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Die alte Josefstadt

Die Josefstadt meiner Kindheit war nicht mehr jener vormärzliche Vorort, der den Basteien der Inneren Stadt, etwa vom Schottentor bis zum Burgtor, gegenüberlag. Mit den Befestigungen waren auch jene weithingedehnten Wiesenflächen verschwunden, die man in dieser Gegend das Josefstädter Glacis nannte. Als ich, ein kaum Fünfjähriger, mit dem Vater von der Vorstadt Unter den Weißgärbern in die Josefstadt übersiedelte, umgab bereits der breite, prächtige Gürtel der Ringstraße die Innere Stadt, die Monumentalbauten zwischen Alsergrund und Bellaria standen längst vollendet, und die herrlichen Gärten des Viertels um das neue Rathaus herum waren schon angelegt. Dem Kinde bot sich all die junge Pracht als das Gegebene dar, für Eltern und Großeltern jedoch war jedes Plätzchen des verwandelten Bodens voll der Beziehung auf das noch eben Gewesene, belebt von Erinnerungen und – bei allem Stolz auf den großstädtischen Aufschwung! – umwoben von der uneingestandenen Sehnsucht nach dem Vergangenen. Ihnen war ja noch auf dem Platze des heutigen Volksgartens die biedermeierische Fröhlichkeit und Eleganz des Paradeisgartls Wirklichkeit gewesen; Allerältesten wollte sogar noch Beethoven, von seiner letzten Wohnung im Schwarzspanierhause über das Glacis der Stadt zuschreitend, begegnet sein; Grillparzer, Raimund und Nestroy, die Protagonisten des alten Burgtheaters, Bauernfeld und Schwind, sie bevölkerten noch die Erlebniswelt der Minderalten, wurden dem Zuhörenden in unzähligen Anekdoten an bestimmten Straßenkrümmungen, an gewissen Fenstern graugewordener Zinshäuser und an den Stammtischen altväterischer Gasthäuser förmlich wieder leibhaftig und erfüllten die ehrfurchtwillige Phantasie des Kindes mit dem verklärten Abglanz jener gemütlichen Heroenzeit Alt-Wiener Kultur, die uns heute wie ein idyllisches Märchen anmutet, obwohl auch sie bekümmert war durch weltumwälzende Kriege und verheerende Seuchen, durch Not und Unzufriedenheit der Völker und durch das verhängnisvolle Ränkespiel der Mächtigen.

War nun auch die Josefstadt, in der ich Kind war, nicht mehr jene, von der aus man, grünes Gelände überblickend, die Festungswälle, das vielgiebelige Dachgedränge und in scheinbar engstem Nebeneinander die Türme der Innern Stadt frei vor sich aufragen sah, so war sie doch ein Stück vorgroßstädtischer Zeit voll altmodischer Traulichkeit, voll der Beredtheit von Versunkenem und belebt von solcher Stimmung, als hätte die neue Zeit, als sie auch durch ihre abseitigen Gassen und Gäßchen schritt, es lächelnd auf ein nächstes Mal verschoben, hier gründlich Wandel zu schaffen. Und wenn heute der Mann nach soundso vielen Jahren die alten Gassen aufsucht, durch die er zur Schule gegangen, wenn er zu den Fenstern emporschaut, hinter deren Scheiben sich so viel eigenes Schicksal vollzogen hat, so will es ihm ein Glück scheinen, sagen zu dürfen, daß sich in jenen Gassen nur wenig, aber an den Wohnhäusern seiner Kindheit und Jugend fast gar nichts geändert hat. Und nahezu derselbe ist seit damals der Straßenzug geblieben, der sich von den Gründen der ehemaligen Alserkaserne bis zum Getreidemarkt erstreckt. Mag er heute auch in seinen einzelnen Abschnitten anders benannt sein als damals, die schmalen, dunkelumgitterten Vorgärten sind noch immer den grauen, durch weiße Fensterrahmen so freundlich belebten Fassaden der alten Bürgers- und Adelshäuser vornehm-gemütlich vorgelagert, immer noch hält der ernste Bau des früheren Militärgeographischen Instituts sein Wahrzeichen, den goldenen Globus, empor, und das Landesgericht in Strafsachen, das sogenannte »Graue Haus«, steht heute wie einst mit seinen düsteren, langhinlastenden Festungsmauern wie eine Zwingburg der Gerechtigkeit an der Einmündung der Alserstraße. Nur die Platanen in seinem Vorgarten sind seither zu Riesenbäumen herangewachsen, deren Wipfel zu den Dachzinnen des gewaltigen Gebäudes emporreichen. Dieser Straßenzug nun, den heute die elektrische Straßenbahn durchsaust, hieß in meiner Kindheit kurzweg und sehr bezeichnend: die Lastenstraße. An ihr habe ich meine Jugend verbracht, und sie war es, die mir die Josefstadt so recht und eigentlich zur Heimat gemacht hat.

Wenn wir Heimat sagen, so sehen wir im Geiste und fühlen wir im Herzen – ob wir auch seit Geschlechtern der Großstadt angehören – doch immer noch Land und Erde: ein Dorf um alte Linden herum im Tal, ein einsames Gehöft auf sonnseitiger Lehne im Gebirge, die Kleinstadt am schmalen, holzüberbrückten Flusse, einen spitzen Kirchturm, am Rande der Ebene wahrzeichenhaft emporragend, zarte Hügelbläue am Horizont und, zwischen Ferne und Feme, die Landstraße! Von der Großstadt als Heimat redet eigentlich nur der amtliche Sprachgebrauch. Ist dies deshalb so, weil es mit dem Großstädtertum der meisten Großstadtmenschen nicht allzuweit, nicht allzulange her ist? Oder ist jene Sprache, die Land denkt, wenn sie Heimat sagt, die Sehnsuchtssprache des Blutes, das wir von bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Vorfahren in uns haben? Es mag schon etwas zutiefst Richtiges daran sein, daß man bei Großstadt nicht an Heimat denkt. Hausen wir denn in ihr noch auf der alten, lieben, wohlgegründeten Erde? Sind wir in ihren Zinskasernen nicht neben-, unter- und übereinandergepfercht und von der Erde weggeschachtelt wie in Käfigen? Ist uns der Himmel, sind uns Aufgang und Untergang nicht verbaut? Und was in der Großstadt unsere Füße treten, hat es noch etwas gemeinsam mit dem Stoffe, der Keime treibt und Quellen birgt? Sind es nicht sohlenschmerzende Panzerungen aus Granit oder Asphalt? Und dennoch kann auch die Großstadt Heimat sein, wenn auch freilich mit der unterbewußten Beziehung auf Umgebung, auf Land und Erde. Und eben diese Beziehung war es, welche die Lastenstraße damals noch herstellte. Denn sie war in der Zeit, als Wien nur erst zehn Bezirke hatte, doch noch eine Art Peripherie um den historischen Kern der Stadt herum und als solche voll des buntesten, weitschichtigsten und unstädtischesten Lebens, voll Romantik, Idylle und Fernzügigkeit. Mit einem Wort, die Lastenstraße meiner Kindheit war noch – eine Landstraße.

Landstraße – und dennoch Lastenstraße! Eine Zeile schütternden, klirrenden, ratternden Pflasters und wolkentreibenden Staubes im Sommer, eine Zeile gedämpfteren Dröhnens und zu Kot zerfahrenen Schnees im Winter! Da stampfen und dampfen die schweren Pferde, die in messingfunkelnden Kummeten Lasten von Ziegeln, Bauholz und Eisen ziehen. Mit schwarzen Ohrenklappen kauern die Fuhrwerker hart an den Kruppen ihrer Tiere. Die durchfrorenen Körper begehren nach Erwärmung. Die Straße wimmelt von sogenannten Budiken. »Likör, Rum, Spirituosen« lockt über exotisch bemalten Schildern die Aufschrift an allen Ecken und Enden. Zerlumpte Kotzen den Pferden über die Rücken geworfen, den hölzernen Hafertrog ihren schnaubenden Nüstern vorgehängt! Da stehen sie dann am Rande der Straße, unbeaufsichtigt, oft stundenlang. Drinnen aber, im Tabak- und Fuseldunst beleben sich erstarrte Glieder, und wenn es lange dauert, verglast der Blick des Durstigen. Leichteres Fuhrwerk hält vor uralten Einkehrgasthäusern. »Zum alten Paradeisgartl«, »Zum Fürsten Auersperg« heißen sie heute noch. Der Zwiebelgeruch ihrer billigen Speisen, ein modriges Mischarom von Bier- und Weinschank dringt aus ihren Lokalen auf die Straße heraus.

Aber nur vereinzelte Tropfen gibt der ewigfließende Strom des Verkehres an die Herbergen ab. Er selbst, mit Hüh und Hott, mit Flüchen und Peitschenknallen, fließt weiter. Da schwanken Heuwagen heran, mächtig geladen, und mengen in den Brodem von Staub, Pfeifenrauch und Pferdemist für Augenblicke den zarten, welken Duft frischgemähter Wiesen. Rinder, in Herden getrieben, kommen brüllend, zwei und zwei jochverbunden, von zottigen Fleischerhunden umsprungen und umbellt, auf dem Wege zum Schlachthaus. Vornehmer geben's die Schweine: in geräumigen Stallwagen fahren sie, Rücken an Rücken gepfercht. Das Getöse der Straße übertönt ihr vielstimmiges Quieken und Grunzen. Und dem Lebendigen begegnet, vom Metzger zurückgefahren, das Tote: Kälber, auf Streifwagen querüber geschichtet. Auf der einen Seite, Ohr an Ohr, die schlaffhängenden, aus glasigen Augen starrenden Köpfe; über den anderen Wagenrand herunter, Paar an Paar, die gefesselten Hinterbeine. Schmeißfliegen wechseln von den schaukelnden Rücken eiliger Pferde auf die blutrünstigen Tierleiber. Vorbei! Und immer wieder neues Her und Hin, unermüdlich, ununterbrochen, unerschöpflich.

Wie der Schiffer nach dem Stande der Sterne des Nachts, wie der Landmann nach Richtung und Länge der Schatten am Tage die Stunde bestimmt, so gab es auch hier auf dieser Land-, auf dieser Lastenstraße in der flutenden Flucht zufällig wechselnden Vorübers das Fixsternhafte, das unbeirrbar zur selben Stunde wie Ebbe und Flut Wiederkehrende. Alltäglich um Schlag zwölf Uhr mittags stieg auf dem Dache des Geographischen Instituts an eisernem Maste die goldene Kugel empor, verharrte einige Sekunden in ihrem Zenith und sank wieder: das Mittagszeichen. Zur selben Minute wurde vor dem Haupttor des Landesgerichtes die Justizwache mit militärischem Zeremoniell abgelöst, und ein Hofwagen mit Offizieren der ungarischen Leibgarde fuhr aus dem Palais nächst dem Weghuberpark zum Dienste in die Hofburg. Eine Abteilung Burggendarmerie überquerte täglich zur selben Stunde die Lastenstraße in der Gegend der kaiserlichen Stallungen, ein Zug hellebardenbewehrter Arcierengarde in roten, goldverschnürten Waffenröcken und mit weißen Roßschweifen auf den Silberhelmen begegnete ihr täglich an derselben Stelle. Dazu kam noch mit fast ebensolcher Regelmäßigkeit alles andere Militär. Regimenterweise, mit klingendem Spiele, marschierte es von den Übungen auf den Praterwiesen zur Alserkaserne: Infanterie, österreichische und ungarische, Landwehr, Kaiserjäger und, mit phantastischen Meßgeräten, Genietruppen und Pioniere. Und nicht nur die lebendigen Soldaten nahmen ihren Weg über die Lastenstraße, sondern auch die toten. Bei der damaligen Größe der Wiener Garnison gab es nicht allzu viele Tage im Jahre, an denen kein militärisches Begräbnis stattgefunden hätte, und die meisten dieser Trauerkondukte gingen von der Votivkirche oder von der evangelischen Garnisonskirche in der Schwarzspanierstraße aus und lösten sich vor dem Landesgerichte auf. Dort nahm die Suite der Offiziere auf der Stadtseite der Lastenstraße Aufstellung, während Regimentsmusik und Ehrenkompagnie auf der Josefstädter Seite Front machten. Und dann, während der Sargwagen langsam vorüberfuhr, erklangen in die atemlose Stille dieser Zeremonie Kommandorufe, Gewehrgriffe und der Donnerschlag der Generaldecharge. Da flatterten von allen Gesimsen und Dächern aufgeschreckte Schwärme von Tauben auf, leichter, bläulicher Pulverrauch wölkte und verzog sich, die Fahne senkte sich, und aus dem knatternden Wirbel der Trommeln empor erhob sich als das stärkste Symbol jenes unvergeßlichen Vaterlandes der Kindheit in herrlich genauem Zusammenklang der Instrumente mächtig, feierlich und immer wieder erschütternd die begnadete Melodie des »Gott erhalte«.

Dieses nun, diese Zeile der Lebendigen und Toten, die aus Ebenen über dröhnende Strombrücken kam, um eine kurze Weile an Palästen und Gefängnissen vorüberzuziehen und sich dann wieder aus dem Gewirre der Häuser, aus Staub, Rauch und Ruß in grüne, windatmende Fernen zu verlieren, dieser brausende Fasching des Lebens, der helmeblitzenden Macht, des Güterförderns und -umsatzes und zugleich dieser ewige Aschermittwoch des keuchenden, schwitzenden, fluchenden, frierenden Alltags, diese Heerstraße, Landstraße und dennoch Großstadtstraße war in meiner Jugend die Lastenstraße, und von ihr aus führten damals und führen unverändert auch heute noch sieben schmale Gasseneingänge zwischen Vorgärten hindurch in den eigentlichen Bereich meiner Heimat, in die Josefstadt.

Da ist zum Beispiel die Schmidgasse, die am Geographischen Institut vorüber die Lenaugasse überquert, dann über die Langegasse zur Maria-Treugasse hinaufführt und durch diese in den ehrwürdig-geräumigen Platz vor der Piaristenkirche mündet. Da ragt, von zwei Barocktürmen überhöht, die breite Front des Gotteshauses mit der in der Frühsonne leuchtenden Inschrift: Virgo Fidelis Ave Coelestis Mater Amoris. Da stehen in düsterem und dennoch so anheimelndem Grau zur linken Hand die Volksschule, zur rechten das Gymnasium. Piaristenplatz, Ziel des täglichen Schulweges durch zwölf Jahre eines Knabenlebens! An Wintermorgen, wenn die rötlichflackernden Gasflammen der spärlichen Laternen die zögernde Nacht nur mühsam durchdrangen, ging es da hinauf, an trüberleuchteten Vorstadtläden vorüber. Schattenhaft begegneten andere Fußgänger, und aus der finsteren Kirche wimmerte fröstelnd die Orgel ein unendliches, monotones Segenlied zu dem dünnen Gesang einzelner Altweiberstimmen. Aber vom Februar an wurden die Morgen früher und die Tage lichter. Da spiegelte das Eis der Pfützen und Kotfurchen blaue, schmale Himmelsstreifen zwischen grauen Dachsimsen, und die goldenen Turmknäufe der Piaristenkirche glühten in orangeroter Sonne. Und zwölfmal kam auch der Frühling desselben Weges gegangen. Vom Rathauspark herauf, aus den Vorgärten der Lastenstraße, wehten seine laubfrischen Gerüche, und Antwort gaben ihnen die Düfte der unsichtbaren Gärten, die damals von weiten Vierecken niederer Häuser umschlossen wurden. Aus dämmerigen Flurwölbungen drangen sie, über graue Schindeldächer und schwarzbraune Ziegelfirste kamen sie geflogen und waren am fühlbarsten bei Nacht. Nichts störte da die nahezu mittelalterliche Idylle der abseitigen Gassen und Gäßchen. Das Pflaster hallte unter den Schritten des einschichtigen Heimgängers, selten begegnete ein Einspänner, und nur aus kleinen Bierschänken klang auch noch nach Mitternacht hier und dort eine Zither, ein verstimmtes Klavier oder eine Ziehharmonika und Geige.

Freilich, die Josefstadt von damals hatte auch noch andere, ansehnlichere Gaststätten, und fast sie alle verfügten über größere oder kleinere Gärten, über ein paar Kastanien oder Linden, unter deren Zweigen schwere, runde Holztische, mit weißen oder roten Tüchern bebreitet, aufgestellt waren. Da saß behäbig bei Gaslaternen die bürgerliche Wohlanständigkeit an Stammtischen, hier träumte dem blauen Rauch der billigen Zigarre nach der Einsame, hier lächelte im Dämmer eines abseitigen Gartenwinkels die Schüchternheit junger Liebe. Aber das vornehmste Restaurant der alten Vorstadt war der Riedhof in der Schlösselgasse. Da fuhren nach dem Theater Equipagen und Fiaker vor, schöne stolze Frauen in Abendmänteln entstiegen den Coupes, Brillanten blitzten aus dem Goldschatten hoher Frisuren, und den federnden Schritt schlanker Kavaliersgestalten begleitete die leise silberne Musik der Sporen. Hinter gerafften Rohseidengardinen der ebenerdigen Chambres séparées perlte dann der Champagner, und »süßes Mädel« und große Dame erlagen in demselben rottapezierten, verschwiegenen Gevierte der Bezauberung eines für die damaligen Begriffe sündhaft umwitterten Lebens.

Der Riedhof war ein mondänes Wahrzeichen der Josefstadt und hat als solches Eingang gefunden in die Wiener Literatur der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Seine Räumlichkeiten bestehen noch, aber der Betrieb, wie er damals war, hat aufgehört. Ganz hingegen vom Erdboden verschwunden ist ein anderes Wahrzeichen der Josefstadt: hoch oben in Gürtelnähe die alte Reiterkaserne. Weithingezogene, einstöckige und düstere Gebäudetrakte umspannten einen Hof von ungeheuren Dimensionen. Wenn einmal zufällig eines der mächtig gewölbten Tore offen war, konnte der Vorübergehende in das Leben dieses streng abgeschlossenen Bezirkes Einblick nehmen. Da sah man Reitschule halten und Remonten zureiten, sah die Mannschaft fußexerzieren, turnen und säbelfechten, und manches, was man nicht sah, wovon aber jedesmal die ganze Stadt tagelang sprach, umgab das Gebäude mit Romantik und Grauen. Das waren vor allem die Pistolenduelle, die in allerfrühesten Morgenstunden auf dem gewaltigen Hofplatze ausgetragen wurden. Aber auch Freundliches, Friedliches, Anheimelndes ging von der düsteren Kaserne aus. An Sommerabenden, wenn die Petroleumhängelampen über den Familientischen brannten und die Turmspitzen der Piaristenkirche im letzten Flor des versinkenden Tages an die ersten, zartschimmernden Sternbilder rührten, da stieg aus der Mitte des dämmernden Riesenhofes der Mahnruf der Retraite, das hundertjährige Hornsignal auf, das des großen Josephus Haydn Bruder dereinst für die kaiserlich österreichische Armee komponiert hatte. Weithin über Dächer und Gärten klang jene einzigartige dreifache Tonfolge. Schnurrbärtige Wachtmeister traten da kontrollierend vor die Tore der Kaserne, und von allen Seiten fanden sich die Gerufenen ein. Schwergespornte Mannschaftsstiefel hallten über das Pflaster, noch gemächlich nach dem ersten Hornrufe, schon hastiger nach dem zweiten. In der Umgebung der Kaserne aber lösten sich jetzt allenthalben aus finsteren Straßenwinkeln und Tornischen die Gestalten von Dienstmädchen mit weißen Schürzen und dunklen Umhängtüchern und sahen den Enteilenden nach, bis das letzte rote Husarenkäppi um die Straßenecke verschwunden und das letzte metallene Aufschlagen des Säbels auf das Pflaster verklungen war. Wer dann etwa eine Stunde später an den verdunkelten Fronten der Kaserne vorüberkam, ahnte nur mehr den Männerschlaf von Tausenden hinter ihren Mauern. Nur selten klang der melancholische Gesang rauher Stimmen in fremden Sprachlauten aus einem noch später erleuchteten Fenster. Um Mitternacht aber drang nur mehr scharf gärender Geruch von Pferdemist aus den schwervergitterten straßenseitigen Stallöffnungen und an Geräuschen bloß das dumpfe Stampfen unruhiger Hufe auf knisternder Strohschütte, das Schnauben nervöser Nüstern und hie und da das Rasseln einer Halfterkette.

Das war die alte Josefstädter Reiterkaserne: durch viele Geschlechter Aufenthalt und Schicksal für Hunderttausende. Dragoner, Husaren, Ulanen! Deutsche, Böhmen, Magyaren und Polen! Immer wieder wechselten die Regimenter und mit ihnen die Völker und Sprachen. Aber gleich für alle war durch Jahrhunderte die eiserne Ordnung des Dienstes, der alte Soldateneid der Treue »in Krieg und Frieden, zu Wasser und zu Land« und der melodische Befehl der ehrwürdigen Signale, bis über dem Verstummen von Millionen Tapferer auch sie auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges verstummten.

Josefstadt, Kindheit, Heimat! Mit Worten ist dieser Erlebensdreiklang nicht nachzubilden. Und wär' er dies selbst, es ist zu viel des Geräusches in der Welt, als daß gerade er vernehmlich würde. Aber noch redet die alte Vorstadt ja selbst. Noch gibt es hier und dort in ihr altväterische Häuschen, deren Torflure mitten in das Märchen verträumter Gartenhöfe führen. Sandsteinfiguren stehen noch bemoost und verwittert unter uralten Bäumen. Windschief gewordene Gartenhäuser lehnen noch hie und da baufällig an den Feuermauern zudringlicher Zinskasernen, und es sind noch unkrautüberwucherte Wege genug, die, ehemals zierlich bekiest und an Taxushecken vorüber, durch verwachsene Lattentüren hinaus in die Freiheit der Wiesen und Felder führten. Die hofwärtigen Fronten mancher Häuser zeugen noch von dem italienischen Baugeschmack eines früheren Jahrhunderts. Säulengetragene Arkaden, oft mehrere Stockwerke übereinander, schmücken sie, und die kinderreiche Armut, von der solche Häuser meist bewohnt sind, versetzt unwillkürlich in ferne, viel südlichere Gegenden. Urwienerisch aber ist der Werkelmann, der auch heute noch die Kinder um sich versammelt, und der Geiger, den ein Ziehharmonikaspieler zu alten Weisen und längst verjährten Gassenhauern begleitet. In meiner Kindheit freilich gab es noch den Italiener, der einen rotuniformierten Affen Gewehrgriffe machen und Feuer geben ließ, den Dudelsackpfeifer, der mit Armen und Beinen nebstbei noch einen ganzen Mechanismus von Trommeln, Tschinellen und Klappern betätigte, den Bosniaken, der Dolche, Zigarrenspitzen und Tschibukrohre verkaufte, und den sogenannten Rastelbinder, der alles schadhafte Geschirr an Ort und Stelle mit Draht und Blech zusammenflickte. Vom Krawaten, der Kochlöffel und Holzflöten feilbot, und vom Pinkeljuden, der sein »Handle!« zu den oberen Stockwerken emporschnarrte, ganz zu schweigen! Die liebste und traulichste Erscheinung unter den Straßenverkäufern und Hausierern der damaligen Zeit war aber doch die Lavendelfrau, die ihr Anbot himmelblauer, zartduftender Blüten nach einer uralten hochsommerschläfrigen Melodie in den Hof sang: »Kauft's an Lavendl! Drei Kreuzer das Büscherl Lavendl! An Lavendl kauft's!«

Fast alle diese merkwürdigen, trauten und oft so phantastischen Gestalten, die zur Stimmung des früheren Wien und somit auch der alten Josefstadt gehörten, sind Vergangenheit geworden. Der Sturm der Weltgeschichte hat Gebirge und Ebenen, Ströme und Städte aus einem Reich ins andere vertragen und hat auch jene verweht und verwirbelt wie den bunten, raschelnden Abfall des Sommers. Der Herbst ist gekommen, und manches, was seine Fröste verbrannten, blühte noch und hatte sein Schicksal nicht vollendet. Auch den alten Häusern, die heute noch die Josefstadt beherbergt, droht über kurz oder lang die Spitzhacke, und auch ihre letzten Gärten werden verbaut werden. Dann wird es ein ganz neuer und fremder Stadtteil sein, durch dessen breitere Straßen ein neues Geschlecht wandeln, in dessen lichteren Heimstätten heute noch Ungeborne ihr neues und doch so uraltes Menschenschicksal erleben werden. Ihnen wird unsere Gegenwart Vergangenheit, unsere Vergangenheit aber fast schon Legende sein. Dann bleibt vielleicht noch eine kleine Weile ein schlichtes Buch, das den Versuch wagt, jene Legende festzuhalten, bis am Ende auch dieses eingeht in die große Stampfmühle der Vergessenheit.


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