Ernst Willkomm
Vorgesichte
Ernst Willkomm

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6 Strenger Winter

Der friesische Winter ist in der Regel milder als der deutsche. Tritt auch zeitweilig starke Kälte ein, so dauert diese doch infolge der häufig wechselnden Winde selten längere Zeit. Die Westseeinseln erfreuen sich deshalb eines sehr gemäßigten Klimas, was trotz ihrer nördlichen Lage den Aufenthalt auf ihnen angenehmer macht, als man annehmen sollte. Dennoch aber kommen von Zeit zu Zeit Winter vor, in denen die Kälte einen hohen Grad erreicht und die wildesten Schneestürme auf dem Wattenmeere wüten. Dann friert die Binnensee, d. h. jener Teil des Meeres, der die Inseln und Halligen gegen das Festland hin umflutet, fest zu und die Bewohner derselben überschreiten die meilenbreite Kristallbrücke zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen, um mit dem Festlande in engere Beziehungen zu treten.

Ein solcher Winter stellte sich nun im November ein. Wenige Tage nach Mannis' Heimkehr lief der Wind nach Norden. Einem mehrstündigen Sturme, welcher alle Halligen viele Fuß tief unter Wasser setzte und manches Menschenleben kostete, folgte undurchdringliches Schneegestöber mit rasch steigender Kälte. Die Schlütte bedeckten sich mit Eis, das sich auf die Priele erstreckte, und alsbald auch die tieferen Wattströme mit schwer treibenden Schollen erfüllte. Der hohe Kältegrad, verbunden mit häufigem Schneefall, fügte Scholle an Scholle, bildete Eishügel und Schneedämme, und lange vor Weihnachten schon glich die ganze Westsee mit ihren zerstreuten Inselbrocken einer großen, mit zahllosen Hügeln und wunderlich gestalteten Blöcken besäten Ebene. Man konnte ohne Gefahr vom Festlande nach den Inseln gehen, die wieder durch Pfade über das Eis untereinander verbunden waren. Nicht alle diese Eispfade aber konnten für sicher gelten, da unter der kristallenen Decke die tieferen Ströme fortwährend die Flut- und Ebbe-Bewegung der Nordsee führten. Auf diesen Eisbrücken gab es unsichere Stellen in Menge, die sich von den festeren Pfaden jedoch nur wenig unterschieden. Damit nun aber nicht ein Wanderer auf den weiten, öden Eisfeldern auf falsche und gefahrvolle Pfade geraten möge, wurden die sicheren Eisstege durch aufgepflanzte hohe Stangen, deren obere Enden an großen Stroh- und Heubüscheln kenntlich waren, bezeichnet.

Auf den Halligen entstand durch diese Witterungsverhältnisse ein ungewöhnliches Leben. Bewohner des Festlandes, die kaum jemals einen Besuch auf den so einsam gelegenen, von einer tückischen See umbrandeten Inseln gemacht hatten, kamen jetzt zu Schlitten über das Eis. Auf allen Warften gab es Fremde, die mit großer Gastfreiheit empfangen und bewirtet wurden. Man veranstaltete kleine Feste, selbst für etwas Musik und Tanz ward gesorgt. Kurz, die Gewohnheiten der stillen Halligleute schienen ganz anderen Sitten Platz machen zu wollen.

Auch auf Hooge ging es sehr lebhaft zu. Kapitän Mannis war ein Mann von Ruf, durch seine Gattin den Festlandsfriesen verwandt, zählte er unter diesen eine Menge Vettern und Freunde. Von diesen machten namentlich die Jüngeren ohne Ausnahme Ausflüge nach den Westseeinseln.

So fanden sich denn um die Weihnachtszeit ganze Gesellschaften zusammen, welche den gemeinsamen Beschluß faßten, das Neujahr auf diesem Archipelagus unter Verwandten oder Bekannten anzutreten.

Bei Nicol Mannis trafen am Weihnachtstage zwei junge Mädchen und vier Männer ein, um dem Vetter Kapitän, wie sie den alten Halligmann nannten, auf ein paar Tage Gesellschaft zu leisten. Es waren Landleute aus Bredstedt, wohlhabend, lebensfroh, zu Lust und Scherz aller Art aufgelegt. Das originelle Leben auf der Hallig amüsierte sie, und da sowohl der alte Mannis wie dessen Kinder ihre Freude über den unvermuteten Besuch offen an den Tag legten, so herrschte alsbald die ungezwungenste Heiterkeit im Hause des Halligmannes.

Schon am zweiten Tag ihres Verweilens äußerten die Verwandten den Wunsch, weitere Ausflüge über das zugefrorene Meer zu machen. Die im winterlichen Schmuck noch seltsamer als im Sommer sich präsentierenden Wohnungen der Halligmänner reizten ihre Neugierde. Sie wollten mit eigenen Augen sehen und sich gleichsam hineinleben in das Treiben und Tun dieser durch die Natur von aller Welt so abgesonderten Menschen.

Taken und Jens waren sogleich erbötig, ihre Vettern als Führer zu begleiten. Die beiden jungen Mädchen zogen es vor, Karen Gesellschaft zu leisten und von der Höhe der Warft aus die Stege durch des Kapitäns treffliches Fernrohr zu beobachten, die nach allen Richtungen hin über das Eis liefen und erst weit draußen im Westen sich verloren.

Am Tage konnte niemand ahnen, daß man dem wogenden Meere so nahe wohne, des Nachts aber, wenn alle in das Innere der Häuser sich zurückzogen, vernahm man gewöhnlich das hohle Brausen der Nordsee. Es klang wie das grollende Murren eines tief erbitterten, verschlossenen Gemütes oder wie dumpfes Drohen einer Macht, die sich ihrer Kraft nicht recht bewußt ist.

Fünf volle Wochen hatte der Frost schon angehalten. Der Wind blies immer aus Ost und Nordost; selten nur nahm er, dann aber stets auf wenige Stunden, eine mehr nordwestliche oder südliche Richtung an. Helle Luft wechselte ab mit bedecktem Himmel. Häufig fiel Schnee, gewöhnlich bei sehr lebhaftem Winde. Immer aber blieb die Luft kalt und das Thermometer zeigte auch an den mildesten Tagen um die Mittagszeit noch mehrere Grad Kälte.

Die Verwandten hatten in Begleitung ihrer erfahrenen Vettern schon die nahe gelegenen Halligen durchstreift und bei diesen für sie höchst ergötzlichen Wanderungen alle bedeutenderen Persönlichkeiten kennengelernt. Da man weite Umwege machen mußte, um die gefahrvollen Stellen zu vermeiden, nahmen diese Besuche ziemlich viel Zeit weg. Man bedurfte eines ganzen Tages, um nach Langeneß zu kommen, eines anderen, um Gröde zu besuchen. Fühlten aber die jungen Abenteurer erst festen Boden unter sich, dann verweilten sie gewiß länger, als es ihre Absicht war; denn die treuherzige Offenheit, das gerade, ehrliche Wesen und das ungewöhnlich starke Gottvertrauen, das sie bei allen Halligbewohnern wiederfanden, hielt sie immer von neuem fest, und ließ sie erquickende Stunden und Tage verleben.

Nicol freute sich regelmäßig auf die Rückkehr seiner Gäste. Man dachte gar nicht daran, sich bald zu trennen, wohl aber gab der alte Kapitän gern das Versprechen, im Sommer mit seiner ganzen Familie auf ein paar Wochen nach dem Festlande zu kommen. Auch sogar den Vorschlag, alsdann die Vermählung seiner Tochter Karen mit Geike, der schon im Frühjahr zurückerwartet wurde, bei seinen Verwandten zu feiern, hieß er nach einer längeren Besprechung mit Ellen gut.

Eines Abends, als die Familie Mannis mit ihren Gästen wieder in fröhlicher Stimmung um den Teetisch und resp. bei ihrem trefflichen Grog saß, ließ Taken die Bemerkung fallen, die Vettern müßten eigentlich vor ihrer Rückreise aufs Festland auch noch eine der Inseln und ihre Dünen besuchen.

»Im Winter war ich selber noch nie auf einer Düne«, schloß er. »Ich möchte schon wissen, wie sich von ihren beschneiten Gipfeln jetzt die Nordsee ausnimmt.«

»Das müssen wir sehen!« fiel sogleich lebhaft der jüngste der Vettern, ein starker, äußerst gewandter, nicht selten aber auch waghalsiger Mann von einigen zwanzig Jahren, ein. »Wie ist's? Brechen wir morgen auf?«

»Ich bin dabei«, sprach Taken. »Nur bedarf es größter Vorsicht, wenn wir ohne Unfall den Strand von Amrum erreichen wollen. Wir werden uns mit Tauen und tüchtigen Klutstöcken versehen müssen. Wie man damit umgeht, das habt ihr uns ja bereits gelehrt.«

»Nach Amrum wollt ihr?« fiel Nicol ein. »Und übers Eis? Laßt das lieber bleiben.«

»Das Eis trägt«, sagte Jens. »Erst vor einiger Zeit erzählten uns Amrumer Fischer aus Nebel, daß sie ohne den geringsten Aufenthalt nach Westerlandföhr über das Eis gegangen wären.«

»Recht«, erwiderte Nicol. »Solange der Wind steht und die Thermometer sich nicht heben, ist gar keine Gefahr dabei. Wer aber will sagen, wie lange das noch dauern wird!«

»Im gegenwärtigen Winter hat das keine Not, Vater«, tröstete Taken. »Der Dreikönigstag ist mit scharfem Frost eingetreten und der Wind blies östlich beim ersten Mondviertel. Das alles sind Zeichen, daß wir in den nächsten Tagen noch keine Wetterveränderung zu gewärtigen haben.«

Nicol brachte noch verschiedene Bedenken vor, der Wunsch seiner jungen Vettern aber, die ihnen völlig unbekannte Wildnis selten besuchter Dünen kennenzulernen, entkräftete alle Einwürfe des alten Mannes.

Zuletzt achtete man kaum noch auf seine Ratschläge. Die jungen, abenteuersüchtigen Männer beschlossen, schon am nächsten Morgen aufzubrechen, und rüsteten sich zu der sie reizenden Partie in jeder Hinsicht, ehe sie sich zur Ruhe begaben.

Mit Vorbedacht verließen sie, da Nicol Mannis entschieden darauf drang, sehr früh das Lager. Der Mond stand noch am kalten, blaßgrauen Winterhimmel und bestreute die Schnee- und Eiswüste mit funkelnden Silberflocken. Es war still und kalt. Wie Riesenkegel, hier hell erleuchtet, dort finster, lagen die zerstreuten Warften der Hallig. In keiner noch bemerkte man Leben.

Nicol gab seinen Gästen das Geleit bis zur Treppe der Warft. Hier schüttelte er allen noch einmal die Hände, warnte sie vor unzeitigem Übermut und wünschte ihnen das beste Glück auf den Weg.

»In drei oder vier Tagen sind wir wieder da«, rief Taken dem Vater zu, die Stufen hinabschreitend. »Es kommt alles darauf an, wie uns die Partie behagt, und welche Aufnahme wir auf der Insel finden.«

Mannis antwortete nicht. Er lehnte sich an die Umfriedigung und sah den Fortgehenden, die quer über die Hallig wanderten, nach, bis sie im Schatten der Kirche seinen Blicken entschwunden. Dann ging er zurück in seine Wohnung, nahm den Kalender von der Wand und sah nach der Fluttabelle.

»In drei Tagen ist Vollmond«, sprach er nachdenklich. »Hochwasser haben wir dann um Mittag und Mitternacht. Sie können doch recht haben, das Wetter wird sich halten, wenn der Wind nicht rasch umläuft.«


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