Johann Wilhelm Wolf
Deutsche Hausmärchen
Johann Wilhelm Wolf

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Vorrede

Wer mit rechtem Ernst suchen will der findet bald, das empfand ich, als ich vor einigen Jahren mit meinem Schwager Wilhelm von Ploennies diese Sammlung anlegte. In unserm Wohnort Darmstadt war natürlich für dieselbe nichts zu gewinnen, darum zogen wir in den Odenwald, um dort in der noch weniger von der sogenannten »Aufklärung« und dem »Fortschritt« angesteckten Bevölkerung die frisch duftenden Blüthen zu lesen. Unsere Streifereien lohnten sich über alle Erwartung, eine Sammlung wuchs neben der andern auf und wir sahen uns bald so reich, daß wir an eine Herausgabe denken konnten. Da öffnete sich uns plötzlich eine neue, viel näher liegende und unendlich reiche Quelle; wir erkannten, daß wir von Tausenden von Märchenerzählern umgeben waren, an die wir bisher gar nicht gedacht hatten. Wilhelm, welcher Lieutenant in Großherzoglich Hessischen Diensten ist, ließ die Soldaten Mann für Mann aufmarschiren und sagen und singen was sie wußten, Märchen, Sagen, Legenden, Beschwörungen, Aberglauben, Lieder. Da strömte der Segen so reichlich, daß an ein Ausarbeiten kaum mehr zu denken war, weil wir die Hände zum Einsammeln und vorläufigen Ordnen zu sehr gebrauchten. Mit unserm Reichthum wuchs unsere Freude an den verschiedenen Sammlungen. Wilhelm überließ mir die Soldaten; er zog während ich zu Hause sammelte, allein zu unsern alten Freunden im Odenwalde und seine Bemühungen wurden durch manchen kostbaren Fund gelohnt; so trug er u.a. eines Tages zwei der schönsten Märchen, das »von der schönen Schwanenjungfer« und »die eisernen Stiefel« heim.

Die Erzählungen, welche wir von unsern braven Soldaten gewannen, brachten diese theils frisch aus der Heimath mit, theils waren es auch solche, welche sich seit undenklichen Zeiten in dem Heere fortgepflanzt hatten, die an den Wachtfeuern früherer Campagnen bereits erzählt worden waren. Ihr Gebiet umfaßte darum nicht allein Hessen, wir erhielten Traditionen aus allen Gegenden Deutschlands, wo unsere Hessen gewesen waren, und aus denen einst Soldaten vereint mit ihnen gekämpft hatten.

Diese unsere Art hatte für die Sache selbst einen doppelten Nutzen. Unsere Sammlungen wuchsen nicht nur dadurch, auch in den Soldaten selbst wurde die Freude an den Traditionen lebendiger, als sie sich überzeugten, daß Leute der Stände, von denen sie sonst nur Spott über ihre schönen Erzählungen zu hören gewohnt waren, sie gerne hörten und »sogar aufschrieben.« Anfangs scheu, drängten sie sich bald zutraulich zu uns heran und um uns herum, die Sänger und Erzähler meldeten sich von selbst, Wilhelms Stube und Nachbarschaft widerhallte von ihren Liedern, während in der meinigen der goldne Faden der Erzählungen sich reich und immer reicher abspann.

Die Revolution und die Feldzüge der letzten Jahre brachten einen Stillstand in diesen heitern Betrieb. Ich verließ Darmstadt und zog aufs Land, in die Bergstraße. Da fand ich nun keine Spinnstuben, in denen die Traditionen noch frisch blühten, wie im Odenwalde, vielweniger kernhafte Gemüther, welche ihrer zu Hause pflegten; die Bauern meiner Gegend lieben mehr schlechte Zoten und den Schnaps im Wirthshaus. Wenige ältere Leute wurden meine Quellen, so der brave ehemalige Müller Gans in Jugenheim, der zu Hause und auf Feldzügen einen reichen Schatz von Überlieferungen gesammelt hat und dieselben sehr schön und mit größter Treue wieder erzählt, der Schmied Schmidt in Balkhausen, der von seinen Wanderjahren her ihrer eine große Fülle bewahrt. Auch ein Zigeuner, Bletz heißt er, brachte sie mir zu Dutzenden ein und auch aus aller Herren Ländern, doch weiß er genau wo und wann er jedes einzelne Stück gehört hat. Besonders viele dankt er seiner Mutter, welche ihm ebenfalls stets dabei erzählte, bei welcher Gelegenheit sie dieselben gelernt und es ist höchst interessant, ihr und ihm auf die verschiedenen Streifzüge zu folgen, auf denen sie bald um das hochlodernde »Feuer in der vollen Scheune« geschaart sich ruhig erzählen, während der Bauer eine Feuersbrunst fürchtend, ihnen gern die Thür weisen möchte und es doch nicht wagt aus Furcht vor ihrem Fluch; bald in ihren kleinen Karren, die von magern Thieren mühsam fortgezogen werden, Lieder singen, der aus dem Norden, jener aus dem Süden, der aus dem Osten, jener aus dem Westen; bald im Wirthshäuschen unheimlichen Aussehens, wohin sie durch Zeichen an Bäumen und Häusern eigne Wege geführt, sich zusammen finden und ob auch einander unbekannt, doch als gute Freunde sich grüßen und einander erzählen. Stockt oft der Faden, dann erzähle ich selbst und es bedarf höchstens einer oder zweier Sagen, oder eines Märchens, so spinnt er sich wieder weiter. Wiederholt sich dieß Stocken, dann bleibt Bletz weg und ich sehe ihn Monate lang nicht, bis er plötzlich wieder auftaucht und mir frische Sträußer bringt. Im Sommer ist Korbflicken seine Arbeit, im Winter aber thut er wenig oder gar nichts; dann zieht er als fahrender Erzähler in den Spinnstuben herum und ist überall froh begrüßt; gegen den geringen Lohn von 48 Kreuzern erzählt er einen ganzen Abend, die kleine Summe wird von den Burschen und Mädchen zusammen gelegt. Von ihm und den beiden andern vorhin Genannten ist fast ein Drittel der Sammlung nebst zahlreichen Varianten schon bekannterer Märchen. Alle drei sind lebendige Zeugnisse für das, was Wilhelm Grimm in der Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen sagt: »Die noch Märchen wissen, wissen gemeinlich auch recht viel, weil die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen

Noch eines andern Wortes des herrlichen Mannes möchte ich hier gedenken. Er will die von ihm und seinem Bruder Jacob Grimm gesammelten Märchen als Erziehungsbuch betrachtet wissen und sagt: »Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keine Weise verborgen bleiben können, erlangt wird, und wobei man zugleich in der Täuschung ist, daß was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung... Der rechte Gebrauch (des Buches) findet nichts Böses heraus, sondern, wie ein schönes Wort sagt, ein Zeugnis unseres Herzens.« Daß er darin vollkommen recht hatte, beweist die Verbreitung, welche die Kinder- und Hausmärchen fanden und immer mehr finden, der Erfolg, welchen sie gerade als Erziehungsbuch hatten. Tausende von Romanen und Jugendschriften erstanden mit und nach ihnen und verschwanden wieder vom Schauplatz, ohne daß ihrer noch mit einer Sylbe gedacht wurde, während sie in zwei verschiedenen Ausgaben immer wieder neu aufgelegt werden und Alt und Jung, Reich und Arm, Gebildete wie Ungebildete in stets wachsendem Maaße erfreuen.

Über den wissenschaftlichen Werth der Märchen hat sich Wilhelm Grimm in der Vorrede zur sechsten Auflage seiner Sammlung genugsam ausgesprochen; neuerdings kam auch ich ausführlich auf denselben zurück in der Vorrede zu meinen »Beiträgen zur deutschen Mythologie«, wo ich in dem Märchenschatz den alten Mythenschatz unseres Volkes nachwies. Wie dort so möchte ich auch hier dringend bitten, daß jeder der das Glück und den Beruf hat, Märchen sammeln zu können, sich keine Gelegenheit dazu entgehen lasse, »da diejenigen die sie bewahren sollen, immer seltner werden«, da »von den Verkehrtheiten des Lebens die Phantasie immer mehr ausgelöscht« wird. Lasse man sich ja nicht einfallen, daß nichts mehr zu sammeln sei, es liegt noch viel mehr zu sammeln da, als bereits gesammelt worden und auch jede Variante eines Märchens hat ihre hohe Bedeutung. Der Pflanzenkundige forscht sorgfältig nach der Gestaltung jedes Blumenblattes, nach der Bildung jedes Kelches und der grünen Finger, welche den Kelch der Blume halten, ihm ist jede Spielart wichtig und er lernt an ihr die Familie mehr kennen, zu welcher die Blume gehört. Also ist es auch mit dem Märchen; auch es kennt ganze Familien und kein Zug ist so gering, daß der Kundige aus ihm nicht Belehrung schöpfen könnte. Und wir haben da noch so viel zu lernen! Die meisten Märchen sind uns noch Urkunden in Hieroglyphen, deren räthselhafte Züge zu erforschen wir kaum begonnen haben. Wenn irgendwo in der Wissenschaft, dann gilt hier das Wort: »Noch viel Verdienst ist übrig, hab es nur, die Welt wird's anerkennen.«

Sollte dieß Buch sich einer günstigen Aufnahme erfreuen, dann wird ihm bald ein zweiter Theil folgen, zu welchem sich von Tag zu Tage mehr und schönerer Stoff findet.

J. W. Wolf.


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