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Auf seinem blassen Gesichtchen waren einige ockergelbe Sommersprossen verstreut. Die braunen Simpelfransen bedeckten die halbe Stirn, und die Augen darunter waren klein und dunkel.
Einen stumpfen Spielzeugspaten in der Hand, beugte er sich voll kindlicher Ernsthaftigkeit in einer Gartenecke am Fuße eines Bratbirnenbaumes nieder und grub in den Boden ein Loch. Die Äste, schon kahl, ragten in einen windzerrissenen Novemberhimmel und kehrten dicke Wolken zusammen, während auf der Erde welke Blätter lagen, deren leuchtendes Gelb von der Feuchtigkeit durch große schwarze Flecken verwüstet wurde. Sie rollten sich auf zu schmalen, länglichen Gebilden, wurden glitschig und glichen kleinen gesprenkelten Feuersalamandern. Etwas vom Baum entfernt, in der Zaunecke, war ein aufgehäufter Berg davon, und auch im angrenzenden Garten waren sie in ganzen Wolken über den Rasen geweht.
Ein plötzlicher Regenschauer, den der Wind herbeitrieb, begann den Eifer des kleinen Gräbers zu stören, ein Gefühl von Unbehagen nahm von ihm Besitz und zerstreute ihm alle Freude zu weiterem Tun. Er richtete sich auf und merkte, wie seine Kleider in lästiger Weise vom Schweiß an der Haut klebten. Und das unerträgliche Gefühl wuchs, als er auch noch von außen her von Regentropfen durchnäßt ward; seine Begeisterung schwand völlig dahin.
Leonhards Kopf war noch von der Arbeit erhitzt; doch über den Rücken rann ihm schon ein eisiges Frösteln, und seine Finger verklammten sich. Die nackten Knie und die Ränder der Hose waren beschmutzt. Desgleichen die Hände und die Ärmel des Sweaters. Als er es bemerkte, spreizte er ärgerlich die Finger. Dabei fühlte er, wie seine Knöchel schmerzten, und als er seine Hände betrachtete, sah er, wie auf den Handflächen auf geröteten Stellen weißliche Blasen standen. Eine davon war aufgegangen, ein durchsichtiger klebriger Saft entquoll ihr, der ihn mit Abscheu und Ekel erfüllte. Er wollte den Schmutz, der sich schwärzlich unter den Fingernägeln angesammelt hatte, beseitigen, und biß die Nägel deshalb kurzerhand ab. Jedoch heftig, wie er schon war, riß er dabei aus den Ecken der Fingerspitzen kleine Stückchen Haut, und durch Speichel und Erdpartikelchen, die in die blutenden Risse gerieten, fingen sie höllisch an zu brennen. Alles an seinen Händen begann ihn zu schmerzen. Er hielt sie weit von sich, abgestreckt wie unnütze böse Dinge, und wünschte sie, die er eben noch so eifrig gebraucht hatte, in diesem Augenblick weit von sich.
Diese dummen schmerzhaften Hände! Er wollte sie betäuben und schlug blindlings und wütend auf den Spatengriff. Aber diese Gewaltkur verschlimmerte die Schmerzen nur, und verzweifelt steckte er die rotgewordenen Knöchel in die kühle aufgeschüttete Erde, bis sie völlig unter dem kleinen dunklen Hügel verdeckt waren, so daß es schien, als besäße er nur noch zwei blasse magere Armstummel.
Ein Gefühl gänzlicher Verlassenheit überkam ihn, wie er so vor seinem Erdhaufen kniete und in den leeren Garten sah. Es dünkte ihn, als sei die ganze Umwelt ihm feindlich gesonnen und habe es darauf abgesehen, ihn zu plagen. Er war sich selbst ein Fremder. Mißgünstig war der Zaun mit seiner korrekten Reihe von Stäben, drohend der Birnbaum. Das Loch, auf dessen Grund sich ein wenig Wasser angesammelt hatte, gähnte wie ein teuflisches Auge. Regentropfen fielen immer stärker in sein Gesicht, und die Feuchtigkeit kroch über seine Wangen wie ein schleimiges Wassertier.
Obwohl es erst vier Uhr nachmittags sein konnte, wurde der Tag rasch dunkel, denn eine riesige blauschwarze Wolkenwand stieg über das Dach des Hauses. Von dem raschelnden Laub und den ächzenden Bäumen kam ein Geräusch, das wie Unheil klang. Er bückte sich ein wenig seitwärts und blickte gegen das Haus, das hinter den taxusbesäumten Wegen stand. »Mutt!«, sagte er halblaut, und darauf schrie er, so laut er konnte, nochmals »Mutt!«, daß sich seine Stimme in hellem Kreischen überschlug.
Auf dem schlecht gepflegten Weg – den Kies hatte man ganz in den Boden eingetreten, und überall wuchs Gras – eilte die zierliche Frau herbei, die Mutt war. Sie trug eines der schlechten Kleider der Kriegszeit, deren Stoff aus Brennesselfasern hergestellt wurde. Es war von mausgrauer Farbe, hochgeschlossen, und eine blendende Reihe von Perlmutterknöpfen, die vom Halsschluß über den Busen bis zum Gürtel ging, war das einzig Auffallende daran, und sie vermochte sogar dem schlechten Ding eine gewisse Eleganz zu geben.
Sie hatte mit eiligen Schritten die Ecke erreicht, wo ihr Junge kniete. Er blickte ihr mit weinerlichen Augen entgegen und klagte über seine schmerzenden Hände. Seine Stimme hatte einen Ton, der halb nach Entschuldigung klang und halb Mitleid verlangte. Jetzt, da die Mutter bei ihm war, hatte er sich wieder gefaßt und war beschämt, daß er so angstvoll nach ihr gerufen hatte.
Sie hob ihn zu sich empor und umschlang ihn mit festpressenden Armen, wobei sie ihr Gesicht in sein feuchtes Haar drückte. Ihre Zärtlichkeit, die er ungerührt über sich ergehen ließ, war überschwenglich und heftig. Es schien, als wollte sie dadurch ihre nachmittägliche Vernachlässigung wiedergutmachen, denn die Schneidermamsell war dagewesen und den ganzen Nachmittag über geblieben; es gab viel zu besprechen und zu überlegen, wenn man jährlich von Staats wegen nur Stoff für zwei Kleider erhielt.
Mutt hatte also nicht mit ihm in das Marionettentheater gehen können, wie es ausgemacht war. »Morgen, mein Kleiner«, hatte sie gesagt, »werden wir gehen; sicher wird dann ein viel schöneres Stück gespielt als heute. Aber jetzt kann ich um alles in der Welt nicht fort; Mamsell Zwicker ist da und hat wichtige Dinge mit mir zu bereden. Sei artig und geh für eine Stunde in den Garten.«
Die letzten Worte hatte sie schon wieder über den gefalteten Stoff gesprochen, den die Zwicker auf immer neue Weise wendete und drehte. Mutt griff nach der Schere und sagte irgend etwas über die Beschaffenheit der neuen Litzen. Sie merkte sicher nicht, daß Leonhard immer noch hinter ihr stand und sie aufmerksam betrachtete. Ihr langes braunes Haar, das von derselben Farbe war wie das seine, hatte sie unter einem dünnen Haarnetz im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Ihre Stirn war übertrieben steil, und die Nase ging in einem starken Winkel davon ab, was ihr Gesicht wunderschön machte, fremd und immer etwas unbekannt. Der Mund war voll, sogar leicht wulstig, und glich einer breiten, von der Sonne aufgegangenen Pfingstrose. Auch seine Farbe war so. Als ihm eines Tages diese Beobachtung eingefallen war, hatte er wirklich seinen Mund auf eine Pfingstrose gedrückt und erfahren, daß beide, Mund und Blume, einander gänzlich glichen. Die Küsse der Mutter waren weich und widerstandslos wie ein Blütenkissen.
Als sie so dastand, jung, klein und zart, schien sie ihm wie eine unbekannte Frau, die gar nichts mit ihm zu tun haben konnte. Man mußte sie bewundern, weil sie so hübsch war, und konnte zugleich sagen, daß es ungehörig war, wenn sie jemanden wie ihn in diesem Falle so gänzlich übersah. Aber sonderbar war es, daß diese mädchenhafte Frau die Mutter sein sollte, der man gehorchte, die einem was schenkte, und die man bedauern mußte, wenn sie zuweilen in ihrem Zimmer saß und weinte.
»Weißt du«, sagte sie dann, während schöne Tränen an ihrer schönen Nase herunterliefen, »weißt du, du bist jetzt mein großer Junge, dem ich alles sagen kann, und der auch alles versteht.« Sie schluchzte. »Ach, dein Vater! Dieses öde Leben, das ich führen muß! Er nimmt auch schon gar keine Rücksicht mehr auf mich.« Sie schwieg. Leonhard glaubte, etwas entgegnen zu müssen.
»Ja, warum denn nicht?« fragte er, ohne daß ihn die Antwort interessiert hätte.
»Ach, er ist viel zu alt; er denkt immer nur an sein Geschäft und sonst an nichts. Er vergißt ganz, daß ich jung bin. Keine Gesellschaft, kein Theater, keine Musik, keine Blumen. Nie hat er Zeit.« Neues Schluchzen.
»Aber Onkel Berg bringt doch welche.«
»Ja, er ist deshalb auch sehr nett, nicht wahr?«
Leonhard stimmte zu, weil die Mutter es offensichtlich wünschte. Onkel Berg: so hieß der baumlange Artillerieoffizier, der dreimal in der Woche ins Haus kam, zweimal am Nachmittag und einmal abends, wenn Vater da war. Er saß im Salon immer auf demselben Sessel, auf dem mit den breitausladenden Armstützen und den außerordentlich kurzen Füßen. Er saß auf dem vorderen Teil des Polsters, ohne sich anzulehnen, und seine langen Beine waren steil nebeneinander in die Höhe gerichtet. Seine Lieblingsstellung war so, daß er auf die gefalteten Hände sein Kinn legte und mit den Augen von unten her die Gegenübersitzenden anblickte. Das machte sein Gesicht finster und großartig.
Eine kurze Zeitlang war es Leonhard gewöhnlich erlaubt, der Unterhaltung beizuwohnen. Meist bildete er selbst den Gegenstand des Gespräches und durfte mitreden. Hierauf aber wurde er unter irgendeinem Vorwand abgeschoben, worüber er sehr froh war, denn er liebte nicht, wenn man sich zu sehr mit ihm beschäftigte und er gleichsam vor dem Besuch zu paradieren hatte. Er war gezwungen, jedesmal allerlei drollige, für ihn aber sehr unangenehme Begebenheiten zuzugestehen, die Mutt lachend erzählte, während Onkel Berg aufmerksam achtgab, als wären es ernsthafte Dinge.
Der Vater mußte den Onkel nicht sehr schätzen, da er ihn einmal, ohne zu bemerken, daß Leonhard ins Eßzimmer getreten war, sehr laut und sehr böse einen dummen Laffen genannt hatte, den er nicht immer in seinem Hause sehen wolle.
Er, Leonhard, fand ihn ziemlich nett, denn er hatte ihm gleich zu Anfang ihrer Bekanntschaft die beiden silbernen Medaillen geschenkt, die an seiner Uhrkette hingen und die seine Bewunderung erregt hatten. Auf der Rückseite war bei beiden ein Kranz von Eichenblättern zu sehen, während die Vorderseite der einen mit einer Schießscheibe und die der andern mit zwei gekreuzten Gewehren geschmückt war. Sie sahen niedlich aus, und Leonhard hielt sie tagelang mit einer Sicherheitsnadel wie Orden an seinem Russenkittel befestigt, bis er schließlich, als er die Lust daran verloren hatte, sie den beiden Kaninchen in der Waschküche um den Hals band.
*
Er ging mit der Mutter auf dem schlecht gepflegten Gartenweg ins Haus zurück. Die schwarze, über das Dach heraufgekommene Wolke war jetzt über den ganzen Himmel gestürzt, und in der Ferne harrte schon die Nacht. Es regnete stark. Die Bäume, die noch vorher verzweifelt mit dem Wind gekämpft hatten, standen still und trist. Die hellerleuchteten Fenster des Hauses glänzten wie hoffnungsvolle Sterne aus angstvoller Finsternis, und sein kleines Kinderdasein, das vorher so unsäglich haltlos und weltkalt gewesen war, erhielt jetzt wieder eine nach Warmem und Geborgenem strebende Richtung. Immer, wenn er sich irgendwo unglücklich fühlte, war das nun in einer Kindergesellschaft, in der er aus unerklärlichen Gründen zum Sündenbock geworden war, den die anderen am Ende ihres tollen Treibens vor den rächenden Erwachsenen als den Schuldigen brandmarkten, oder war das in den Sommerferien, da die Eltern in ein Bad reisten, und er, weil er noch zu klein war, irgendwo einsam auf dem Land, fern der vertrauten Umgebung, in Kost getan wurde, – immer wenn er sich unglücklich fühlte, war ihm die kleine und bunte Welt seines Kinderzimmers das Ziel seiner Sehnsucht. Dort war eine Atmosphäre der Liebe und des Geborgenseins, die ihn tröstete und ihn vor aller Einsamkeit und Verlassenheit sicher machte. Er kannte alle Dinge und sie ihn. Da war nichts tot. Alles führte sein besonderes und wunderlich lustiges Leben, das mit seinem eigenen in Traum und Wirklichkeit derart verflochten war, daß er von den Grenzen nichts mehr wußte. Diese Wesen waren alle heiter und ausgelassen, während er, mitten drin, ihnen mit großer Ernsthaftigkeit zuschaute. Oben an den vier Wänden tanzten auf einem Fries die Figuren der Kindermärchen, die keineswegs stumm waren, sondern sprachen und lärmten, besonders bei Nacht. Sie verlockten ihn, daß er aus dem Kissenleib seines Bettes stieg und sich zu ihnen begab, um in ihrer Mitte fröhlich zu sein. Alle liebten ihn sehr, und das Gänsemädchen mit den gelben Haaren und dem Holzpuppengesicht küßte ihn zum Schluß, wenn er erwachte. Das war nicht weich und blütenblättrig wie der Mund von Mutt, sondern kühl und fest wie die dicke Geländerstange des Gitterbettchens ...
Als Leonhard mit der Mutter durch die Waschküche das Haus betrat, stürmte er gleich die Treppe hinauf, um in sein Gelobtes Land zu gelangen. Aber Mutt rief ihn zurück und sagte, er müsse erst Kaffee trinken. Sie hatte einige Male zu rufen, bis er endlich stillstand und Stufe um Stufe langsam wieder zurückstieg.
»Ich mag nicht«, sagte er.
»Doch, du mußt; du hast bei Tisch so wenig gegessen und warst jetzt so lange im Garten, daß du unter allen Umständen etwas essen mußt.«
Sie schickte ihn in die kalte, dunkle Küche, wo ihm erst die Hände gewaschen und die wunden Stellen mit einer Salbe bestrichen wurden. Dann setzte er sich an den Tisch, auf den, freundlich leuchtend, ein blau-weiß gewürfeltes Tischtuch gebreitet war. Paula schenkte ihm in die Tasse Kaffee, zu dem er trotz seines Widerwillens ein Stück vom bittern Kriegsbrot essen mußte. Mit großer Eile erledigte er das Geschäft und wollte schon vom Stuhle gleiten, um endlich in sein geliebtes Zimmer zu entkommen, als er abermals aufgehalten wurde. Paula rief ihn zurück und sagte, er solle warten, bis sie die Schuhe fertig geputzt habe, sie ginge hernach mit ihm in sein Zimmer, wo sie ihm andere Kleider anziehen müsse, denn die, welche er anhabe, seien ja ganz durchnäßt.
Er hatte also wieder eine Zeit zu warten, die ihm unerträglich lang wurde. Da er sich nach seinem Paradiese sehnte, war ihm die Küche wie eine Hölle verhaßt. Um sie nicht anzusehen, blickte er auf das vom Regen überlaufene Fenster und beobachtete das Wettrennen der Wassertropfen, die auf der Außenseite vom oberen Fensterrahmen auf das Sims herunterliefen. Wenige waren so geschickt, daß sie schnurstracks nach unten eilten. Die meisten machten weite Umwege, bogen nach der Seite ab oder gingen im Zickzack, und oft verlor er auf all den Irrwegen den beobachteten Tropfen aus den Augen.
Endlich war Paula fertig. Sie band sich die blaue Küchenschürze ab, und die weiße, die sie gewöhnlich trug, kam zum Vorschein. Er folgte ihr in das obere Stockwerk nach, ohne daß sie weiter ein Wort gesagt hätte. Für sie war ein Kind nur ein halber Mensch, so etwas vielleicht wie ein Haushund, an den sie nicht allzuviel Worte verlieren mochte, ihm aber dafür um so lieber bei Gelegenheit einen derben Puff versetzte. Als sie mit ihrem breiten Hintern, der ungeheuer auf- und niederwogte, vor ihm das finstere Treppenhaus hinaufstieg, hatte er gegen sie einen heftigen Haß. Sie wäre wohl tief erschrocken, wenn sie geahnt hätte, was für Gedanken im Hirn des Kleinen durcheinanderschossen. Zuweilen konnte ihn das Bewußtsein ihrer unangenehmen Häßlichkeit so stark überfallen, daß sich seine Abneigung gegen sie bis zur gruseligen Lust am Quälen und Töten steigerte. Nicht nur ihr Betragen, diese oft gar nicht so ernst gemeinten Grobheiten, auch ihre körperliche Gestalt wuchs dann vor seinen Augen ins Ungeheuerliche und Verabscheuungswürdige, vor der er aber trotz seines Ekels wie gebannt war. Sie, das Ungetüm, stand dann vor ihm wie ein Tier auf allen Vieren, mit enorm ausgeschweiften Hinterbacken, auf die er, der Kleine, der in solchen Augenblicken immer einen lang ausgedrehten schwarzen Schnurrbart besaß, mit einer scharfen Gerte in großen Schwüngen niederschlug: eins, zwei, drei ... er hörte seine Stimme schrill zählen, während die ihre jämmerlich winselte. Gerade überlegte er, ob er ihr den Kopf abschlagen oder sie lieber in einem Waschkessel kochen sollte, da knipste Paula, unberührt von all diesen Martern, im Kinderzimmer das Licht an. Das plötzliche Hellwerden ließ die gräßlichen Bilder mit einem Schlag verschwinden; der kleine Teufel mit dem spitzen Schnurrbart war weg. Nichts blieb als eine unbekannte Stimme, die sagte, daß er Böses und Unrechtes gedacht hatte.
Geradezu verstört wurde er aber, als sich Paula heute von der besten Seite zeigte und während des Anziehens plumpe Späße versuchte und nett zu ihm sein wollte. Sie hatte hinter ihrer niedrigen Stirn keine Ahnung, wie unausstehlich sie ihm war, wie er ihre gekrümmten knorpeligen Hände verabscheute, die jetzt über seinen Rücken strichen, um das Jäckchen zu schließen.
Hatte sie ihn nicht erst gestern wieder bei der Mutter verklatscht, als er unter dem Tisch gesessen und trotz des Verbotes »Schatzgräber« gespielt hatte? So schwer es ihm angekommen war, er hatte sie gebeten, es nicht zu sagen, denn von seiner Artigkeit an diesem Tag hing es ab, ob er mit der Mutter in die Stadt gehen durfte oder nicht. Aber da hatte sie nur höhnisch gelacht, dieses unerträgliche Lachen, bei dem sie die Arme in die Hüften stemmte, hatte ihn einen kleinen Betrüger genannt und es doch erzählt, auch daß er versucht hatte, sie zum Schweigen zu bringen. Mutt hatte gesagt, das sei schlecht und gleichviel wie gelogen; er müsse jetzt zur Strafe zu Hause bleiben.
Aber als sie dann fort war und Paula in der Küche das Abendessen bereitete, hatte er sich in trotzigem Grimm wieder unter den Tisch begeben, wo er von der Tischdecke, die bis zum Boden hing, gänzlich in Dämmerung gehüllt wurde.
*
Paula hatte endlich die Häkchen am Rücken in die Schlinge gesteckt und verließ, wie ein Nilpferd stampfend, das Zimmer, nachdem sie ihn in die Fensterecke zu dem Zirkus der Stofftiere gesetzt hatte. Dort blieb er nicht lange. Als er hörte, wie die Treppenstufen unter ihren Schritten knarrten, verließ er seinen Platz und kroch, abwechselnd Handflächen und Knie vorwärtsschiebend, in Richtung auf den Tisch.
Er wollte gerade die Falten der herabhängenden Decke heben, da vernahm er, wie von irgendeiner Seite des Ganges her Schritte kamen. Sie kamen hastig wie Unheil. Im selben Augenblick, als ihr Klang sich aus der Stille erhob, wußte er, daß sie vor seiner Tür haltmachen würden, und ehe er sich noch dieser Wahrnehmung entsprechend verhalten konnte, klinkte auch schon die Tür. Die Mutter rief ihn an.
Das gab in seinem erregten Gehirn eine kleine Katastrophe. Es war, als würde etwas zerrissen. Sein Gefühl, die Erwartung der verbotenen Freude, hatte ihn schon ganz in Besitz genommen, alle seine Gedanken waren sehr heftig auf das bevorstehende Spiel gerichtet gewesen, denn nach den Verwirrungen, Kümmernissen und Gereiztheiten des schon vergangenen Nachmittags hatte er sich mit allen Kräften nach der beglückenden Stunde des Alleinseins unter dem Tisch gesehnt. Aber jetzt war auf eine übermäßige Anstrengung, nämlich der, nach all dem Erlebten der vergangenen Stunden nicht in wahnsinnige Weinkrämpfe auszubrechen, sich nicht ins eigene Fleisch zu beißen und seine Kleider zu zerfetzen, statt der erhofften Erlösung ein vorzeitiger Abbruch erfolgt. Von dem wunschlosen Vergnügen, in das er sich aus all den Nöten seiner aufgeregten Kindheit zu retten pflegte, hatte er noch nichts als die halb bangen Vorahnungen gespürt, die nur immer heftiger zur Vollendung und zu gelöstem Ausruhen treiben.
Jetzt, durch das Hereinplatzen der Mutter wurde er vollkommen niedergeschlagen, um alles gebracht, und er war von dem Schmerz der Überraschung so matt, als ob er ohnmächtig hinsinken müßte. Dabei hatte sich seine Listigkeit, die ihn vor der feindlichen Außenwelt schützte, seinem erschlafften Willen entgegen noch sehr zu bemühen, daß die Mutter nicht merkte, wie er eben wieder Verbotenes hatte tun wollen. Er benahm sich plötzlich so, als ob er »umgefallener Käfer« spielen würde. Mit Händen und Beinen strampelte er in der Luft, während sein Körper auf dem Rücken lag und sein Mund wie ein erbostes Insekt heftig brummte.
»Paula und ich gehen in die Stadt«, sagte die Mutter, indem sie lachte und schon wieder zur Tür ging, »bleibe hübsch in deinem Zimmer und sei artig. Tu nichts, was man dir verboten hat. Wir werden bald wieder zurück sein.« Schnell hatte sie die Tür wieder geschlossen, und ihre Schritte versanken lautlos, wie sie gekommen waren.
Erschöpft lag er auf dem Linoleumboden, hatte seine Arme kreuzförmig ausgestreckt und das Knie des einen Beines halb und müde erhoben. Es ging einige Zeit, bis er den Oberkörper aufrichten konnte und mit verstörten Augen um sich sah. Er verhielt sich zuerst ganz ruhig, wobei er in die rotverhängte Lampe starrte, dann, als er durch eine zufällige Bewegung spürte, daß der Arm, auf den er sich stützte, steif geworden war, bückte er sich nach der Seite, um den andern als Stütze zu nehmen. Die schwer gewordene Hand, in welcher es kribbelte, als liefen tausend Ameisen durch, hob er in die Höhe, um sie mehrere Male niederfallen zu lassen wie ein Stück Stein.
Endlich beschloß er, unter den Tisch zu kriechen. Im Grund drängte ihn ja nichts mehr dazu. Unfähig, noch für irgend etwas Anteilnahme aufzubringen, hätte er geradeso gut bleiben können, wo er hockte, für alle Ewigkeit, wie es ihm schien.
Rings unter dem Tisch lief eine schmale Holzleiste, die zur Verstärkung der seitlichen Stützen diente und zwischen ihrer oberen Kante und der Unterseite der Tischplatte einen schmalen Zwischenraum freiließ. Dort hatte er den kleinen, vom Toilettentisch seiner Mutter entwendeten Nagelputzer verborgen, welchen er als Handwerkszeug zum Schatzgräberspiel benötigte. Dieses bestand darin, daß er die eingesprenkelten hellen Flecken aus dem dunklen Grund des Linoleums herausbohrte. So einfach und unbedeutend es auch war – es wurde von ihm mit einer Leidenschaftlichkeit betrieben, die niemand begriff. Die Mutter hatte es verboten, weil es den Bodenbelag schädigte, und weil beim Reinemachen die kleinen entstandenen Grübchen Schmutz und Bohnerwachs aufsaugten, welches hernach durch die Wärme wieder herauslief und Boden und Kleider beschmierte.
Die hellen Plätzchen aber, die Pünktchen und Flecken hatten für Leonhard einen geheimnisvollen Reiz, von dem niemand etwas wußte, und der erst recht gesteigert wurde, wenn er an einem der kraus gestalteten Umrisse die Spitze der kleinen Feile ansetzte, ihn einige Male, stark drückend, nachfuhr, um, sobald das Einsprengsel ein wenig gelockert war, es vorsichtig und feierlich herauszuheben. Manchmal gab es dann eine Enttäuschung, die aber nur wieder zu einem erneuten Versuch anstachelte. Sie trat ein, wenn das entfernte Stückchen flach gewesen war, so daß sich die entstandene Vertiefung kaum von der übrigen Fläche abhob. Dann gab es ein großes Überlegen, welches nun das nächste Opfer sein sollte.
Verwunderlich war es, daß er alle Flecken genau kannte und den einen oder anderen davon, wenn er eine besondere Gestalt hatte, bevorzugte. Da gab es zum Beispiel eine Ansammlung von sechs oder sieben Stück – ursprünglich waren es neun gewesen –, die alle wie Fische aussahen, und die er deshalb als Fischteich bezeichnete. Dann war nahe bei diesem ein ganz abenteuerlicher Fleck, den er die Hexe nannte, weil er wirklich, ohne allzu große Phantasie, in seinem bizarren Umriß als solche zu erkennen war. Er sparte sie als Opfer für eine besondere Gelegenheit auf, die er sich so außerordentlich vorstellte wie ungefähr ein Jüngstes Gericht. Seine wesentlichsten Überlegungen beschäftigten sich damit, wie wohl der Untergrund dieser Figur gestaltet sein mochte, ob flach oder tief, ob eben oder bucklig. Die am häufigsten vorkommende Art waren die sogenannten Sterne, welche mit mehr oder weniger spitzen Zacken allerorten verbreitet waren und diejenigen Gebilde darstellten, die er am leichtesten opferte. Ihr Reiz war auch nicht sehr groß, denn er wußte im voraus ziemlich genau, daß sie beim Herauslösen einen spitz zulaufenden Trichter hinterließen.
Nahe an dem einen Tischbein befand sich sein Liebling, einer der größten anwesenden Flecken. Er sah aus wie ein Elefant. Selbst der nüchternste Mensch hätte ihn leicht als einen solchen erkannt. Er besaß einen deutlich ausgeprägten Rüssel, der etwas eingerollt war, zwei plumpe Beine und einen dicken Leib. Der Ansatz eines Schwänzchens war unverkennbar.
Leonhard liebte das kleine Tier über alles, fuhr oft zärtlich mit der Feilenspitze seinen Konturen nach, ohne aber ihm wehe zu tun, gleichsam nur, um trotz aller Liebe sein Herrschertum zu betonen, und er beschloß, es nie und nimmer auszustechen. Lilifant, der Name war eine Zusammenziehung der Worte Elefant und Liliput, wurde oft der stundenlangen Betrachtung für würdig befunden. Immer trampelte er vergnügt in der Richtung auf das Tischbein zu. Das Licht der Lampe, das durch das Gewebe der Decke drang, war gedämpft und erfüllte den engen Raum mit rotviolettem Schimmer. Dann ging ein großer Zauber los und betäubte die Phantasie des Kleinen. Die Sonne war untergegangen, und die Tischplatte war der Nachthimmel von Afrika. Lilifäntchen war groß und marschierte in Richtung auf ein Minarett. Es hatte einen weichen Teppich auf dem Rücken, und er selbst saß als König aus Tausendundeiner Nacht darauf.
Heute, an diesem schlimmen Tag, war auch dies Fabelwesen kein Trost mehr. Die fette rauhbautzige Paula und die Überrumpelung der Mutter hatten alles verdorben. Nicht einmal einen Stern wollte er ausgraben. Am liebsten hätte er noch die Hexe geopfert, aber als er daran dachte, welch eine schöne Stunde er verbringen konnte, wenn er sie später mit all den gehörigen Vorbereitungen heraushob: – den Selbstgesprächen, in welchen er sein eigenes Vorhaben zu verteidigen pflegte, den Ausrufen der Enttäuschung und der Bewunderung während der Arbeit, den künstlich herbeigeführten Erschöpfungszuständen, da er mit halb singender, wehleidiger Stimme an einem glücklichen Zu-Ende-Kommen zweifelte, dem Hangen und Bangen beim Herausheben des Stückes selbst und der darauffolgenden Augenweide an dem neu entdeckten Loch –, dann verzichtete er jetzt lieber und hielt sich zurück, dem Impuls der augenblicklichen Trostlosigkeit zu folgen, der ihn doch nur um eine spätere Lust brachte.
Mißgelaunt und verdrossen rutschte er wieder in die leere Helligkeit des Zimmers, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Eine Zeitlang stand er zwischen Gardine und Fenster und blickte über den Garten auf die Straße, welche von fahlen Gaslampen beleuchtet wurde. Es regnete. Das gelbe Licht blieb an den Pfählen hängen. Ein paar Leute mit aufgespannten schwarzen Schirmen liefen lautlos vorüber.
Dann wandte er sich zurück ins Zimmer und holte aus dem dunklen Bauch des Kastens einige Bilderbücher, die er mechanisch durchblätterte, um sie nach dem Vorüberhuschen der wirren Farbflecke wieder wegzuwerfen. Ganz gedankenlos ging er zum Lichtschalter und knipste, nur damit seine kleinen aufgeregten Hände etwas zu tun hatten, das Licht an. Öde.
Da er nun schon einmal bei der Tür stand, war es das Nächste, sie zu öffnen und in den stummen Gang zu blicken. In längeren Zwischenräumen befanden sich dort hoch an der Decke kleine Glühbirnen, die den ganzen Abend über brannten und Gang und Treppenhaus schwach erhellten.
Er erschrak, als plötzlich die Tür hinter ihm zuschlug und er sich allein in dem schattenerfüllten Korridor befand. Mit zögernden Schritten auf den Zehen, als dürfe er die unheimliche Stille nicht reizen, wiegte er sich auf dem Läufer nach vorne, wo das Treppengeländer begann. Aber in einer plötzlichen Hast hatte er zu rasch nach ihm gegriffen und sich der obersten Stufe versehen. Unter hallendem Lärm brach er zusammen und polterte zwei, drei Stufen hinab, wo er furchtsam liegen blieb, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Es dauerte lang. Der Lärm wollte in dem weiten Treppenhaus nicht zur Ruhe kommen, und immer neue Kaskaden von Hall und Krach fielen auf ihn nieder. Als es endlich ganz still war, stand er zaghaft auf und klammerte sich inbrünstig an die Geländerstäbe, als seien es lebendige Wesen. Er spürte heftiges Herzpochen, als wäre er im Begriff, irgend etwas Außerordentliches, vielleicht etwas Böses zu vollbringen. Einen Augenblick durchforschte er sich streng. Er entdeckte nichts. Aber seine Furcht wurde schließlich zu einem Zittern vor der Umwelt, wie er es immer bekam, wenn ihn ohne Halt und ohne Hoffnung auf Sicherheit der Schmerz seines Alleinseins überfiel. Er hatte in seiner armseligen Kindheit, um sich vor dem Fremden zu bedecken, nichts als den leicht zerstörbaren Schutzmantel seiner Phantasien und kleinen Freuden, die er sich unter so unsäglichen Anstrengungen und mit so frühreifer Listigkeit selber schuf. Aber oft zerfetzten diese zarten Gebilde vor dem Ansturm und der erdrückenden Wucht neuer geheimnisvoller Dinge, die ein fremdes Leben und eine drohende Bedeutung hatten. Dann wußte er nicht wohin mit seinem gequälten Gehirn, seinen unerklärlichen verwirrten Gedanken und seiner kleinen Seele, die klagte und litt. Ohne Unterlaß nahm ihn der Kampf in Anspruch. Bis in Schlaf und Traum hinein war er ruhelos und gequält. Und immer wieder ward er von demselben gräßlichen Bild gepeinigt, das einmal, vor langer Zeit, in einem bösen Traum emporgetaucht war, sich von Zeit zu Zeit wiederholt hatte und auch in angstgepeinigten Wachzuständen erschien:
Da sah er an einem Steilabhang ein Tausendschönchen stehen, das statt des gelben Staubfädenkorbes sein, Leonhards eigenes blasses Gesicht trug. Und dann fühlte er immer, wie er sich furchtbar anstrengte, um sich vom Platz bewegen zu können. Aber nie ging es. Mit Todesangst mußte er sehen, wie von hoch oben aus dem Dunklen sich ein ungeheurer Steinblock löste, sich erst ganz langsam vorwärts bewegte, als zögerte er noch, um dann schneller und schneller mit tosendem Donner herabzustürzen auf ihn, der unbeweglich war. In seinen Ohren tönte und schwoll ein Brausen. Aber jedesmal, wenn die Sekunde kam, da er meinte, von dem Koloß zermalmt zu werden, vermochte er plötzlich wieder seine vordem starr gebannten Augen zu bewegen. In Angst schloß er die Lider, und wenn er sie wieder öffnete, war das Phantom verschwunden; er war wach und blickte nach der dunklen Zimmerdecke oder nach dem schimmernden Spalt zwischen Fenster und Vorhang.
Dabei war er sehr tapfer und verbarg seine Schmerzen, die er niemandem anvertrauen konnte, fest in sich. Manche Leute, die einen besseren Blick für Kinder hatten als seine junge schöne Mutter, merkten wohl, daß hinter den kleinen verschleierten Augen und den dünn gepreßten Lippen etwas Sonderbares versteckt war, aber sie dachten nicht weiter als an kleine Lügen oder an das harmlose Laster der Knaben und hießen ihn einen Duckmäuser. Leonhard, der in sich, so lange er nur zurückdenken konnte, nichts fand als unerklärliche Dinge, suchte vergeblich, wie er es anstellen sollte, sein Wesen zu ändern. Er litt und kam sich vor, als ob er krank sei und eigentlich immer zu Bett liegen müßte. Manchmal, nach besonders erregten Tagen, war er auch wirklich krank. Die Mutter merkte es, wenn sie ihre kühle Hand auf seine Stirn legte. Sie sagte dann, er habe Fieber, und brachte ihn zu Bett. Paula, die brummelte, mußte Tee kochen. Die Kissen wurden angewärmt, und in ihrer Molligkeit fühlte er sich dann leidlich sicher. Wenn man einen Bettzipfel zwischen die Lippen nahm, war es wie der Mund von Mutt.
*
Angstvoll und allein hielt er sich am Geländer im Treppenhaus, und eine große Sehnsucht überkam ihn nach den weichen Kissen. Dort konnte er schön mit dem Kopf unter die Decke gehen, die Kniescheiben ans Kinn ziehen und sich zusammenrollen wie ein Igel. Das war dann, als hätte man jemandem ein Schnippchen geschlagen, als wäre man mit knapper Not vor Ungetümen auf eine absolut sichere Insel entronnen, und man mußte dabei vor Freude tief unten in der Kehle kichern und den Kopf, als wäre man seiner immer noch nicht sicher, fest zwischen die Beine klemmen.
Er schaute zurück, wo weit hinten im Schatten die Tür seines Zimmers lag. Aber das hellere Treppenhaus erschien dem finsteren Gang gegenüber verlockender; er brachte nicht die Überwindung auf, ihn nochmals zu begehen. Indem er sich mit den Händen am Geländer festhielt und die Füße quer zwischen die einzelnen Stäbe steckte, angelte er sich langsam in den Vorplatz hinunter.
Als ob er etwas Verbotenes täte, schlich er sich dann zur Küchentür, deren Füllung mit einer Glasscheibe bedeckt war, auf der sich das Licht spiegelte, und die ihn durch ihre freundliche Helligkeit anlockte.
Bebend öffnete er die Tür, betrat die Küche und drehte das Licht an. Er hielt sich für gerettet, da das Dunkle, Unheimliche des Treppenhauses verschwunden war. Die blanken Töpfe auf den Gestellen, die Teller, der vernickelte und weißemaillierte Herd, das alles glänzte und schien und vermochte auf die getrübten Gedanken des Kleinen keinerlei schlimmen Eindruck auszuüben. Aber die Beruhigung dauerte nur kurz, und bald bedrückte ihn wieder die grenzenlose Stille, die überall lastete. Sie machte in ihrer Größe den Raum endlos.
Und plötzlich fielen die vier weißgestrichenen Wände nach außen um und wurden flach wie weite Schneefelder. Er hob die Augen, um sie abzumessen, und er hob sie senkrecht und maß kein Ende. Wie manchmal die Dinge ihm derart nah erschienen, daß ihn ihre groteske Größe und Verzerrung überwältigte und sie dadurch wieder endlos weit erschienen, so flohen jetzt die Wände hemmungslos davon. Alles ist fern, klein und undeutlich. Er sieht sich selbst als schwachen Punkt auf weißer Fläche, und seine Augen, die von fernher zuschauen, werden riesig und verschwimmen, daß ihn Schwindel packt. Die Stille jagt alles von ihm weg. Er ist winzig und allein, steht im Leeren, hat Angst und weiß nicht wohin. Ein Gefühl, als stehe er sündig da, wächst in ihm auf. Gleich muß die Bestrafung nahen und über ihn ergehen.
Die Küchentür ging auf; vorsichtig spähte jemand mit dem Kopf herein. Er hatte es erwartet: dieser noch unsichtbare Arm mußte die Hand tragen, die sich gleich, die sich jeden Augenblick lang nach ihm ausstrecken mußte, seinen Hals zu fassen und ihn zu erschlagen. Aber siehe: der Mensch, der da hereintrat, war die Mutter und hatte durchaus keinen schrecklichen Arm, sondern einen sehr schönen schlanken, der sich wie eine Pflanze im Wind bewegte.
Eine Sekunde lang hatte er gewagt aufzusehen. Aber sofort starrte er wieder mit geneigtem Kopf zu Boden.
Die Mutter sprach etwas, und der Ton ihrer Stimme stieg hell und scharf in die Luft, fragend, mißtrauend:
»Du? ... Was tust du denn hier?«
Er fing an zu zittern und sah mit hilflosen Augen zu ihr auf. Wieder nur für eine Sekunde.
»Ich will sofort wissen, warum du hier bist. Das scheint mir sehr verdächtig. Was hast du nur angestellt! Rot bist du und siehst furchtsam aus. Lüge nicht und gestehe sofort alles! Was hast du getan?«
»Ich? Nichts, gar nichts.«
Es wurde ihm schwach, und er mußte sich an der Tischkante halten, wo seine Finger anfingen, nervös zu tasten. Paula war jetzt auch hereingetreten, begriff augenblicklich, daß man ihn bei etwas ertappt hatte, und begann wie ein Wasserfall zu reden. Aber es war nur ein unartikuliertes Rauschen, das er vernahm. Die Mutter hatte sich inzwischen in der ganzen Küche nach verdächtigen Anzeichen umgesehen, ohne eines zu finden. Sie ließ sich alles, was er hätte tun können, durch den Kopf gehen. Schließlich kam sie darauf, daß er genascht haben mußte. Sie trat in die Speisekammer, rumorte einige Zeit darin herum, war plötzlich ganz still und kehrte nach einer Minute mit strengem Gesicht zurück.
»In der blauen Glasschale fehlen drei Stückchen Zucker«, sagte sie. Laut und stark wie Posaunenstöße dröhnte es: »Du hast von dem Zucker genommen.«
Da sah er erschrocken auf, und wenn sie nicht schon allzusehr von ihrem Gefühl und ihrer Rolle als Richterin verblendet gewesen wäre, so hätte sie aus diesem hilflosen erstaunten Gesicht gesehen, daß er unschuldig war.
Doch die Sache hatte nun einmal ihren Lauf genommen. Die Missetat war und blieb vor den unfehlbaren Großen getan. Ein strenges Verhör suchte ihm ein Geständnis zu entreißen. Die Mutter, die sich auf einen Stuhl gesetzt hatte, hielt ihn zwischen ihren auseinandergestellten Beinen und hatte ihn mit beiden Händen an den Schultern gefaßt, so daß sich sein Oberkörper zurückbog. Der Kopf hing nach hinten, und seine Augen sahen über sich ihr vom Einreden verzerrtes Gesicht. Paulas Wortschwall tönte immer noch hinter ihm. Er hörte Mahnungen, Drohungen, mitunter gütlich lockendes Zusprechen und dann wieder fürchterliche Schimpfworte. Die Mutter gebot dieser Überschwemmung endlich Einhalt, und man vernahm nur noch ihre eigenen hellen scharfen Worte, oft unterbrochen von einem Schweigen, das auf ein Geständnis wartete.
Aber er war betäubt und sagte nur wenige Silben wie »nein« oder »ich habe es nicht getan« oder »das ist bestimmt nicht gelogen«. Schließlich wurde die Mutter zorniger, zerrte an seinen Haaren und schüttelte den Kopf wild hin und her. Sie sprach flehend und bettelte um ein Geständnis, als hinge ihr Leben davon ab. Wütend schrie sie und kündigte ihm die schrecklichsten Strafen an; sie stieß ihn heftig von sich weg und hieß ihn wieder herkommen. Dann sagte sie ganz ruhig, wenn er jetzt gestehe, würde ihm nichts widerfahren, sie wolle nur unter allen Umständen die Wahrheit wissen.
Er blieb stumm und verstockt. Paula mußte ihn zu Bett bringen. Er bekam kein Abendbrot und durfte sich nicht vor den bekümmerten Eltern zeigen.
Hoffnungslos lag er in seinem Bettchen und kaute an einem Kissenzipfel. Obwohl er sich darüber ärgerte, vermochte er nicht zu verhindern, daß ihm Tränen aus den Augen drangen. Sie liefen in Bächen über die Wangen, ohne daß er dabei einen Laut ausgestoßen hätte. Auch als er sich mit Gewalt dazu zwingen wollte, brachte er nicht die geringste Überlegung zustande. Sein Kopf war wie ausgebrannt. Jedesmal, wenn er an etwas denken wollte, war es ihm, als wollte er einen seltsam behauenen Stein umfassen, der ihm beim Greifen immer wieder entglitt. Er wußte, daß etwas Neues über ihn gekommen war, das er nicht erkennen konnte, weil es vor seinen Gedanken beharrlich zurückwich.
So lag er lange in einem Zustand halber Bewußtlosigkeit, und erst ein Geräusch an der Tür brachte ihn wieder zu sich. Er rieb sich rasch die Tränen ab, wandte sein Gesicht zur Wand und stellte sich schlafend. An dem schweren Klopfen der Schuhe hörte er, daß es der Vater war, welcher kam.
Der Vater neigte sich über die Bettstatt, zog die Decke weg und drehte den widerstrebenden Kleinen gewaltsam zu sich her.
»Aber, mein Kleiner, was hast du denn da nur angestellt?« sagte er.
»Nichts; ich habe den Zucker nicht genommen.«
»Aber Mutti weiß doch bestimmt, wie viele Stückchen heute morgen in der Schale waren. Als sie zurückkam, waren es weniger.«
»Schau«, fuhr der Vater fort, nachdem er ein paar Sekunden gewartet hatte, damit Leonhard etwas sagen möge, »schau, es war nicht schön, daß du genascht hast. So etwas schickt sich nicht für einen Jungen. Aber viel häßlicher und viel schlimmer ist es, wenn man nicht eingesteht, was man getan hat. Das ist nicht nur Feigheit, sondern eine große Lügerei. Man will vor den anderen Menschen als gut erscheinen, obwohl man im Geheimen Böses begangen hat. Jemand, der das tut, ist ein Heuchler und ehrloser als solche, die sich offen verfehlen. Sei stark, mein Kleiner! Nur das erstemal wird dir die Überwindung schwer. Du hast, als man dich ertappte, nicht gleich gestanden; gut!, es nachträglich zu tun ist immer hart. Aber du bist mein tapferer kleiner Mann und wirst es trotz allem gestehen. Man weiß nicht immer gleich das Rechte. Aber jetzt, da du dir alles genau hast überlegen können, mußt du auch den Mut finden, für deine Verfehlung einzutreten. Ich weiß, du bist tapfer. Ich war immer stolz auf einen solch tapferen Sohn, und ich erwarte, daß er es auch jetzt ist. Oder willst du deinen Vater betrüben? Die notwendige Strafe, die dich erwartet, ist nicht schwer. Und wenn alles vorüber ist, wirst du unaussprechlich froh sein und selbst die meiste Freude haben. Jetzt liegt noch alles auf dir wie eine schwere Last, und du vergällst dir deinen Tag. Alle sehen in dir einen Dieb und Lügner. Aber wenn du deinen Fehler eingestanden hast, bist du einer, vor dem man Achtung haben muß. Sei also wacker! Gesteh'!«
Leonhard hatte alles mit großer Aufmerksamkeit vernommen und nachdenklich mit seinen Fingern gespielt.
»Nun«, hörte er den Vater nochmals erwartungsvoll sagen. Da zuckte er zusammen, und sein Gesicht verzog sich weinerlich.
»Vater –, ich habe bestimmt keinen Zucker genommen«, sagte er, »ich hätte gar keine Angst, es zu gestehen. Aber ich habe bestimmt keinen genommen.«
Man sah deutlich, wie er sich quälte. Die wenigen Worte, die er gesagt hatte, waren mit leidenschaftlichem Ausdruck hervorgekommen, und der Vater vermochte in dem Augenblick nicht mehr anders als an sie zu glauben. Kaum wagte er, nochmals die einzelnen Verdachtsmomente der Mutter aufzuzählen: das unerklärliche Verweilen in der Küche, die verlegene Haltung, als man ihn gefragt hatte, und das Fehlen der Zuckerstücke in der Schale.
Wortlos erhob er sich und verließ das Zimmer.
*
Noch ein zweites Mal wurde der Kleine an diesem Abend aus seiner Trostlosigkeit gerissen.
Sporenklirrend und säbelrasselnd trat gegen halb neun Uhr Leutnant Berg an sein Bett und machte ein Gesicht, als müsse er ein Hinrichtungskommando befehligen. Es war augenscheinlich, daß er sich seiner schweren und undankbaren Aufgabe bewußt war. Sein Haupt trug er gesenkt und die Augen hatte er nach oben gerollt, daß sie unmittelbar unter den Brauen standen. Die eine Hand ruhte am Degengriff.
Als er hereintrat, richtete sich Leonhard steil auf und stützte sich mit rückwärtsgebogenen Armen auf das Kopfkissen. Der Leutnant setzte sich auf die Bettkante, die eine Hand immer noch am Degen, strich mit der anderen Leonhards Haare aus der Stirn und packte ihn am Genick, daß er wie in einem Friseurstuhl eingeklemmt war. Er schaute ihm starr in die Augen.
»Mein Kleiner«, sagte er, »du bist ein deutscher Junge. Du weißt, was das bedeutet. Ich verlange von deiner Ehre, daß du sofort gestehst, was du begangen hast.«
So gut er es in seiner Umklammerung vermochte, schüttelte Leonhard den Kopf. Berg sah ihn entrüstet an.
»Du willst also unter allen Umständen deine Ehre verlieren«, sagte er, »schäme dich! Jeder häßliche Franzosenjunge ist mir zehnmal lieber als du. Wie willst du Soldat werden, wenn du so feig bist! Aus dir wird nie ein Held, denn du hast keinen Mut und lügst. Wie willst du unserem Kaiser in die Augen sehen können? Das Vaterland wird dich verachten. Alle Kameraden werden dich verachten. Ich habe mich sehr in dir getäuscht.«
Und er erhob sich, und sporenklirrend und säbelrasselnd verschwand er, wie er gekommen war. Als letztes Zeichen seiner Empörung knallte er heftig die Tür hinter sich zu.
*
Leonhard dachte lange und brütend über diese Angelegenheit nach, über welcher er wie aus einem Traum zu erwachen hoffte.
Sie nannten ihn alle böse, aber er war gut, er war bestimmt gut. Das Gefühl seiner gekränkten Unschuld wuchs allmählich ins Unermeßliche. Die Lust des Leidens hatte er schon oft genug erfahren, um nun die Lust des unschuldig Leidens in ihrer vollen Höhe auszukosten. Sein kleines Dasein, das bisher eine so bedeutungslose Rolle in der Welt gespielt hatte, erhielt jetzt seine Wichtigkeit und war plötzlich vieles Sich-Selbstbedauerns und vieles Sich-Selbstbemitleidens wert. Er nahm die gegen ihn begangene Ungerechtigkeit als eine Krankheit, die man eben leiden und ertragen mußte. Er verbiß sich förmlich in den Gedanken, sie recht gut und stark zu ertragen, ohne daß die Erwachsenen etwas davon merkten. Einmal hatte er seinen Arm gebrochen, und da er zuerst nicht gerade zusammenwachsen wollte, mußte der Arzt ihn ein zweites Mal brechen. Es ging lange, bis er wieder heil war und die Schmerzen endlich aufhörten. Aber damals hatte er gelernt, etwas zu erdulden und seine Ehre darin zu sehen, niemals zu klagen.
*
Das ganze Haus war empört über den Hartnäckigen und Verstockten. Paula sprach ihm die schrecklichsten Dinge vor, erzählte schauerliche Geschichten von argen Sündern, die ihres Leugnens halber mit siedendem Pech begossen, auf Winden gespannt, mit Zangen gezwickt, gepeitscht, durchsägt, gevierteilt worden seien. Auch ihn würden solche Qualen nach dem Tod erwarten, wenn er die Wahrheit nicht eingestände.
Aber sie hatte vor langer Zeit auch einmal eine Geschichte von einem Heiligen erzählt, der unschuldig geköpft worden war. Daran dachte er jetzt.
Der Vater kam nie mehr. Paula sagte, er wäre verreist. Von Zeit zu Zeit sah ihn die Mutter. Sie trat mit strengem Gesicht zu ihm heran und fragte nichts weiter als »Nun?«. Aber er schüttelte den Kopf, und sie verließ schweigend den Raum.
Man hatte ihm nicht mehr erlaubt, im Speisezimmer unten zu essen. Paula brachte die Mahlzeiten herauf, bei welchen der Nachtisch fehlte. Man hielt ihn wie in einem Gefängnis, und er durfte selbst zu den nötigsten Bedürfnissen das Zimmer nicht verlassen.
Es kamen noch einige braune Spätherbsttage. Er stand den ganzen Nachmittag über am Fenster und schaute auf den Garten, dessen Bäume alle Blätter verloren hatten. Dafür aber leuchtete der Boden wie eine warme orangefarbene Samtdecke. Die Wege waren ganz in sie versunken, und Vögel pickten in ihr, als suchten sie dort nach den verlorenen Dingen des Sommers.
Seine noch unsicheren Begriffe hatten sich völlig verwirrt. Er lebte in Erwartung und hatte etwas Unerklärliches, wie ihm aber schien, etwas sehr Großes im Sinne, das er mit Glanz und Bravour auszuführen gedachte. Spielend zögerte er noch, wie es Zauberkünstler tun, wenn sie durch Tändeln den Effekt ihrer Kunststücke erhöhen wollen. Diesmal sollten sie etwas erleben, Mutt, Vater, der Soldatenonkel, Paula. Mit wahrer Wollust stach er das lang gehegte tiefgeliebte Lilifäntchen aus dem Boden.
An einem Nachmittag, als im Gang schon wieder Licht brannte, verließ er sein Zimmer. Man hätte ihn zwar am liebsten eingeschlossen, aber der Schlüssel war nirgends zu finden gewesen. Jetzt kam ihm das zustatten, denn um alles in der Welt hätte er nicht nach Paula gerufen. Sie hätte ihn mit ihrem Geschwätz nur um die feierliche Stimmung gebracht, die ihn umfing. Aufrecht schritt er den Korridor entlang, die Treppe hinab in den unteren Vorraum.
Er suchte die Mutter, sah erst im Speisezimmer nach, das leer war, und ging dann in den Salon. Sie saß vor dem Fenster an einem kleinen Tischchen, auf welchem unter gelber Seide eine Lampe brannte, und las mit langen spitzen Fingern in einem Buch. Als sie ihn hörte, hob sie den Kopf und wandte sich ihm voll entgegen. Ihr ganzes Gesicht hatte einen befriedigten und erlösten Ausdruck, wie sie das Buch beiseite legte, und sie schien genau zu wissen, was jetzt kam. Geradewegs ging er auf sie zu, und während seine Blicke einem gestickten Muster des Schirmes nachfuhren, sagte er mit beleidigter Miene, herausfordernd und sogar frech: »Ich habe den Zucker genommen.«
»So«, erwiderte sie, »gut, daß du es endlich sagst. Geh nur auf dein Zimmer. Wenn Vater am Abend nach Hause kommt, wird er die Sache mit dir abmachen.« Dann wandte sie sich wieder ruhig zu ihrem Buch. In ihre Augen legten sich braune Schatten, und der Mund, vom Licht berührt und gelbrot, glich einer prallen Mandarine.
Er hatte sich diese Angelegenheit, die für ihn das Ende eines tagelangen Kampfes bedeutete, gewaltiger vorgestellt, war auf helle Empörungsrufe und Schläge gefaßt gewesen und hatte jedenfalls solch ruhige Worte nicht erwartet. Sie hatten beinahe gleichgültig geklungen, als ob die Sache gar keine Wichtigkeit mehr hätte.
Spät am Abend, als er schon ins Bett gekrochen war und auf den Falten der Decke mit Murmeln spielte, kam Paula grinsend herein und holte ihn herunter. In seinem zerdrückten Bettanzug mit den langen Hosen aus Flanell ging er zögernd ins Eßzimmer, dessen Tür angelehnt war, so daß ein heller Streif auf den Gang hinausleuchtete. Bangigkeit ließ seine Knie zittern. Der gelbe Schein war steil, streng, feierlich. Er bekam große Furcht und wollte vor dem Gericht, das ihn erwarten mußte, plötzlich fliehen. Aber als er etwas den Kopf über die Schulter hob, sah er, daß Paula erwartungsvoll, die Hände in den Hüften, an der Küchentür auf Posten stand. Schnell trat er ein und schlug die Tür hinter sich ins Schloß.
Der Vater saß mit gesenktem Kopf in einem Lehnstuhl und hatte die Hände gefaltet, wobei er die beiden Daumen im Kreis drehen ließ. Er hatte noch den Reisemantel an; die Handschuhe lagen auf dem Tisch daneben, und er sah aus, als ob er nur ein eiliges Geschäft zu verrichten hätte, um dann alsbald wieder fortzugehen.
Als er Leonhard eintreten sah, erhob er sich und sagte mit müder, sehr bekümmerter Stimme: »Du kleiner Bösewicht, ich hätte nicht geglaubt, daß du so lügenhaft und verstockt sein könntest. Wenn ich dich jetzt strafen muß, so hast du das nicht deinem ursprünglich unbedeutenden Fehltritt, sondern deinem hartnäckigen Leugnen zuzuschreiben.« Damit packte er ihn am Arm, schritt voran und schleppte ihn wie eine lumpige Sache hinter sich her. In dem Winkel zwischen Ofen und Rauchtisch warf er ihn nieder, daß er auf den Knien lag und sein Kopf sich auf den Boden duckte. Und plötzlich hielt er einen Riemen in der Hand, den er aus der Manteltasche gezogen hatte, und mit heftigen Bewegungen schlug er dem Niedergeknieten auf Rücken und Beckenknochen. Sein müdes Gesicht mit der langen bebenden Nase war verzerrt, über sein Kinn rann Speichel. Wie Isaak, den Abraham opfern wollte, hatte sich der Kleine vor ihn hingebeugt und ertrug die Schläge stumm. Damit er nicht schrie, steckte er seine Hand in den Mund und biß sie blutig. Doch konnte er nicht verhindern, daß ihm lautlos die Tränen über die Wangen liefen.
Endlich ließ der Vater von ihm ab und keuchte mühsam: »Geh!« Gekrümmt, mit wankenden Schritten, fand sich Leonhard hinaus. Aber im Korridor ging mit einem Schlag das ganze mühselig aufgebaute Heldentum in die Brüche.
Alle Anstrengung war umsonst. Unaufhaltsam drang ein Schluchzen aus seinem Munde.
Aus einer Tür kam ihm die Mutter entgegen, und mit langgezogenen mitleidigen Worten nahm sie ihn zu sich und trug ihn in den Salon.
Sein ganzer Körper flatterte vor Erschütterung. Er glaubte jeden Augenblick sterben zu müssen. Dumpf und drohend lag alles um ihn her, und in seiner Hilflosigkeit umfaßte er mit den Armen die Hüften der Mutter, und trostlos weinend bohrte er den Kopf in ihren Schoß. Sie aber redete ihm mit angenehm weicher Stimme, allmählich auch ein heiteres Wort einfügend, tröstlich zu und versprach ihm, indem sie ihn küßte – welch grausame Versöhnung! –, schöne Dinge für den kommenden Tag.