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Actus quintus

quasi epilogus sub specie aeternitatis

Das Schlafzimmer.

Die Wände verlieren sich in Schatten. Links ein hohes Fenster, alle Flügel offen. Inmitten des Zimmers ein breites, etwas erhöhtes Ruhebett. Sonst nichts, was an die Einmaligkeit eines bestimmten Raumes gemahnte.

Der Vorhang öffnet sich leise und langsam.

Tiefe Nacht. Ein Strom vagen Mondlichts überschimmert das Lager. Links darauf schläft

Anna nur mit leichten weißen Decken unregelmäßig bedeckt, einen unruhigen Schlaf. Neben ihr, das Haupt in die Hand gestützt, sie wehmütig betrachtend

Martin. Von draußen, wo ein großer Gartenhof gedacht ist, die ferngedämpften Geräusche der Großstadtnacht. Manchmal das Aufatmen von Baumkronen im Winde. Einmal das ganz weite Pfeifen einer Lokomotive und endlich der dreimalige Schlag einer Turmuhr.

Anna beginnt plötzlich, leise im Schlaf zu weinen. Bald darauf schlägt sie die von Tränen überströmten Augen auf. Sie erblickt Martin und sieht ihn mit traumbefangenem Staunen an

Anna

Bist du es, Martin?

Martin

Ich. – Schlaf ruhig, Kind!

Anna

Bist du schon lange da und neben mir?

Martin

Seit Stunden hüt' ich wachend deinen Schlaf.

Anna

Wie spät ist's in der Nacht?

Martin

Der Mond hält an der Kimmung seines Weges,
Die zartern Sterne treten schon zurück. Bald ist es Tag.

Anna

So traurig war der Traum.

Martin

Doch erst wohl glücklich?

Anna

Sprach ich etwa?

Martin

Nein.

Erst lagst du still im Mondlicht hingeruht,
Und Mund und Wangen lächelten befreit.
Doch plötzlich, wie von bitterm Sturm gepackt,
Ein Beben schulterte durch deinen Leib,
Und über deiner Wimpern dunkle Wehre
Quollen die Tränen auf.

Anna

Nie solchen Traum
Mehr träumen will ich.

Martin

War auch ich in ihm?

Anna sich etwas aufrichtend, mit weiten, wehen Augen vor sich hin

Auf einer Insel, irgendwo im Meer,
Nur du und ich, und immer ich in Angst,
Du könntest mich verlassen. Lieb und gütig zwar
Warst du zu mir, doch immer wieder
Trieb es zum Strande dich.
Dort standst du schweigend
Und blicktest fernhin, wo der lichte Rand
Des Himmels auf den dunklern Wassern ruht.
Und einmal gingst du fort und – kamst nicht mehr.

Martin schwer

Da weintest du?

Anna

Noch nicht.

Martin

So gab es Schwereres in deinem Traum,
Als daß ich dich verließ?

Anna

Viel Schwereres.

Martin

Willst du es sagen?

Anna mit visionärem Lächeln

Blumenüberdeckt,
Mit bunten Lichtern, Saitenklang an Bord,
Ein Gondelschifflein lenkte an den Strand
Die erste bange Nacht, die ich allein.
Von Liebe sprach der Mann
Lachend und unerhört –
Weiß nicht mehr, wie es kam,
Daß er mich gewann –
Ein Geiger hat mich betört.

Martin noch schwerer

Da weintest du?

Anna

Noch nicht.

Martin

So gab es Schwereres in deinem Traum,
Als daß du mich verrietst?

Anna mit weher Seligkeit

Waren selig vereint
Die lange Nacht
Bei Küssen und Wein!
Süß war der Freund –
Was ich auch gedacht,
Als ich spät erwacht,
Du fielst mir nimmer ein –
Da Hab' ich geweint.

Martin dunkel

Anna, mehr Geständnis ist
In diesem Traum, als man von wachem Willen
Begehren kann! Doch glücklich immerhin
Die reine Seele, die ein Traum in Schuld
Verstrickt und so von ihr erlöst. Uns andre
Treibt derbere Begier der Sünde zu
Und läßt nicht locker, ehe nicht getan,
Was keine Reue unbegangen macht.

Anna

Du bist so traurig. Ist dir was geschehn?

Martin

Wohl – es geschah mir viel in dieser Nacht.

Anna mit mütterlicher Teilnahme

Sag mir es doch!

Martin

gequält Nicht jetzt, nicht heut mehr, Anna!
Doch morgen, wenn die Stirne kühler ist,
Vom Bad des Lichts die Seele wieder klar,
Und ordnendes Besinnen eingereiht
Den Widerspruch der Nacht in das Gesetz von
Ursach' und Wirkung, dann erzähl' ich dir,
Was, hätt' ich's bloß geträumt, mir leichter wär'.

Er sieht sie traurig an, dann plötzlich mit schmerzlicher Inbrunst

Warum hast du mich, du bester
Engel, nicht bewahrt?
Warum hieltest du nicht fester
Mich zu dir gepaart?
Wenn schon Lust vergeht,
Bliebe doch Gebet,
Und als Freundin oder Schwester
Lenktest du mir sanft die Fahrt!

Anna tief betroffen und erschüttert

War ich nicht immer deine Freundin, Martin?

Martin

Ja, Anna, ja! Allein, was weißt du denn
Von mir?! Ein Abgrund ist der Mensch, und was
Er spricht und tut, ist nur wie das Gekräusel
Von spielerischen Wellen über Tiefen,
Die unerforscht und voller Grauen sind.
Auch deinen Tiefen, Anna – oh ich weiß! –
Entbrach in dieser Nacht Gefährliches
Und riß in wildem Wirbel dich dahin!
Und eh der Hahn zum erstenmal gekräht,
Verrietst du, den du doch so liebhast – mich!

Anna rauh

Und du?

Martin immer wühlender

Oh, wie oft hab' ich wie heute
Neben dir, Liebste gewacht!
Hörte der Uhren Geläute
Jede Stunde der Nacht.
Sah über dein schlummerndes Antlitz
Lächelnde Träume wehn,
Hörte dein ruhiges Atmen,
Sah deinen Herzschlag gehn.
Wie Saaten im Sommerwinde
Wellten die Brüste dir sacht,
Die meinem, unserem Kinde
Süßeste Stillung gebracht.
Doch ich, gepeinigt von Gier,
Über dich Reine hinweg,
Lechzte nach wilden Genüssen,
Und der schlummernde Anblick
Deines geweihten,
Angebeteten Leibes
Stillte die Wünsche nicht!

Anna in ratloser Kümmernis

Und meine Liebe, wecktest du mich,
Hätte dich nicht gestillt?!

Martin aus tiefsten Tiefen

Nichts, nichts stillte mich mehr!
Selbst in der holden Umfriedung
Deiner zärtlich erglühten
Liebreichen Arme
Sehnte mein Blut sich
Nach andrer Erlösung!
Und Reste, ungelöschte,
Heillosen Brandes
Wuchsen ins Übermaß!

Da floh ich und peitschte
Die Sinne mit Arbeit,
Hetzte die Nerven müd
Mit Denken und Planen!

Doch selbst aus dem nüchternsten Tun
Zuckten die roten Zungen,
Und zwischen Zeichen und Lettern
Täglicher Schriften und Bücher
Reckten sich freche Gebärden auf!

Anna erschüttert

Und deines Kindes Anblick,
Stillte er nimmer dich?

Martin gepeinigt

Oh, wie oft suchte ich ihn!
Kniete an meines
Müdegespielten,
Betenden Kindes Bettchen!
In der seidenen Locken Duft
Drückte die Lippen ich,
Kühlte an flaumweicher Wange
Pochende Schläfe mir,
Doch nichts, nichts mehr
Stillte mich!

Anna

So sehr hast du gelitten,
Und ich, ich ahnte es nicht!

Martin

So sehr, Anna, so sehr!

Anna

Warum bliebst du in all dem Leid
So ohne Wort zu mir!?

Martin

Weil zwischen Mann und Weib
Dunkelste Dinge sind,
Die keine Lippe nennt,
Eh sie geschehen.

Anna

Litt ich nicht auch wie du?

Martin

Glaubst du, ich wüßt' es nicht?!
Aber anders littest du, anders!
Immer, was Sehnsucht war,
Trieb dich an meine Brust!

Aber ich –

Ich konnte kein Weib mehr sehn
Dessen ich nicht begehrt!
Wahllos schweifte der Trieb,
Gierig nach Beute aus,
Und dennoch, zehnfach gefesselt
Durch den Gedanken an dich,
Hielt er der Lockung stand –
Bis heute!

Anna mit weiten, schmerzvollen Augen

Was – war heute, Martin?

Martin mit unwirklicher Stimme

Eine – Hure hab' ich geküßt.

Ein sichtbares Schüttern geht durch Annas Leib. Sie richtet sich auf. Irgendetwas bricht in ihr zusammen, ihre Haltung versteint sich, ihr Antlitz, ihr Auge erstarrt in tränenlosem Glanz. Die Stimme, mit der sie die folgenden Worte spricht, ist wie aus weiter Ferne von einem unendlichen, zitternden Weh beseelt.

Während der tiefen Stille, die nach Martins letzten Worten eingetreten ist, fallt gleichsam aus der Unermeßlichkeit des Weltraumes ein tiefer, gleichmäßiger, auf denselben Tönen verharrender Akkord wie ein fernes harmonisches Summen und Brausen ein.

Anna

Wir Frauen werden plötzlich arm,
Von heute oft auf morgen,
Und dürfen dann ein Leben lang
Von dem, was Glück und Liebe war,
Nur borgen, ja nur borgen.

Uns ist, als ob es gestern war:
Der Kranz im Haar und der Altar
Mit Weihrauch und mit Kerzen;
Wir sehen noch den Bräutigam,
Und heimlich ist's um uns getan
Im Herzen, ja im Herzen.

Martin erschüttert, tief

Warum leiden die Menschen so sehr an ihrem Geschlecht?
Wie mit Harpunen trifft sie der Herr mit ihrem Geschlecht,
Und die Widerhaken entreißt er der Wunde,
Daß sie verbluten.

Anna mit schmerzlicher Auflehnung

Doch du und ich und ich und du!
Was fiel denn fort, was kam dazu,
Daß ich nicht mehr genüge?
Dann ist ja auch, was einmal war,
So selig, reich und wunderbar,
Nur Lüge, ja, nur Lüge!

Martin mit leidvoller Beschwörung

Nicht Lüge, Anna! Auf ewigen Besten steht,
Was wahrhafte Herzen gemeinsam sich aufgebaut.
Aber Menschen sind wir, Anna, nur Menschen!
Der Sinne Sturmwind rüttelt am Mauerwerk,
Tobt an die Fenster und bröckelt Gesimse ab,
Aber tragende Säulen zerbricht er nicht,
Und die Flamme des Herds löscht nicht sein Wüten aus.

Anna schmerzlich

Aber die andern, die leben ein Leben lang
Freundlich gesellt und werden von Jahr zu Jahr
Immer einander noch mehr und inniger zugetan!
Ihrer Freuden Frühling gleitet gewitterlos
In den stilleren Sommer, verklärt sich zu mildem Herbst,
Und der entschlummerte Wunsch hält noch in Träumen fest
Ersten Sichfindens süße Vergangenheit.
Sag mir, warum denn nur wir so unselig sind!!

Martin innig ergriffen, mit wachsender Steigerung

Wir, nicht wir nur, Anna! Lenk du den Blick hinaus
In die vergehende Nacht, in geisterndes Sternenlicht!
Siehst du die Dächer an Dächern
und Fenster an Fenstern dort?

Laß das Gemäuer versinken,
das Nachbar von Nachbar trennt,
Und tausendmal tausend Betten wie unsere
Unabsehbar im Dämmer sind hingereiht!
Und in den Betten die Menschen, leidend am selben Leid!
Und von ihnen noch immer jene die Glücklichsten,
Die da, wissend wie wir, einander ihr Leid vertraun.
Aber die meisten, die Dumpfen, leben wie Tiere hin,
Genügsam die einen im Dünkel, daß Liebe sei,
Was die Körper verrichten in stumpfer Alltäglichkeit,
Und die andern hassen einander aus ihrem Geschlecht,
Und die gedrosselte Lust wird ihnen zur Furie!

Anna mit qualvoller Anklage

Und uns?! Ward uns die Liebe nicht auch zur Qual?
Was denn nützt es zu wissen, wenn Wissen nicht stillen hilft?
Oder war es nicht Liebe, was uns zusammenzwang?
War es nur Zufall, was da Geschlecht dem Geschlecht,
Deines Alleinseins Müdheit und Überdruß
Meiner Neugier auf Lust blindlings entgegentrieb?
Alles beginnt zu wanken, wenn Liebe nicht ewig ist,
Wenn von der Herzen Inbrunst Begierde sich trennt
Und das ruhlose Blut andre Erlösung sucht!
Oh, was aus unserer Liebe geworden ist!

Martin mit wehmütiger Steigerung

Liebe! Liebe! Was wissen wir Menschen, wann Liebe ist?!
Lust der Sinne allein ist Vergänglichkeit,
Und der Herzen Einklang sänftigt das Glühen nicht.
Da laß uns doch lieber wahr zu einander und gütig sein
Und in Demut erkennen, daß Liebe ein Recht nicht ist
Und daß viele berufen, doch wenige auserwählt sind.
Alle tausend Jahre nur einmal vielleicht
Aufsprüht der göttliche Funke und zündet ein Menschenherz!
Dann rauschen die Quellen auf, und Lieder, unsterbliche,
Blühen aus stammelndem Munde eines Gesegneten.
Doch von Lust und Besitz vermelden die Lieder nichts –
Immer nur Sehnsucht hat die begnadete Zunge gelöst!
So auch bleibt uns nicht andre Erlösung vielleicht
Als Verzichten und Schweigengebieten unbändigem Trieb
Und, in Sehnsucht uns übend, einig und heilig zu sein ...

Anna in großem Weibesschmerz

Das ist das Ende der Liebe!

Martin asketisch verklärt

Oder ihr Anfang erst!
Denn was sich küßt und paart, ist ewig in Trug verstrickt.
Aber der strauchelnde Fuß eines, der aufwärts sieht,
Findet noch immer mehr an irdischer Seligkeit
Als das Auge des Toren, das nur auf der Erde sucht.

Das tiefe Brausen verklingt. – Unendliche Stille. – Die beiden Menschen weinen. Ein mystisches Orchester spielt das Geigenmotiv aus dem Actus quartus.

Der Vorhang schließt sich.

Die Uraufführung dieser Tragödie fand am 18. Nov. 1916 am Deutschen Volkstheater zu Wien statt.


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