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Sechstes Kapitel

»Also, offengestanden, ma chère, ich verstehe Sie nicht.« Mademoiselle saß in einem bequemen Stuhl im Zimmer Fräulein von Bernburgs. Die beiden Damen tranken Tee und knabberten Gebäck. Fräulein von Bernburg hatte sich zurückgelehnt und war scheinbar in das Bild vertieft, das über Mademoiselle an der Wand hing. Sie hinderte die Französin nicht, weiterzusprechen, obwohl sie diese Dinge schon oft von ihr gehört hatte. Sie hatte nur ein heiteres Lächeln für das, was Mademoiselle mit soviel Eifer hervorsprudelte.

»Eh bien, Sie sind eine schöne Frau. Sie sind jung. Ja, wie ich höre, haben Sie Vermögen. Sie haben Faszination. Sie sind klug. Sie könnten eine große Rolle in der Gesellschaft spielen. Ich verstehe Sie nicht. Aristokratin. Sie können zu Hof gehen. Sie könnten heiraten ...«

Da lachte Fräulein von Bernburg ihr ins Gesicht. Aber Mademoiselle schüttelte den Kopf.

»Warum lachen Sie, Fräulein von Bernburg? Ich sage die Wahrheit. Sie sind eine Persönlichkeit – und was tun Sie? Sie versauern hier in diesem Militärhaus für Mädchen. Enfin, ich, ich bin alt. Ich war immer Lehrerin. Aber eines Tages nehme ich auch mein Geld und gehe nach Paris. Oh, Paris – das wäre etwas für Sie! Nicht hier sitzen und alt werden und vertrocknen ...«

»Aber liebe alte Nelke, ich bin doch gerne hier.«

»Mais non, niemals – sagen Sie das nicht.«

Nun wird Fräulein von Bernburg ernst.

»Doch, meine Liebe. Nicht nur gern, ich liebe mein Leben so, wie es ist.«

»Mais comment – immer die ungezogenen Kinder, immer die Kesten, immer diese Oberin. Dieu me pardonne – das ist kein Leben.«

»Das ist volles, gutes, herrliches Leben. Ich liebe die Kinder. Ich freue mich über sie.«

»Sans doute, aber – Sie sind doch so streng. Selten lachen Sie mit ihnen und machen Spaß.«

»Das tun sie untereinander genug. Die Kinder brauchen Ernst. Sie müssen einen Halt an uns haben. Wir müssen ihnen die Mutter ersetzen und den Vater zugleich.«

»Aber Sie sind nie intim mit ihnen. Sie halten Abstand. Immer Entfernung.«

Ein Schatten geht über Fräulein von Bernburgs Gesicht.

»Aber nein, ich denke, ich bin ihnen auch eine Freundin, wenn sie's brauchen. Sie wissen alle, daß sie zu mir kommen können, wenn sie es nötig haben.«

»Nun gut, aber Sie selbst. Sie führen ein Leben voll Entsagung – wozu? Es gibt soviel ...« Die kleine Mademoiselle gerät in Erregung.

»Für mich nicht«, sagt Fräulein von Bernburg leise. »Für mich gibt es nur eins: die Liebe der Kinder. Sehen Sie, Mademoiselle, die Kinder brauchen doch jemanden, an den sie glauben können.«

»Ah ça«, und Mademoiselle zuckt die Achseln, »wenn Ihnen das genügt. – Ich war auch einmal jung – ich hätte nichts damit anfangen können, für niemanden ein Ideal zu sein als für kleine Mädchen.«

Fräulein von Bernburg ist aufgestanden, und indem sie ihre beiden Hände auf den Tisch stützt:

»Mir ist es genug, Mademoiselle«, sagt sie ernst. »Ein Ideal ist etwas unerhört Hohes. Ein Ideal zu sein für alle diese armen Mädel, die man so jung unter Fremde schickt – fort von Hause, fort von Geschwistern und Mutter – das wäre das Größte, was ich erreichen möchte.«

Die kleine zerknitterte Mademoiselle hat sich gleichfalls erhoben.

»Sie sind sehr selbstlos, Fräulein von Bernburg. Im allgemeinen sind mir selbstlose Menschen immer ein bißchen verdächtig. Meistens sind sie die Allereigennützigsten. Aber Sie – ich bewundere Sie. Ich kann nicht sehen, wo bei Ihnen der Eigennutz stecken sollte.«

Fräulein von Bernburg ist errötet bis tief unter die Wurzeln ihres schönen, von dem Häubchen der Stiftsdamen nur wenig bedeckten Haares.

»Eigennutz ist gewiß schon in dem Glück, zu lieben, Mademoiselle – und aus diesem Eigennutz begehen wir ja auch Fehler über Fehler.«

Ein schrilles Glockenzeichen.

Die kleine Mademoiselle rafft ihre Handarbeit zusammen. »Die Glocke macht mich verrückt. Glauben Sie, oft möchte ich mir die Ohren zuhalten, bloß um die Glocke nicht zu hören ...«

Und dann, als keine Antwort erfolgt, kopfschüttelnd: »Sie sollen Ihr Herz nicht zu sehr an dieses Haus hängen. Sie werden es auch einmal müde sein – immer die Kinder; sie kommen und gehen – immer an Ihnen vorüber.«

»Ja«, sagt Fräulein von Bernburg und ist in diesem Augenblick nicht imstande zu lächeln, während Mademoiselle ihr im Abgehen die Hand drückt. »Immer an mir vorüber. Das ist wahr. Aber ich vergesse sie nicht. Und einige von den Kindern, glauben Sie mir, Mademoiselle«, und zum ersten Male gerät ihre beherrschte Stimme in ein seltsames Zittern, » einige werden auch mich nicht vergessen!«

Es war Religionsstunde. Die erste Stunde am Tag, die täglich Fräulein von Bernburg der III. Klasse selber gab. Es war totenstill im Raum. In dieser Stunde wurde kein Unfug getrieben. Aufrecht stand Fräulein von Bernburg vor der Klasse und hörte ein Kirchenlied ab, das die Aufgabe des heutigen Tages war. Gewohnt glatt sagte man das Lied auf. Jedes der Kinder lernte gut, das war selbstverständlich. Manuela sah in Fräulein von Bernburgs Gesicht. Sie wartete, daß auch Fräulein von Bernburg einmal nach ihr hinsehen würde, aber es geschah nicht. Alle rief sie auf, nur Manuela nicht. Warum? Lelas Augen bekamen einen grenzenlos sehnsüchtig-traurigen Ausdruck. Nervös spielten ihre Hände mit dem Lineal. Sie war so weit weg. – Da klang es: »Manuela!«

Schnell riß sie sich auf.

»Dritte Strophe.«

Manuela schwindelte es. Der ganze Raum drehte sich.

»Oh, daß ich tausend Zungen hätte ...«

begann sie. Ach nein, das war ja die erste Strophe – die dritte – die dritte ... Richtig:

»Was schweigt ihr denn, all meine Kräfte ...«

Weiter – weiter! Sie fühlte Fräulein von Bernburgs Blick auf sich, sie hörte auch, daß Ilse neben ihr etwas flüsterte. Aber sie verstand nichts, sie sah starr in Fräulein von Bernburgs Gesicht und hatte alles vergessen.

Fräulein von Bernburg sah sie traurig an, nahm ihr Buch hervor: »Wieder nichts gelernt!« – und Lela konnte sich setzen.

Lela hatte ununterbrochen das Gesangbuch in der Tasche. Zu jeder Gelegenheit am Tage lernte sie. Des Nachts bewahrte sie das Buch unter ihrem Kopfkissen auf. Wenn sie sich des Morgens ankleidete, lernte sie. Aber sobald Fräulein von Bernburg »Manuela!« rief, war alles wie weggeblasen. Dann war ihr Kopf leer, waren ihre Knie weich, ihre Hände kalt und feucht.– Wenn sie es ihr nur einmal sagen könnte. – Sie wartete auf den Abend. Sie wiederholte es sich hundertmal, was sie sagen würde und wie sie es sagen würde. Daß sie nichts dafür konnte, daß es nur die Angst war, und daß sie doch so viel, viel lernte für sie, nur daß es nichts nützte. Zitternd kniete sie in ihrem Bett. Fräulein von Bernburg hatte das Licht abgedreht und ging leise von einer zur andern. Noch zwei Betten, und dann war sie bei ihr, Lela. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie gab sich selber ihr Ehrenwort, daß sie jetzt »alles sagen« würde. Und – breitete die Arme aus und warf sich, alle Kraft verlierend Fräulein von Bernburg um den Hals, die fast das Gleichgewicht verlor und erschrocken das zitternde Kind festhielt.

»Aber Manuela, Manuela«, sagte sie leise und beschwichtigend. Zart versuchte sie, die Arme um ihren Hals zu lösen. Lela griff gierig nach den Händen, sich an das erinnernd, was sie sich doch vorgenommen hatte, und drückte ihr heißes Gesicht hinein. Die Hände wehrten sich nicht. Sie ließen geschehen. Sie nahmen das tränennasse Gesicht des Kindes auf, und Fräulein von Bernburg beugte sich herab und küßte den bebenden Mund.

»Ruhig, Manuela!« – Ihre Hand streichelt den Kopf, der auf ihrer Schulter gebettet liegen bleibt, und das Kind ahnt nicht, daß sie selber in diesem Augenblick vielleicht noch viel mehr des Trostes bedürfe.

»Ruhig, mein Herz – nicht so aufgeregt sein!«

Und vorsichtig nimmt sie Manuelas Schultern und drückt sie hinab auf ihre Kissen.

»Schlaf gut.« – Und von Lela kommt ein leises »Danke«. –

Seit Wochen brachten die Vorbereitungen zum Geburtstag der Oberin Abwechslung in das Einerlei des Lebens. Wie alljährlich sollte an diesem hohen, in den Mai fallenden Tag eine Festvorstellung der Schülerinnen stattfinden, und diesmal war einem ungeschriebenen Gesetz zufolge – Mademoiselle Œuillet an der Reihe, den Kindern die Aufführung eines französischen Stückes einzustudieren. Nach langem Zögern war ihre Wahl auf Voltaires Zaïre gefallen, ein klassisches Stück, das sich durch Schwung der Verse und Ritterlichkeit der Gesinnung auszeichnete, ohne Probleme aufzurollen, die dem jugendlichen Alter der Darstellerinnen allzu fernlagen.

Die Lehrerinnen ließen in diesen Wochen ein wenig in ihren strengen Lernanforderungen nach. Überall, wo man ging und stand, traf man auf Kinder, die eifrigst studierten und memorierten.

Manuela, die Mademoiselles besonderer Liebling schien, war die Rolle des Kreuzritters Nérestan zugefallen, dessen von Edelgard zu verkörpernde Schwester Zaïre von Orosman, dem in Jerusalem herrschenden Sultan, gefangengehalten wurde. Der Part des leidenschaftlich liebenden und keinem Christen an Edelmut nachstehenden Orosman war Ilse zugedacht worden, und sie deklamierte unaufhörlich mit fürchterlich blitzenden Augen die lang rollenden Alexandriner der französischen Dichtung.

Selbst im Garten, wo die Kinder gelegentlich mit Umgraben und Jäten beschäftigt wurden, setzte man die wilden Proben voll Eifer fort. Man vergaß die Arbeit und geriet in Hitze. Selbst Edelgard, die noch vor kurzem vor Frühlingsheimweh immer wie in einem Flor von Tränen gestanden hatte, ließ sich mitreißen.

Manuela stand auf der Bank und reckte den Arm hoch in die Luft. Den einen Fuß ritterlich vor sich hingestellt, den Spaten, mit dem sie eben noch Erde umgeworfen hatte, wie ein Schwert gepackt, skandierte sie laut und begeistert, wie berauscht vom Wohlklang der Silben:

»Vous, le sang de vingt rois, esclave d'Orosman!
Parente de Louis, fille de Lusignan,
Vous, chrétienne et ma sœur, esclave d'un soudan ...!«

Sie schwieg – sie wartete. Jetzt hätte Edelgard einzusetzen gehabt, die schöne Zaïre, dem Moslim Orosman in Liebe zugetan und schon bereit, seine Gattin zu werden. Aber Edelgard überhörte ihr Stichwort. Edelgard und Ilse, sah Manuela wie erwachend, Edelgard und Ilse lachten.

»Was ist denn? War es so schlecht?« fragte sie ängstlich.

»Ach, Lela, du bist ja zum Schießen!« Ilse bog sich. »Du sprichst ja wie eine Schauspielerin – mach jetzt mal richtig, ja?«

Aber Lela wirbelte den Spaten in der Luft umher. Ihre Haare waren unordentlich und nahe daran, sich zu lösen. Ihr gerötetes Gesicht der Sonne entgegenhaltend, rief sie: »Ach was, ich kann das nicht anders sagen, ich bin ja viel zu froh! Alles ist so schön, der Garten und die Sonne und ihr und alles. Und ich werde jetzt zum ersten Male im Leben so sein können, wie ich bin.«

Sie sprang von der Bank und legte ihren Arm um Edelgard.

»Du, Edel, stell dir doch nur mal vor: so, die Haare offen und das silberne Hemd, und das Trikot in Silber, kein Rock! – und dann steh' ich so da, und dann sagt Oda zu mir:

»O brave Nérestan, chevalier généreux,
Vous qui brisez les fers de tant de malheureux ...«

Selig warf sie die Arme in die Luft: »Kinder, ich muß ihr doch gefallen! – Dann, wenn ich so lachen und weinen kann wie nie – so frei, so ...«

»Na, hör mal«, wirft Ilse bedenklich ein: »Lachen und weinen kannst du doch so auch.«

»Nie genug, Ilse. Nie so, wie wenn man vorgibt, ein anderer zu sein und doch man selber ist.« Und näher tretend zu Ilse, leiser: »Du, Ilse, glaubst du, daß Fräulein von Bernburg was vom Theater versteht?«

»Keine Ahnung hat sie!«

»Ach, Ilse ...« Manuela ist ernstlich betroffen.

»Wenn ich es dir sage!« beharrt Ilse, sich an Manuelas Enttäuschung weidend. »Neulich, wie sie meinen Schrank revidierte, sagte sie: »Na, Ilse, komischen Geschmack hast du lauter männliche Schauspieler.«

»Ach, das hat doch gar nichts mit dem zu tun, was ich meine.«

»Unsachliches Urteil ist das. Jawohl.«

Das pausbäckige Dienstmädchen Johanna schleppt einen schweren Korb mit Wäsche die Treppe hinauf. Auf jedem Absatz bleibt sie stehen und macht eine kleine Pause. Dann betritt sie den Schlafsaal Nummer I und legt auf jedes Deckbett ein Paket mit frisch gewaschener Wäsche. Als sie vor Bett Nummer 55 steht, verweilt sie, kramt in Manuelas Sachen, hält ein Nachthemd gegen das Licht, prüft die Strümpfe und legt schließlich alles mit einem Seufzer wieder zusammen hin. Langsam geht sie aus dem Zimmer.

Fräulein von Bernburg hört ein Klopfen an ihrer Tür.

»Herein«, ruft es von drinnen, und als Fräulein von Bernburg, die allein sitzt und am Schreibtisch beschäftigt ist, sich halb umwendet, setzt Johanna linkisch an:

»Ich habe die Wäsche gebracht, Fräulein von Bernburg.«

»Gut, Johanna, dann können Sie gehen.«

Aber Johanna steht da und geht nicht, sondern fährt fort:

»Fräulein von Bernburg ...«

»Ja, was ist, Johanna?«

»Ich wollte nur noch sagen, die Wäsche von Nummer 55, die ist gar nicht mehr schön.«

»So.«

»Ja – ganz kaputt.«

»Na, dann wird Nummer 55 sie schon stopfen.«

Johanna ist in Verlegenheit. Sie nimmt allen Mut zusammen.

»Ich würd's gern machen für Fräulein Manuela.«

»Ach, Unsinn, Johanna! Sie haben selber genug Arbeit. Sie brauchen nicht auch noch anderer Leute Arbeit zu tun.«

»Aber für Fräulein Manuela tat' ich's gern.«

»So?«

»Ja – ich weiß nicht – sie ist so'n liebes Kind – und dann, sie tut mir leid. Sie weint so viel in der Nacht. Das Kopfkissen ist morgens oft ganz naß.«

Fräulein von Bernburgs Stimme wird abweisend. »Ach, Johanna, das bilden Sie sich ja ein.«

»Nein, gewiß nicht – sie wird wohl Heimweh haben.«

»Ja, wahrscheinlich.«

Einen Augenblick ist alles ruhig. Johanna wartet und knüllt ihre Schürze in den Händen, Fräulein von Bernburg scheint nachzudenken. Dann wendet sie sich zu dem Mädchen:

»Holen Sie mir mal die Wäsche von Nummer 55 her.«

Johannas gute Augen leuchten auf, nun, da sie erreicht hat, was sie wollte. Sie läuft zurück zum Schlafsaal, packt fieberhaft Manuelas ganzen Wäschehaufen auf ihre Arme und legt ihn, jedes Stück mit einem gerührten Gemurmel, Fräulein von Bernburg vor.

Fräulein von Bernburg untersucht eingehend die Sachen, die Johanna ihr reicht.

»Sagen Sie Fräulein von Meinhardis, sie möchte zu mir heraufkommen. Sie ist jetzt im Garten.«

»Ach, gern, Fräulein von Bernburg!« Johanna, erlöst, hat im Eifer einen richtigen Knicks gemacht und ist davongestürzt.

Ganz außer Atem richtet sie den Befehl aus, und Manuela, von Edelgard begleitet, steigt zögernd die Treppe hinauf.

»Du, Edelgard, was kann sie nur von mir wollen? Ich hab' furchtbare Angst.«

Vor der Tür angekommen, möchte sie am liebsten wieder umkehren.

»Du, wenn nur nicht irgendwas Schlimmes los ist! Wenn sie nur nicht böse ist. – Edelgard – nein ...« Sie hält Edelgard, die durch Anklopfen dieser Szene ein Ende machen will, die Hand fest.

»Nicht, du, wart noch einen Augenblick!« Und indem sie notdürftig ihre Haare glättet, gewinnt sie Zeit.

»Aber, Lel, sie wartet doch!«

»Ja«, Manuela nimmt eine aufrechte Haltung an, und Edelgard klopft für sie an die Tür.

Einen Augenblick bleibt Lela an der Tür stehen. Sie wartet auf ein Wort. Fräulein von Bernburg wendet ihr, schreibend, den Rücken.

»Komm mal her«, sagt sie dann in trockenem Kommandoton. Und Lela gehorcht und steht neben ihr am Schreibtisch. Dann hebt Fräulein von Bernburg den Kopf.

»Sag mal, Kind, hat man dir denn keine neue Ausstattung gegeben, als du ins Stift kamst?«

»Nein, Fräulein von Bernburg.« Manuela schämt sich.

»Wo warst du denn – damals?«

»Zu Hause, Fräulein von Bernburg. Unsere Hausdame meinte, es ginge noch.«

Fräulein von Bernburg nimmt ein Taghemd auf und hält es zwischen sich und Manuela in die Luft. Die Achseln sind abgerissen, ein großes dreieckiges Loch ziert den unteren Teil. Die spärliche Spitze ist in Fetzen. Fräulein von Bernburg lächelt.

»Und was meinst du

Über Manuelas Gesicht gleitet ein scheues Lächeln.

»Es geht nicht mehr, Fräulein von Bernburg.«

»Ja, wirklich, das geht nicht mehr. Wenn wir damit die Tafel in unserer Klasse abputzen ...«

Manuela lacht: »Dazu ist's gerade gut.«

»Aber du hast dann ein Hemd zuwenig.«

Fräulein von Bernburg steht auf und geht zum Schrank. Nach einigem Suchen hat sie, was sie braucht, gefunden. Sie kehrt mit einem Taghemd zurück und hält es Lela hin. »Die Achseln mußt du dir etwas einnähen, es wird ein bißchen groß sein, aber du wächst ja noch.«

Manuela hält, was sie ihr reicht, mit beiden Händen an sich gepreßt. Tränen der Freude stürzen ihr in die Augen.

»Für mich? Nein, das kann ja gar nicht sein!« stammelt sie. »Tausend, tausend Dank! Aber das ist doch viel zu schade für mich!«

Fräulein von Bernburg lacht, als sie Manuelas Freude sieht. Sie läßt es auch geschehen, daß Manuela nun ihre Hand an sich reißt und sie küßt. Aber als Manuela weitersprechen will, versagt ihr die Stimme. Ohne sich halten zu können, schluchzt sie auf, und Fräulein von Bernburg stützt das wankende Kind mit ihren Armen. Diese freundliche Bewegung nimmt Manuela die letzte Fassung. Fräulein von Bernburg führt sie zu einem Sessel und setzt Manuela nieder. Wortlos wartet sie, bis Lela einigermaßen zu sich kommt.

Lela ringt nach Fassung. Noch immer schluchzend und stockend will sie sich entschuldigen: »Ich weiß wirklich nicht, warum ich weine. Ich bin gar nicht unglücklich. Wirklich nicht.«

Und sich die Augen wischend, die immer wieder naß sind, sieht sie betreten zu Fräulein von Bernburg auf.

»Wein dich nur aus, Kind. Das schadet nichts. Aber – sag mal – hast du das öfters? Hast du Heimweh?«

»Heimweh?« fragt Lela ganz erstaunt. »Nein.«

»Und du mußt einfach so ohne Grund auf einmal ...« Fräulein von Bernburgs Stimme ist warm, ernst und liebevoll.

»Ja, ich weiß nicht ... Ach, heut bin ich doch gerade so froh – aber manchmal ...«

Fräulein von Bernburg hat sich einen Stuhl neben den Manuelas gezogen und sich ganz dicht zu ihr hingesetzt. »Manchmal?« fragt sie sanft.

Aber Manuela will nicht sprechen. Das, was zu sagen wäre, kann man doch ihr, gerade ihr nicht sagen. Fräulein von Bernburg wartet, dann, etwas enttäuscht:

»Hast du denn kein Vertrauen zu mir?«

»Ach, doch!« stottert Manuela. »Aber das, das ist sehr schwer zu sagen.«

»Willst du's mal versuchen? Wenn ich dir sage, daß ich es sehr, sehr gerne wissen möchte?«

Lela hält das Hemd fest umklammert und blickt in ihren Schoß:

»Wenn ich abends zu Bett gehe und Sie die Tür zumachen, dann habe ich – solche Sehnsucht, weil Sie nicht mehr da sind, und ich muß immer auf die Tür starren, und dann denke ich, das darf ich nicht, und halt' mich fest am Bett!«

Fräulein von Bernburg ist aufgestanden und wendet Manuela den Rücken zu. Manuela blickt ihr nach:

»Immer sind Sie so weit weg, immer so fern, nie kann man bei Ihnen sein und nie Ihre Hand fassen und Sie küssen, nie nah sein!«

»Aber, Kind – sag mal ...«

Allein Lela läßt sie gar nicht mehr zu Worte kommen. Zu lange hat sie dies alles zurückgedrängt. Beide Arme um die Hüften der vor ihr stehenden Frau, läßt sie die Worte aus sich hervorstürzen.

»Ich kann, ich kann nicht anders. Ich liebe Sie, liebes Fräulein von Bernburg! Ich liebe Sie, so, so sehr wie meine Mutter – ja und noch viel, viel mehr! Wenn ich Ihre Hände sehe, zieht es mich hin, sie zu fühlen. Ihre Stimme, wenn Sie rufen, packt mich, reißt mich – ich kann nichts dafür, ich liebe, liebe Sie!«

Jetzt nimmt Fräulein von Bernburg energisch die Hände des Kindes und befreit sich. Sie geht durchs Zimmer, weit fort, bis an die Wand, und Lela verfolgt sie, erschrocken über das, was geschehen ist, mit den Blicken.

Dann hat Fräulein von Bernburg sich gefaßt:

»Hör mal zu, Manuela. Das alles darf ich mir gar nicht anhören, was du mir da erzählst. Ich glaube, du übertreibst das jetzt, ohne es vielleicht selber zu wollen. So schlimm kann das alles nicht sein. Du mußt dich zusammennehmen. Man muß sich beherrschen können. Verstehst du? Jeder Mensch muß sich beherrschen können, Manuela. Ich beherrsche mich auch!«

Groß schlägt Manuela die Augen auf. Sie ist zu kindlich, um auch nur zu ahnen, welch schweres Geständnis die Frau da drüben ihr eben gemacht hat. Sie hat nur die Zurechtweisung gehört, und sie beugt sich. Zitternd und mit einem letzten Aufschluchzen gibt sie ihr Versprechen:

»Ja, Fräulein von Bernburg!«

»Und dann will ich dir etwas sagen, und du mußt das ganz vernünftig aufnehmen.«

Fräulein von Bernburgs Stimme ist sanfter geworden, und sie nähert sich wieder dem Kinde:

»Ich habe dich sehr lieb, Manuela. Und doch kann ich mich nicht um dich mehr kümmern als um die anderen, das weißt du doch. Aber wenn dir mal was fehlt, dann darfst du immer zu mir kommen.«

Leise nimmt sie Lelas Kopf, ihre Hand hält Lelas Kinn in die Höhe, so daß beide sich in die Augen sehen:

»Bist du nun zufrieden?«

»Danke, tausend Dank!« Und noch einmal küßt Lela leise und ehrfürchtig die geliebte Hand, diese schöne Hand, die so duftet nach Lavendel und Mutter.

 

Lela ist bis zur Treppe gegangen, und da bleibt sie stehen. Rechter Hand ist ein Fenster. Von da sieht man weit hinaus über die benachbarten Baumwipfel hinweg. Die Mauer, die den Stiftsgarten umschließt, sieht man gar nicht. Wieder, nur stärker als schon einmal vorher, hat sie das Gefühl, bisher gar nicht gelebt zu haben. Nur wenn man dieses Gefühl der Auflösung hat, nur wenn man anscheinend gar nicht da ist, sondern in einem anderen Wesen aufgeht, ist man ganz. Wenn sie nun die Treppe hinuntergeht, wird sie wieder ganz nur Lela sein, und das will sie nicht. Ihre Hände halten die weiße Leinwand, sie preßt das kühle Tuch an sich, um sich zu beweisen, daß sie nicht träumt. Sie will sich am liebsten gar nicht rühren, um den Duft des Zimmers und der Frau nicht von sich zu schütteln, und um nichts zu zerstören, was doch eben noch wahr gewesen ist.

Vorsichtig nimmt sie Stufe für Stufe und wartet, ob sich ihr Zustand verändert. Nein, es bleibt. Sie geht hinab, aber sie bleibt dabei oben im Zimmer, in dem Sessel sitzend, ihre Arme um Fräulein von Bernburg. Das ist wirkliche Wirklichkeit. Das, was hier hinabsteigt und ins Schrankzimmer geht und den Schrank öffnet, das ist nicht sie, das ist Traum.

Lela faltet ihr Geschenk zusammen und legt es wie ein Heiligtum in den Schrank. Jetzt schrillt die Glocke, Oda, Ilse, Lilly und Edelgard stürmen herein. Das Leben geht weiter. Lela fühlt sich gar nicht gestört. Das alles scheint keine Beziehung zu ihr zu haben und hindert sie gar nicht, da zu bleiben, wo sie eigentlich ist. Im Sessel, in einem Zimmer, oben im vierten Stock.

 

Bei der alten Marie in der Garderobe sieht es schlimm aus. Kartons, die die dicke Last nicht tragen können, mit Staub bedeckt, aus Bodenkammern hervorgeholt, platzen und lassen goldene Tressen, weißen Mull, froschgrüne Seide und knallrote Fetzen herausquellen. In jeder Pause rennen die Mädel die Treppen hinauf, werfen ihre Uniform ab und schlüpfen in phantastische Hüllen. Die schwarzhaarige Oda mit den nie ganz geöffneten Augen steht nachdenklich vor dem Spiegel. Das hellgraue Trikot und rote enge Wams des Ritters Châtillon stehen ihr herrlich. Ein weißer Spitzenkragen zwingt sie, das Kinn hoch zu tragen, ein breiter Ledergürtel hängt lose um ihre schmalen Hüften, und ernst spielt ihre Hand am Degenknauf. Lela ist hinter sie getreten. Lela ist ganz in hellem Silber. Oda betrachtet die Gestalt hinter sich im Spiegel, und als sei das nur gespielt, legt sie einen Arm um Lela und zieht sie zu sich heran.

»Du, weißt du, Lel, daß du schön bist?«

»Ach, Oda ...«

»Nein, im Ernst. Sieh dich mal ganz genau an. Außerdem bin ich nicht die einzige, die das sagt. Meine Schwester, die gestern hier war, hat auch von dir gesagt, daß du mal eine aparte Schönheit wirst.«

Lela durchfuhr es mit brennendheißer Freude, aber sie wollte es nicht zeigen. Sachlich fuhr Oda fort:

»Sieh doch mal deine Beine an – wunderbar gewachsen.« Und Oda fuhr mit der Hand daran herab, wie Männer, die Pferde mustern.

»Aber Oda, laß!« Manuela schämte sich.

»Und deine Hüften sind so fabelhaft schlank. Sehr, sehr knabenhaft. Deine Taille kann ich mit meinen Fingern umspannen, wenn ich will« – und Oda tat es.

»Aber Oda, du kneifst mich ja.«

Im Hintergrund kicherte etwas. Beide fuhren herum. Marie krächzte:

»Nee, nee, lassen Sie sich nicht stören, meine Damen! Warum sollen Sie sich nicht gegenseitig mal 'n bißchen angucken!« Und wieder kicherte sie. Den beiden war die Lust vergangen. Schweigend streiften sie die Kostüme ab, zogen die Uniform über, banden die steifen Schürzenbänder zur vorschriftsmäßigen Schleife und betraten Arm in Arm die Treppe. Plötzlich packte Oda Lela fest und wild in die Arme und drückte ihren Mund auf den Lelas.

»Du, du – du gefällst mir.«

Odas Hände schlossen sich wie Eisen um Lelas Brust. »Du, laß uns Freundschaft schließen! Laß mich bei dir sein, bitte, du, bitte!«

Lela kämpfte wütend gegen Oda an, so daß Oda taumelte und sich am Treppengeländer festhielt. In Lelas Augen standen Tränen der Empörung und Wut. Rot im Gesicht, zischte sie Oda an: »Du – laß das sein, ja?« Fieberhaft brachte sie ihre herabgerutschte Schürze in Ordnung und faßte an ihre Haare, die am Herabgleiten waren. Oda war stehengeblieben, und unerschüttert betrachtete sie Lela.

»Du Kindskopf du – bist ja doch froh, wenn ich dich anrühre!«

»Nein, nein, das ist nicht wahr!«

»Na – dann vielleicht, wenn jemand anders dich anrührt?«

Und listig, leise die Wirkung beobachtend: »Vielleicht – Fräulein von ...«

Weiter kam sie nicht. Manuela stampfte mit dem Fuß auf den Boden, und es fehlte nicht viel, so hätte sie sich auf Oda gestürzt. Da kam von unten die Stimme von Mademoiselle:

»Est-ce qu'on parle français là-haut?«

Und verstummt gingen beide die Treppe hinab.

Jeder Schrank hatte zwei Abteilungen. Links diejenige, wo man Kleider aufhängen konnte, und darüber ein Hutfach und rechts viele Fächer übereinander, wo Wäsche, Strümpfe, Extraschuhe und in den Mittelfächern Familienbilder und sonstige Andenken untergebracht werden durften. Nähzeug, Handarbeiten, auch harmlose Spiele hatten hier ihren Platz. Auch diese Fächer waren bei manchen Kindern mit buntem Papier austapeziert. Der Schrank war die Heimat, das einzige Private, was man besaß. Abends, vor der Andacht, war eine Pause, wo man sich mit dem Schrank beschäftigen konnte. Da im Schrankzimmer keine Stühle, sondern eben nichts als Schränke waren, einer neben dem anderen, ohne Zwischenraum, nur schmale Gänge, so blieb einem nichts anderes übrig, als sich in den Schrank zu setzen. Die kurzen Kleider, die an Haken hingen, reichten nicht bis hinunter, so konnte man gut im Kleiderabteil sitzen und die Beine in den Gang hinausstrecken oder sie türkisch an sich ziehen.

Manuela räumte alle Fächer um. Da war ein Gegenstand, der in die richtige Umgebung kommen mußte. Ilse saß in ihrem Schrank und war hinter einem aufgeklappten Nähkasten heimlich damit beschäftigt, ihre Ringe und Armbänder für den Sonntag blank zu putzen.

»Du, Manuela«, flüsterte sie nach dem Nebenschrank hinüber. »Mir ist was Feines geglückt«, und noch leiser fuhr sie fort: »Du, ich habe einen tollen Brief durchgeschmuggelt. Einen, der sich gewaschen hat, sag' ich dir.«

»Aber Ilse, wie hast du das denn gemacht?«

»Ach, ich hab' die Köchin getroffen, die hat heute Ausgang. Ich hab' ihr das Kuvert vorn in den Busen gesteckt. Sie hat gequietscht. Und dann hab' ich ihr für die Besorgung meine allerschönste Postkarte geschenkt, weißt du, die, wo drunter stand: »Le Baiser« – wo die Dame im Ballkleid auf dem Sofa saß und der Herr im Smoking sich über sie beugte und sie abknutschte. Liese fand das fein.«

»Was hast du denn geschrieben?«

»Alles, alles, was ich so auf dem Herzen hatte! Daß der Fraß ein Schlangenfraß ist und ich immer Hunger habe. Daß mir die viele Beterei zum Kotzen ist. Daß es immer so kalt ist und wir frieren. Daß wir, wenn wir unwohl sind, uns nicht hinlegen dürfen usw. usw. Ach, Kinder, mir ist richtig wohl. Wenn mein kleiner Papa das zu lesen kriegt, dann wird er sicher Mitleid haben, und wenn er mich nicht gleich 'rausnimmt aus dem Lokal, dann wird er mir doch jedenfalls was zu futtern schicken. Mensch, dann machen wir ein tolles Nachtfest! Ich freu' mich schon drauf.«

Wenn Pakete von Angehörigen kamen, wurden sie geöffnet, und der Inhalt wurde der Empfängerin gezeigt, aber nicht übergeben, sondern aufgehoben für den Sonntag, wo alles Eßbare ratenweise an sie ausgeliefert wurde. War man geschickt wie Ilse, so konnte man auch mit Hilfe des Herrn Alemann, der gegen Prozente nicht abgeneigt zur Beihilfe war, einiges beiseite schaffen.

»Wenn das bloß nicht 'rauskommt, Ilse!« meinte Lela zaghaft.

»Ach was, höchstens fliege ich – na, dann habe ich ja erreicht, was ich wollte. Mir Wurscht.«

»Aber was willst du denn machen, wenn du nun fliegst?«

»Ich machen? – Gott, ich weiß nicht! Ich möchte bald heiraten, allerdings keinen Infanterieoffizier, die sind zu langweilig. Am hübschesten finde ich die Husaren. Natürlich kann es auch ein Schauspieler sein. – Und du, was möchtest du, Lela?«

»Ich – ich heirate doch nicht.«

»Warum denn nicht?« Ilse ist verblüfft.

»Ich weiß es nicht.«

»Na, dafür mußt du doch einen Grund sagen können.«

»Ich mag Männer nicht.«

»Ach, ich schon – du. Du kennst eben keine richtigen.«

»Doch.«

»Und hat dich mal einer verehrt?«

»O ja!« – Fritz, denkt Lela, und es wird ihr ganz wehmütig ums Herz.

»Na – und? War das nicht nett?«

»Ja, aber heiraten ist doch was anderes.«

»Natürlich, noch viel netter. Mich hat mal einer ganz doll abgeküßt, du, ich hab' mich zwar gewehrt, aber schön war's doch.«

»Bitte, hör auf, Ilse, mir wird schlecht.«

»Aber was willst denn du später machen, wenn du nicht heiraten willst?«

»Weiß nicht, wahrscheinlich allein bleiben.«

Ilse schüttelt den Kopf, erhebt sich und nimmt stumm von der Schrankwand eine Postkarte ab. Die Karte stellt ein rotes Mohnfeld dar mit einer Mädchengestalt, die, blind, mit einem Stock ihren Weg hindurch sucht. Ilse reicht die Karte Manuela hin. Lela blickt auf, nimmt das Bild, besieht es lange und sagt freundlich:

»Danke schön, Ilse.«

Ilse reicht ihr auch einen Reißnagel, und Manuela befestigt das Bild an ihrer Schranktür.

 

Frau Oberin sitzt am Schreibtisch und ist damit beschäftigt, die Zeitung zu lesen. Fräulein von Kesten steht abwartend daneben. Endlich legt Frau Oberin die Zeitung weg, und das »Kaninchen« darf sich zum drittenmal, seit sie das Zimmer betrat, verbeugen. »Kaninchen« hält eine Mappe in der Hand. Vor dem Blick, der auf sie fällt, knickt sie zusammen.

»Die Rechnungen – zur Unterschrift – Frau Oberin.«

Gnädig nimmt Frau Oberin die Mappe entgegen. Ohne Kneifer geht es nicht. Frau Oberin entnimmt ihrer Taille, dort, wo sie sich über den Busen mit vielen kleinen Perlmutterknöpfen schließt, den Kneifer und setzt ihn auf.

»Hm.« Sie haut einen Stempel, der ihre Unterschrift trägt, unter ein Blatt. »Sparen, Kesten, sparen.«

»Jawohl, Frau Oberin«, und Fräulein Kesten knickt zusammen.

»Die Fleischerrechnung ist zu hoch.«

»Wir tun das Äußerste, Frau Oberin.«

»Äußerste?« kommt es zweifelnd vom Schreibtisch her. Fräulein von Kesten windet sich.

»Die Wahrheit zu sagen, Frau Oberin: Die Kinder klagen manchmal über Hunger.«

»Hunger?«

Empört hat Frau Oberin den Kneifer von der Nase genommen und mustert das arme »Kaninchen«, das schon bereut, etwas so Unerhörtes gesagt zu haben.

»Hunger? Kinder klagen immer – haben immer was auszusetzen. Davon dürfen Sie gar keine Notiz nehmen, Kesten. Und dann: Hungern stärkt den Charakter. Nur keine Verweichlichung – das können wir nicht gebrauchen!« – und laut fährt der Stempel auf ein anderes Blatt.

»Jawohl, Frau Oberin.« Und zaghaft: »Ich dachte nur ...«

»Nicht denken, meine Liebe. Gehorchen! Wir Preußen sind groß geworden durch Gehorchen. Nicht durch Völlerei.«

»Wie wahr, Frau Oberin! Wie wahr!« haucht das ergebene kleine Fräulein. Sie nimmt die Mappe entgegen und flüstert diskret:

»Darf ich wegen der Theateraufführung noch einiges ...«

»Na also, schießen Sie los.«

»Hier ist die Liste der einzuladenden Damen. Und hier das Menü – und dann eine kleine Rechnung für die Dekoration ...«

Frau Oberin mustert alles eingehend.

»Schön, ja – was heißt Menü? Bowle – aber wieso denn? Die Leute in der Küche werden doch nicht auf einmal Neuerungen einführen wollen. Seit Jahr und Tag gibt's hier ein winziges Glas Schwedenpunsch – und Schluß.«

»Zu Befehl, Frau Oberin.«

»Na, und dann – dann sorgen Sie diesmal dafür, daß die Kinder nicht zu laut werden. Die können sich weiß Gott auch amüsieren, ohne soviel Lärm zu machen.«

»Gewiß, Frau Oberin. Ganz recht, Frau Oberin.«

»Sagen Sie mal, Kesten, können wir nicht Kohlen sparen? Es ist hier immer überall viel zu heiß.«

»Frau Oberin, es ist draußen wieder so kalt geworden. Und in den Klassen muß doch stündlich gelüftet werden, und bis es dann wieder warm ist ...«

»Macht nichts. Nicht verweichlichen die Kinder! Und dann passen Sie doch mal auf, daß unsere Krankenzimmer nicht immerzu voll sind. Das ist doch alles Unsinn. Ich war in meinem ganzen Leben nicht krank.«

Das Kaninchen warf gegen ihren Willen einen Blick auf die kranken Füße der Oberin. Schnell wollte sie die Sünde gutmachen.

»Frau Oberin haben eine wunderbare Konstitution!«

»Ach was – Konstitution! Einen Willen muß man haben! Sich zusammennehmen können! Diese ewige Husterei von den Kindern bei der Andacht zum Beispiel ist einfach Ungezogenheit. Ganz überflüssig, sagen Sie ihnen das, Kesten – energisch.«

»Gewiß, Frau Oberin, ich werde ...«

»Sie werden und werden und immer werden Sie. Aber ich kann mich abstrapazieren und immer wieder dasselbe sagen: Straffer die Zügel halten, Kesten – straffer ...«

Frau Oberin erhebt sich, und Kesten, entlassen, geht, so gut sie kann, rückwärts zur Tür, um mit einem: »Vielen Dank, Frau Oberin« zu verschwinden.

 

»Nee, nee, nu laß doch bloß ... Da stimmt wat nich mit den Brief.« Und Herr Alemann läßt Frau Alemann nicht aus der Stube. »Det is mit Bleistift jeschrieben un denn allet so vawischt, det man nischt mehr lesen kann, un denn von de Post zurückjeschickt. Ick sage dir, det is een jeschmuggelta Brief – so wahr icke Alemann heeße.«

»Wenn er jeschmuggelt is, denn jibst du ihn erst recht her, Alemann. Det is Vorschrift. Und Vorschrift is Vorschrift.«

Herr Alemann legt den Kopf schief. Er besieht die Rückseite des Briefes. Absender Ilse von Westhagen, ist deutlich zu lesen.

»Jott, Bettiken, wenn bloß de kleene Westhagen keenen Krach kriegt – nee, det Kind tut ma leid. Warum soll denn nu so'n armet Ding nich mal an Muttern schreiben dürfen, wie ihr der Schnabel jewachsen is?«

Bettiken ist anderer Ansicht.

»Det jeht dich un mich jar nischt an. Wat hier von de Post abjejeben wird, det wird abjeliefert. Und wenn et 'ne Bombe is, vastehste?«

»Jaja, ick weeß ja – aba et jibt doch Fälle, wo det mit die Pflicht nich so janz klar is. Zum Beispiel im Krieg, wenn da nu een Soldat ...«

Weiter kam er nicht. Das Haustelefon schrillte, und Frau Alemann, die sich schneller bewegte als er, war schon am Apparat:

»Jawohl, Fräulein von Kesten! – Die Minute jekommen, de Post – jawohl, ick bring se.« Und abhängend: »Die weeß janz jenau, wann de Post kommt.«

Alemann ist betroffen und läßt sich den unheimlichen Brief kampflos aus der Hand nehmen. Bettiken stürzt damit die Treppe hinauf.

Herr Alemann hat in diesem Augenblick nichts zu tun, und warum soll er denn da nicht mal in die Küche gehen und nachsehen, was die alte Liese für heute abend zusammenbraut? Er wird nicht allzu freundlich begrüßt. Als einziges männliches Wesen im Hause, das noch dazu in einer, wenn auch machtlosen Opposition steht zu den meisten Regeln der Anstalt, wird er von dem Weibervolk ziemlich verachtet. Aber heute handelt es sich doch um etwas, wozu man einen Mann gebrauchen kann, nämlich den schwedischen Punsch, den es heute abend zu geben hat.

In dieser Angelegenheit hält sich Alemann mit Recht für sachverständig. Liese, die dicke Köchin, ist nicht ganz seiner Meinung, aber eben, um ihn von seiner Überflüssigkeit zu überzeugen, reicht sie ihm eine Probe hin. Herr Alemann schlürft, bewegt seine Lippen, streicht mit dem Taschentuch den Schnurrbart trocken und sagt dann gedehnt und mißtrauisch ein einziges Wort.

Herr Alemann sagt: »Na ...«

 

Im Waschraum neben dem Schlafsaal I ging es laut zu. Wohl hatte jede Kabine einen Vorhang, den offenzulassen bei Strafe verboten war, aber heute war man viel zu aufgeregt, um an derlei zu denken. Diejenigen Mädchen, die bei der Aufführung nicht mitzuwirken hatten, standen umher oder halfen hier etwas annähen, dort beim Frisieren oder wurden im letzten Augenblick noch einmal in die Garderobe geschickt, um etwas Vergessenes zu holen.

Manuela war sehr ruhig. Wenigstens zeigte sie äußerlich keine Aufregung wie etwa Ilse, die schon von Kopf bis Fuß der Türke Orosman war und wie verrückt von einer Kabine zur anderen lief:

»Du, guck mal, mein Bart! – Du, bitte, was sagst du zu diesen Hosen?«

Die Hosen waren auch drollig genug. Sie waren offensichtlich für Ilse zu groß, denn sie reichten ihr bis unter die Arme und hatten, eingezogen am Bund, eine ganz unheimliche Weite. Die Hauptsache aber war Ilses Turban. Den hatte ihr der junge Papa geschickt. Es war eine riesige Kugel, aber doch ganz leicht, und wurde natürlich, ob Ilse schrie oder nicht, als Ball durch den schmalen Gang zwischen den Kabinen gerollt und durch die Luft geworfen. Endlich hatte Ilse ihren langen Bart befestigt, mit Hilfe von Edelgard, die, ganz in hellen Schleiern, etwa einer Odaliske ähnlich sehen sollte, aber mit ihrem breiten Gretchengesicht viel eher wie ein deutsches Rautendelein wirkte. Ilse war geradezu martialisch. Manuela stand vor ihrem Spiegel und sah sich selber in die Augen. Ihre Haare waren gelöst, das silberne Wams saß wohltuend fest um ihren Körper und zog fast die Schultern herab, als trüge sie ein Gewicht. Durch das Fehlen des Rockes hatte sie das Gefühl, als sei sie gewachsen. Ihr Gang war verändert. Es hatte plötzlich Wichtigkeit, wie man einen Fuß vor den anderen setzte. Verantwortung. Und doch war es gut, so frei zu sein. Kein Rock hinderte sie jetzt, einen Fuß auf einen Stuhl zu stellen und den Schuh zuzubinden. Man konnte seine Beine plötzlich ganz anders gebrauchen. Lela schob die Stiefel, die sie abgeworfen hatte, mit dem Fuß zur Seite. Einige Verse ihrer Rolle murmelnd, kniete sie nieder und stand wieder auf. Dann ließ sie den einen Fuß auf dem Schemel stehen und stützte sich mit dem Ellbogen auf das Knie. Wie gelenkig einen das alles machte! Sie fühlte, wie sie langsam mehr und mehr zum Ritter Nérestan wurde.

Schließlich setzte sie sich auf das Stühlchen und legte frei das rechte Bein über das linke. Nicht so, wie man das auch im Kleiderrock tat, sondern der rechte Fuß lag nur mit dem Gelenk auf dem linken Knie, während sie die linke Hand in die Hüfte stemmte, wo sie den Degen spürte. Den Kopf gegen die Wand gelehnt, träumte sie sich in ihre Rolle hinein.

»Manuela, wie sitzt du denn da!«

Das »Kaninchen« war ganz unerwarteterweise hereingeplatzt. Die Kesten hielt sich aber nicht weiter auf bei Lela, sie hatte Wichtigeres zu tun. Es war ein solcher Lärm im Waschraum, daß man sie gar nicht bemerkte. Ilse stand, einen Arm um Edelgard gelegt, da und deklamierte laut einen Satz ihrer Rolle:

»Le voilà donc connu ce secret plein d'horreur,
Ce secret qui pesait à son infâme cœur ...« –

als Fräulein von Kesten plötzlich vor ihr stand. Als wäre eine Bombe geplatzt, war es mit einem Male totenstill im Raum. Das »Kaninchen« hatte einen Brief in der Hand und hielt ihn Ilse unter die Nase.

»Kennst du vielleicht diese Schrift?«

Ilse konnte vor Schreck gar nicht antworten. Nur der große Kugelturban des kühnen Sultans senkte sich, ohne daß sie es bemerkte, wie in Mitleid befangen etwas auf die Seite. Fräulein von Kesten wendete den Brief um, dessen Aufschriftseite, mit Bleistift geschrieben, in der Tat fast ganz verwischt war.

»Mach das auf!«

Ilse nahm zuerst ihren Turban ab und schob dann den langen Bart, der mit einer Drahtschlinge um ihren Kopf befestigt war, zur Seite, weil er sie offenbar bei der Beschäftigung hinderte. Sie öffnete den Brief – aber zu lesen brauchte sie ihn nicht. Fräulein von Kesten entriß ihr heftig das Blatt und warf einen Blick darauf. Dann tat sie einen zweiten Blick gegen Ilse, die ganz verdonnert in ihren Hosen dastand und ungeduldig an ihrem langen Bart zerrte, weil er ihr zu diesem Auftritt so gar nicht zu passen schien.

»So«, schleuderte ihr das »Kaninchen« ins Gesicht. »Jetzt will ich dir mal was sagen: Kinder, die Briefe schmuggeln und darin Lügen über das Stift verbreiten, brauchen auch nicht Theater zu spielen. Hast du mich verstanden?«

Die Umstehenden machten große, traurige Augen. Aber solange Fräulein von Kesten vor ihnen stand, wagten sie es nicht, ein Wort zu sagen noch sich zu rühren. Nur Manuela hatte sich erhoben und, an die Kabinenwand gelehnt, die Szene beobachtet. Es sah fast aus, als hätte sie Lust, ihren Degen zu packen und ihn dem »Kaninchen« hinterrücks zwischen die Schulterblätter zu jagen.

Das »Kaninchen«, die feindliche Atmosphäre fühlend, trabte hinaus. Keiner fand gleich die Sprache zurück. Ilse riß sich das Kostüm vom Leib und rannte davon. Erst dann begann der Sturm von allen Seiten.

»Kein Vergnügen wird einem gegönnt.«

»Hätte doch warten können bis morgen.«

»Wer soll nun den Orosman spielen?«

»Eine muß die Rolle ablesen.«

»Die große Rolle! Das verdirbt das ganze Stück.«

»Fräulein von Bernburg hätte das nie gemacht.«

»Natürlich nicht.«

»Ach, ich mag gar nicht mehr mittun!« – Da erschien die alte Marie auf der Bildfläche, aufgeregt war sie hereingesegelt: »Los, los, Kinder, Fräuleins, et jeht los!« Unten war alles in fieberhafter Aufregung. Mademoiselle Œuillet lief hin und her. Der Bühnenvorhang hing in einer breiten Schiebetür, die das allgemeine Wohnzimmer von einem der Schulräume trennte. Die Bühne bildete ein breites Podium, durch große spanische Wände abgetrennt von dem dahinterliegenden Zimmer. Einige Teppiche und grüne Pflanzen sollten dem Raum einen orientalischen Charakter geben. Die Kinder saßen schon sämtlich auf ihren Sitzen. Nur die vordere Parkettreihe war noch leer, sie war reserviert für die »Damen«, für Frau Oberin, das hohe Geburtstagskind, und ihre Gäste.

Ilse war in das nun völlig menschenleere Schrankzimmer gestürzt. Wild riß sie ihren Schrank auf. Mit einem Krach flog ihr Koffer, der oben auf ihrem Schrank stand, herunter. Geöffnet lag er vor ihr auf dem Boden. Ohne Besinnen packte sie Wäsche, Schuhe, Bücher mit beiden Armen und warf sie hinein. Einige Mühe machten ihr die Reißnägel – denn ihre Schauspieler wollte sie niemandem hinterlassen. Auch sie sollten mit. Jetzt konnte man leicht weg. Alle waren bei der Aufführung. Selbst Herrn Alemann hatte sie hinaufschleichen sehen. Und wenn die Tür zu war, gab's ja noch Fenster. Sie, Ilse, hatte genug von der ganzen Sache. Das ließ sie sich nicht gefallen, sie nicht! Sie würde einfach mit dem nächsten Zug nach Berlin fahren. Ihr kleiner Papa würde das schon verstehen. Alles, was recht war. Ilse schimpfte laut vor sich hin und ermutigte sich selbst zu ihrem Entschluß, indem sie auf sich einredete: »Ist doch auch wahr! Diese verdammte Kesten! Einmal ist eben Schluß, jawoll!« Sie trat auf den Koffer, damit er zuginge. Der Koffer wollte nicht. Sie setzte sich darauf, auch das half nichts. Ilse war rot und heiß vor Anstrengung, und zum Kofferschloß niedergebeugt, hatte sie nicht bemerkt, daß jemand zu ihr getreten war.

»Was machst du denn da?«

Ilse erstarrte. Aber Fräulein von Bernburg sah ganz freundlich aus. Ilse stand auf und gab ihrem sich wieder aufsperrenden Koffer einen wütenden Fußtritt.

»Aber so mißhandle ihn doch nicht, Ilse – der Koffer kann doch wirklich nichts dafür.«

Weinerlich sagte Ilse: »Nein.« Ihr schöner tränenloser Zorn begann sich zu lösen, und das ärgerte sie furchtbar.

»Komm mal her«, und Fräulein von Bernburg legte ihren Arm um Ilse.

»Du hast dir da mal wieder ganz überflüssigerweise was eingebrockt. Mußt du denn immer alles tun, was verboten ist?«

»Ich kann doch nicht dafür, daß es verboten ist!« schluchzte Ilse.

Unwillkürlich mußte Fräulein von Bernburg lächeln. Aber das freilich konnte Ilse nicht sehen, deren Kopf nun tieftraurig vornüber auf ihrer Brust hing.

»Aber du weißt doch, daß das sehr ungezogen ist, was du da gemacht hast?«

»Ja«, sagte Ilse kleinlaut.

»Da hat man dann eben die Folgen zu tragen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und hat nicht gleich wie eine Wilde davonzurennen, nicht wahr?«

»Ja.« Ilses Stimme wurde immer leiser.

»Ist es nicht viel anständiger, die Konsequenzen zu tragen, wenn man was angestellt hat?«

»Ja.« Ilse schmolz und löste sich in Tränen auf.

»Du hast deine Strafe verdient, verstehst du? Und es ist ganz ungerecht, das irgend jemand anderem nachzutragen als dir selber. Siehst du es ein?«

»Ja.« Ilse war am Ende ihrer Kräfte.

»So, und nun benimm dich, wie du kannst! Ich lass' dich jetzt allein und geh' hinunter. Wenn du auskneifen willst, so hast du jetzt eine ausgezeichnete Gelegenheit. Wenn du dir aber die Sache anders überlegst, so wasch dein Gesicht ab, kämm dich und verdirb das Fest deinen Kameradinnen nicht mit einem beleidigten Gesicht.«

Eine wohlgemeinte kleine, gutmütige Ohrfeige – und Fräulein von Bernburg war verschwunden. Erst dann hob Ilse ihr feuchtes Gesicht und lächelte selig hingerissen Fräulein von Bernburg nach.

 

Unbemerkt hatte Fräulein von Bernburg wieder im Zuschauerraum Platz genommen. Gerade lachte man über die arme Marga, die in aller Eile die Rolle des Orosman hatte übernehmen müssen und der es nicht leicht fiel, den Turban zu balancieren und dabei die gar nicht einfachen Verse Voltaires abzulesen. Alles amüsierte sich, aber dann betrat Lela die Szene. Das Kind war wie ausgewechselt. Im Augenblick, da sie aufgetreten war, schien die Bühne zu klein. Sie füllte sie zu sehr aus, sie füllte den Saal – sie schien das ganze Haus zu füllen. Tiefe Stille trat ein. Ihre dunkle Stimme trug, ohne daß sie sich anstrengte, weithin, auch wenn sie leise sprach, ja dann vielleicht am meisten. Ihre Eindringlichkeit, ihre Innigkeit und Wärme packten jeden, der draußen im verdunkelten Raum saß. Frau Oberin wurde schon unruhig. Sogar das »Kaninchen« rückte auf ihrem Stuhl hin und her, als geschehe hier doch etwas gegen die Ordnung. – Aber was nur? Hätte nicht Mademoiselle vielleicht ein anderes Stück wählen sollen? –

Die Kinder folgten Manuelas kleinster Bewegung, ihre Augen hingen an ihr wie gebannt. Heimlich hielten sie einander bei den Händen. Manuela war über sich hinausgeraten. Man glaubte ihr alles, man litt mit ihr, man opferte sich mit ihr, wurde gut und kühn – und weinte zuletzt, weil die arme Edelgard vom Schwert des eifersüchtigen Orosman durchbohrt am Boden lag.

Als der Vorhang fiel, fuhr ein Rauschen durch den Saal. Alle guten Manieren vergessend, tobten die Kinder. Frau Oberin applaudierte wohlwollend. Mademoiselle Œuillet verneigte sich bescheiden. Von unten her brauste es: »Manuela, Manuela! Bravo! Bravo!« Und Stühle rückten und Hände klatschten und Lela, sich kaum auf den Beinen haltend, einen Arm um Edelgard, den anderen um Marga, verbeugte sich ernst und sehr blaß. Ängstlich suchte sie Fräulein von Bernburgs Blick und fing ihn auf. Fräulein von Bernburg lächelte ihr nicht zu wie die übrigen. Als dächte sie über etwas sehr Ernstes nach, so ruhte ihr Blick in dem des Kindes.

Die Klassen warteten ab, bis Frau Oberin mit ihren Gästen den Saal verlassen hatte, und stürmten dann hinaus. Alles riß an Lela. Jeder wollte eine Hand, einen Kuß, ein Wort.

Lela wäre jetzt so gerne allein gewesen. Aber man ließ das nicht zu. Alles drängte, in ihrer Nähe zu sein. Sie war den Kindern unwirklich geworden, jeder wollte sie berühren und mit ihr sprechen, wie um festzustellen, ob denn das wirklich Manuela war. Mademoiselle Œuillet hatte, nachdem auch sie viele Komplimente über die ausgezeichneten Leistungen der Kinder eingeheimst hatte, das Bedürfnis, Manuela ein paar anerkennende Worte zu sagen. Sie war wirklich selber erstaunt über das Spiel, die elegante Flüssigkeit und musikalische Aussprache dieses Kindes, die in den Proben niemals wie heute zum Ausdruck gekommen waren.

Manuela mußte erst aus einem Knäuel von Kindern losgelöst werden.

»Eh bien – du hast deine Sache gut gemacht, Manuela.«

»Glauben Sie das wirklich, Mademoiselle? Jetzt, wo es vorbei ist, habe ich das Gefühl, ich hätte es noch viel besser machen müssen. Meinen Sie nicht?«

Mademoiselle wollte sich auf keine ernsten Diskussionen einlassen.

»Mais non, mais non, que pensez-vous? Es war sehr gut so – wir sind doch keine Schauspielschule – wir sind doch hier keine Akteure – mehr – besser – aber es wäre doch gar nicht fein gewesen – nicht ladylike – mais Manuela – quelle idée – du willst doch keine Professionelle werden.«

»Nein, das würde ich nie wagen. Dazu habe ich nicht genug Talent. Ich meine nur ...«

»Aber, aber – nix da! Geh zu den anderen Kindern und unterhaltet euch gut!«

Da war offenbar nichts zu machen.

Aber jetzt fiel Manuela etwas anderes ein. Ohne Rücksicht darauf, daß man auf dem großen Korridor weder »schreien« noch »rennen« durfte, tat sie beides und rief nach Ilse. Ilse erschien auch, Manuela legte einen Arm um sie, und Ilse ließ sich den ungewohnten Kuß von Lela gefallen.

»Du, Lel, ich bin schon wieder ganz vergnügt. Brauchst mich gar nicht mehr zu trösten. Im ersten Moment habe ich mich allerdings bombenmäßig geärgert. Aber dann, dann kam die Bernburg ...«

»Ja?« fragte Manuela langgedehnt. »Und ...?«

»Ach – na – ja – dann bin ich eben zu den anderen hinuntergegangen.«

»Wo hast du denn gesessen?«

»Gleich hinter den Damen.«

»Du«, Manuela zieht Ilse in eine Fensternische. »Was haben denn die gesagt?«

»Ach, die Gärschner meinte: Du hättest gut gelernt, aber dein Kostüm sei ein bißchen unanständig.«

Manuela hört nicht recht zu.

»Und die Evans?«

»Die Evans, die sagte: ›Oh sweet, isn't she a darling?‹ –

Verstanden hat sie natürlich kein Wort.«

»Und – und die anderen Damen?«

»Die Oberin hat sogar gesagt, du hättest direkt schöne Beine.«

Manuela stampfte auf mit dem Fuß.

»Ach, laß die ...«

»Du – schöne Beine sind gar nicht zu verachten! Ich habe gar nicht gewußt, daß du schöne Beine hast!« Und Ilse geht um Manuela herum, die, peinlich berührt, ein Bein hochzieht. Dann packt Lela Ilse an beiden Armen und sieht ihr halb lachend, halb flehend ins Gesicht:

»Du, Ilsekind, bitte – was ...«

Ilse klemmt schon die Augen zu: »Was sie gesagt hat?«

Manuela nickt energisch, und Ilse spricht ganz leise und Manuela fest dabei ansehend:

»Ja, das ist merkwürdig – die Bernburg hat kein einziges Wort gesagt.«

Manuela ist blaß geworden. Eine tiefe Enttäuschung legt sich über ihr Gesicht.

Da faßt Ilse sie um:

»Aber du, Augen hat sie gemacht, sag' ich dir, Augen ...«

In diesem Moment erscheint Marga.

»Kinder, wo bleibt ihr denn? Wir sind alle längst im Eßsaal und warten auf Manuela!«

 

Noch einmal flammt Applaus auf, als Manuela den Saal betritt. Ihr Platz ist reserviert, und Edelgard und Marga sitzen an ihrer Seite. Das »Kaninchen« schlüpft in den Saal. »Na, Kinder, ihr bleibt heute ohne Aufsicht – macht keinen Unfug, benehmt euch ordentlich! Verstanden?«

Ein lautes »Jawohl, Fräulein von Kesten« begleitet sie hinaus. Kaum ist die Luft rein, so ergreift Ilse das Wort.

»Also, Kinder, nun trinken wir mal auf das Wohl unserer Helden! Was?«

Alle sind einverstanden. Sie ergreifen die Gläser:

»Der Ritter Nérestan soll leben, hoch, hoch, hoch!«

Sie setzen zu trinken an, aber die meisten nehmen rasch und enttäuscht das Glas wieder vom Munde:

»Pfui Deibel, was ist denn das?«

Ilse war die erste, Lilly folgte.

»Das soll Schwedenpunsch sein!«

»Schweinekram«, sagt eine traurige Stimme.

»Haarwasser.«

»Zucker mit Spiritus«, eine andere.

»Da wird einem ja glatt schlecht!«

Alle setzen ihre Gläser schnell wieder auf den Tisch. Nur Manuela hat das ihre geleert. Edelgard bemerkt es:

»Aber Manuela, du hast ja ausgetrunken!«

Und Manuela lacht frech und übermütig alle an:

»Macht nix! Wie's schmeckt, ist mir heute ganz Wurscht! Ich mach' einfach die Augen zu, dann schmeck' ich nichts. Hauptsache: Es ist Alkohol.«

»Also, du, wenn es dir schmeckt, kannst du meins auch haben!« und Ilse von Treischke schiebt ihr Glas über den Tisch zu Manuela hin.

»Meins auch.«

»Meins auch.« Und von allen Seiten bringt man ihr die Gläser.

»Fein, Kinder. Danke – wird alles konsumiert!«

Marga mahnt: »Manuela, wir sollten doch jeder nur eins trinken.«

»Oho!« Ein entrüsteter Chor stellt sich ihr entgegen.

»Mensch, laß doch Manuela in Ruh – laß sie doch, wenn sie will!« Und Marga fühlt sich überstimmt.

Manuela steckt ihren Arm unter den Margas: »Komm, Marga, dieses Glas trinke ich ganz allein auf das Wohl meiner lieben Pflegemutter und verzeihe dir heute alles, was du Gutes an mir getan hast. Prost!«

Alles lacht, und Marga, brummig, aber doch kein Spielverderber: »Na, dann prost, du verrücktes Huhn!«

»Ach«, und Manuela wirft beide Arme in die Luft, »warum soll ich nicht mal 'n bißchen verrückt sein?« Und dann, nachdenklich: »Ich glaube, ich bin schon ein bißchen verrückt, denn es geht mir ausgesprochen gut – tadellos geht es mir.«

»Na, diesen Ausspruch müssen wir aber rot anstreichen in unserem Kalender.«

Diesmal war es Oda gewesen, die sich in das Gespräch gemischt hatte. Oda hatte Manuela seit jenem Zusammentreffen gemieden – aber wie sie nun zu ihr hinübersah, nahm Manuela wieder ihr Glas:

»Prost, Oda – seien wir gut, ja?«

Manuela wollte um jeden Preis heute mit allen Menschen ausgesöhnt sein, und Oda stand auf, ging mit ihrem Glas feierlich um den Tisch:

»Lela«, bat sie leise, »sag mir eins: Kannst du mich denn nicht ein bißchen liebhaben?«

Manuela erschrak ein wenig, aber dann rief sie laut, daß alle es hören konnten:

»Ja, natürlich hab' ich dich lieb, alle habe ich heute lieb – ohne Ausnahme!«

Sich umwendend nahm sie Edelgard in die Arme:

»Kinder, sieht Edelgard nicht süß aus?«

Edelgards Haare waren hellblond, und der helle Schleier und das weiße fließende Gewand standen ihr wirklich herrlich.

»Wunderbar sieht sie aus! Aber so eine gute Schauspielerin wie du ist sie noch lange nicht. Viel zu leise hat sie gesprochen.«

Das kam von Oda, die auf ihren Platz zurückgekehrt war.

»Ach, Oda, das mußte sie doch! Sie war doch ein Mädchen.«

»Aber du, Lela, was, du warst ein Mann? Deine Stimme war auch ganz dunkel, und dann hattest du auf einmal Bewegungen, so echt – dir hat man heute abend geglaubt, daß du – daß du eigentlich ein halber Junge bist.«

»Prost, Oda!« Und beide leeren die Gläser. Lela steht aufrecht am Tisch, während die übrigen sitzen.

»Ach, Kinder, es war jedenfalls schön, seine Gefühle mal so 'rausbrüllen zu können!«

»Wieso, das waren doch gar nicht deine Gefühle«, meint Mia.

»Doch, das waren meine.«

»Ach wo! Die Edelgard wurde doch gar nicht deine Geliebte. Es kam doch 'raus, daß sie bloß deine Schwester war.«

Manuela lächelt:

»Ja, meine Schwester, aber das ist doch auch schön – nicht?«

Als müßten sie sie doch alle verstehen, sah sie sich im Kreise um. Da ertönte von der anderen Seite des Saales her Musik. Marga hatte sich ans Klavier gesetzt. Mia war zu Manuela getreten:

»Komm, Ritter, wollen wir tanzen?«

Manuela legte ruhig ihren Arm um Mia. Gemeinsam traten sie hinter dem Tisch vor, wo man Platz gemacht hatte. Es waren nicht viele Paare, die tanzten. Die meisten saßen lieber umher und sahen zu. Aber Manuela war ein gesuchter Partner, weil sie führen konnte. Mia war ein dunkelhaariges Mädchen mit hellgrauen Augen. Sie hatte etwas Zigeunerhaftes im Typ. Obwohl sie Lelas Schlafsaalnachbarin war, wußte Lela nichts von ihr. Mia sprach wenig. Sie war meistens mürrisch, ging ihrer Wege und schien sich außer um Oda um wenig zu kümmern. Und auch diese Freundschaft, hieß es, war einseitig. Mia, sagte man, ließe sich Odas Zuneigung nur gefallen. Aber nie machte sie Oda Geschenke.

Manuela schwindelte es ein wenig. Sicher und geschickt führte sie Mia unter die anderen Paare. Bewundernd sah man den beiden zu.

»Du, Lela«, sagte Mia plötzlich leise und legte ihren Kopf an den Lelas. So konnte man doch besser tanzen. Dicht lagen beide Gesichter aneinander.

»Ja?«

»Du – ich möchte dir was zeigen, aber das darf niemand sehen außer dir.«

»Ja, Mia, was ist es denn?« Manuela war nicht sehr neugierig, aber sie wollte heute zu niemandem unfreundlich sein. »Komm mit mir hinaus in den Korridor. Dann zeig' ich's dir. Wenn wir jetzt hinaustanzen, merkt's keiner.«

Und Lela führte Mia geschickt hinaus, zwischen den Tischen. In einer halbhellen Fensternische blieben sie stehen. Wortlos knöpfte Mia die Manschette ihres Ärmels auf und fing an, ihren linken Arm zu entblößen. Manuela sah ihr zu. Auf dem weißen schmalen Oberarm Mias war eine furchtbare Wunde, die Haut geschwollen und rot. Zuerst glaubte Manuela, es müsse ein schlecht heilendes Impfzeichen sein, aber dann bemerkte sie, daß die blutigen, zum Teil verschorften Striche ein Monogramm bildeten: »E. v. B.«

Entsetzt blickte Manuela auf den Arm und dann auf Mia.

»Ich lasse das nicht heilen ...«

»Aber Mia, tut es denn nicht furchtbar weh?«

»Ja, das soll es ja. Ich fühle es immer, immer – und heute wollte ich, daß du es siehst.«

Manuela zog vorsichtig den Ärmel herab, ein wenig zitterte dabei ihre Hand. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.

»Mia, liebe ...«

Dann, als sei plötzlich ein Entschluß in ihr gereift, riß sie Mia in den Saal zurück und rief laut über die Tische hin: »Kinder! Ich muß auch eine Rede halten!«

Schnell kippt sie noch ein Glas, das ihr irgend jemand hinhält, hinunter. Sie will einen Stuhl besteigen und hat einen Fuß schon auf den Sitz gestellt, aber da sie plötzlich unsicher wird, muß sie sich helfen lassen. Dann steht sie.

»Meine sehr verehrten Herrschaften ...«, beginnt sie, hoch über den Köpfen der Zuhörer.

Alles lacht.

»Na ja, so fängt man doch an!« Es schwindelt ihr ein wenig, und eigentlich weiß sie nicht, wie sie weiterreden soll. Deshalb entschließt sie sich, den Ton zu ändern:

»Also, Kinder, ich muß euch was sagen ...«

»Was denn?« Man rückt an sie heran. Manuela beugt sich herab und hält sich an Edelgard und Oda fest, die neben ihr stehen:

»Sie hat mir was geschenkt«, kommt es dann hastig heraus.

Einzelne Zwischenrufe: »Wer? Was?«

Alle beginnen sich zu interessieren.

»Mir«, und Lela steht wieder aufrecht. »Mir! Ein Hemd, und ich habe es an. Ich fühl's hier auf meiner Brust, auf meinem Körper, kühl – gut!« Und wie sie noch immer kein Verständnis und nur fragende Blicke sieht, schreit sie es heraus:

»Fräulein von Bernburgs Hemd – mir geschenkt ...«

In diesem Augenblick ist die kleine graue Gestalt des »Kaninchens« hinter den Kindern aufgetaucht. Niemand hat sie bemerkt. Alle hängen an Manuelas Gestalt, die im glänzenden, silbernen Schuppenkleid mit gelösten Haaren über ihnen steht. »Jawohl – mir!« Und dann leiser und hastig: »An ihren Schrank ist sie gegangen und hat ein Hemd herausgenommen und es mir gegeben, ich soll es tragen, tragen und an sie denken. – Nein, das hat sie nicht gesagt, aber ich weiß es doch nun ...«

»Was denn? Was?« fragen erschrockene Stimmen von unten.

Das »Kaninchen« verschwindet. Lela breitet die Arme aus: »Daß sie mich liebhat – das weiß ich.« Den Kopf bescheiden schüttelnd: »Ihre Hand hat sie auf meinen Kopf gelegt, ihre schöne weiße Hand. Das geht durch einen durch und ist so schwer, daß man knien möchte und ...«

In diesem Augenblick sind Frau Oberin und hinter ihr Fräulein von Kesten eingetreten. Einige der Kinder haben sie bemerkt und sind wie zu Stein erstarrt.

Lela legt beide Hände auf ihre Brust: »Das hier zu fühlen, macht gut! Von jetzt an will ich nur gute, reine Gedanken haben. Ich will ein guter Mensch sein!« Und lauter und lauter: »Es kann mir nichts mehr geschehen – sie, sie ist ja da – sie ...« Einen Augenblick stockt sie, und dann, als besinne sie sich auf den eigentlichen Zweck ihrer Rede, greift sie hastig ein Glas auf:

»Unser aller Geliebte, unsere Heilige, unsere Gute – unser einziges, herrliches Fräulein von Bernburg soll leben!«

Da endlich bemerkt sie die Bewegung der Kinder. Frau Oberin reißt diejenigen, die ihr im Wege sind, zur Seite und bleibt dicht vor Manuela stehen, die sich mit letzter Kraft zusammennimmt und ihr ohne Furcht ins Gesicht sieht:

»Alle sollen es wissen – sie, sie ist das Wunder, sie ist die Liebe, die höher ist als alle Vernunft ...« Da entfallt ihr das Glas und zerbricht. Sie selbst hat die Augen geschlossen und fällt in die Arme Edelgards und Odas, die sie auffangen.

Eine unheimliche Stille verbreitet sich. Entsetzt weichen die Kinder zurück. Fräulein von Kesten rennt geschäftig umher: »Wasser! Hebt sie auf! Tragt sie weg!«

Laut stößt Frau Oberin den Stock auf den Boden: »Ein Skandal – ein Skandal!«

Die Schwester des »Krankenhauses«, eines abgelegenen Teils des Stiftes, ist schon herbeigeeilt. Sie, Edelgard und Ilse tragen Manuela den Korridor entlang. Herr Alemann steht vor seiner Portiersloge.

»Schnell!« ruft ihm aufgeregt Fräulein von Kesten zu. »Rufen Sie Herrn Oberstabsarzt an. Er möchte sofort herkommen! Es ist ein Kind ohnmächtig geworden!«

Herr Alemann sieht in voller Ruhe dem merkwürdigen Zug nach und sich den Kopf kratzend, begibt er sich ans Telefon.

Im Krankenzimmer angelangt, legt man Manuela, die noch immer die Augen fest geschlossen hat, auf ein bereitstehendes Sofa. Schwester Hanni befühlt Lelas Puls.

»Ihr könnt gehen!« herrscht Fräulein von Kesten Edelgard und Ilse an. »Na, wird's bald?« Fräulein von Kesten ist sehr nervös. So bleibt den beiden nichts anderes übrig, als leise hinauszugehen.

Drin bemüht sich Schwester Hanni, dem Kind das Kostüm auszuziehen. Fräulein von Kesten geht im Zimmer auf und ab. Schwester Hanni befühlt Lelas Stirn, läßt ihre Hand auf Lelas Herzen ruhen. Kopfschüttelnd kniet sie nieder, zieht Lela Schuh und Strümpfe aus und breitet dann eine weiße wollene Decke über das Kind.

Endlich ertönt im Korridor draußen Säbelrasseln. Das ist Herr Oberstabsarzt. Die Behandlung der Stiftskinder ist für ihn nur eine Nebenbeschäftigung, eigentlich behandelt er ausschließlich Soldaten. Aber er hat nichts dagegen: »Nette Mädelchen«, pflegt er zu sagen, »immer bloß Kinderkrankheiten ...«

Eintretend hebt er zwei Finger an die Mütze. »Guten Abend«, wünscht er dröhnend. Umständlich und stöhnend nimmt er dann die Mütze vom Kopf, legt den grauen Militärmantel ab, fährt sich über den weichen Schnurrbart, koppelt den Säbel los und legt ihn Schwester Hanni in die Arme.

»Ein außergewöhnlicher Fall, Herr Oberstabsarzt«, sagt Fräulein von Kesten.

»Soso«, knurrt der Oberstabsarzt. Und an Manuela herantretend: »Na, wo fehlt's denn?«

Er tastet nach dem Puls, beugt sich herab: »Was denn – bewußtlos?« Das »Kaninchen« nickt verkniffenen Mundes.

»Na, wie ist denn das passiert? Nu erzähln Se schon mal, Fräulein von Kesten. Is wat losgewesen hier?«

Wenn der Herr Oberstabsarzt einen Schreck kriegte, war er nicht höflich. Stotternd erzählte »Kaninchen« in kurzen Zügen, welche Ereignisse der Ohnmacht vorausgegangen waren. Als sie zu dem Hauptpunkt kam, der Rede, deren Inhalt sie schamhaft verschwieg, beugte sich der alte Herr über das Kind und roch an seinem Mund. Roch noch einmal, um sich zu vergewissern und fiel dann laut lachend auf den nächsten Stuhl. Er rieb sich die Knie vor Vergnügen. Er prustete, bis er husten mußte. Entsetzt starrten ihn Fräulein von Kesten und Schwester Hanni, die im Hintergrund gewartet hatte, an. Er blickte zwischen beiden Frauen, krebsrot im Gesicht und selig lächelnd, hin und her, und als gelte es, den besten Witz zu erzählen, platzte er heraus:

»Besoffen – stockbesoffen!«

»Was?« Fräulein von Kesten hatte einen Schritt gemacht. Schwester Hanni verbiß ein Lachen und nahm mühsam ihr Gesicht zusammen.

»Herr Oberstabsarzt!« Fräulein von Kesten konnte kaum sprechen. »Wie können Sie nur so was sagen!«

Der alte Herr erhob sich wieder und untersuchte Manuela nochmals.

»Ich kann's nicht ändern, es stimmt – und gründlich hat sie's besorgt.«

Dann blickte er von unten herauf Fräulein von Kesten ins Gesicht. »Was für ein verdammtes Zeug haben die Mädels denn da gesoffen? Das stinkt ja nach Sprit! Die Kleine hat eine recht nette Alkoholvergiftung.«

»Aber ich versichere Ihnen, Herr Oberstabsarzt, Sie irren sich. Jedes Kind hat nur ein ganz kleines Glas bekommen, von unserer Köchin selbstbereiteten Schwedenpunsch.«

Aber der alte Herr läßt sich nicht beirren.

»Na, lassen Sie das Kind sich mal gründlich ausschlafen, morgen oder übermorgen wird hoffentlich alles wieder gut sein.«

»Herr Oberstabsarzt – ich rechne mit Ihrer Diskretion ...«

»Was denn – Diskretion? Wegen dem Schwips? Lieber Gott, gnädiges Fräulein! Da ist doch nu reine nischt dabei! Warum soll denn einer nich mal 'n Schwips haben? – Aber was ich sagen wollte, Schwester, bringen Sie die Kleene richtig in die Klappe, und wenn was ist, rufen Sie mich ruhig an. Det Herz gefällt mir nicht sehr. Beobachten Sie genau den Puls – vielleicht braucht sie 'ne kleine Spritze. Ich lasse Ihnen was da.« Und er legte das Nötige auf den Tisch.

 

Oben im Schlafsaal Nummer I herrschte eine gedrückte Stimmung. Ohne ein Wort zu reden, entkleideten sich die Kinder in ihren Waschkabinen. Man hörte nur das Wasser rauschen, wenn ein Hahn offen war. Schneller denn je war man fertig. Eine nach der anderen huschte auf leisen Pantoffeln hinüber ins Bett. Fräulein von Bernburg sagte nur leise »Gute Nacht« und drehte das Licht aus.

Dies war das Ende eines herrlichen Festtages. Es blieb auch noch lange ruhig im Schlafsaal. Edelgards leises Schluchzen war zu hören. Neben ihr und Mia stand das leere Bett. Ilse schlüpfte hinüber zu Edelgard.

»Du, Mensch, heul doch nicht! Was kann denn schon passieren? Die Manuela kriegt eben 'ne Standpauke, und dann vielleicht drei Tage Arrest oder die grüne Kokarde. Das haben andere auch schon überstanden.«

Oda war zu Mia hinübergehuscht, und Mia legte ihren Arm um Oda. »Du, ich bin mit daran schuld ...«

»Du?«

»Ich hab' ihr meinen Arm gezeigt, und da hat sie auf einmal einen ganz sonderbaren Blick gekriegt und ist weggerannt in den Saal, und – ich hab' so Angst um sie, Oda.«

»Ich auch, Mia.«

»Du, wie die Oberin sie angesehen hat, hast du das gesehen? Wie einen Haufen Dreck. Ich glaubte schon, sie würde nach ihr treten.«

»Sie wird's noch tun, du. – Aber vielleicht können wir ihr helfen – ich helf' ihr, wenn ich kann.«

Marga und Ilse von Treischke sind anderer Meinung. Marga fühlt sich mit beleidigt, weil es ihr Pflegekind ist, das hier diesen Skandal gemacht hat. Es konnte leicht sein, daß man sie, Marga, mit zur Verantwortung zog.

»Glaubst du, es kommt 'raus, wieviel sie getrunken hat?« meint sie verzweifelt. »Und ich hab's euch doch noch gesagt du erinnerst dich doch, du bist mein Zeuge – ich habe gesagt: ›Jeder darf nur ein Glas trinken‹ – hab' ich oder hab' ich nicht ...?«

»Natürlich hast du ...«

»Du wirst sehen, ich krieg' morgen einen Krach von Fräulein von Kesten.«

»Ach du – wo das ›Kaninchen‹ dich so zärtlich liebt! – Aber die arme Manuela ...«

 

Fräulein von Gärschner und Fräulein von Attems waren sich einig: »Ein unmögliches Kind. So was sollte man entfernen. So was gehört nicht hierher. Betrinkt sich – es ist nicht zu glauben. Und dann diese Schwärmerei ...« Sie müssen beide spöttisch lächeln. »Na ja«, sagt die Gärschner, »Fräulein von Bernburg möchte ich ja heute auch nicht sein. Es hat doch alles seine Schattenseiten. Mag ja ganz nett sein, wenn alle Kinder einen vergöttern – aber was zuviel ist, ist zuviel. Schließlich muß man doch die Zügel in der Hand behalten. Die Ursache von einem Exzeß wie diesem möchte ich nicht sein«, und auch Fräulein von Attems schüttelt den Kopf.

»Nein, lieber etwas weniger beliebt – aber alles in seinen regelmäßigen Bahnen. Solche Ausbrüche sind ja vulgär.«

Beide schreiten den Korridor entlang. Sehr mit sich zufrieden, denn ihnen wird so etwas nicht passieren. Das würde ja die Stellung gefährden – und die Pension, die man zu erwarten hat. Innig sagen sie sich gute Nacht und werden auch bestimmt ausgezeichnet schlafen.

 

»Ach nee, gottedoch, nee, Johanna, nu heulen Sie doch nich!«

Marie rührt in ihrem Milchkaffee, und Johanna sitzt zusammengekauert auf einem Schemel. Sie redet auf die weinende Johanna ein. »Wat soll denn nun schon groß passieren! So'n Getue in dem Hause da – wegen det bißken Liebe. Und denn wegen een kleinen Schwips. Lieber Jott, det kleene Meechen war nich vergnügt – det war keene robuste –, die gehört hier nich her, hab' ich immer gedacht.«

»Na, sehn Se«, fährt Johanna los. »Das ist die Gemeinheit. Wenn es unsereins nicht paßt, denn kündigen wir und sagen adjö und gehn zu Muttern. Aber die Fräuleins hier, die können nicht kündigen. Die sind gehalten wie die Soldaten und müssen ihre Zeit absitzen. Und ich weiß nich, aber die kleene Manuela – se is doch ...« Und Johanna muß zum Taschentuch greifen. Marie findet diesen Kummer übertrieben. »Na, nu hörn Se mal auf. Vielleicht schicken sie ihr nach Hause – denn is se ooch zufrieden.«

»Nee«, wirft Johanna ein. »Ohne Fräulein von Bernburg wird die nicht wieder froh.«

»Nu, nu fangen Se nich ooch noch an, Meechen! Trinken Se mal Ihren Kaffee aus und gehnse gefälligst schlafen.«

Johanna war Gehorchen gewohnt, schluckte den kalten Kaffee und schob ab in ihre Kammer.

Unter Murmeln kramte Marie noch lange in ihrer Garderobe herum. Einen nachdenklichen Augenblick lang stand sie mit Manuelas silbernem Schuppenhemd unter der Lampe.

Und schön hat sie doch damit ausgesehen – wie'n Engel. Na, was will unsereins machen.

 

Herr Alemann stapft gelassen durch das nächtliche Haus. Er öffnet jede Klassentür und leuchtet mit seiner Taschenlampe in alle Winkel. Er kommt vom Kellergeschoß herauf, wo er nachgesehen hat, ob die Hähne nicht tropfen. Ob das Gas richtig abgedreht ist und die Türen nach außen verschlossen sind. Er hat nachzusehen, ob nirgends Licht brennt, und ob nirgends ein Rest von etwas Eßbarem oder Trinkbarem zurückgeblieben ist. Hinter ihm wird es jedesmal dunkel, alle noch brennenden Lampen werden abgedreht. Herr Alemann rasselt mit seinen Schlüsseln wie ein Gefängniswärter. Manchmal bleibt er stehen und horcht, ob irgendwelche Geräusche an sein Ohr dringen. Schlägt da ein Laden im Wind? Flattert ein Vorhang? Oder spricht da noch jemand? Stöhnt einer im Schlaf oder hustet einer – muß man es melden? –

Im großen Korridor bleibt er stehen. Die Türritzen des Zimmers von Frau Oberin verraten noch Licht. Schnelles Sprechen dringt an sein Ohr. »Na, natürlich!« brummt er und geht weiter. Frau Oberin und »Kaninchen« werden nicht belauscht von Herrn Alemann. Herr Alemann ist müde und will zu Bett gehen.

Aber Bettichen ist noch sehr aufgeregt. Solche Ereignisse wie die des heutigen Tages lassen sie nicht so schnell zur Ruhe kommen:

»Nu sage bloß – besauft sich so 'n Kind! Na, wenn det meine Göre wäre, ich wüßte ... Einfach 'n paar hintendrauf – und gut.«

Obwohl sich Herr Alemann vorgenommen hatte, nicht über die Sache zu reden, dies war zuviel.

»Nu will ich dir mal wat sagen. Ich bin hier der einzige Fachmann im Hause, und ick sage dir, det kleine Fräulein kann einem bloß leid tun. Mir stößt er ja auf, der Fusel, wat soll denn da so 'n armes Würmchen machen, mit dem kleenen zarten Magen?« Das alles begleitete er mit einer Handbewegung, die Betti von Rechts wegen hätte erledigen müssen.

»Ick habe die Giftpulle gesehen. Jestunken hat ja das Zeug ...« Betti will eine Einwendung machen. »Jestunken, sage ick dir, und so meine ich es. Und denn hat die Luise doch noch Gott weiß was 'reingegossen. Arrak sollte es sein – und Weißwein und Zucker und irgend 'nen koddrigen Likör. Wie 'n Reiher speit die Kleene die ganze Nacht, hoffentlich. Und nu dem armen Kind noch wat nachsagen. Det macht euch Spaß!« Und Alpmann haut mit der dicken Hand auf den Nachttisch.

Das schien sein letztes Wort zu sein, deshalb wagte Betti zum Schluß nur noch eine gewöhnliche Spitze:

»Na ja, wenn du sie nur in Schutz nimmst. Da hat se was dran ... an so 'nem Kavalier.«

Herr Alemann gab vor, schon zu schnarchen.

 

Die Tür von Frau Oberins Zimmer öffnet sich. Ein Schatten huscht heraus und schließt die Tür. Der Schatten braucht kein Licht, er weiß hier auch im Dunkeln Bescheid. Er huscht zur Treppe, geräuschlos hinauf, und an Fräulein von Bernburgs Tür klopft es leise. Drin hat man darauf gewartet. Ein Wort hin, eines her – und der Schatten huscht hinunter um die Ecke und verschwindet in der Zimmertür mit dem Namensschild: »Fräulein von Kesten«. Ein Schlüssel knirscht leise im Schloß, ein wenig huscht es hierhin, ein wenig huscht es dorthin. Auf dem Bett liegt ein langes, steifes Nachthemd mit langen Ärmeln und hochgeschlossenem Halskragen. Eine Schublade wird zugeschoben – für morgen früh einiges zurechtgelegt. Das Spitzenhäubchen liegt auf der Kommode, das Licht löscht aus.

»Das Kind muß exemplarisch bestraft werden.«

Frau Oberins Stock dröhnt auf dem Fußboden. Frau Oberin geht auf und ab. Fräulein von Bernburg steht blaß und gefaßt am Tisch neben der Lampe.

»Dieses Kind ist eine Pest! Sie steckt uns die anderen an! So was wird Mode! Das Kind gefährdet das Haus, den Ruf der Anstalt.«

Fräulein von Bernburg zuckt nicht zusammen. »Der Ruf?« wiederholt sie nur leise fragend.

»Ist wichtiger als alles andere.«

»Darf ich fragen, was Frau Oberin beschlossen haben?«

»Beschlossen. Was soll man denn beschließen – beschließen.«

Fräulein von Bernburg wartet ab. In vorbildlicher Haltung steht sie vor ihrer Vorgesetzten. Sie wartet ihr Urteil ab – ihres –, denn was hier beschlossen wird, das wird über sie beschlossen werden.

»Sie, meine Liebe. Sie sind schuld an der Sache. Wenn Sie sich zu erinnern belieben, so habe ich es Ihnen schon einmal gesagt. Sie züchten hier einen ganz ungesunden Enthusiasmus für Ihre eigene Rechnung.«

»Frau Oberin ...«

Aber Fräulein von Bernburg soll nicht zu Wort kommen. »Sie hätten diese Schwärmereien beizeiten eindämmen müssen. Alles hat seine Grenzen. Sie sehen, wohin das führt.« Und als spräche sie mit sich selbst: »Eine ungesunde Sache – beschließen?« Sie setzt sich und blickt in das ganz unbewegliche Gesicht der jungen Frau ihr gegenüber.

»Na, vor allen Dingen natürlich – mal weg von Ihnen! Schluß! Strich! Aus! Verstehen Sie?«

»Ja.« Die Antwort kommt wie ein Hauch.

»Und dann auch von den anderen Kindern weg! Isolieren! Wegsperren! Nicht die anderen auch noch verrückt machen lassen! Am liebsten würde ich ja ihrem Vater schreiben, er soll sie sich abholen. Aber wie soll ich denn einen so auffallenden Schritt der Frau Prinzessin erklären? Das ist ja die Schwierigkeit. Die Sache muß vertuscht werden. Die Dienstboten reden viel zuviel.«

»Dienstboten!« sagt Fräulein von Bernburg, und ihr Ton ist gegen ihren Willen bitter.

»Jawohl, daraus entstehen die größten Unannehmlichkeiten. Tratsch. Gerede. – Also: kommen wir zur Sache: Manuela wird isoliert!«

»Aber wenn nun, Frau Oberin, ich bitte zu bedenken – wenn das Kind einen Nervenzusammenbruch erleidet? Das Kind ist übernervös, sie ist zart – sie ...«

Fräulein von Bernburg hat ihre schmalen Hände fest ineinander gelegt.

»Das geht mich gar nichts an! Nervenzusammenbruch – was für Ausdrücke sind das? Als ich ein Kind war, gab es das nicht. Fräulein von Bernburg, wir haben hier Soldatenkinder zu erziehen.«

»Ich fürchte für Manuela, Frau Oberin. Sie ist schwach. Sie wird sich eine Trennung von mir und den Kindern zu Herzen nehmen.«

»Eben das soll die Strafe sein! Fräulein von Bernburg, ich erwarte von Ihnen Gehorsam.«

»Ich weiß, daß ich zu gehorchen habe. Aber, Frau Oberin, ich bitte Sie, lassen Sie mich das Kind langsam von seiner Exaltiertheit zurückführen.«

»Langsam? Exaltiertheit? Wissen Sie, um was es sich in Wirklichkeit handelt? Manuela ist unnormal veranlagt.« Frau Oberin macht einen Schritt auf Fräulein von Bernburg zu. »Und wissen Sie auch, wie die Welt über solche Frauen denkt – unsere Welt, Fräulein von Bernburg?«

Fräulein von Bernburg weicht dem Blick nicht aus. Ihr Mund hat sich ganz eng geschlossen. Fest sieht sie der alten Frau ins Gesicht.

»Ich weiß es, Frau Oberin.«

Und dann leiser, als spräche sie nur zu sich selber:

»Manuela ist kein schlechtes Kind. Aber sie soll ein freier, selbständiger Mensch werden – und deshalb will ich sie von mir loslösen.«

»Na, wenn Sie das nur einsehen. Ich denke, wir haben uns für heute nichts mehr zu sagen.«

Fräulein von Bernburg steht noch, als hätte sie nicht gehört, daß sie entlassen ist – erst an der Stille merkt sie, daß Frau Oberin wartet.

Als denke sie noch immer über etwas nach, geht sie langsam zur Tür.

»Gute Nacht, Frau Oberin.«

»Gute Nacht, Fräulein von Bernburg.«

Aber in der Tür überfällt die Gehende noch einmal die Angst, die entsetzliche Angst.

»Frau Oberin, wenn Manuela um ... Wenn sie es nicht erträgt ... Ich meine, wenn das Kind krank wird ...«

»Dann schicken wir sie wegen Krankheit nach Hause.«

Und als sei dies die endgültige Lösung, legt Frau Oberin ihren Stock auf den Tisch, um zu zeigen, daß sie nun aber allein zu sein wünscht.

 

Im Krankenzimmer brennt ein Nachtlicht. Ein mattgrüner Schein liegt über dem Bett und dem schlafenden Kind. Draußen geht eine Tür. Es wird leise gesprochen. »Wie geht es ihr, Schwester Hanni?«

»Besser, Fräulein von Bernburg. Sie war furchtbar unruhig, das Herz sehr matt. Ich habe ihr eine Spritze geben müssen. Aber sie ist noch sehr erschöpft. Sie muß absolute Ruhe und Schonung haben, sagt Herr Oberstabsarzt.«

Schwester Hanni öffnet die Tür und läßt Fräulein von Bernburg eintreten. Sie schiebt ihr einen Stuhl hin, aber mit einer Handbewegung lehnt Fräulein von Bernburg ab.

Sie steht am Fußende des Bettes. Schwester Hanni ist gegangen. Manuela hat den Mund geöffnet, als wollte sie sprechen. Aber die Augen sind fest geschlossen. Dunkle Schatten umrahmen sie. Das Gesicht scheint eingefallen, was es aber nicht weniger kindlich macht. Die eine Hand liegt auf der Brust, die andere, nach ihrer Kleinkindergewohnheit, hinter ihrem Kopf. Frau Käte pflegte diese Hand von dort wegzunehmen und sie zu der anderen auf die Brust zu legen. Aber das wagt Fräulein von Bernburg nicht. Sie legt ihre eigenen Hände zusammen auf den kühlen, weißen Rand des eisernen Bettes, als wollte sie beten. Ihr Gesicht verändert sich plötzlich. Ihre Haltung gibt nach. Der strenge Mund wird weich und zittert ein wenig. Die Augen schließen sich halb über den dunklen Pupillen, der Blick bleibt auf dem Kinde haften, obwohl die Lider sich senken. Wie müde geworden, fallen die Schultern herab.

Mit letzter Energie wendet sie sich weg und geht, sich flüchtig am Tisch stützend, hinaus. Draußen ist niemand. Die Gänge dunkel. Nur schnelle Schatten spielen an den weißen Wänden. Der Wind reißt die mageren Bäume mit erstem Grün vor den Fenstern hin und her. Die Straße ist naß. Die Laternen geben unsicheres Licht. Ein müder Schritt erklimmt die Treppe. Zwei Fenster bleiben hell.

 

Das Meer blendete so sehr, daß man alle Sonnenstores hinuntergelassen hatte. So ergab sich ein warmes Dämmerlicht. Die elektrischen Ventilatoren summten eine leise Melodie und ließen die Palmen und Blumen, die umherstanden, leicht erzittern. Von den Pflanzen ging eine warme Feuchtigkeit aus. Oberstleutnant von Meinhardis hatte sich in seinen tiefen Sessel zurückgezogen, in dem er mehr lag als saß. Dies war die Stunde am Tag, mit der man absolut nichts anfangen konnte: nach dem Lunch. Seine Damen hatten sich zurückgezogen – er ging nicht schlafen, er fürchtete, durch solche Angewohnheiten dick zu werden. In diesem Gedanken zog er die Weste etwas herab und besah sich seine neuen Schuhe. Sie waren aus weißem Leder mit braunen Kappen und brauner Einfassung. Eine neue Mode, die man natürlich mitmachte. Der Mokka war kalt geworden, und Meinhardis griff nach seinem Zigarettenetui, als er leise Schritte hörte.

Den Kopf halb nach rückwärts gewendet, sah er ein helles Kleid hinter den Palmen schimmern. Ein Lächeln auf den Lippen, und ohne sich beim Anzünden seiner Zigarette stören zu lassen, rief er leise: »Na, komm her, Kleine!«

Die »Kleine« war schon ziemlich groß, aber ihre Mutter hatte eine Art, sie anzuziehen, die diesem 12jährigen Kind bereits die Technik beibrachte, jünger zu erscheinen, als sie wirklich war. Ihr Seidenkleidchen war entschieden zu kurz, ihre Haare lagen in langen Korkzieherlocken auf ihren schmalen Schultern wie bei Dreijährigen, und ihre riesige hellrote Haarschleife brachte zwar ihr blasses Gesicht und die kohlschwarzen Augen vorteilhaft in Erscheinung, paßte aber nicht zu ihrem Alter. Unwillkürlich hatte ihre Koketterie auch eine kindliche Note angenommen, die gar nicht ihrem Wesen entsprach.

Angeredet sprang sie um die Palmen herum und flog »Onkel Meinhardis« um den Hals. Der lachte und befreite sich von den dünnen Ärmchen.

»Na, du kleiner Racker? Was machst du denn hier? Warum schläfst du nicht um diese Zeit?«

»Ach – ich ...«, sagte sie zögernd. Und sich in einen Stuhl fallen lassend, blickte sie Meinhardis von unten her in die Augen. Pamela hatte fast ihre ganze Kindheit in Hotels zugebracht. Ihre Mutter war kränklich und konnte das heimatliche Klima nicht vertragen. Überall, wo sie waren, wurde eine Miß oder eine Mademoiselle oder eine Signorina engagiert, um sich mit dem Kind zu beschäftigen. Heute war sie eine vollkommen erwachsene kleine Dame, die sehr beleidigt war, wenn man sie zu Kindergesellschaften einlud. Nur wenn es ihr paßte, wie zum Beispiel jetzt, das Baby zu spielen, so tat sie es mit großem Geschick. Meinhardis hatte nicht von Anfang an ihr Interesse erregt. Eigentlich war er ihr zu alt – zu sehr »Onkel«. Der Eintänzer zum Beispiel, der immer eine Verbeugung machte, ehe er sie aufforderte, und sie genau wie alle anderen Damen behandelte, gefiel ihr eigentlich besser. Aber da war die Dame Ray. Pamela fand diese Ray einfach scheußlich – und ein Parfüm hatte die ...

»Was hast du denn heute schon alles verbrochen?« fragte Meinhardis.

»Ich habe italienische Stunde gehabt. Und dann bin ich mit Signorina spazierengegangen.«

»Ist sie hübsch, deine Signorina?«

»Die? Ach, Signorinas sind nie hübsch.«

»Ja, da kannst du recht haben. Ich finde das auch. Wo sind eigentlich die schönen Italienerinnen? Die, die hier herumlaufen, sind alle dick und blaß ...«

»Und haben fettige Haare«, ergänzte Pamela sachkundig. Es trat eine Stille ein. Pamela seufzte.

»Warum seufzt du denn?« fragte Meinhardis.

Pamela gab sich einen Ruck. »Ich wünsch' mir etwas ...« Aber sie wurde einen Schatten dunkler, nicht rot, eher bräunlich flog ihre Haut an in solchen Fällen. Meinhardis fing an, sich zu interessieren. Er setzte sich auf und blickte sie an. Aber Pamela brachte es nicht gleich heraus. Sie hatte sich das so genau ausgedacht, wie sie es sagen würde. Aber nun stellte es sich heraus, daß es doch sehr schwer war. –

Abends nämlich, wenn sie im Bett lag und der Meerwind durchs Fenster strich, hatte sie die Gewohnheit, aufzustehen und ans Fenster zu treten. Von unten her hörte man die Jazzband, und auf der Terrasse saßen die Gäste in Smokings und großen bunten Abendkleidern und nackten Schultern. An einem bestimmten Tisch abseits saßen Ray und Meinhardis. Manchmal auch verloren sich die beiden im dunklen Hotelgarten. Dann sah man nur die Zigarre glühen und konnte erkennen, ob sie gingen oder stehengeblieben waren. Dann konnte Pamela furchtbar traurig werden und zählen: zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn – wann, wann war man eigentlich erwachsen?

Sie stand auf und drängte sich an den Onkel an, wieder legte sie ihren Arm um seinen Hals. Meinhardis fühlte ihren schmalen Körper an seinen Knien.

»Na, los, sag's mir ins Ohr!«

Pamela brachte ihr Gesicht an sein gepflegtes Haar und sog den gemischten Duft von Tabak und Seife gierig ein.

»Ich möchte gerne mal mit dir abends Spazierengehen!«

Meinhardis lachte aus voller Kehle: »Du bist gut! Nein, du bist wirklich gut! – Und vielleicht wollen wir im Mondschein Kahn fahren auf dem Meer – ja?«

Pamela war ganz ernst und andächtig geworden, ihr Herz klopfte rasend.

»Ja – und – und wirst du – lieb sein mit mir?«

Meinhardis mußte sich geradezu umsehen, ob das auch niemand gehört hatte. Aber es war niemand da. Und so klopfte er Pamela auf die Schulter und sagte lachend:

»Natürlich – ich hab' doch kleine Mädchen furchtbar gern! Ich hab' doch selber eins – ein bißchen älter als du freilich.« Und kaum hatte er das gesagt, bekam sein Gesicht einen ganz wehmütigen Ausdruck.

Die Antwort war Pamela nicht ganz recht, aber sie zeigte keine Enttäuschung.

»Wann?« fragte sie bloß.

»Wann du willst – heut abend meinetwegen.«

 

»Du bist das schlechteste Kind, das jemals in unserem Hause Aufnahme gefunden hat!« Frau Oberin stampfte mit dem Stock auf. Manuela saß, sich krampfhaft aufrecht haltend, vor ihr in ihrem schmalen Eisenbett. »Benommen hast du dich wie der letzte Straßenkerl! Geprahlt, getobt hast du – deine ganze Sündigkeit hinausgeschrien hast du, damit es jeder sieht und hört, was für eine du bist! Schämst du dich denn gar nicht?« Frau Oberins Stimme wurde scharf und schneidend: »Prügeln sollte man dich, wenn du nicht zu groß wärest.«

Manuelas Hände krampfen sich in die Matratze. Kaum hält sie noch an sich.

»Und«, ruhiger und berechnender kommt es nun von oben auf sie herab, »und was du Fräulein von Bernburg angetan hast ...«, Lela hebt den Kopf und starrt entsetzt in das böse Gesicht vor ihr, »... das wird sie dir wohl niemals verzeihen!«

Ein furchtbares Zittern überkommt das Kind. Aber Frau Oberin bemerkt es nicht.

»Ich werde dir Herrn Konsistorialrat schicken. Der soll dich mal vornehmen. Vielleicht begreifst du dann deine ganze Schande – und die Schande, die du über dieses Haus gebracht hast.«

Frau Oberin wendet sich zum Gehen. An der Tür bleibt sie stehen und noch einmal nach dem Bett hinblickend, ergänzt sie sachlich:

»Deine Strafe wirst du später erfahren.«

Die Tür öffnet und schließt sich – und drinnen hört man nur noch den Stock, der dumpf – tak, tak – sich entfernt.

Mit einem Aufschrei läßt Manuela sich auf das Kissen fallen. Schwester Hanni stürzt zu ihr:

»Manuela! Kind ...«

Aber Manuela bricht in ein maßloses Weinen aus. Der ganze Körper ist vom Schreien geschüttelt. Als hätte eine fremde Macht sie in Händen und schüttle sie, so fliegen ihre Glieder, so bewegt sich ihr Kopf, so krümmt sich ihr Leib. Unverständliche Laute brechen aus ihr hervor:

»Hanni, Schwester Hanni, helfen Sie mir! Helfen – Sie – mir! – Was hab' ich denn getan? Ich hab' doch nichts getan gegen Fräulein von Bernburg! Sie ... Ach – ich liebe sie doch, ich tue doch nichts, um sie zu beleidigen – ich – ich etwas gegen sie tun ...«

Ein fürchterliches Lachen bricht aus ihrem verzerrten Mund. Schwester Hanni muß alle Kraft anwenden, das tobende Kind festzuhalten.

»Hanni – ich muß zu ihr – ich muß zu ihr – gleich – sofort – sie – sie kann doch nicht böse sein – ich hab' ihr ja nichts getan!«

Mit beiden Füßen ist Manuela schon aus dem Bett. Hanni packt sie und zwingt sie wieder zurück. Sie hört jemanden kommen. Es ist ein leiser Schritt, Schwester Hanni kennt ihn. »Manuela, Kind, sei ruhig – mein Gott, es kommt jemand!«

Plötzlich ist eine Erschöpfung eingetreten, und Manuela sinkt kraftlos nach rückwärts. Da öffnet sich auch schon die Tür, und Fräulein von Kesten steht im Zimmer.

Fräulein von Kesten ist gelaufen, sie ist aufgeregt und eilig. Soeben ist ein wichtiger Anruf gekommen. Gerade war Frau Oberin nicht in ihrem Zimmer, als Frau Prinzessin sich anmelden ließ, und sie, Kesten, hat das Gespräch entgegengenommen. Eiligst war sie dann auf die Suche gelaufen, hatte Frau Oberin im Korridor erwischt und mußte nun schnellstens weiter mit der aufregenden Botschaft, die im Augenblick alles andere in den Hintergrund drängte.

»Schwester Hanni, Frau Prinzessin war so gnädig, ihren Besuch für heute nachmittag anzumelden. Frau Oberin wünscht, daß alle Kinder zum Empfang da sind« – mit einem Blick auf Manuela: »Alle!« – Mit dir spreche ich gar nicht, sagte der Blick. Wie verwerflich dein Betragen war, wirst du ja begriffen haben. »Schwester Hanni, Manuela muß unter allen Umständen um drei Uhr wohl sein. Verstehen Sie?«

»Ich will mein möglichstes tun, Fräulein von Kesten, aber ...« Das »Kaninchen« hebt abwehrend die Hand.

»Bitte, kein Aber – Manuela muß!«

Und eilig wie sie gekommen, verschwindet sie wieder.

 

Fräulein von Kestens Glacéhandschuhe rochen nach Benzin. Sie waren auch nicht mehr tadellos weiß. Sie hatten nicht die wohltuend kühle Glätte und Prallheit neuer Glacés. Sie waren wie abgelegte Häute voller Runzeln, die auch ein heißes Bügeleisen nicht hatte glätten können. Sie hatten eben schon manchen Dienst getan und waren dabei nicht allzu gut behandelt worden. Denn Glacéhandschuhe und Aufregung waren in diesem Falle eng verschwistert und das eine bedingte sozusagen das andere. Während das blasse Kind Manuela in das frisch gestärkte weiße Kleid schlüpfte und die unbequemen harten Lackschuhe über ihre so unsicher auftretenden Füße zog – schlüpften Fräulein von Kestens knochige, verwaschene Hände in ihre müden Hüllen.

Frau Alemann rannte mit dem Staubtuch die Korridore auf und ab und wischte den letzten Staub von Türklinken und Fenstern. Herr Alemann schob bedächtig die Einfahrtstore zurück, und Frau Oberin befestigte den Elisabethorden mit der kleinen roten Schleife auf ihrer linken Schulter. Johanna fegte die kleinen trockenen Lorbeerblätter zusammen, die beim Hereintragen der beiden Lorbeerpyramiden abgefallen waren. Fräulein von Kesten untersuchte die Schrauben, die den roten Teppich, der bis hinaus ausgelegt war, befestigten. Damit sich ja keine löse, das gibt Falten, und darüber könnte – Gott behüte! – die Frau Prinzessin stolpern.

Auf dem oberen Korridor hat das Getrampel der hölzernen Absätze der Lackschuhe aufgehört. In tadelloser Ordnung, mit wassergeglätteten Haaren, weißen Zwirnhandschuhen und hellgescheuerten Gesichtern stehen die Kinder da.

»Immer müssen wir warten«, räsoniert Ilse.

»Ruhig!« wird sie von Marga verwiesen.

»Ach, quatsch nicht – ich möchte überhaupt wissen, was dir seit gestern in die Krone gefahren ist, immerzu machst du dich wichtig!«

»Laß sie!« sagt Edelgard.

»Kinder, ich finde, wir sehen aus wie die Ehrenjungfrauen vor der Feuerwehr am Sonntagmorgen.« Hinter Ilse entsteht ein allgemeines Gepruste.

Mia setzt sich in Hockstellung.

»Kinder, bin ich müde.«

»Und mich drücken diese ekelhaften Schuhe!« stöhnt Ilse von Treischke.

»Sie sind zwei Nummern zu klein.«

»Nee, deine Füße sind zwei Nummern zu groß.«

Wieder wird unterdrückt gelacht.

Diesmal schneidet »Kaninchens« Stimme die Lustigkeit ab: »Ruhe – stillgestanden!« Sie geht nah an die Reihen heran mit der Hand richtet sie aus:

»Marga, etwas hinein – Oda, Mia, vor! Gerade Linie halten! Hände an die Seite! Kopf hoch! Edelgard, Kopf hoch, hab' ich gesagt!« – Dann geht sie zur Glocke und läutet. Es entsteht eine absolute Stille. Das kleine graue Fräulein richtet sich auf, mustert die Reihen, und mit erhobener, scharfer Stimme teilt sie ihnen die Verordnungen mit, die herauszugeben ihr Amt ist.

»Ich habe euch noch eine Mitteilung zu machen. Es ist ein unerhörter, sehr trauriger Fall von Unbotmäßigkeit vorgekommen. Frau Oberin würde euch gerne den Anblick des betreffenden Kindes ersparen. Aber da die Frau Prinzessin ihren Besuch angesagt hat, muß eine Ausnahme gemacht werden. Manuela von Meinhardis wird aus dem Krankenzimmer heraufkommen. Frau Oberin verläßt sich auf euer aller Taktgefühl und erläßt den strengen Befehl, keinerlei Umgang mit ihr zu pflegen. Wer das Wort an Manuela von Meinhardis richtet – macht sich strafbar!«

In diesem Augenblick erscheint Manuela am unteren Ende des Korridors. Um ihren Platz neben Edelgard zu erreichen, muß sie die ganze Front der sie verzweifelt anstarrenden Kinder abschreiten. Sie bemüht sich, gradaus zu sehen. Ihr Gang ist unsicher. Es überkommt sie ein maßloses Gefühl der Verlassenheit. Eine furchtbare Kälte legt sich um ihr Herz. Dumpf fühlt sie das Losgelöstsein aus einer Gemeinschaft, und es hämmert in ihrem Kopf wie besessen: Warum – warum nur? – Edelgard und Ilse müssen auseinandertreten, um ihr Platz zu machen. Manuela hat ein Gefühl, als rücke man von ihr ab. Nur leicht streift ihr Ärmel denjenigen ihrer Nachbarinnen. Kein Händedruck gibt ihr Mut.

»Ihr wißt, wie ihr euch zu verhalten habt!« sagt Fräulein von Kesten und beobachtet scharf Manuelas Nachbarinnen. – Der offene Wagen auf Gummirädern fährt geräuschlos über das holprige Pflaster Hochdorfs. Eine müde Frühlingssonne hat nach dem langen Regen die Damen wohl zu dieser kleinen Fahrt vor die Stadt veranlaßt. Obwohl neben dem Kutscher ein nur ganz bescheiden galonierter Lakai die Arme verschränkt, weiß in ganz Hochdorf jeder, wer hinter dem Sonnenschirm versteckt ist. Und es gehört zum Takt, zur Sitte und guten Erziehung, vor diesem Gefährt in einen tiefen Hofknicks zu versinken. Ungeachtet des Umstandes, daß es heute etwas naß ist. Jeder, der nicht stehenbleibt und nicht grüßt, beweist damit, daß er nicht zum Hof gehört, und das ist ein Bekenntnis, das zu machen sich jeder bessere Mensch scheuen wird. Diese Dinge gehören in Hochdorf zur Tradition wie die Jagdtrophäen an den Wänden der Zimmer, wie die Hirschknöpfe an den Röcken der Hochdorfer Herren. Die Frau Prinzessin, die ein gutes Herz hatte, wäre sehr erschrocken, wenn man das Erschießen eines extra dazu gejagten Hirsches einen Mord genannt hätte. Die Frau Prinzessin war eine wirklich gute Mutter, soweit die Etikette ihr das erlaubte – und wie sie nun vor den vielen weißgekleideten Mädchen stand und sie alle einen so musterhaften Knicks machten, ging ihr das Herz auf. Sie freute sich an dem Anblick.

»Ach, es ist schön, Frau Oberin, so viele glückliche Kinder zu sehen!«

Die Frau Prinzessin konnte nicht wissen, daß die Kinder am Umsinken waren und seit einer halben Stunde dort standen, weil sie, die Frau Prinzessin, später gekommen war. Sie konnte auch nicht wissen, daß die Kinder sich heimlich fragten, ob der Besuch wohl etwas zu essen mitgebracht hatte. – Wenn die hohe Frau, was ihr natürlich nicht in den Sinn kam, gefragt hätte: »Kriegst du genug zu essen?«, so hätte jede krampfhaft geantwortet: »Jawohl, Königliche Hoheit.«

Jetzt trat die hohe Frau zu den Damen. Eine nach der anderen versank zum Handkuß, und für jede hatte die Prinzessin ein freundliches Wort bereit.

»Was macht der Haushalt, Fräulein von Attems?«

»Ich danke, Königliche Hoheit«, war die Antwort.

»Lernen die Kinder fleißig, Mademoiselle?«

»Ausgezeichnet, Königliche Hoheit.«

»Und wie ist es mit der Gesundheit der Kinder?« Die Prinzessin wendet sich wieder an Frau Oberin, die, dicht hinter ihr stehend, bereit ist, jede gewünschte Auskunft zu geben.

»Vorzüglich, Königliche Hoheit, vorzüglich!«

Die gütigen Augen unter dem großen Hut und den schönen grauen Haaren, die in altmodischer Frisur zu einem Bausch gebettet unter dem Hut liegen, blinzeln die Kinder an.

Da trat Gräfin Kernitz, die Hofdame, dicht heran und flüsterte etwas unter den großen Hut.

»Jaja«, nickte die Prinzessin, »ich weiß, liebe Kernitz. – Liebe Oberin, die kleine Beckendorf ...«

Kaum ist der Name gesprochen, ruft Fräulein von Kesten das gewünschte Kind auf, und Anneliese von Beckendorf beugt sich zum Handkuß über den tadellosen Glacéhandschuh Ihrer Königlichen Hoheit.

»Na, wie gefällt es dir hier?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, spricht die Prinzessin dem Kind freundlich ins Gesicht:

»Schön, natürlich ...« Und Anneliese ist entlassen.

Wieder nähert sich Gräfin Kernitz – aber es ist gar nicht nötig zu erinnern, Frau Prinzessin denkt von allein daran: »Die kleine Meinhardis ...«

Unsicheren Schrittes, was die hohe Dame sich als Erregung und Schüchternheit deutet und ihr doppeltes Wohlwollen hervorruft, nähert sich Lela und versinkt in einen zittrigen Hofknicks. Es ist schwer, das Knie so tief zu beugen.

»Ja«, Frau Prinzessin betrachtet Lela, welche die Augen niedergeschlagen hat, »ja, du siehst deinem Vater sehr ähnlich, sehr. – Ich habe auch deine Mutter gekannt, eine religiöse Frau – ich hoffe, du wirst ihr nachschlagen.« Dann stutzt sie, und Manuela vergessend, sieht sie erschrocken Frau Oberin ins Gesicht – und vorwurfsvoll: »Aber blaß – blaß, liebe Oberin.«

»Nur eine kleine, unbedeutende Unpäßlichkeit«, stottert Frau Oberin.

»Doch nicht ansteckend?« fragt Ihre Königliche Hoheit erschrocken.

»Nein, durchaus nicht, durchaus nicht!«

Frau Prinzessin setzt sich in Bewegung, ohne auf Manuela, die noch immer wie in einem Dämmerzustand dasteht, im geringsten zu achten.

»Ja, man ist ängstlich, liebe Oberin, wenn man selbst so viele Kinder hat.«

»Gewiß, Königliche Hoheit. Durchaus begreiflich!« Und beide Damen gehen über den Korridor ins Zimmer der Oberin.

Gräfin Kernitz ist nun diejenige, die ihre Anordnungen zu treffen hat. Sie ist eine alte Dame und im Hofdienst ergraut. In solchen Augenblicken ist sie nicht verlegen. Sie wendet sich zu Fräulein von Kesten:

»Die Kinder können gehen.«

Und das »Kaninchen« gibt die Order weiter:

»Die Kinder können gehen. Umziehen, weiße Kleider abliefern, keinen Lärm machen und ab in die Klassen!«

Die Mädchen gehorchen.

»Ja – und die Damen auch!«

Die Damen hatten nicht auf die Aufforderung gewartet. So nahm die alte Gräfin auf der Bank Platz, um die Rückkehr ihrer Herrin zu erwarten. Nach ihr setzte sich auch Fräulein von Kesten.

»Ein herrlicher Tag heute«, begann die Gräfin das Gespräch und Fräulein von Kesten mußte ihr beipflichten. Während des Besuches der Frau Prinzessin hatten Lelas Augen vergeblich die Augen Fräulein von Bernburgs gesucht. Sie fühlte es erkaltend: Fräulein von Bernburg wollte sie nicht beachten. Gleichgültig blieb das Gesicht da drüben, unbeweglich. Ein vorwurfsvoller Blick wäre ja eine Wohltat gewesen! Manuela hatte nur einen Gedanken, einen Wunsch, eine Besessenheit: Hin zu ihr! Zu ihr! fühlte sie, dann ist alles gut. Sie muß doch begreifen, sie muß doch verstehen, daß ich sie liebe – und nichts, auch nichts je tun würde, um sie zu betrügen. Und wieder gleitet ihr Blick ab an der unbeweglich starren Maske des geliebten Menschen.

Niemand sprach mit ihr, die Kinder verliefen sich, ohne sie anzusehen. Aber das war alles gleichgültig in diesem Augenblick. Sie mußte Fräulein von Bernburg sprechen, und so stürzte sie wie gejagt zu einer Seitentreppe, um oben Fräulein von Bernburg den Weg abzuschneiden, bevor sie ihr Zimmer betrat.

Sie mußte drei Stockwerke ersteigen. Die Treppe war steil, und ihre Knie waren schwach. Sie hatte das Gefühl, als versänken die Stufen unter ihrem Tritt. Um nicht zu fallen, hielt sie sich am Geländer, aber es gab nach. Es schwindelte ihr. Und Eile tat not. Einmal wieder im Krankenzimmer, würde sie nicht so leicht wieder heraufkommen können, und zu ihr mußte sie – und jetzt und gleich!

Wie schmerzte sie der Kopf, und wie schwer war es doch, zu behalten, was sie sagen sollte und was sie wollte. Der Herr Pfarrer hatte gesagt – was war es nur? – um Verzeihung bitten. – Jaja, das wollte sie – gerne, gerne! Der Atem blieb aus. Manuela mußte sich an einen steinernen Eckpfeiler lehnen. Ihre Brust arbeitete schnell. Aber keine Zeit versäumen, nur weiter! Ach – ihre Hand fassen – und – ja, sie wußte wieder – das Unrecht. Sie hatte unrecht getan, natürlich – was für ein Unrecht, das wußte sie auf einmal nicht mehr. Aber wie sie ganz klein war, hatte Mutti gesagt: »Wenn man unrecht tut, muß man es wiedergutmachen.« Damals hatte sie einer Schulkameradin eine Puppe geschenkt, die einzige, die sie gern hatte. Warum, wußte sie jetzt nicht mehr. Aber nachher würde ihr das schon einfallen, es war ja nicht wichtig. Jetzt hört sie Schritte. Es ist halb dunkel, aber Lela weiß, wer es ist. Sie hat Angst, tobende, sehnsüchtige Angst, aber sie steht mitten im Weg – und Fräulein von Bernburg kann nicht an ihr vorüber. Sie will reden und kann es nicht – wo ist denn die Stimme? Und was war es doch noch – die Knie wanken! Nicht fallen, nicht fallen! denkt sie.

»Nun, was willst du noch?«

Lela streckt beide Arme aus. Sie hebt den Kopf, und ihr Mund ist wie zu einem Schrei geöffnet – ihre Augen, gehetzt, starren Fräulein von Bernburg ins Gesicht.

Einen Augenblick nur sieht Fräulein von Bernburg erschrocken in das verzweifelte Gesicht, und ihr Versprechen, nicht mehr mit Manuela zu reden, ist vergessen.

»Hast du mir etwas zu sagen, Manuela?«

Lelas Kopf fällt auf ihre Brust: »Ja.«

»Also gut – komm mit.«

Fräulein von Bernburg öffnet die Tür. Lela geht ihr nach, und die Tür schließend, bleibt sie davor stehen. Ihre Hände greifen, nach Halt suchend, an das glatte weiße Holz. So steht sie und wartet.

Im dunkelnden Zimmer flammt ein Licht auf. Eine Hand hat die Schreibtischlampe angezündet. Ohne sich nach ihr umzuwenden, steht Fräulein von Bernburg vor dem Tisch. Ein wenig ist ihr Kopf gesenkt, und ihre Hände halten die Tischkante fest.

Manuela sieht auf die dunkle Gestalt. Jetzt soll sie sprechen. – Wie war es doch? – Sie sollte um Verzeihung bitten.

Sie beginnt leise zu zittern. Zuerst die Knie, und langsam geht es über auf den ganzen Körper. Stille liegt zwischen den beiden Frauen, und trotzdem ist der dunkle Raum wie mit Toben erfülle Manuela lehnt den Kopf an die Tür, sie schließt die Augen, zwingt den zitternden Mund zum Gehorsam. Leise und körperlos, wie auswendig Gelerntes und Fremdes, ziehen die Worte nach drüben hin, wo die Frau steht, die den Kopf tiefer gesenkt hat, die Arme nun fest gestemmt auf dem Tisch vor ihr.

»Ich bin gekommen, um Verzeihung zu bitten für das große Unrecht – Unrecht, das ich Ihnen getan habe.« Es entsteht eine Pause. – Hofft sie etwas? Glaubt sie, die dort am Tisch, vor dem Licht, die dunkle Gestalt wird sich umwenden? – Nein. Die Gestalt dort wendet sich ihr nicht zu, sie kommt ihr nicht zu Hilfe. Langsam sinkt Fräulein von Bernburg auf den Armstuhl. Den Kopf stützt sie in die Hand. Es bleibt still.

Von neuem beginnt Manuela; wie eine Litanei klingt es:

»Ich will mit Fasten und Beten alles abbüßen, was ich Unrechtes getan habe, damit mir die große Sünde ...« Wieder entsteht eine Pause, aber es geschieht nichts. Manuela hofft auf ein Zeichen. Stumm fleht sie um eine kleine Geste. Aber es kommt nichts, sie wartet umsonst. – Hört Fräulein von Bernburg, was sie sagt? Sie weiß, ihre Worte haben keine Kraft. Wie sollten sie auch? Fremde Worte. Da rafft sie sich auf zum letzten, was sie noch weiß: »So wahr mir Gott helfe!«

Ein dumpfer Schlag reißt Fräulein von Bernburg in die Höhe. Manuela ist kraftlos zur Erde gefallen – ihr Kopf liegt auf dem harten Boden.

»Kind, Liebling – du – komm!« Hastige, warme, gute kleine Worte flüstert sie ihr zu, aber Manuela hört nichts. Die Augen fest geschlossen, das Gesicht totenblaß, die Glieder ohne Willen, liegt sie da. Zwei Hände halten ihren Kopf, greifen nach dem Herzschlag, fühlen ihren Puls – sie weiß es nicht. Dann wird sie aufgehoben – auf das Sofa getragen und hingebettet. Eiskaltes Wasser berührt ihre Schläfen – da öffnet sie die Augen. Jetzt ist sie ruhig. Sie hat alles vergessen, was war. Sie sieht in das ernste Gesicht, das so nahe dem ihren ist. Sie sieht die dunkelbraunen forschenden Augen auf sich gerichtet. Sie fühlt, daß ihre beiden Hände gefangen liegen in den kühlen Händen Fräulein von Bernburgs. Ihr Kleid ist geöffnet – sie kann atmen. Es scheint ein böser Traum vorüber zu sein. Jetzt ist es gut. So liegen, fühlt sie, sie spüren und von ihren Händen gehalten sein – ihr Blick auf mich gerichtet, in mich hinein – in meine Augen – so ist es gut, und so soll es bleiben für immer!

Fräulein von Bernburg nimmt des Kindes Hände und bettet sie ihr zusammengelegt auf die Brust. Aber dann steht sie auf. Um sprechen zu können, darf sie nicht nah sein. Raum schaffen, Abstand, wenn das gesagt werden soll, was gesagt werden muß.

»Manuela!« – Das Kind rührt sich nicht. Die Hände liegen so, wie sie es hat haben wollen, nie wird Manuela die Hände von dort wegnehmen, ohne ausdrücklichen Befehl.

»Manuela, du mußt jetzt deine ganze Kraft zusammennehmen. Du mußt versuchen zu verstehen!«

Wozu redet sie so, fühlt das Kind. – Kraft? – Kraft hat sie keine mehr. Sie will auch keine mehr haben. Wozu? Sie kann nur daliegen. Ohne ausdrücklichen Befehl kann sie auch nicht aufstehen.

»Manuela, wir beide, wir müssen uns trennen.«

Es ist so schwer, Worte zu begreifen, wenn man so müde ist. Aber Manuela gibt sich Mühe. – Wie war das? »Trennen« – und »wir«? Langsam reiht sich Laut neben Laut vor ihr auf. Die beiden Worte stehen vor ihr in der Luft: »Trennen« und »wir«. – »Wir«, fühlt sie – wie schön das Wort ist! Zum erstenmal umfaßt es uns beide zusammen in einem Wort – sie und mich. Ja: »Wir« – aber trennen jetzt, wo sie doch zusammen sind? –

»Hast du mich verstanden, Kind?«

Nein, sie hat wohl nicht verstanden.

»Von jetzt an wirst du nicht mehr mit den andern Kindern leben. Du wirst im Isolierzimmer wohnen. Nicht im gemeinsamen Speisesaal essen, nur den Schulunterricht wirst du mit ihnen haben.«

Das berührt Manuela nicht. Aber es kommt ihr ein Gedanke, und plötzlich ist die Angst da. Die Angst fährt in sie und reißt sie ohne ihren Willen in die Höhe:

»Und schlafen ...«

»Nicht mehr in meinem Schlafsaal.«

»Und – und die Spaziergänge nicht mit ...«

»Nicht mit den andern Kindern, nicht mit mir.«

Manuela steht aufrecht da.

»Und die Religionsstunden ...«

»Nicht von mir – vom Herrn Pfarrer.«

Wie ein Vogel, der sich in ein Zimmer verirrt hat und mit dem Kopf gegen alle Wände schlägt, rasen Manuelas Gedanken hin und her.

»Aber ich muß doch ...«

»Nein – du sollst mich nicht wiedersehen.«

Manuela steht. Wie war das? Plötzlich fällt die Erkenntnis in sie hinein wie ein glühender Stein.

»Nicht – wiedersehen?« Die Worte reißen sich aus ihr heraus wie glühende Fetzen. »Sie nicht wiedersehen?« Das ist das Ende! Es ist ja nichts außer ihr! Keine Heimat, keine Familie, keine Welt!

»Nein!« – hört sie sich sagen: »Nein!« – Wild, trotzig, bestimmt, wie ein Mensch sich festkrampft am Rettungsboot, um nicht zu versinken: »Nein« – bis ihm einer die Finger abhackt.

»Du hast zu gehorchen.« – Ganz fremd und hart hat sie das gesagt – die dort, die da steht. Manuela weiß nicht, daß diese Härte eine Flucht ist vor sich selber. Eine Angst, nur ja zu Ende zu kommen – wie auch immer, nur schnell. Keine Seitenwege – es ist nur noch Kraft für einen kurzen Weg da, und der muß schnell zurückgelegt werden.

»Du mußt gehorchen. Tun, was man dir sagt. Du mußt geheilt werden.«

»Geheilt? – Wovon?«

Schwer, einzeln, einsam kommt jedes Wort allein auf sie zu. Eines nach dem anderen:

»Du darfst mich nicht so liebhaben, Manuela, das ist nicht gut. Das muß man bekämpfen, das muß man überwinden, abtöten.«

Leise spricht das Kind die Worte nach: »Man muß – muß abtöten ... Warum?« Ihr Blick wandert hinüber zu Fräulein von Bernburg. »Man« hat sie gesagt. – Sie auch? Muß sie denn auch ...? Hin stürzt sie, sie fällt, sie wirft ihren Kopf gegen die Knie der Frau vor ihr. Rasend schnell, verwirrt und wie im Fieber bricht es aus ihr hervor:

»Liebes, geliebtes Fräulein von Bernburg! Nicht – das haben Sie nicht gesagt! – Sie wissen doch, Sie wissen es ja – ich kann das nicht überleben! Das ist ja der Tod.« Und ganz ruhig: »Sagen Sie ein Wort – sagen Sie es ganz leise: ›Ich verlasse dich nicht.‹ Dann will ich still sein – ich will alles tun, alles über mich ergehen lassen, ich will gehorchen und gut sein.«

Manuela wartet auf ein Zeichen. Es kommt nichts. Ihre Hände werden sanft, aber bestimmt gelöst, ihr wiedergegeben, sie fallen der am Boden Knienden in den eigenen Schoß. Fräulein von Bernburg tritt weg von ihr. Einen Schritt. Sie muß ein Ende machen, sonst ...

»Manuela, steh auf!«

Jetzt erhebt sich das Kind, aber sie ist plötzlich kein Kind mehr. Sie ist unheimlich ruhig geworden. Ruhiger als die Frau, die vor ihr steht.

»Ja, ich gehe«, und mit einem irren Lächeln sieht sie der anderen ins Gesicht. »Liebes Fräulein von Bernburg, ich gehe!«

Sie macht keine Bewegung, die Hände zu küssen. Es ist, als fühlte sie gar nichts mehr.

»Adieu, liebes Fräulein von Bernburg.« Wie im Traum geht sie zur Tür – öffnet sie und hat sie geschlossen.

 

Fräulein von Bernburg hat verzerrten Gesichts eine rasche Bewegung zur Tür hin gemacht. Aber an der Tür ist sie stehengeblieben. Mit beiden Händen faßt sie sich an den Kopf.

»Nein«, sagt sie laut vor sich hin und noch einmal: »Nein!«

Manuela hört sie nicht mehr. Sie ist wie im Schlaf. Bewußtlos, nichts sehend, nichts fühlend, wird sie höher getrieben, höher – Stufe für Stufe führt die weiße Treppe empor. Manuela geht mit halb geschlossenen Augen. Du darfst nicht hinabblicken, es wird dir schwindeln, du darfst nicht ...

»Vater unser, der Du bist im Himmel – das ist das Ende – das ist der Anfang – geheiligt werde Dein Name ...« Leise, auf Fußspitzen schleicht, stürzt, rennt atemlos Edelgard den Korridor entlang, nimmt den ersten Treppenabsatz, den zweiten ...

»Edelgard!« Eine scharfe Stimme reißt sie zurück. »Wo willst du hin?«

Edelgard bleibt stehen und blickt verzweifelt die Treppe hinauf, ohne auf Fräulein von Kesten zu achten.

»Komm herunter da – du hast da oben gar nichts zu suchen!«

Und Edelgard, an Gehorsam gewöhnt, wendet sich langsam um. Gesenkten Kopfes steht sie vor Fräulein von Kesten.

»Was soll das bedeuten, Edelgard?«

Edelgard nimmt sich zusammen. »Ich – Fräulein von Kesten – ich suche Manuela«, erklärt sie mit bleichen Lippen.

»Du und Ungehorsam, Edelgard? – Das ist ja recht nett, das ist ja ganz neu.«

Edelgard hebt Kopf und Blick.

»Manuela ist nicht schlecht, Fräulein von Kesten!« sagt sie mutig, ja beinahe hochmütig in Fräulein von Kestens unruhige Augen hinein.

Fräulein von Kesten ringt nach einer Antwort. Aber sie soll ihr erspart bleiben. Von unten her kommen unterdrückte Rufe:

»Manuela! Manuela!«

Fräulein von Kesten beugt sich über die Rampe:

»Ruhe da unten! – Seid ihr denn alle verrückt geworden?« Eine ungeheure Bewegung scheint sich der Kinder bemächtigt zu haben – Empörung flackert auf – Angst – unerklärliche Angst – den unteren Korridor entlang rennen sie: »Manuela!« Alle Türen öffnen sie: »Manuela!« Im Schlafsaal, in den leeren Schulklassen hört man es leise fragen: »Manuela ...«

»Komm mit!« herrscht Fräulein von Kesten Edelgard an und eilt nach unten.

Aber schon kommt es näher, schon jagt es die Treppe hinauf, drückt einfach Fräulein von Kesten an die Mauer und stürmt weiter. –

Vor Fräulein von Bernburgs Tür machen sie halt.

Keine Antwort kommt auf ihr Klopfen.

Die Tür ist verschlossen.

Mit letztem Mut trommelt Oda gegen die Tür.

»Manuela!«

Aber Manuela ist weit weg. Sie will nichts mehr hören – oder hört wirklich nichts mehr. Ganz oben beim allerletzten Treppenabsatz steht sie am Fenster – weit sieht man da über Baumwipfel und Dächer. Es ist ein hohes, schmales Giebelfenster. Das Gesims geht ihr kaum bis zum Knie. Mit der einen Hand hat sie den Fensterflügel geöffnet, mit der andern hält sie sich fest. –

Die frische Luft weht um ihre Stirn. Sie ist ganz klar – ja überklar, wie die Sterbenden sind. Weit ist es bis da unten, aber frei und kühl wird es sein – und sie wird draußen sein – nicht mehr drinnen – weit – draußen – und – frei ...

Ein Hauch zittert durch die hohen Bäume. Die Sonne geht unter. Auf der Straße ist alles still. Unbewußt bewegen sich die Lippen:

»Wenn ich auch gleich nichts fühle
Von Deiner Macht,
Du führst mich doch zum Ziele
Auch durch die Nacht ...«

Dann breitet sie die Arme aus:

»So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Bis an mein selig Ende ...«

»Manuela! Manuela! Manuela!«

»Warst du im Schrankzimmer?«

»Ja!«

»Im Garten?«

»Auch!«

»Wenn wenigstens Fräulein von Bernburg ...«

Plötzlich ertönt eine wahnsinnige Glocke. Es läutet.

»Was ist?«

»Das kommt von unten.«

Warum hört es nicht auf? Wer läutet so? Warum stürzen sie alle die Treppen hinunter?

Herr Alemann, mit offenem Uniformkragen, reißt zitternd an der Tür. Er kann das Tor nicht allein öffnen, er muß sich helfen lassen. Fräulein von Bernburg ist neben ihm. – Jetzt!

Manuela liegt auf den harten Steinstufen vor ihnen. Herr Alemann breitet die Arme aus und hindert die Nachdrängenden, Fräulein von Bernburg zu folgen.

Fräulein von Bernburg kniet nieder. Leise nimmt sie Manuelas Kopf in den Schoß. Ihre Hand liegt auf Manuelas Herzen. – Aber da drin ist es still.

Das Haus ist erstarrt. Niemand spricht. Niemand drängt sich herzu.

Man läßt die beiden allein: Fräulein von Bernburg und Manuela.


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