Ernst von Wildenbruch
Der Meister von Tanagra
Ernst von Wildenbruch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Heda, Polymakron,« so rief in der Werkstatt des Praxiteles, in der sich die zahlreichen Schüler des Meisters an der Arbeit befanden, ein schwarzlockiger, wilder Bursche einem der Genossen zu, »was sitzest du mit lässigen Händen da? Soll der Satyr durch Anschauen fertig werden? Da nimm dir ein Beispiel an der Böotischen Biene; sieh' ihn an, den Tanagräer, wie er an seiner Aphrodite herumschnörkelt, emsig, ohne rechts und links zu blicken, ohne an eine Kephisias zu denken, die dir, heilloser Liebling 46 des Eros, nicht aus den Gedanken weicht, weil er nur an seinen Ruhm denkt, mit dem er uns Alle dereinst überstrahlen wird, uns armselige Athenienser!«,Diese, auf Myrtolaos gemünzten Worte, die mit lärmendem Gelächter der übrigen Genossen aufgenommen wurden, bezeichneten die Stellung, in der er sich, seitdem er bei Praxiteles war, seinen Kameraden gegenüber befand.

»Er ist ein pfiffiger Kopf,« gab Polymakron zur Antwort, »er will seinen Ruhm plötzlich und überraschend aufgehen lassen, darum hält er jetzt mit seinen Talenten so vorsichtig zurück, daß man schier glauben könnte, sie wären gar nicht da.« Abermaliges Gelächter belohnte den Scherz, der auf Myrtolaos' Rechnung ging.

Schweigend ließ dieser die Spott- und Hohnwellen über sich hinrauschen. Sie würden ihn wenig gekränkt haben, denn zum größten Theile, das wußte er wohl, verdankten sie ihren Ursprung dem Neide seiner Genossen über die bevorzugte Stellung, die er vor ihnen bei Praxiteles genoß; aber das war es, was jenen Worten einen bitteren Stachel verlieh, daß sein eigenes Bewußtsein auf die Seite der Spötter trat und Partei nahm gegen ihn selbst.

Mit glühendem Eifer hatte er sich an die Arbeit gemacht, und dieser Fleiß war es, der ihm bei seinen Genossen den Spitznamen der »Böotischen Biene« eingetragen hatte, der erste Anlauf, den er genommen, schien das Beste zu versprechen, denn zu seinem eigenen Erstaunen und zur gerechten Bewunderung des Meisters entwickelte er ein so angebornes Talent in der äußeren Technik, daß er mit spielender Leichtigkeit über die ersten Anfangsgründe hinweggekommen und zu größeren Aufgaben gelangt war, aber nun trat ein verhängnißvoller Zustand ein: seine Phantasie ging nicht gleichen Schritt mit seiner Fertigkeit, er kam über die äußerliche Nachbildung der Praxitelischen Vorbilder 47 nicht hinweg, mit ihrem Geiste vermochte er sich nicht zu erfüllen. Immer und immer wieder trat jener Augenblick vor seine Seele, als er zum ersten Male in der Werkstatt des Praxiteles dessen Gebilden gegenübergestanden hatte, und was damals ein dumpfes unverstandenes Gefühl der Beängstigung gewesen, trat ihm mit immer schreckhafterer Klarheit entgegen, das Bewußtsein, daß sein Geist keine Verwandtschaft mit dem des Meisters besaß, daß dessen Wege nicht die seinen waren und daß in Folge davon die Kluft zwischen ihnen breiter und immer breiter ward. So bemächtigte sich eine tiefe Verzagtheit seiner Seele, das Gefühl eines verfehlten Daseins begann seine Schatten in seiner Seele zu verbreiten, und unter dem grauen Himmel, den dieses Bewußtsein im Gemüthe des Menschen ausspannt, treibt die Schaffenskraft keine Blüthen mehr.

Dem Meister entging dieses Alles nicht, aber er hielt sich zurück, denn es giebt Zeiten, da der Mensch sich selbst berathen muß. Für Myrtolaos aber waren es Augenblicke der verzweiflungsvollsten Selbsterniedrigung, wenn er Praxiteles in unbewachten Augenblicken beobachtete, wie derselbe mit kummervollem Erstaunen die Werke dessen betrachtete, von dem er soviel erwartet hatte und so wenig empfing.

Dann geschah es, daß der Jüngling aus der Werkstatt hinausstürzte, dann verwünschte er seine Hände, die ihn durch ihre Geschicklichkeit zu dem Wahne verleitet hatten, daß sie die Instrumente eines schaffenden Geistes seien, dann schrie er in seiner Noth zu den Göttern, denen er einstmals geglaubt hatte und flehte sie um ein Zeichen an, ob er dem Berufe des Künstlers treu bleiben oder ihn mit raschem Entschlusse von sich werfen sollte. Und mitten in diesen qualvollen Kämpfen regte sich dann wieder, 48 mächtig wie am ersten Tage, der unauslöschliche Drang zum Schaffen und Bilden, und während er sich zu entsagen bemühte, entstanden in seinen Händen, beinahe unbewußt, neue Gestalten und Figuren. Aber so eng in der Auffassung, so dürftig in allen Verhältnissen erschienen sie ihm, wenn er im Vergleich damit an die mächtigen blühenden Formen dachte, die unter Praxiteles' Händen entstanden, daß er ingrimmig seine Erzeugnisse zertrümmerte und zerstampfte, um sie nie mehr vor Augen zu sehen. Alle die Stimmen, die ihm in früheren Tagen zur begeisterten Seele gesprochen, verlachte er mit grimmigem Hohne, denn sie waren es ja, die seiner Natur die Eigenschaften aufgeprägt hatten, die ihn unfähig machten für die große freie Kunst des Praxiteles; sie hatten ihn zum Schwärmer, zum weltabgeschlossenen Träumer gemacht, sie hatten sein Auge blöde gemacht, so daß er aus der sinnlich rauschenden Welt, die ihn umgab, keine Nahrung zu finden vermochte – und darum beschloß er nun, ein Ende zu machen mit den Erinnerungen früherer Tage, seine innerste Natur abzuthun und alles das zu suchen, was er bisher aus thörichter Scheu vermieden hatte.

Das Leben und Treiben seiner Genossen, die im zügellosen Strom des Athenischen Lebens dahinschwammen, war ihm zuwider gewesen, von nun an beschloß er, einer der ihrigen zu werden, hinabzutauchen in den Strom, mochte er ihn treiben, wohin er wollte, und wenn er keine Kephisias besaß, so hatte er ja Hellanodike.

Als ihm dieser Gedanke, der sich tastend und scheu wie ein Verbrecher aus den Tiefen seines verdüsterten Innern erhoben hatte, zum ersten Male deutlich wurde, erging es Myrtolaos wie einem Menschen, der zum ersten Male die Wirkung eines Erdbebens verspürt. Das Gefühl, daß der Grund und Boden, auf dem sich wie auf einer 49 unanfechtbaren Grundlage das Gebäude des menschlichen Bewußtseins erhebt, selbst der Vernichtung anheim fallen könne, entwurzelt den Menschen und versetzt ihn mit lebendigen Sinnen in die Vorempfindung des Todes. Wirre Bilder durchzuckten sein Gehirn. Er sah plötzlich in greifbarer Lebendigkeit eine Statue vor sich von fleckenloser Weiße: es war Hellanodike. Dann kamen zwei Hände, die sich heiß um das schöne Gebilde herumschlangen, wo sie gelegen, erschienen schwarze widrige Flecke, und er sah, wie das marmorne Antlitz sich schmerzlich verzog. Dann wieder war es ihm, als reckten sich zwei weiße hülfesuchende Arme nach seinem Halse aus; er schüttelte sie von sich, und während die Arme versanken, hörte er deutlich eine klagende Stimme, die seinen Namen rief. Auch des Myronides mildes Angesicht erschien ihm und sah ihn mit einem Ausdrucke an, wie er ihn nie gekannt; sein greiser Bart war zerzaust und geschändet. –

Aber der Gedanke war geboren, er blieb und wuchs, und es kam ein Ereigniß, das ihn plötzlich und unerwartet zur Reife bringen sollte.

Bald nach den oben geschilderten Vorgängen erschien in der Werkstatt des Praxiteles ein Mann, der nach Myrtolaos aus Tanagra fragte, es war Phayllas. An dem hastigen Auftreten des Fremden, an dem rauhen Tone seiner Stimme und dem bleichen Gesichte bemerkten die Schüler des Praxiteles, daß etwas besonderes im Werke sei. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn Myrtolaos stand an seiner Arbeit.

»Myrtolaos,« sagte er, indem er ohne Gruß auf ihn zutrat, »du weißt, warum ich komme.« Der Jüngling sah auf; ein finsterer Trotz lagerte sich auf seinem Gesicht; er schwieg.

»Du willst mir nicht Rede stehen,« fuhr der Andere 50 fort; »aber du sollst; im Namen des Myronides, du sollst mir sagen, wo sie ist, wo du sie verbirgst.«

Ein allgemeines »Hoho« erhob sich bei diesen Worten unter den Kunstschülern; die Köpfe wurden zusammengesteckt, man lachte, man freute sich, daß man der Böotischen Biene hinter ihr Geheimniß gekommen war.

»Ich weiß, daß sie dir nachgelaufen ist,« rief Phayllas, durch des Andern Schweigen zur Wuth gereizt, »und ich sage dir, ich gehe nicht ohne sie zurück! Räuber und Entführer, wo hast du Hellanodike? Gieb sie mir heraus!« Er hatte Myrtolaos an der Schulter gepackt und schüttelte ihn. Mit einem plötzlichen Ruck richtete dieser sich auf, warf die Hand des Gegners von seiner Schulter und indem er ihm mit flammenden Augen in das blasse Gesicht blickte, rief er:

»Nie sollst du Hellanodike zurückhaben, nie!«

In seiner schlanken Schönheit stand er da, jung und herrlich, wie ein zürnender Apoll.

Unberechenbar, wie Menschen es sind, doppelt unberechenbar, wie Athenienser damaliger Zeiten, schlug plötzlich die Stimmung der Kunstgenossen zu Gunsten des schönen Tanagräers um.

»Seht ihn an« rief der schwarze Lysias, »bei den Göttern seht den Tanagräer an, welch ein herrliches Gewächs er ist! Bleib so stehen, Preis meiner Augen, und ich mache einen Dioskuren aus dir, der dich und mich unsterblich machen soll.«

»Brav, Myrtolaos,« rief Polymakron, »laß dir dein Mädchen nicht nehmen, wir stehen dir bei für Hellanodike.« Ein wildes jauchzendes Gelärm war die zustimmende Antwort der Uebrigen.

»Ihr Jünglinge von Athen,« wandte sich Phayllas, bleich und zitternd vor Aufregung an die Schüler, »Ihr 51 würdet nicht also sprechen, wenn Ihr wüßtet, was er gethan; wenn ich Euch sage, daß er seinem Pflegevater, der ihn Jahre lang an seinem Tische essen, in seinem Hause wohnen ließ, das einzige geliebte Kind raubte –«

»Wer sagt dir, daß ich das gethan? wer giebt dir das Recht, mich zu verläumden,« rief mit donnernder Stimme Myrtolaos. »Nicht geraubt habe ich sie, freiwillig ist sie mir gefolgt, um dir zu entfliehen, dir, den sie haßt.«

»Sie zeigt Geschmack und ich muß sie loben,« schrie Lysias dazwischen, »wenn sie ihn dir vorzieht, du eifersüchtiger Liebhaber.«

»Glaubt Ihr, ich werde es mit ansehen,« sagte Phayllas, der statt des einen plötzlich so viele Feinde sich gegenüber sah, »daß er das Mädchen, die ich zu meinem Weibe zu machen gedachte, zu seiner Buhlerin erniedrigt?«

»Wer sagt dir das?« rief Myrtolaos, und ballte die Faust gegen sein Gesicht.

»Das weiß ich,« schrie ihm Phayllas zurück, »denn ich kenne dich und weiß, daß du ein Bethörer und Verführer der Herzen bist.« Der lang gehegte Neid brach wie ein Dolch, der endlich das ersehnte Ziel findet, schneidend aus seinen Worten hervor.

»Hört mich,« wandte er sich noch einmal an die Schüler des Praxiteles, »Ihr hört die Stimme der Gerechtigkeit: führt mich zu Praxiteles, er ist ein rechtlich denkender Mann, er wird mir sagen, wo ich das bethörte Mädchen finde.«

»Praxiteles?« rief höhnend der schwarze Lysias; »glaubst du, er hätte Zeit, sich um unsere Geliebten zu kümmern? Mach' daß du heim kommst, rathe ich dir, Böotier, und vergiß nicht, daß hier Athen ist und daß du ein Fremder in Athen. Praxiteles ist über Land.«

»Wenn Ihr dem Fremden sein Recht verweigern 52 wollt, so bedenkt,« sagte Phayllas, »daß auch dieser hier und daß auch jenes Mädchen Fremde in Athen sind, es ist ein Streit zwischen Fremden.«

»Fehlgeschossen, Böotier,« höhnte Polymakron, »er ist ein Schüler des Praxiteles, und wer sich einen solchen nennen darf, der ist Athener geworden.«

»Er ist Athener,« schrie das ganze Chor, »Myrtolaos ist ein Athener.«

»Und die Schüler des Praxiteles stehen Einer für den Andern, das merke dir,« sagte ein starkgliedriger Geselle, der drohend aus der Schaar der Uebrigen auf Phayllas zutrat.

»Und Alles mag man ihnen nehmen,« rief ein Anderer »nur ihre Mädchen nicht.«

»Nein, bei den Göttern, wer mir an meine Kephisias rühren wollte –« lachte Polymakron.

»Und kurz und gut,« entschied Lysias, »Hellanodike ist sein, und also bleibt's.«

Ein jauchzendes Hohngeschrei übertäubte die Worte des Phayllas. Thränen der ohnmächtigen Wuth flossen ihm über das Gesicht, denn er sah keine Aussicht, zum Ziele zu gelangen.

Er schüttelte die Faust gegen Myrtolaos.

»Nun denn,« rief er, »wenn es wahr ist, daß jene Dirne so tief gesunken ist, daß sie dir aus freien Stücken gefolgt ist, so geh' zu ihr und bringe ihr den Fluch ihres greisen Vaters, den sie zum Gespött seiner Stadt gemacht und den sie in Kummer und Verzweiflung gestürzt hat um deinetwillen, du Lotterbube.«

»Höre nicht auf diesen krächzenden Raben,« schrie der schwarze Lysias, »und hinaus mit dir, du neidischer meckernder Ziegenbock!«

»Hinaus mit ihm« – der ganze wilde Schwarm war plötzlich über Phayllas her, »hinaus und zurück mit 53 ihm nach Böotien, wo er Disteln fressen kann, der schreiende Esel!«

Kräftige Fäuste griffen von allen Seiten zu, einen Augenblick später befand sich Phayllas außerhalb der Werkstatt, drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst und schlug der Länge nach in den Staub der Straße hin. In der Thür stand Lysias und drohte hinter ihm her:

»Wenn wir dich hier länger umherschleichen sehen, oder wenn du es versuchen solltest, hinter unserem Rücken zu Praxiteles zu gelangen, dann sieh dich nach einem anderen Schädel um, denn den, den du jetzt auf den Schultern trägst, bringst du dann nicht heil nach Hause zurück.« Phayllas erhob sich, klopfte seine Kleider ab und ging, ohne zurückzublicken, lautlos davon wie eine böse Spinne.

Myrtolaos war mit einem Schlage der Held des Tages geworden. Er, den man für einen Kopfhänger gehalten, hatte ein Abenteuer aufzuweisen, wie keiner seiner Genossen, das machte Eindruck; und während die Anderen nicht laut genug mit ihren Geliebten prahlen konnten, hatte er sein Besitzthum mit vornehmer Ruhe geheim gehalten, – das riß hin.

Und wie er seinen Genossen plötzlich als ein Anderer erschien, so hatte sich auch seine Empfindung ihnen gegenüber gewandelt, seitdem er sie so thatkräftig für seine Wünsche hatte eintreten sehen. Er war ein Gleicher unter Gleichen und das Kraftgefühl, welches das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit Gleichgestimmten verleiht, kam zum ersten Male mit voller Gewalt über ihn. Ein unbestimmter Drang erfaßte ihn, seinem wachsenden Herzen Luft zu machen, er sprang auf seinen Arbeitsschemel und »Evoe Hellanodike,« schrie er wild jauchzend in den Saal. hinein. 54

»Evoe Myrtolaos und Hellanodike,« scholl es lachend und jauchzend zurück.

»Heute nichts mehr von Arbeit,« sagte Polymakron, indem er den Meißel in die Ecke warf, »in der Schenke draußen am Ilissos ist junger Wein aus Thasos angekommen, ein Schwarm von Krammetsvögeln ist heute Morgen dem Phaedimos, dem trefflichen Wirth ins Garn gegangen, kommt, laßt uns hinausziehen, unseren Sieg durch ein Gastmahl zu feiern.«

Der Gedanke fand rauschenden Beifall; das Arbeitszeug ward abgethan, und bald darauf zog die ganze Schaar auf dem Wege zum Stadtthore dahin, der außerhalb der Mauern belegenen Schenke zu.

Unterwegs machte Polymakron Halt.

»Brüder,« sagte er, »sollen wir wie Skythen oder Paphlagonier ohne die Würze schöner Weiber tafeln? Ich hole Kephisias ab, thue ein Jeder desgleichen, und Myrtolaos mache uns mit seiner Hellanodike besannt.«

Dieser Vorschlag leuchtete um so mehr ein, als selbstredend nach den heutigen Vorgängen Alle gespannt waren, Hellanodike von Angesicht kennen zu lernen. Myrtolaos schien einen Augenblick zu überlegen; allein es gab keine Möglichkeit, dem Wunsche seiner Kameraden, die gewissermaßen ein Recht an seiner Geliebten erworben hatten, auszuweichen, und außerdem befand er sich in einem Zustande innerer glücklicher Berauschtheit, der kein Bedenken aufkommen ließ.

»Geht voran,« rief er, »wir werden Euch finden,« und er machte sich nach dem Hause des Mnemarchos auf, welches unweit des Fußes der Akropolis lag.

Er traf es günstig; Mnemarch, der ihm die letzte Zeit, so oft er Hellanodike zu besuchen kam, ein wenig freundliches Gesicht gezeigt hatte, war nicht zu Hause. 55 Hellanodike hatte sich soeben im Bade erquickt, und so reizend und schön war sie ihm noch nie erschienen als jetzt, da sie, fröhlich bei seinem Eintritt in den Gartenhof aufjauchzend, auf ihn zu und in seine Arme flog.

Er drückte sie an sich und küßte die letzten Wasserperlen, die wie Thautropfen an ihren braunen Locken hingen, hinweg; und indem er daran dachte, daß dieses entzückende Geschöpf, von Vater und Vaterstadt geschieden, nun ganz und ausschließlich nur sein noch war, fühlte er sein Herz von namenloser Wonne schwellen.

»Hellanodike,« sagte er, »meine Schöne, Geliebte, nun endlich habe ich dich mir ganz erobert; weißt du, wer heute bei mir war?« Sie sah ihn fragend an. »Phayllas, der von mir verlangte, daß ich dich ihm zurückgeben sollte.«

»Phayllas?« erwiderte sie erschrocken, »was hast du ihm zur Antwort gegeben?«

»Kannst du danach fragen? daß er dich nie haben sollte, habe ich ihm gesagt, nie! Oder hätte ich ihm etwas anderes sagen sollen?« fuhr er fort, da er sah, wie ihr Auge plötzlich von stummen Thränen überfloß.

»Nein,« sagte sie leise, indem sie sich enger an ihn schmiegte, »nein, aber du weißt – mein Vater –« und ihre Thränen flossen reichlicher.

»Weine nicht,« sagte er zärtlich, »es mußte kommen, wie es gekommen ist; deinem Vater, das weißt du, will ich dich nicht rauben, aber daß wir von dem Verhaßten befreit sind, darüber wollen wir uns freuen.«

»Und er weiß nicht, wo ich mich befinde?« fragte sie schüchtern.

»Er weiß es nicht und wird es niemals erfahren,« sagte er zuversichtlich; »und nun komm, sieh dort –« und er zeigte über die Mauer des Gartens hinweg zur Akropolis hinüber, wo die goldene Lanzenspitze der Athene 56 Promachos flimmernd emporragte, »sieh, wie sie emporweist zum warmen strahlenden Himmel, als wollte sie sagen: seht ihn an und genießt; die Welt liegt offen vor uns, ein weiter, herrlicher Tummelplatz für unsere Liebe, komm, wir wollen wie ein Paar glücklicher verliebter Tauben durch sie hinflattern, ich werde sie dir zeigen, und du sollst jauchzen, wenn du erkennst, wie schön das Leben mundet, wenn man es in Athen genießen kann.«

Die Freude machte ihn beredt und der Abglanz derselben strahlte von seinem Gesichte auf Hellanodike hinüber.

»O du treuloser geliebter Myrtolaos,« rief sie mit reizendem Lächeln, »so hast du Tanagra schon über Athen vergessen? Wer weiß, du bringst es fertig und schwatzest mir mit deinen süßen Worten die eigene Vaterstadt aus der Seele?« Sie gingen mit verschlungenen Armen um den Hof herum, als Chlenusa hastig eintrat. Sie warf einen scharfen prüfenden Blick auf Myrtolaos, dann sagte sie kurz:

»Timoessa kommt.«

Im nämlichen Augenblicke trat die Alte ein und näherte sich den Beiden mit kriechender Artigkeit.

»Besuch gekommen, wie ich sehe? Der schöne Schüler des Praxiteles wieder einmal hier? Das ist recht, unser Täubchen lebt einsam, denn mein Sohn hält auf ein ehrsames Haus. Nun, wie geht es dem göttlichen Meister Praxiteles und Phryne, seiner angebeteten Freundin?«

Mit Genugthuung bemerkte sie, daß Myrtolaos erröthete und daß ein Schatten über Hellanodikes Antlitz flog.

»Gute Mutter,« unterbrach sie Myrtolaos, »ich komme, dir deinen Schützling zu rauben, und ihr Athen ein wenig zu zeigen.«

»Das ist recht,« sagte Timoessa aufmerksam werdend, »was habt ihr vor? wo wollt ihr hin?«

»Bei Phaedimos draußen am Ilissos haben wir ein 57 kleines Fest bereitet, du wirst nichts dawider haben, und Mnemarch, dein Sohn, hoffentlich auch nicht, daß ich Hellanodike zu dem Feste einlade?«

Um die gekniffenen Winkel des zahnlosen Mundes spielte ein augenblickliches grinsendes Lächeln.

»Zu Phaedimos am Ilissos? Ah – ich weiß nichts von ihm, aber ich hörte ihn manchmal rühmen; Ihr werdet Euch einen lustigen Tag machen, Ihr Söhne des Praxiteles? he? Nun, Hellanodike ist frei, frei wie der Vogel, der hinfliegen kann, wohin es ihm beliebt; geh' mit ihm, mein Täubchen, sei fröhlich und guter Dinge, das Leben ist kurz und man muß hinter den guten Stunden her sein; ich werde meinem Sohn Bescheid geben und er wird sich freuen, wenn er hört, daß unser Täubchen sich in guter Gesellschaft einen guten Tag macht.«

Sie schien ganz entzückt, und nur die ungeduldige Geberde des Jünglings verhinderte, daß sie ihrer Schwatzhaftigkeit noch einmal freien Lauf ließ.

»Ihr habt es eilig,« sagte sie mit unterwürfiger Geberde, »und ich will nicht aufhalten.« Damit verschwand sie und ließ die Beiden in Verwunderung zurück.

»Nach dem Ilissos willst du mich führen?« rief Hellanodike, fröhlich wie ein Kind; »komm, ich mache mich fertig.« Sie verschwand in ihrem Gemache und kam gleich darauf, im langen Oberkleide, das zierlich bis zu den Füßen niederfloß, und den runden flachen Hut auf dem Haupte, zu ihm zurück.

»Ich werde mich vor dem Athenern schämen müssen,« sagte sie, »wenn ich mich mit meinem Tanagräischen Hute vor ihnen zeige.«

Statt aller Antwort schlang er den Arm um sie, führte sie an den Rand des Wasserbeckens und zeigte ihr auf dem dunklen Spiegel desselben ihr Abbild. 58

»Glaubst du, daß diejenige, die so aussieht, sich vor einem Menschen auf der Welt schämen müßte?« Sie betrachtete vergnügt ihr liebliches Konterfei; dabei erschien auch sein Antlitz im Wasser, sie winkte ihm zu, er nickte zurück, sie fielen sich in die Arme und waren zwei glücklich lachende Kinder.

Chlenusa hatte sich unterdessen, scheinbar ohne auf das, was gesprochen und gethan ward, zu achten, mit ihrem Spinnknäuel beschäftigt. Als jetzt Myrtolaos mit Hellanodike den Garten verlassen wollte, trat sie plötzlich, indem sie ihren Knäuel fortwarf, auf beide zu.

»Ich habe dich etwas zu bitten,« sagte sie zu Hellanodike. Diese blickte sie erstaunt an.

»Ich bitte dich,« und sie stockte ein wenig, »geh' nicht zu Phaedimos an den Ilissos.«

»Warum soll sie nicht?« rief Myrtolaos.

Weil –« und sie blickte ihm scharf und starr in die Augen, »weil schlechte Leute dorthin kommen.«

»Was für Leute meinst du?« fuhr der Jüngling auf.

»Es ist besser, wenn du danach nicht fragst; aber glaube mir, daß es Leute sind, in deren Mitte sie nicht gehört, glaube mir, daß ich es weiß, denn ich bin manchesmal und öfter wohl als du in der Schenke am Ilissos gewesen.«

»Dann freilich,« sagte er ärgerlich, »mag die Gesellschaft schlecht genug gewesen sein;« und er blickte wegwerfend auf das braune Mädchen herab. Eine düstre Röthe überflammte ihr Gesicht.

»Du thust Unrecht, mich zu kränken,« sagte sie, die blitzenden Augen auf ihn gerichtet, »da ich dir zu deinem Besten rathe, denn ihr Bestes« – und sie wies mit dem Haupte nach Hellanodike hin – »ist doch auch das Deinige, nicht wahr?« Sie sprach das letzte langsam mit seltsam abwägendem Tone. Unwillkürlich erröthete er. 59

»Hast du nicht gehört, was Timoessa gesagt hat? wird sie Phaedimos weniger kennen als du?« Das Mädchen brach in ein rauhes Lachen aus.

»Timoessa,« rief sie, »Timoessa! ah –« sie schüttelte ungeduldig das Haupt und sah ihn an, wie man jemanden anblickt, von dem man nicht weiß, ob er nicht verstehen kann, oder nicht verstehen will.

»Komm fort,« sagte Myrtolaos ungeduldig, »ich weiß nicht, was dieses Mädchen will.« Er wollte mit Hellanodike an ihr vorübergehen, Chlenusa aber vertrat ihnen zur Thür den Weg.

»Höre mich,« sagte sie, und ihre Stimme klang gellend vor innerer Erregung, während sie, wie um Hellanodike festzuhalten, beide Ellenbogen der letzteren mit ihren Händen berührte, »gehe nicht an den Ilissos, denn wenn du gehst –« sie verstummte, es war, als würgte ihr das Wort den Hals.

»Nun was endlich, wenn sie geht?« rief Myrtolaos, während Hellanodike sprachlos auf das leidenschaftliche Mädchen blickte; »was, wenn sie geht? sprich deutlich endlich!«

Mit einem Sprunge war Chlenusa an der Ausgangsthür, beugte lauschend den Kopf, dann legte sie den Finger auf den Mund, und den Saum an Hellanodikes Kleid erfassend, zog sie dieselbe und Myrtolaos mit ihr hastig bis an den fernsten Theil des Hofes. Ihre Brust arbeitete wie im Krampfe, ihre Augen suchten angstvoll umher.

»Verloren ist sie,« flüsterte sie mit heiserer Stimme, »preisgegeben ohne Hülfe und Rettung, und ich will es nicht, will es nicht.« Sie fiel zu Hellanodikes Füßen nieder und verbarg ihr Gesicht, das jetzt in Thränen gebadet war, in den Falten ihres Kleides. 60

»Warum verloren? preisgegeben wem?« fragte Myrtolaos rauh.

»Preisgegeben dem Herrn dieses Hauses,« erwiderte sie, die Augen auf die Ausgangsthür gerichtet, als fürchtete sie jeden Augenblick, daß dort jemand hereintreten und sie bei ihrem schrecklichen Geheimniß überraschen würde.

»Mnemarchos,« schrie Hellanodike entsetzt auf.

»O bei den Göttern, sprich leise,« flehte sie, »ja Mnemarch: höre mich, du mußt es nun erfahren: jenes Weib, Timoessa, ist nicht seine Mutter; wie ein Wolf schleicht er um dich her; seine unreinen Gedanken haben den Weg schon tausendmal gemacht, den er selbst noch nicht gemacht hat, weil er sich scheut vor dem keuschen Weibe und dem Urtheil des Volkes, das ihn strafen würde für eine Gewaltthat an dem unbefleckten Weibe.« –

»Welchen Weg meinst du?« fragte Hellanodike zitternd. Chlenusa sprang auf und flüsterte ihr ein Wort ins Ohr; eine tödtliche Blässe lagerte sich auf Hellanodikes Antlitz; sie zitterte und wankte.

»Was hat sie dir gesagt?« rief Myrtolaos, sie in seinen Armen haltend.

»O still,« flüsterte sie, »still, es ist zu schrecklich, es zu sagen.«

»Noch hat er es nicht gewagt,« fuhr Chlenusa leidenschaftlich eindringlich fort, »aber wenn du zu Phaedimos hinausgehst, wird er es wagen. Wisse, die Schenke am Ilissos ist bekannt in ganz Athen; Hetären sind es, die dort verkehren.«

»Hetären?« – und Hellanodike trat schaudernd zurück.

»Ja, ja, Hetären! und wenn er erfährt, daß du unter ihnen gewesen bist, dann braucht er sich vor Niemandem länger zu scheuen, dann wird er dich behandeln wie eine Hetäre und dann – dann –« 61

»Es ist genug, schweig,« unterbrach sie Myrtolaos. Er ging im Hofe auf und nieder; ein dunkler Sturm wühlte in seinem Herzen; dann trat er auf Chlenusa zu:

»Weißt du, was ich nun thun werde,« sagte er mit verschränkten Armen, »alles, was du uns gesagt hast, werde ich Mnemarch wiederholen.« Sie sah ihm starr, mit einem seltsamen kalten Lächeln in's Gesicht.

»Du willst es Mnemarchos wiederholen?«

»Das will ich; und was meinst du, wird die Folge sein?«

»Ich will es dir sagen,« erwiderte sie tonlos; »dann werden sie mich peitschen.«

»Sehr möglich,« sagte er,

»Und vielleicht,« fuhr sie fort, »werden sie es so lange thun, bis ich davon sterbe.«

»Und gewiß wirst du es verdient haben,« sagte er zornig. Ein rauher abgebrochener Schrei entwand sich ihrem Busen; sie schüttelte die schwarzen Locken um das braune Gesicht.

»Du Thor,« rief sie, »denn ich glaube noch, daß du nur thöricht bist, nicht schlecht, und dann wird Niemand mehr sein, um sie zu schützen, die dich liebt und die du preis giebst, wie ein Elender! Niemand, Niemand!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein furchtbares Weinen aus.

Es entstand eine schweigende ängstliche Pause.

Dann knüpfte Hellanodike langsam den Hut vom Haupte und trat zu Chlenusa.

»Weine nicht,« sagte sie, und ihre weiße Hand legte sich sanft auf das dunkle wirre Haar, »ich werde nicht zu Phaedimos gehen; und er wird nichts zu Mnemarch sagen; geh jetzt hinaus.«

»Du willst nicht?« sagte Myrtolaos, nachdem Chlenusa gegangen. Sie senkte das Haupt. 62

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht gehe.« Sein Gesicht verdüsterte sich; er biß sich stumm auf die Lippen.

»Myrtolaos,« sagte sie, indem sie die Hände auf seine Schultern legte und ihm in die Augen blickte, »könntest du es noch wollen?«

»Warum öffnest du Herz und Ohren den Phantastereien jenes tollen Mädchens?« sagte er unwirsch.

»Aber wenn es denkbar wäre, daß sie die Wahrheit gesprochen? wenn wirklich – solche Frauen –« ihr keusches Gesicht erglühte und sie vermochte das Wort nicht auszusprechen.

»Es sind keine Hetären,« rief er, »es sind Freundinnen der Künstler; mögen die Menschen, die es nicht verstehen, falsch von ihnen denken, ich habe dir gesagt, in welchem Verhältniß sie zu einander stehen.« Sie beugte das Antlitz und ihre Brust rang in stummem Kampfe. Er trat dicht an sie heran und faßte sie an beiden Händen.

»Hellanodike,« sagte er, »wer die Kunst des Praxiteles lernen will, muß sich hinauswagen in das Meer des Lebens und darf sich nicht fürchten, wenn die Ufer ihm auf Augenblicke entschwinden. Sieh die Werke dieses Mannes an, sie haben nur ein Gesetz und eine Grenze: die, welche die Natur ihnen vorschreibt. Aber den engen Geist, der vor ihnen erschrickt, verlachen sie, denn sie sind wie die Natur, die sich in sich selbst bespiegelt und nicht fragt, ob wir sie mit reinen oder unreinen Augen betrachten. Hellanodike,« und in seinen dunklen Augen flackerte ein verzehrendes Feuer empor, »ich kann nicht hinauf gelangen in den Olympischen Aether dieser Kunst, wenn ich nicht, gleich den Anderen, trinken darf aus dem Quell des Lebens, nach dem mich verlangt. Mich durstet danach, denn ich sehe ihn vor mir, athme seinen Duft, aber wenn ich mich hinabbeugen will, entflieht er vor meinen brennenden 63 Lippen« Er hatte den Arm um sie geschlungen und fühlte, wie ihr zarter Leib an seinem Herzen bebte.

»Ach,« stammelte sie, »daß ich dich verstände.«

Er ließ den Arm sinken und trat einen Schritt zurück.

»Du verstehst mich nicht?« sagte er, »fühlst nicht, daß ich nicht länger so leben kann, immer von dir getrennt, nur auf Augenblicke bei dir? daß du ganz bei mir, mit mir sein mußt, weil ich deiner bedarf, wie der Lebensluft, von der ich mich nicht auf Secunden trennen darf, wenn ich leben soll?«

Sie hob die großen hülfesuchenden Augen zum Himmel und rang die Hände in einander.

»Daß ich in Athen geboren und in seiner Lust gewachsen wäre,« sagte sie, »oder daß du mich nie in Tanagra gesehen und gekannt hättest, es wäre besser für dich und mich!«

»Nein,« sagte er, »denn nur von deinem Willen hängt es ab, ob es uns Glück bringen soll.«

»Habe Erbarmen mit mir,« rief sie, »ich wollte Alles, was du verlangst, aber ich kann es nicht, Myrtolaos, ich kann es nicht!«

Ihre Brust hob und senkte sich wie im Kampfe, und man sah, daß sie an einer Grenze stand, über welche auch die Liebe nicht hinwegträgt, an den Schranken angeborener Natur.

Er wandte sich schweigend zum Gehen.

»Myrtolaos!« schrie sie in schneidendem Jammer.

Er blieb stehen, sie stürzte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.

»Du gehst,« schluchzte sie, »wann wirst du wiederkommen?« Betroffen schaute er sie an.

»Ich sehe dein Herz,« sagte sie verzweiflungsvoll, »wie es sich abwendet von der, die dich nicht verstehen kann, ich weiß, daß du aufhören wirst mich zu lieben, um bei 64 den Athenerinnen zu finden, was sie dir nicht zu geben vermochte, und was bleibt dann für die, die dir aus Tanagra folgte, weil sie an dich glaubte, den sie geliebt?«

Von Schmerz überwältigt hing sie in seinem Arme, kraftlos wie eine Blume, die der Gewitterregen zur Erde beugte. Er blickte auf sie herab und sah die Fülle von Liebreiz, die in seinem Arme ruhte, reich wie ihn keine Phryne zu bieten vermochte. Aber Thränen – die Götterwerke des Praxiteles weinten nicht, und Kummer und Jammer waren die Vorbilder nicht, an denen sie gereift waren.

»Weine nicht,« sagte er, und doch hatte er ein Gefühl, als stände ihm kein Recht zu, diesen Thränen Einhalt zu gebieten; »die Götter mögen uns einen Weg zeigen in diesen Wirrnissen und Qualen.«

Er löste ihre Arme von seinem Nacken und ging.

Am Rande des Wassers, an der Stelle, wo sich ihr Spiegelbild mit dem seinigen begrüßt hatte, saß Hellanodike nieder, und das theilnahmlose Element trank ihre Thränen so ruhig, wie es ihr Lächeln wiedergegeben hatte.

Mit dumpfem Herzen und wild entflammten Sinnen begab sich Myrtolaos zur Schenke am Ilissos.

Ein finstrer Groll gegen Hellanodike stieg in seiner Seele empor, denn er begann sie wie eine Last zu empfinden, die seine Phantasie in Fesseln schlug. Er dachte an ihre Thränen; aber sie rührten sein Herz nicht mehr, da sie ihm nur wie der Ausdruck der Angst erschienen, welche kalte Seelen vor der nahenden Liebe empfinden; er fühlte sich getrennt von ihr, die Böotierin bleiben und nicht Athenerin werden wollte, und er gedachte ihrer Worte, daß er bei Athenerinnen Ersatz suchen würde. Er stampfte mit dem Fuß auf:

»Deine Prophezeiung,« murmelte er vor sich hin, »kann in Erfüllung gehen.« 65

 

Bei Phaedimos war das Fest bereits in vollstem Gange, und er sah sich sofort in den wilden Strudel hineingerissen. Die erste Frage war natürlich, warum er Hellanodike nicht mitgebracht habe.

»Sie ist krank« gab er kurz zur Antwort.

»Krank?« rief ein üppiges Weib, das sich neben ihn setzte und ohne Umstände den Arm um seinen Nacken schlang. »Ich will dich trösten, du einsamer Knabe,« und auf seinen Lippen, die noch den Druck des süßen Mundes empfanden, der sie vorhin berührt hatte, brannten die glühenden Küsse der Hetäre. Die Schönheit des Jünglings zog Augen und Sinne der Weiber so unwiderstehlich an, daß er sich bald von einem Schwarme derselben umgeben sah und sich ihrer Liebkosungen schier gewaltsam erwehren mußte.

Ein Becher Thasischen Weines ward vor ihn hingeschoben; er stürzte ihn hinunter, um einen zweiten und dritten folgen zu lassen, und in der süßen heißen Fluth gingen die finstren quälenden Zweifel unter, die ihn auf dem Wege herbegleitet hatten.

Er fuhr plötzlich wie aus einem Traume empor, und indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, rief er:

»Bei den Göttern, dies ist Athen!« Ein Gelächter erhob sich unter den Anwesenden.

»Hast du daran gezweifelt, schöner Tanagräer?« sagte die schwarzäugige Kephisias, indem sie sich auf seine Schulter lehnte und ihm mit lachenden Augen ins Gesicht sah.

»Bevor ich dich gesehen hatte, ja« versetzte er; »aber von nun an siehst du, zweifle ich nicht länger.« Er umfing den üppigen Nacken des Weibes und bedeckte ihre Wangen und Augen mit Küssen, bis daß Polymakron, der am anderen Ende des Tisches saß, ihn mit einem »Halloh« unterbrach.

»Laß gut sein,« beschwichtigte ihn Lysias, »du wirst 66 dich an seiner Hellanodike schadlos halten.« Ein wieherndes Gelächter erschallte, und Myrtolaos lachte am lautesten mit.

Man tafelte und zechte in geschlossenem Raume und allmählich verbreitete sich eine schwüle Hitze. Myrtolaos, des Trinkens weniger gewöhnt als seine Kameraden, ging hinaus, um an den Ufern des Ilissos einige Kühlung zu suchen.

Es war später Nachmittag geworden, und als er jetzt etwa hundert Schritte am Bache hinaufgegangen war und über denselben hinsah, stand er plötzlich, wie angewurzelt von einem wunderbaren Bilde, das sich vor ihm entfaltete.

Grade vor ihm lag die Akropolis, und hinter ihren Zinnen tauchte die Sonne in das Eleusische Meer hinab.

Mit einer Purpurgluth war der Himmel bedeckt, daß es aussah, als loderte eine verbrennende Welt zu ihm empor, und aus dem leuchtenden Hintergrunde trat markig und gewaltig der mächtige Felsen hervor, der die Heiligthümer Athens trug.

Er stand und schaute, keiner Bewegung fähig – da schlug der tobende Lärm aus der Schänke des Phaedimos an sein Ohr, und er floh den Bach weiter hinauf, denn unerträglich erschienen ihm diese Laute im Angesicht des feierlichen Schauspiels.

Endlich blieb er stehen; lautlose Stille war um ihn her, und in schweigender Majestät erhoben sich drüben die Säulen des Parthenon, des Erechtheus-Tempels und die ragende Gestalt der Pallas Athene. Und als er diese Säulen, Giebel und Bildwerke anschaute, die wie ein marmornes Gewebe sich auf dem goldigen Grunde abzeichneten, und die emporstrebten in den unermeßlichen Abendhimmel, ein verkörpertes Bild des Menschengeistes, der in die Geheimnisse der Ewigkeit zu tauchen begehrt, da überkam es ihn wie eine Offenbarung; die alten sehnsüchtigen Träume wachten wieder auf, die er vor Zeiten als Knabe in den 67 Lokrischen Bergen geträumt, es war ihm, als erhöbe sich vom fernen Meere herüber eine brausende Stimme, die ihm zurief: »Dies ist das Athen, nach dem du mit ahnender Seele verlangtest;« und indem er der Worte gedachte, die er vorhin in der weindunsterfüllten Schenke des Phaedimos gesprochen, sank er in die Kniee und schlug die Hände vor das Gesicht, als wollte er den Myrtolaos von jetzt vor dem Myrtolaos der einstigen Zeiten verbergen.

Der Morgen des nächsten Tages war angebrochen, als er nach langer ungestümer Wanderung nach Haus kam. Bis zum Ufer des Meeres am Phaleron hatte ihn seine Unruhe getrieben, seine Glieder waren tödtlich ermattet, aber Ruhe hatte er nicht gefunden. Alles was ihn gequält, war mit verdoppelter Gewalt wiedergekehrt: er hatte seine Natur abwerfen wollen, und jener Augenblick hatte ihn belehrt, daß es ein nutzloser Frevel war, da sie sich nicht abwerfen ließ. Seine Natur aber, das wußte er nun aus Erfahrung, brachte ihn da nicht hin wo Praxiteles stand.

Er sah keinen Ausweg mehr, und Verzweiflung kam über ihn. An der Schwelle des Hauses begegnete er sich mit Praxiteles, und beide blieben, beim gegenseitigen Anblick, betroffen stehen.

Wie ein dämonisches, mit übernatürlichen Kräften begabtes Wesen erschien der Meister dem Jüngling. Was er mit Aufopferung seiner Selbst nicht zu erreichen vermochte, dieser Mann besaß es Alles, und der feurige Blick des klaren Auges verrieth, daß er nichts hatte aufgeben, nicht hatte unrein werden müssen, um es zu erlangen. Hatte auch er dereinst in Kämpfen gerungen, wie jetzt sein Schüler sie erleiden mußte, oder konnte es Naturen geben, die so gänzlich von der seinigen verschieden waren, daß Gluth der Sinne sich ihnen unmittelbar in Gluth des Gefühls umwandelte?

Und nicht minder überrascht blickte Praxiteles auf 68 Myrtolaos, in dessen Antlitz die Seelenerregung der vergangenen Stunden tiefe wunderbare Spuren gezeichnet hatte. Das schöne Knabenangesicht war zu schwerem Ernste gereift, aus den einst so glücklich träumerischen Augen blickte stumme klagende Erkenntniß und auf der Stirn lagerte sich der Unmuth in tiefer breiter Falte.

»Wie Hermes,« sprach Praxiteles vor sich hin, »der aus der Unterwelt zurückkehrt und an ihre Schauer zurückdenkt.«

Er trat auf Myrtolaos zu und faßte ihn an der Hand. »Komm,« sagte er, »diese Stunde ist die rechte; heute muß der Hermes von Olympia werden.«

Der Jüngling folgte ihm schweigend; er hatte gegen diesen Mann keine Fähigkeit zum Widerstande in sich. Aber ein Gefühl trostloser Vereinsamung zog in sein Herz. Er hätte Praxiteles zu Füßen fallen und ihn um Hülfe anflehen mögen in seiner Bedrängniß und er war ihm nichts als eine Studie für seinen künstlerischen Gedanken; und jede Linie, die der Schmerz auf sein Antlitz grub, macht diese Studie nur um so werthvoller.

In der Werkstatt des Meisters, welche von der der Schüler entfernt lag, angekommen, hieß ihn Praxiteles die Gewandung ablegen und dann gab er ihm die Stellung, in der er ihn darzustellen gedachte. Der Geist des Künstlers schien seinen Händen vorgearbeitet zu haben, denn in kürzester Zeit war die denkbar schönste Haltung gefunden, die der schöne Körper anzunehmen vermochte. Der linke Arm ruhte leicht auf einen Säulenstumpf gelehnt, während die erhobene Rechte den Hermesstab halten sollte; der Kopf war träumerisch ein wenig gesenkt. Und nun ging es an's Werk.

Myrtolaos hatte Praxiteles noch nicht arbeiten gesehen; mit Staunen sah er es jetzt: Mit einer Rastlosigkeit und zugleich mit einer Sicherheit, als würde jedes 69 Glied an seinem Körper von stählernen Federn regiert, griff er den Thon an, aus dem er zu modelliren begann; und wenn er die Augen auf den Jüngling richtete, um die Linien von seiner Gestalt abzulesen, so glaubte dieser körperlich die sengende Gewalt dieser Augen zu fühlen; sie waren wie Diamanten, die das Glas zerschneiden.

Stunde zog nach Stunde hin, und rastlos arbeitete Praxiteles.

Kein Wort wurde gesprochen, und der einzige Laut, den man vernahm, war das leise Stöhnen des Jünglings, in dem die Aufregung der schlaflosen Nacht eine tiefe Ermattung hervorgerufen hatte.

Praxiteles hörte es nicht und sah nicht sein bleich und bleicher werdendes Gesicht. Stumm und beinah mit Grausen blickte Myrtolaos auf den Mann, der an seinem Werke, wie der Tiger über seinem Raube saß.

So unerbittlich gegen sich und Andere mußte also der Mensch beschaffen sein, der Werke schaffen wollte, wie Praxiteles; eine Ahnung kam ihm von der Furchtbarkeit der Kunst, die so milde in ihren Zielen und so grausam in der Verfolgung ihres Zieles ist; er fühlte, daß sein weiches Herz diese stählerne Härte nicht besaß; eine düstere Wahnvorstellung schwamm wie ein graues Gewölk aus seinem Herzen zu seinen Augen empor: es war ihm, als würde er, wie Metall aus dem man ein Bildwerk gießen will, in die Gluth einer feurigen Esse geschoben – er fühlte die Qual der Vernichtung. –

»Ich kann nicht mehr,« sagte er plötzlich mit lallender Stimme; sein Haupt senkte sich, und in der Ohnmacht, die ihn befiel, wäre er schwer zur Erde niedergeschmettert, wenn Praxiteles ihn nicht aufgefangen hätte.

Indem er ihn auf ein Ruhebett legte, blickte der 70 Bildhauer zum erstenmale zur Sonne auf; sie war längst über den Mittag hinüber.

Als Myrtolaos aus seiner Ohnmacht zu sich kam und die noch verschleierten Augen halb öffnete, sah er ein weibliches Antlitz auf sich gebeugt und eine weiche Hand stützte sein müdes Haupt.

»Hellanodike?« flüsterte er leise.

»Nicht Hellanodike,« gab eine lachende Stimme zur Antwort; er blickte auf und erkannte Phryne.

»Armer Hermes,« sagte sie, »ich weiß, was es heißt, in die Hände jenes Schrecklichen zu fallen; er tödtet uns, damit er uns unsterblich mache.«

Sie hob einen Becher an seine Lippen und flößte ihm einige Tropfen Wein ein, so daß er die erloschenen Kräfte allmählich wiederfand.

»Ist er wieder bei uns?« fragte Praxiteles, der sich von seinem Werke erhob. Er trat heran und legte die Hand auf die bleiche Stirn des Jünglings.

»Armer Junge,« sagte er lächelnd, »es war dir zu viel geworden, du hattest noch keine Nahrung zu dir genommen.«

»Und wovon lebst du?« rief Phryne, indem sie die Augen zu Praxiteles erhob, »denn ich weiß, daß auch du noch keinen Bissen heute genossen hast?«

»Ich?« rief Praxiteles. Er lachte jauchzend auf und fiel wieder über seine Arbeit her.

»Bei den Göttern,« sagte das Weib, »er ist kein Mensch, er ist einer von den Dämonen.«

Sie trat hinter ihn, und da er von seinem Werke nicht aufsah, legte sie die Hände auf seine Schultern und blickte über dieselben hinweg auf die Wunderblume, die unter seinen Händen entstand.

»Du Zauberer,« flüsterte sie mit tiefer Bewunderung 71 und schmiegte ihre Wange an die seinige. Jetzt sah er auf, warf den braunen sehnigen Arm um ihre Hüfte und zog sie auf sein Knie. Indem er in ihr Antlitz schaute und in den geistvollen Zügen desselben die Wonne las, die ihre Seele mit allen Poren aus dem Anblick des aufdämmernden Kunstwerkes sog, sprang er empor und mit einem Schrei des Entzückens, der rauh und wild aus seinem Busen brach, faßte er das schöne Weib in seinen kraftvollen Armen, warf sie, leicht wie ein Kind, empor und ließ sie an sein hochaufklopfendes Herz zurücksinken, an dem sie hangen blieb, indem sie sein Antlitz mit bachantischen Küssen bedeckte. Staunend sah der bleiche Myrtolaos von seinem Lager diesem Schauspiele zu; wie ein spielendes Löwenpaar, das seiner Freiheit genießt, so erschienen ihm die Beiden, einer Freiheit, die Allem, was nicht Löwe ist, wie Wildheit erscheint.

Endlich kam Phryne mit heißen Wangen und fliegendem Athem zu ihm zurück.

»Hermes,« sagte sie, »nun noch ein Wort und einen Trost für dich: morgen feiern wir ein Fest. Die Abgesandten von Knidos kommen, um die Aphrodite abzuholen, die Praxiteles für sie geschaffen; wir werden sie bewirthen und dazu Mnemarch einladen und noch Eine – weißt du wen?«

Er senkte schweigend die Augen.

»Schwermüthiger Tanagräer,« sagte sie und nahm sein lockiges Haupt zwischen ihre Hände, »morgen sollst du wieder heiter werden.«



 << zurück weiter >>