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Der Tod ist das romantisierende Prinzip unseres Lebens – durch den Tod wird das Leben verstärkt.
Novalis
Wenn ein Mensch das Rätsel des Lebens zu lösen versucht dadurch, daß er seine tagmatten Augen nur in den Räumen der inneren Welt auf die Suche schickt, dann wird er über den Wundern des Geistes seine natürliche Abhängigkeit von den irdischen Elementen vergessen. Wenn er den Blick wieder hebt, dann sieht er sich einer ganz veränderten Welt gegenüber, die weit hinter seinen Träumen zurückgeblieben ist. Es geht ihm wie dem verwunschenen Helden des Märchens, der eben noch in den Gärten der Fee ein König über die Geister war. Aus dem Zauberschlaf erwachend, findet er sich arm und alt im fremden Lande wieder. Kaum erkennt er in den verfallenen Häusern am Rand der Straße den Ort seiner Kindheit. Nun sucht er mit Augen der Liebe und Sehnsucht alle, die er einmal früher verließ, aber er findet sie nicht mehr, seine Eltern und Geschwister sind tot, die Nachbarn uralt, niemand kennt ihn.
Die Günderrode erfuhr die Wahrheit des traurigen Märchens. Sie war in der Welt der Heroen und im Glauben an eine göttliche Weltordnung heimisch geworden, ehe sie das wirkliche Leben mit seinen Widersprüchen kannte und versöhnend begriff. Während sie fortdichtete am Traum von der Möglichkeit des Menschen, erblindete sie für seine Wirklichkeit. Nicht daß ihr eigentlich Widriges begegnet wäre, das schlechthin Fahrlässige und Inhaltslose der »kleinen Tages- und Weltgeschichte« schwächte ihren Willen zur Auseinandersetzung, zum Umgang, zum Streit mit dem Nächsten und Geringsten. Erneut zog sie alle Kraft von außen nach innen. Das eigentliche Sisyphusringen des Menschen glaubte sie verschmähen zu können. Sie hat von ihrer Bereitschaft zum Würdigsten gesprochen, und man glaubt sie ihr. Aber das Unwürdige zu durchleiden bis in ein Jenseits von verzeihendem Begreifen war ihr nicht gegeben. Ihr hochgespannter Idealismus unterschlug ihr diesen Teil der Welt. Unschuldig und rührend glaubte sie die Plagen, wie sie im Register des Hamletmonologs stehen, überspringen zu können. Schon am Anfang ihrer Bekanntschaft muß Bettina die herben Worte hören: »Es gibt ja noch Raum außer dieser kleinen Tages- und Weltgeschichte, in dem die Seele ihren Durst, etwas zu sein, löschen könnte.« So spricht »die Wut des Ungenügens«, wie Friedrich Schlegel diese unglückliche Liebe zu einem Leben nennt, das einem nicht hält, was man sich von ihm verspricht.
Bettina hat uns von dem Trachten der Günderrode nach harmonischer Gestaltung des Lebens gesprochen. Sie hat auch den Leidensgrund bezeugt, aus dem der Durst nach Schönheit und der Wille zur Gestaltung erst heraufgenötigt wurden. Immer wird man sich ja, wo, wie hier, ein geläutertes, im Licht von Jugend, Schönheit, Maß und Feier schimmerndes Leben verherrlicht wird, fragen: welche tiefinnere Not erzeugt ein solches Wunschbild, aus welcher Leidenserfahrung stammt die Sehnsucht nach Genesung ins Vollkommene hinüber und hinauf? Auch am Bildnis der Günderrode fehlen die Züge nicht, die ein eingeborenes Leiden des Menschen an sich selber, an gerade dieser Individuation, welche die seine ist, verraten. Schwermut und träumerische Weltentfernung sind nur die äußerlichsten Zeichen ihrer Verlassenheit. Jene andere Seite ihres Wesens kündigt sich darin an, die der schönen, schicksalbestimmenden, wohlklingenden Form, die sie ihrem Dasein gab, abgekehrt war:
»Dein ganz Sein mit Anderen ist träumerisch, ich weiß auch warum; wach könntest du nicht unter ihnen sein und dabei so nachgebend, nein sie hätten dich gewiß verschüchtert, wenn Du ganz wach wärst, dann würden Dich die gräßlichen Gesichter, die sie schneiden, in die Flucht jagen.«
»... Ich weiß, daß ich zu furchtsam bin und kann nicht, was ich innerlich für recht halte, äußerlich gegen die aus der Lüge hergeholten Gründe verteidigen, ich verstumme und bin beschämt grade, wo andre sich schämen müßten, und das geht so weit mit mir, daß ich die Leute um Verzeihung bitte, die mir Unrecht getan haben, aus Furcht sie möchtens merken.«
Oder Bettina erinnert sich an Worte der Schwermut, die sie von der Freundin gehört hat: »Es gibt ein Verstummen der Seele, wo alles tot ist in der Brust ... Es ist grade so in mir wie draußen der Garten, die Dämmerung liegt auf meiner Seele wie auf jenen Büschen, sie ist farblos, aber sie erkennt sich, – aber sie ist farblos.« Solchen Widerschein einer wahrhaften Betrübnis zum Tode haben auch manchmal ihre Briefe an Creuzer.
So hat ihre Gestalt nicht nur das Weiche einer sanften Träumerin, dieses sind schon die tragischen Zeichen eines zerbrechlichen Organismus, der von Natur wehrlos und verwundbar ist. Es schließen sich unmittelbar Züge des körperlichen Leidens an. Was wir von ihrer Nervenpein, ihrem Augenübel und ihrem häufigen Kranksein wissen, sind Leiden der Seele im Körperlichen.
So war in der natürlichen Mischung ihrer Elemente schon auf den Weg nach innen verwiesen. Wir wissen heute, daß die zarte, verwundbare Organisation fast Voraussetzung ist für jede höhere Art von Verzauberung, Intuition, für das Miteingelassensein in tiefere, geheimere Erkenntnisse, für das Mitklingen in Zusammenhängen, die den stabilen, gröberen Konstitutionen gar nicht fühlbar sind. Erst das Leiden, durch das die ungeborgene Seele immer wachgehalten wird, gibt die vertieften Blicke nach innen, erst von hier aus werden die Kräfte der Ueberwindung gespornt; die Kühnheit der Selbststilisierung hat hier ihren Grund, erst von hier aus wird die Erzeugung und das Erlebnis des Schönen und Wohlgeratenen zum unerbittlichen Bedürfnis.
Aus solchem Bedürfnis der leidenden Natur schuf sich die Günderrode den Wahrtraum eines vollkommenen Lebens, das sie als Leben zu leben, als Kunst zu verewigen gedachte: ein vollkommenes Leben, in dem das Jugendfeuer nicht erlöschen darf, der Glanz einer unvergänglichen Liebe nicht erblinden kann; ein geheiligtes Leben »der Absonderung von dem Unreinen, Ungemessenen, Ungeistigen,« ein Leben endlich, dem ein vollbringender Tod zur rechten Zeit das Ende setzt, das also auch im Tode noch musterhaft und ein Gelöbnis ist. Das Individuum, das sich selbst nicht genug tun kann und dem die empirische Welt nicht genug ist, das auch zu bestimmt und ehrlich fühlt, um als Schönheit zu beschwärmen, was es als Wahrheit nicht leben kann, sieht als letzten Ausgang, als Aufhebung und Vollendung zugleich, die Möglichkeit eines sinnbildlichen Todes. Denn vom Läuterungsschein des Todesopfers fällt Glanz noch auf die stumpfeste Wirklichkeit.
Dreißig Jahre bevor die Günderrode ihrem Leben ein im höchsten Sinne freiwilliges Ende setzte, war der Frau von Laroche der Selbstmord des jungen Jerusalem erklärt worden mit den Worten: »Ein edles Herz, ein durchdringender Kopf, wie leicht von außerordentlichen Empfindungen gehen sie zu solchen Entschließungen über.« Der so sprach, war der junge Goethe, und man weiß, daß er damit einen eigenen, gefährlichen Hang zum Tode umschrieb. Er wußte und bewies es, daß der Gedanke an den Selbstmord bei hochorganisierten Naturen gerade aus dem heftigsten Lebenswillen hervorgehen kann. Ein erloschener Wille kann kein Leben aufheben. So trägt die Kraft, die den Wagen in der Kampfbahn umtreibt, gerade den aus der Kurve hinaus, der am raschesten zum Ziele eilt.
In den »Briefen zweier Freunde«, die am meisten von allen Werken der Günderrode Selbstgespräch sind, steht die ahnungsvolle Vorwegnahme eigenen Schicksals: »Glückliche, denen vergönnt ist, zu sterben in der Blüte der Freude, die aufstehen dürfen vom Mahle des Lebens, ehe die Kerzen blind werden und der Wein sparsamer perlt.« In diesem Ruf des Jüngers verrät die Günderrode, wie unentbehrlich ihr bereits der Heroentod für ihren Traum vom vollkommenen Leben geworden ist. Das ist nicht Negation des Lebens aus Müdigkeit und Dekadenz, es ist die Negation eines Lebens, das diesen Namen nicht verdient. Nicht das Leben ist ihr, mit Diogenes zu sprechen, das Uebel, sondern das üble Leben. »Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben ...« Noch spricht ein ungemuter Jünglingsgeist in solchen Sätzen sich aus, ein furchtlos vertrauender, der alle Erdenschwere aufzuheben meint kraft eines vollkommenen Willens. Statt in die Schrecken der Vernichtung oder in die zauberisch verführende Vieldeutigkeit des Todes blickte sie in ein gleichmäßig heiteres Licht: »Durch Vernichtung des Leibes früher zu nahen dem Ewigen ...« Keine Skepsis lichtete diesen Wahn. Da er nicht für sie galt, kam ihr der Gedanke nicht, daß die radikale Selbstvernichtung des Individuums vielleicht das Gegenteil einer Erlösung sein könnte.
Als Unterpfand ihrer Befreiung führte die Günderrode in ihrer letzten Zeit immer einen Dolch mit sich. Die jugendlichen Freunde, die davon wußten, nahmen das nicht ernst genug. Ohne das gleiche Lebensgefühl vergnügten sie sich am gleichen Lebensschein und fanden es vermutlich ebenso poetisch und romantisch wie Arnims zerschlissenen Ueberrock oder Brentanos Ziegenhainer. Arnim war einmal dabei, als die Günderrode »lachend kämpfte, den Dolch zu verbergen, womit wir spielten recht wie die Kinder mit dem Feuer, das ihr Bett ergriffen«. Als Arnim später Goethe den Tod der Günderrode mitteilte, erwähnte er auch den Dolch, mit dem man oft »tragiert hatte, ganz unbesorgt«. Goethe beschwieg diese Nachricht. Es ist fraglich, ob er den Schauer dieser fremden Todesfühlung so nahe an sich heranließ, daß sie ihn in die Vergangenheit des eigenen Lebens zurückführte. Sonst hätte er sich wohl schon damals an die Tage und Nächte in Wetzlar erinnert, in denen er selber mit Todesgedanken »tragierte« und an der eigenen Brust die Schärfe eines geschliffenen Dolches versucht hatte.
Was wissen wir schließlich von der Zersetzung der höchstorganisierten Substanz in der Todesnähe und warum wäre es zu verwundern, daß in jenem Zustand der hybrischen Auflehnung des Menschen gegen sein ganzes Dasein auch der geheimniswahrende Schleier der Scham durchsichtig wird oder zerreißt? Die Günderrode hatte sich von ihrem Arzt zeigen lassen, wie leicht es sei, das Herz zu treffen. Sie quälte das Kind Bettina und zeigte ihm, wie sie sich eines Tages töten würde. »Einmal kam sie,« berichtet Bettina, »mir freudig entgegen und sagte: Gestern hab ich einen Chirurg gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen; – sie öffnete hastig ihr Kleid und zeigte mir unter der schönen Brust den Fleck; ihre Augen funkelten freudig; ich starrte sie an, es ward mir zum erstenmal unheimlich, ich fragte: Nun! – und was soll ich denn tun, wenn Du tot bist? Oh, sagte sie, dann ist Dir nichts mehr an mir gelegen, bis dahin sind wir nicht mehr so eng verbunden, ich werd mich erst mit Dir entzweien. – Ich wendete mich nach dem Fenster, um meine Tränen, mein vor Zorn klopfendes Herz zu verbergen, sie hatte sich nach dem anderen Fenster gewendet und schwieg; – ich sah sie von der Seite an, ihr Auge war gen Himmel gewendet, aber der Strahl war gebrochen, als ob sich sein ganzes Feuer nach innen gewendet habe ...«
Daß zu jenem Zeitpunkt, in dem sich zutrug, was Bettina so erzählt, Karolinens Verhältnis zu Creuzer schon seiner Zerrüttung entgegenging, besagt nur, daß das Schicksal nun aus ihr herausholte, was von je in ihr war. Creuzer war gewiß nicht die Ursache ihres Todes, wohl aber hatte die bloße Tatsache, daß sie liebte, so liebte mit dem ganzen Einsatz ihrer Person, schon für sie die Bedeutung der Todesnähe. Nerven und Sinne waren gespannt, der ganze Mensch bis in die tiefsten Schichten des Lebensgefühls durchbebt, das unbewußte Leben geregt, gesteigert, gereizt, während der ausgleichende Einfluß der Außenwelt abgeblendet war: ein Zustand der Euphorie, in dem Liebe und Tod, die ausdehnendsten Fata der Seele zusammenrücken. Sie erfuhr die geheime Verwandtschaft von Liebe und Tod. Als Creuzer ihr zum Mittler des Liebesereignisses ward, führte er sie näher an den Tod, weil er sie tiefer ins Leben führte.
Im übrigen aber gilt für die Günderrode das Wort Schleiermachers, das er über Novalis sagte: »Er war,« heißt es, »nicht sowohl durch sein Schicksal als durch sein ganzes Wesen für diese Erde eine tragische Person, ein dem Tode Geweihter. Und selbst sein Schicksal scheint mit seinem Wesen zusammenzuhängen.«