellere, reinere Zukunft schaffen zu dürfen, und dieses fast peinvolle Hervordrängen des Verantwortungsgefühls – es war wie eine bei zufälliger Gelegenheit, vor einem zufälligen Zeugen, in besonderer Stimmung sich losreissende Beichte, wie die Einkehr eines Mannes, der über seine Irrtümer grübelt und wieder gutmachen will. Aber auch wenn er nach einem glücklichen 445 Kriegsausgang der Reichskanzler gewesen wäre, hätte er nicht die Kraft des Erneuerers gehabt und sein Traum hätte sich nicht erfüllt.

 

Zum letztenmal sah ich ihn nach der Endkatastrophe, zwischen Waffenstillstand und Versailles, als soeben die Liste der »Kriegsverbrecher«, deren Auslieferung die siegreichen Alliierten fordern wollten, veröffentlicht worden war. Ich begegnete ihm am Schöneberger Ufer in Berlin, er kam unter den Bäumen dort auf mich zu, eine tragische Gestalt. Er war furchtbar aufgeregt. Etwas Hastiges, Gehetztes lag jetzt in seinem Wesen und seiner Sprache, kontrastierte mit dem grossen breitschultrigen Körper, nichts mehr war von dem etwas pedantischen Selbstgefühl übrig, mit dem er ehemals als magister Germaniae dozierte, und das Gesicht erschien jetzt grau, faltig und zerquält. Sein Name stand auf der Verbrecherliste mit dem des Kaisers obenan. Sofort, als er vor mir stand, sprach er im Ton und mit den Gebärden eines Verzweifelten von diesem grotesken Auslieferungsverlangen. Ich sagte, dass das eine lächerliche Liste, eine unsinnige Demonstration und nicht ernst zu nehmen sei. »Nein«, antwortete er, immer mit der gleichen nervösen Hast, »Sie werden sehen, sie wollen Deutschland vernichten – sie werden es vernichten – es ist entsetzlich – sie schrecken vor nichts zurück.« Er liess sich nicht von dieser pessimistischen Meinung abbringen und entfernte sich, mit gebeugtem Rücken, ganz ohne die etwas jugendlich markierte Elastizität, mit der einst der Philosoph der guten Gesinnung an das Rednerpult trat. Er hat dann sehr bald in einem würdigen Schreiben den Kaiser zu decken versucht und die Verantwortung für die kaiserlichen Handlungen übernommen. »Ich stelle hiermit anheim«, schrieb er, »dass die alliierten und assoziierten Mächte mich vor ihre Gerichte stellen, liefere mich hierdurch aus und bitte dieselben, mir Ort und Tag zu bezeichnen, wo ich mich ihnen zur Verfügung stellen kann.« Hatte ihn in der Stunde, als ich ihn traf, nur die Furcht so verstört? Das heisst, ihn und seinen Charakter unterschätzen, aber in der langen Zeit seit seinem Sturze und inmitten der Katastrophen hatte sich seine Widerstandskraft wohl aufgezehrt. Als die Tragödie an ihrem Schlusspunkt ankam, mussten ihn die nagenden Fragen noch unerbittlicher peinigen: Warst du der, der du zu sein glaubtest – war dieses Ungeheuerliche nicht zu vermeiden – hast du dich nicht vom Zufall forttragen lassen, hast du wirklich das Richtige getan? Nur mit Mitgefühl konnte man dem ruhelosen Wanderer nachblicken, bis er an einer Wegbiegung entschwand.

 

Fast alle, die sich, bedrückt oder robust, verteidigen wollten, holten am Schlusse ihrer Ausführungen ein letztes Entlastungsmoment hervor: sie hatten noch einen, den wahren Schuldigen entdeckt und wiesen mit anklagendem Finger auf ihn hin. Sie waren nur die Werkzeuge einer höhern Macht gewesen, unabänderlich wie der Lauf der Sonne war 446 der Ablauf der Dinge vorgezeichnet, und das Fatum allein war für alles Geschehen verantwortlich. Es ist schwer, keine Satire zu schreiben über diese Diplomatie mit sehr beschränkter Willensfreiheit, die aus jeder ihrer Tragödien eine Schicksalstragödie zu machen versucht. Wenn die Dinge schlecht gehen, ist es das Schicksal gewesen, und wenn sie gut gehen, ernten die Staatsmänner den Ruhm. Auch ein Gedankensplitter Georg Christoph Lichtenbergs erscheint von zweifelhaftem Werte: »Die grossen Begebenheiten in der Welt werden nicht gemacht, sondern finden sich.« Vieles hätte sich nicht gefunden, hätte man es nicht gemacht. Nicht die Parzen haben Europa unterworfen, sondern Napoleon hat bei Austerlitz gesiegt. Die Götter, die über das Schicksal der homerischen Helden entscheiden, sind längst schlafen gegangen. Das Fatum ist der »grosse Unbekannte«, von dem die Zierden der Anklagebank erzählen, er habe das Verbrechen begangen, oder ihnen die gestohlene Uhr in die Tasche gesteckt. An den grossen Unbekannten glaubt niemand mehr.

 

Wird man behaupten können, dass hier, in dieser Darstellung, das deutsche Vorgehen mit parteipolitischer Nachsicht beurteilt worden, die kleine Schar der Hauptfiguren zu vorteilhaft geschminkt worden sei? Von den Künsten der Verschönerungsinstitute, die im Dienste eines falschen Patriotismus stehen, wurde hier wohl wenig Gebrauch gemacht. Und ist Fahrlässigkeit nicht auch eine schwere Schuld, wenn sie zu solchen Katastrophen führt? Wird der Autolenker, der infolge eines Versehens, einer momentanen Unachtsamkeit, den Tod eines einzigen Menschen verursacht, nicht schwer bestraft? Was findet man, wenn man dann zum gegnerischen Lager hinüberblickt? Auch dort fehlte es, genau wie in Deutschland, an einer starken, die Situation überschauenden und beherrschenden Persönlichkeit. Die einen waren zwiespältige, von der Moral zur Machtpolitik verirrte Gentlemen, die andern gehörten zur Kategorie der »leicht Verführbaren«, um sie goethisch zu benennen. Es war eine Eigentümlichkeit dieses Krieges, dass unter den an seiner Einleitung beteiligten Männern viele waren, die mit ihren Gefühlen und Ideen am Frieden hingen. Nikolaus und Wilhelm, die antimilitaristischen Radikalen in der französischen Regierung, der ertrinkende Ethiker Bethmann, die mitgeschleppten Liberalen im englischen Kabinett – sie alle konnten gleich Grey angesichts der vollendeten Tatsache sagen: »Ich hasse den Krieg.« Auf beiden Seiten gab es diese Kriegshelden wider Willen.

 

Einer böswilligen, hinterlistigen Handlungsweise überführt ist die Wiener Diplomatensippe, die sogar dem eigenen Bundesgenossen die völlig genügende serbische Antwortnote verbarg. Diese Unterschlagung, die bisher so unbeachtet blieb, ist anders anzusehen als alles, was in andern Ländern aus Leichtsinn und Blindheit oder aus allenfalls begreiflichen politischen Motiven geschah. Es ist der Unterschied, der zwischen 447 leichtfertigem Spiel und Falschspiel besteht. Aber dass auch auf der Gegenseite manche Klytämnestra der Politik darauf wartete, dem Verhassten das blutige Bad bereiten zu können, wird wohl niemand mehr bestreiten wollen. Und wenn man auch dort sehr oft nicht genau unterscheiden kann, was im klaren Bewusstsein sich abspielte oder nur im Zwielicht des Unterbewusstseins auftauchte – wenigstens in einem Falle, in der Angelegenheit der verletzten belgischen Neutralität, bestehen solche seelischen Geheimnisse nicht. Die grobe Tat, der rechtswidrige Einbruch wurde nur von Deutschland verübt – bei vielen andern findet man eine Unmoral, die gewissermassen von einer feineren Gattung ist.

 

Alle wussten, dass Deutschland die belgische Karte, die Karte der Neutralitätsverletzung, ausspielen wollte und als Trumpf in Bereitschaft hielt. Grey, Churchill, Poincaré, Paléologue sagen, dass man über die Absicht des deutschen Generalstabes seit langem unterrichtet gewesen sei, und ein solches Geheimnis hätte ja auch der Spionage unmöglich entgehen können. Man kannte diesen Schlieffenschen, von Herrn von Moltke nicht veränderten Plan. Herr von Moltke war der Erbe eines Planes, wie er der Erbe eines Namens war. In der »Ere Nouvelle« hat der französische General Percin am 26. Januar 1925 mitgeteilt, dass im Winter 1910/11 der Oberste Kriegsrat unter dem Vorsitz des Generals Michel acht Tage lang auf der Karte Uebungen veranstaltete, bei denen der General Gallieni die Führung der an der elsass-lothringischen Front operierenden deutschen Armeegruppe übernahm. Percin kommandierte unter diesem Chef. Es ergab sich, dass ein deutscher Angriff an der elsass-lothringischen Grenze keine Erfolgschancen bot. Das bestätigte die Auffassung, dass ein deutscher Einbruch in Belgien zu erwarten sei. »Man hat«, schrieb Percin, »nicht darüber diskutiert, ob wir den Deutschen in dieser Verletzung der Neutralität folgen, im Notfall auch vorangehen sollten, oder ob es richtiger wäre, sich dem Feinde diesseits der belgischen Grenze entgegenzustellen. Wenn einer von uns gesagt hätte, dass er aus Achtung vor dem Vertrag von 1839 aus eigener Initiative diesseits der belgischen Grenze geblieben wäre und so den Krieg auf den französischen Boden hinübergezogen hätte, wäre er von all seinen Kollegen niedergeschrien worden und vom Kriegsminister selbst.« Die Mentalität der französischen Generalität wich von derjenigen der deutschen Generale nicht ab. Der Unterschied bestand nur darin, dass in Frankreich, wie auch Percin betont, die Zivilregierung das letzte Wort hatte und die politischen Gesichtspunkte mit erwog, während in Deutschland die Entscheidung dem militärischen Zweck untergeordnet war und einzig und allein beim Generalstab lag.

Paléologue behauptet sogar, man habe in Frankreich nicht nur von der Existenz des deutschen Einmarschplanes Kenntnis gehabt, sondern habe über alle Einzelheiten Bescheid gewusst. Der deutsche Operationsplan 448 sei schon im April 1904 durch den Verrat eines deutschen Offiziers in den Besitz des französischen Generalstabes gelangt. Die deutschen militärischen Fachmänner haben diese Geschichte von dem Verräter, der seinen Namen verbarg und sein Gesicht mit Binden maskierte, für unsinnig erklärt. Der Plan sei nicht verraten worden und der französische Generalstab sei auf einen Schwindler hereingefallen. In den Memoiren des Generals Joffre steht ein Bericht über Beratungen aus dem Anfang des Jahres 1912. Der französische Generalstab hatte wieder Nachrichten über den von Deutschland beabsichtigten Einmarsch in Belgien erhalten und Joffre hielt einen Vortrag über die Frage, ob die französische Armee »gleich vom Beginn der Operation an« in Belgien einmarschieren solle, um dem Feinde zuvorzukommen. Er selbst, der Kriegsminister Millerand und der Marineminister Delcassé waren für das Zuvorkommen, aber der Ministerpräsident Poincaré pflichtete ihnen nicht bei. Zum mindesten müsse der französische Einmarsch durch eine tatsächlich drohende deutsche Invasion gerechtfertigt sein. Im Jahre 1906 hatte der bekannteste Militärschriftsteller der Entente, der Oberstleutnant Repington, die Idee des Prävenire, mit dem man nur den Deutschen einen Gefallen tun würde, scharf bekämpft. Man müsse den Deutschen gestatten, voranzugehen.

 

Der deutsche Einmarsch in Belgien war ein Rechtsbruch und obenein ein schwerer politischer Fehler, wie man die Dinge auch drehen will. Wenn manche Leute solche Kritik nicht gern hören, kann man ihnen, neben ähnlichen Aeusserungen, einen Artikel vorlegen, der am 24. Februar 1887 in Bismarcks offiziösem Organ erschien. Damals hatte die englische Presse sich eifrig mit der Frage beschäftigt, ob beim Ausbruch eines deutsch-französischen Krieges Deutschland die Neutralität Belgiens respektieren würde, und Bismarck liess in der »Post« antworten, Deutschland beabsichtige keinen Präventivkrieg und würde »nie einen Krieg mit der Verletzung eines europäischen Vertrages beginnen«. Die englischen Journalisten befänden sich »im Irrtum, wenn sie meinen, die Leitung der Politik sei bei uns den Gesichtspunkten des Generalstabes unterworfen und nicht umgekehrt«. Deutschland denke ebensowenig an die Verletzung der belgischen wie an die der schweizerischen Neutralität. »Viel zu hohen Wert legt die deutsche Staatsleitung auf ihren Ruf der strengsten Beobachterin der Verträge, welche Europa zur Bewahrung seines Friedens errichtet hat. Ausserdem lehrt doch wohl der gesunde Menschenverstand, dass es nicht gerade klug wäre, die Streitkräfte Belgiens wie der Schweiz zur Waffengemeinschaft mit dem französischen Angreifer zu zwingen« . . . Bismarck war veraltet, sein Standpunkt überwunden, was 1887 richtig war, war es 1914 nicht mehr, der verehrte Heros im Sachsenwald hatte die Situation nicht vorhersehen können, in der man sich jetzt befand? Jedes Wort war noch 1914 genau so richtig, wie es 1887 gewesen war.

449 Aber die Röte des Zornes auf dem Antlitz der Gegner war etwas künstlich mit dem Pinsel aufgelegt. Die Vergewaltigung Belgiens durch Deutschland war ja ihre Hoffnung gewesen, sie hatten, wenn sie sehr fromm waren, dafür gebetet, sie hätten, wenn es dafür in der Hexenküche Zaubersprüche gäbe, die Deutschen herbeigehext. Dass die Völkerrechtslehrer und die Pazifisten ihr Anathem sprachen und dass die Völker dem misshandelten Belgien ihre Anteilnahme zuwendeten, war natürlich, konnte nur von jenen Deutschen unbillig und böswillig gefunden werden, die ganz vergessen hatten, wie voll Empörung ihr Herz ein paar Jahre vorher bei den Leiden der Buren gewesen war.

 

Wenn Northcliffe und Leute seiner Art die Welt zur Rache aufriefen, so heuchelten sie, wie beim Brande eines Hauses ein Besitzer heuchlerisch jammert, der sich stillvergnügt die Versicherungssumme holt. Paul Cambon, Poincaré, Paléologue, Sasonow, Iswolski, Churchill, Nicolson, Grey sogar – sie alle hatten die Nachricht von dem Einmarsch in Belgien mit einem Aufatmen, mit einem »Endlich!« begrüsst. Mancher musste sich in acht nehmen, um nicht die für Brüssel bestimmten Kondolenzbriefe mit den Glückwunschkarten zu vertauschen, die er, an andere Adressen, aus gleichem Anlass schrieb.

Man hat über Necker, den gescheiterten Reformator des Königtums, gelächelt, der in einer 1791 zum eigenen Ruhm verfassten Schrift gesagt hat, die wirre Periode, in der er Frankreich erneuern sollte, hätte Gelegenheit genug geboten, »jeden Tag einen Fehler zu machen«, aber »zu meinem eigenen Erstaunen suche ich vergeblich den Grund zu einem Vorwurf für mich«. Wenn man die Memoiren der Leute von 1914 durchsieht, konstatiert man, dass sie fast alle ganz ebenso überzeugt von sich wie Necker sind. Vielleicht war der eine etwas besser, der andere etwas schlechter, als er sich unserer Wahrnehmung präsentiert. Man kann selbst die nächsten Menschen nicht mit der endgültigen Gewissheit erforschen, mit der ein wirklicher Historiker die Geschichte eines vor dreitausend Jahren beigesetzten Pharao verfasst. Benjamin Franklin versicherte, dass ihm keine einzige dogmatische Wendung, kein absolutes Urteil entschlüpft sei, und dass er in seine Rede immer eingefügt habe: »ich nehme an« oder »mir scheint«. So schwebt über jeder Wahrheit noch ein letztes Vielleicht. Aber wem seine Augen übermitteln, dass die Blätter am Baume grün sind, kann sich nicht leicht zu dem Glauben bekehren, sie seien rot, oder lila, oder gelb. Jede Darstellung geschichtlicher Vorgänge muss subjektiv bleiben, und es kommt wohl auch nur darauf an, nicht die Augen schliessen zu wollen, und ohne Scheu das wiederzugeben, was sie sehen.

Müssen sich die Fahrgäste im Zuge rechtfertigen, wenn der Lokomotivführer die Gefahr übersieht? Die Deutschen haben, weit hinter der Maschine, keinen Einfluss auf Lenkung und Bremse ausüben können, sie sind nur mit entgleist. Und kein einziges Volk, und in seiner 450 Gesamtheit nicht einmal das serbische, hat bei klarem Bewusstsein die Sehnsucht nach dem Kriege verspürt. Und kann man ohne Vermessenheit »das Volk« strafbar finden, ihm eine kollektive Verantwortung zuschieben, da Völker eine unendlich gemischte und verschieden denkende Vielheit sind? Sie mögen mehr oder minder geschwollen von Selbstvertrauen gewesen sein und sie haben in trügerischen Vorstellungen vom Verlauf und Charakter eines Krieges gelebt. Das deutsche Volk hätte ein ähnliches Bekenntnis ablegen können, wie es in Tilsit die Königin Luise zu Napoleon äusserte: »Sire, der Ruhm Friedrichs II. hatte uns irregeführt über unsere eigene Macht.« Die Selbstüberschätzung ist eine furchtbare Untugend, überall gab es auf irgendeine Weise oder in irgendeinem Grade diesen übersteigerten Nationalstolz, jeder hielt sich für den Bessern, verstand den andern nicht. Nach der Meinung der Negerstämme, die das Fleisch roh verzehren, beweisen ja diejenigen, die es braten, einen barbarischen, noch unentwickelten Geschmack. Sogar Kipling empfand mit Ironie die Gemeinsamkeit der Völker in der Selbstbespiegelung, gerade er hat die vielleicht beste Satire über dieses Erzeugnis der Torheit geschrieben, in seinem Dschungel-Buch brüstet sich der Affenstamm der Bandarlog in seinem Affenstolz. »Sie tranken aus den Wasserlachen, und wenn sie mit ihrem Springen das ganze Wasser trübe und schmutzig gemacht hatten, fochten sie miteinander, und zu guter Letzt tanzten sie, indem sie laut in den Wald hinausschrien: »Es gibt im ganzen Dschungel kein Volk, das so weise ist und so klug und so stark und so edel wie die Bandarlog.«

Ueber Pontius, mit dem Beinamen Pilatus, der zur Zeit, da Jesus gekreuzigt wurde, römischer Prokurator von Judäa war, sind die Ansichten geteilt. Renan, sonst nicht übermässig textgläubig, folgt andächtig der Erzählung der vier Evangelisten, die sein für schön gestaltete Szenen empfängliches Herz erfreut. Pontius Pilatus, sagt er, hat gar nicht anders handeln können, als er gehandelt hat. Alles, was die Evangelisten über die Bemühungen des Prokurators, Jesus zu retten, berichten, hält er für bewiesen und wahr. David Friedrich Strauss, kritisch forschend und Satz für Satz untersuchend, hat dargelegt, warum Pontius Pilatus nicht alle die Anstrengungen gemacht haben kann, die ihm zugeschrieben werden, und »woraus hier das Unhistorische in die evangelischen Darstellungen eingeflossen ist«. Es ist eingeflossen aus der Zeitstimmung, aus der geistigen und seelischen Anschauung der vier erzählenden Jünger, die doch nicht »objektiv« sein konnten, und indem man zu den Versuchen, die der Prokurator zur Rettung des Angeklagten unternahm, noch einige hinzu erfand und, gewiss mehr dem Gefühl als einer taktischen Absicht folgend, seine Verantwortung milderte, fiel der Rachefluch der nun entstehenden Kirche um so wuchtiger auf Jerusalem. In der herrlichen Geschichte, in der Anatole France den pensionierten Prokurator von Judäa mit seinem Freund Aemilius Lama auf den Höhen 451 von Bajä wandeln lässt, antwortet Pontius Pilatus auf eine Frage des Begleiters: »Jesus? Jesus von Nazareth? Ich erinnere mich nicht.« Das, was zur Heiligen Geschichte wurde, war die unbeträchtliche Episode in der Karriere eines hohen römischen Beamten, und nicht einmal eine Erinnerung blieb. Anatole France, dem geistigen Kreise und dem künstlerischen Rhythmus Renans soviel näher als der Studierstube des bei jeder Einzelheit verweilenden David Friedrich Strauss, schloss sich, nur geleitet von der dichterischen Inspiration, von der ironischen Laune und dem lächelnden Skeptizismus seiner Natur, der ihm vielleicht unbekannten These des Deutschen an. Sein Pontius Pilatus kann sich für den Fall nicht sehr interessiert haben, denn sonst hätte das Gedächtnis doch eine Spur des eigenen Handelns, einen Zug der vor seinen Richterstuhl geführten Gestalt oder den Namen aufbewahrt.

In einem Aufsatz über Pontius Pilatus habe ich einmal diesen Sendboten des römischen Kaisers, der sich nach der Auslieferung des Verfemten die Hände gewaschen haben soll und auf dem trotz aller Abschwächung ein so übler Nachruhm haftet, den »ewigen Zeitgenossen, Genosse aller Zeiten« genannt. Und welche der Meinungen über seine Rolle man auch für die richtige halten mag, immer bleibt bestehen, dass er nicht schlechter als die grosse Mehrzahl der Menschen, die uns umgeben, war. Affären wie der Prozess gegen Jesus von Nazareth waren die Angelegenheiten eines streitsüchtigen, ihm unverständlichen und unsympathischen Volkes, und er sah nur den unerträglichen Zank, mischte sich möglichst wenig ein und zog sich, wenn die Disputation vor seinem Hause zu laut wurde, am liebsten in die hintersten Gemächer zurück. Der römische Epikuräer hatte mehr Sympathie für den Angeklagten, genoss mit ästhetischem Verständnis den edlen Schwung der schwärmerischen Rede und hätte gern den Verfolgern dieses Opfer entrissen, aber er wollte in der unterworfenen Provinz keinen Aufstand entfesseln, wollte nicht in Rom denunziert werden und fürchtete den Zorn des Tiberius, dem er dann doch nicht entging. Es war kein angenehmer Posten für einen Mann, der an römisches Leben und römische Ordnung gewöhnt war, für einen aufgeklärten Grossstädter, der religiösen Fanatismus peinlich als eine fremdartige seelische Missbildung empfand, aber es war doch ein hoher und ehrenvoller Posten, den man nicht verlieren wollte, und darum liess man geschehen. Dass man dieser Affäre wegen noch in später Zukunft am Pranger stehen würde, war wirklich nicht vorauszusehen. Kein Bösewicht, Durchschnitt aus allen Generationen, immer wieder geboren, in Millionen von Abgüssen lebend, amtierend, sich versorgend, und von all diesen Millionen noch heute bespien und geschmäht. Als wären sie nicht aus demselben Lehm gemacht wie er. Wenn ich für den Titel dieses Buches den Namen des Prokurators von Judäa benutzt habe, so kann das wohl erlaubt erscheinen, weil Pontius Pilatus zu einem Gattungsnamen, zu einem Sammelbegriff, zu einem Symbol geworden ist. Ganz wie Xanthippe, in der wir die Ahnfrau aller bösen Weiber sehen, obgleich wir über diese Ehe nicht richten sollten, oder wie Don Juan, dessen Künste auf dem Gebiet der Verführung nur sehr unbedeutend wären, hätte nicht Mozart die Musik hinzukomponiert. Würde man die uns überlieferte Persönlichkeit des Pontius Pilatus mit denjenigen vergleichen wollen, die im Jahre 1914 die Ereignisse gelenkt oder in entscheidender Weise beeinflusst haben, so wäre ein solcher Vergleich schief und ungerecht. Keineswegs darf man ihn auf die Gesamtheit der am Kriegsausbruch Beteiligten ausdehnen, denn auch dann, wenn die Mitschuld des Pontius Pilatus schwerer gewesen sein sollte, als die apostolischen Chronisten sie darstellen – die Schuld, die mancher Mitspieler und mancher Chorführer in der Tragödie unseres Jahrhunderts auf sich geladen hat, war zehnfach so schwer. Auch einigen gutwilligen, ehrlich dem Bösen abgeneigten Männern, die bemüht waren, der Menschheit die Kreuzigung zu ersparen, und dann im letzten Augenblick schlaff nachgaben und sich den Frieden aus den Händen gleiten liessen, wird man nicht dieselben mildernden Umstände wie ihm zubilligen können? Denn was war dem römischen Verwalter der Fremdling, Jesus von Nazareth? Diese Staatslenker und Sendboten aber verwalteten nicht eine unterworfene Provinz. Vor ihnen stand nicht ein Fremdling, sondern das eigene Volk. Und konnte Pontius Pilatus wissen, dass mit dem ihm abgerungenen Urteilsspruch eine neue Welt begann? Konnte er wissen, was er entschied, welche Umwälzung aus der Gerichtshandlung hervorgehen würde, in der er amtieren musste, und konnte er, wenn er den armen Schwärmer betrachtete, ahnen, dass man von seinem mächtigen Monarchen schreiben würde: »Tiberius, der bis 37 nach Christus römischer Kaiser war?« Den Urteilssprechern an der Schwelle des Krieges aber konnte die gigantische, grausige Grösse des Geschehens nicht verborgen sein. Sie wussten, was auf der Schicksalswaage lag.

Wie gesagt, der Name des Pontius Pilatus wird hier nur der allgemeinverständlichen Bedeutung wegen gebraucht. Es mag sein, dass in diesem Gebrauch sogar ein Missbrauch liegt. Wenn ein paar der handelnden Personen von 1914 dem Pontius Pilatus ungefähr gleichen und einige, durch stärkern Zwang zur Tat gedrängt und in der Brandpanik vom rettenden Ausgang abgeschnitten, sich trotz alledem schuldloser fühlen durften, so muss für andere das Gericht um so strenger sein. Nur durch eines sind sie alle mit ihm vereint. Eine von den Frommen ersonnene Legende besagt, Pontius Pilatus habe sich schliesslich selber gestraft, er habe Selbstmord verübt. Das entsprang dem Glauben, dass eine grosse Sünde ihre Sühne finden müsse, mit Heulen und Zähneklappern, wie es in der Schrift verheissen ist. Aber nirgends ist ein Beweis für die Richtigkeit dieser Legende entdeckt worden, nichts zeugt für den freiwilligen Büssertod, nichts deutet darauf hin, dass Pontius Pilatus ein Leben verlassen hat, das ihm auch nach seiner Verabschiedung aus dem kaiserlichen Dienst gewiss noch süss und angenehm war. Und darin 453 gleichen ihm jene Urenkel, die weder mit einem nutzlosen dramatischen Knalleffekt endeten, noch im Stacheldraht.

Nun also zogen überall die Soldaten, die eben noch Fabrikarbeiter, Kaufleute, Bauern, Studenten, Künstler oder Beamte gewesen waren, in den Krieg hinaus. Dies bildhafte Wort, dass die Kämpfer hinausziehen, stammt aus einer Zeit, die noch keine Eisenbahn und noch keine musterhafte Organisation kannte, denn jetzt wurden sie aus der Heimat auf rollenden Rädern zu den strategisch vorausbestimmten Schlachtfeldern hingeschafft. Sie hatten noch die Abschiedsblumen am Helm, und, je nachdem, frohen Mut und Abenteuerlust oder Kummer und den dumpfen Druck in der Brust. Die einen glaubten an ihren Stern, andere fühlten den nahen Tod. Keiner wusste, was dieser Krieg war, der jetzt begann. Die Entschlossenen in Frankreich gingen wie Helden Corneilles zum römischen Zweikampf, die Tatendurstigen in England hatten sportliche Vorstellungen und die Begeisterten in Deutschland sahen sich als Theodor Körner und als »Lützows wilde verwegene Jagd«.

In den vier endlosen Jahren des Krieges blühten das Schönste und das Hässlichste rund um die blutigen Seen. Innere Erhebung, Selbsterhaltungstrieb und tapferster Siegeswille fanden sich zusammen, und bestialisch ausbrechende Instinkte gingen über alle Erfindungen zum Schutz der Humanität und über die zehn Gebote hinweg. Wundervoll entfaltete sich das Gefühl der Freundschaft, die Treue war nicht ein Zierstück schmalziger Lieder, nicht der falsche Edelstein in Fürstenkronen – in diesem Inferno war der Bruder Mensch der Kamerad. Herrlicher Fund im blutgetränkten Lehm dunkler Verstecke, unvergessliches Erlebnis unter der hämmernden, herankriechenden, niederkrachenden Gefahr. Rührend schöne Illusion. Als sie heimkehrten, sah im nüchternen Alltag alles anders aus. Sie waren Lohnherren und Lohnempfänger, Bourgeois und Arbeiter, Agrarier und Asphalttreter, Demokraten und Nationalisten, die einen verteidigten die ererbten Anschauungen und die Besitzinteressen ihrer Familie, die andern forderten für den bezahlten Blutpreis neue Rechte und bessere Lebensbedingungen, und dort, wo die Staatsform und die Landesfarben gewechselt hatten, schlug man, wie man es im Kriege gelernt hatte, gern dem Andersgesinnten den Schädel ein. Der Kamerad war kein Kamerad mehr, der Bruder Mensch ein Feind.

Der Professor Philipp Wittkop in Freiburg hat eine Sammlung von »Kriegsbriefen gefallener Studenten« zusammengestellt. Es ist ein heiliges Buch – und in diesen Briefen junger Menschen war Deutschland noch einmal das Volk der Dichter und Denker, hier offenbart sich, was es in sich trug, wie vieles zerschlagen wurde, wie vieles, das zum wundervollen Baum werden konnte, unterging. Herrlichkeiten des Gefühls, Reichtum an Bildung und Streben, Liebe zur Natur, bei jeder Blume, jedem Vogelgesang, jedem Landschaftsbild in Abschiedsahnung verweilend, tiefes Ringen mit Problemen, Abscheu vor der Sinnlosigkeit 454 des Geschehens, sich aufraffende Pflichttreue, Verzweiflung und Selbstüberwindung, Knabenhaftes und Mannhaftes – und diese schon so selbstlose Hoffnung, dass über dem eigenen Grabe spätern Geschlechtern ein reines, von keinem Dunst getrübtes Licht leuchten soll. Die Besten trugen im Herzen, wie ein himmlisches Wiegenlied, diesen wunderbaren Trost. Auch das war eine Illusion, wenn sie meinten, am Tage des Friedensschlusses würden alle Menschen von der Dummheit genug haben und die Blindheit, die Krankheit des Lügens und Sichbelügens würde verschwinden, die man sich nur aus der Kriegspsychose erklären wollte und die doch ein chronischer Zustand, ein den meisten Menschen notwendiger ist. Weise und gutmütig warnen die Okeaniden des Aeschylos den an den Felsen geschmiedeten Prometheus, einem Geschlecht zu vertrauen, das »in Ohnmacht wandelt« und nur »kläglich tief, im Traum«, blind hinwandeln will.

 


 


 << zurück