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An den Ufern der Lahn, oberhalb Ems, nicht weit davon, liegt ein Ort, der sich Arnstein nennt. Ein Bach geht zwischen den Häusern entlang; über den Häusern steigt ein Hügel auf, und auf dem Hügel, weit sichtbar, erhebt sich eine prächtige Kirche.
Einmal, vor Jahren bin ich in der Kirche gewesen.
Ein Bild hängt darin, ich glaube, nur ein einziges; und dieses Bild hat es bewirkt, daß ich die Kirche nie wieder vergessen habe, und den Tag, an dem ich die Kirche besuchte.
Nicht, daß es ein besonderes Kunstwerk gewesen wäre – im Gegenteil, eine mittelmäßige Schilderei, vielleicht aus dem siebzehnten Jahrhundert. Aber der Gegenstand! Ein Mann ist im Brustbilde dargestellt. Der Mann ist unbekleidet; Flammen umlodern ihn, zur Rechten und Linken, mit großen, roten Zungen, so daß er mitten im Feuer zu stehen scheint. Zwei Schlangen ringeln sich über die Schultern des Mannes, zwei große, dicke Schlangen: die eine hat sich in seine Brust verbissen, da, wo in der Brust das Herz schlägt; die andere sperrt den Rachen auf, um gleichfalls hinein zu schlagen in das unbeschützte Fleisch. Gerade weil man dem Bilde ansieht, daß es dem Maler nicht auf die Malerei angekommen ist, sondern auf den Vorgang, wirkt dieser Vorgang so grässlich. Mit der einen Hand hat der Mann die beißende Schlange gepackt, als wollte er sie von sich losreißen; aber es hilft ihm nichts; das Untier haftet fest. Und so muß er aushalten in der Höllenqual. Denn daß es Höllenflammen sind, die ihn umlecken, Höllenqualen, die ihn zerreißen, das sieht man seinem Gesichte an, dem fahlen, aschgrauen, das in Verzerrung dem Beschauer in die Augen blickt. Um den oberen Rand des Gemäldes läuft eine Inschrift, ein Distichon in lateinischer Sprache. Ich kann mich des Wortlautes nicht genau mehr erinnern, nur den Inhalt habe ich behalten: »Der Du mich anschaust und fragst, was mich in diesen Höllenpfuhl gestoßen, wisse, es war der Neid.« Invidia – so lautet das lateinische Wort.
Wie tief mich der Anblick der unheimlichen Schilderei gefesselt, merkte ich daran, daß ich die Beschließerin der Kirche ganz vergessen hatte, die hinter mir stand und jetzt leise mit ihrem Schlüsselbund klapperte.
Ich drehte mich um. »Was hat es für eine Bewandtnis mit dem Bilde da?« fragte ich. »Wie kommt es her? Wen stellt es dar?«
»Das ist das Bild«, erwiderte die Frau, »von dem Mann, der die Kirche hier gestiftet hat und hat bauen lassen.«
Merkwürdige Art, den Stifter einer Kirche zu verewigen, indem man sein Bild in solcher Gestalt in seine Kirche hängt!
»Wer hat das Bild von ihm malen lassen?« forschte ich weiter.
»Er selber hat sich so malen lassen und bestimmt, daß das Bild für alle Zeit da hängen sollte.«
»Er selber – wer war der Mann?«
Das wusste die Frau nicht.
»Was hatte er getan?« Das wusste sie auch nicht.
Düsteres Geheimnis. Wir waren allein in der Kirche, ich, die Beschließerin und der da auf dem Bilde. Und in meiner Vorstellung erschien es mir, als stände hinter dem Bilde etwas auf, etwas Dunkles, irgend ein grauenvolles Ereignis, eine furchtbare Tat. Niemand wusste mehr, was es gewesen. Die Zeit hatte alles in Schweigen begraben, die Tat und das Opfer. Nur Einer war übrig geblieben, ein Zeuge, der das Schreckliche aus nächster Nähe mit angesehen hatte, aus allernächster, der Täter selbst. Und der hatte dafür gesorgt, daß sein Andenken der Nachwelt erhalten blieb in solcher Gestalt. Was für eine Art von Mensch mußte das gewesen sein. Meine Gedanken tasteten an dem verzerrten Gesichte herum, das auf mich herabblickte.
Ein Mensch, in dem ein furchtbares Blut furchtbare Leidenschaften geheizt hatte, dem das wilde Blut keine Ruhe gelassen hatte, bis daß er die Tat vollbrachte, und in dessen Seele, nachdem die Tat geschehen war, mit der gleichen elementaren Gewalt des bösen Antriebs der Rückschlag gekommen war, die Reue.
Ein Schauer überlief mich. Der Angehörige der modernen Zeit, der nervenschwachen, willensschwachen und gefühlskranken Zeit beugte sich unwillkürlich vor einer Vergangenheit, in der es keine Nervenleiden, aber Seelenschmerzen gab, in der man so schrecklich zu tun und so schrecklich zu bereuen vermochte.
Wie sie ihn gepackt haben mußte, die Reue! Wie sie ihn geschüttelt, zerrissen und zerfleischt haben mußte!
Mir war, als sähe ich ihn, wie er zum Beichtiger in den Beichtstuhl kniete, mit heulenden Tränen sein Bekenntnis stammelnd, mit klappernden Zähnen sein: »Was soll ich tun? Was soll ich tun?« herausfragend.
»Faste, bete, kasteie Dich«, kam die Antwort, »und baue eine Kirche.«
Und er fastete, betete, kasteiete sich und baute eine Kirche. Eine große Kirche, eine mächtige; je mächtiger, desto besser, wie eine Riesenlast, die er auf den Wurm wälzen wollte, der an seiner Seele fraß, daß sie den Wurm erdrückte.
Und als die Kirche erbaut, war Alles umsonst; der Wurm war nicht erdrückt, lebte immer noch und nagte und nagte.
Da, als er fühlte, daß sein Leben zum Ende ging, ließ er einen Maler an das Bett rufen, auf dem er versiechend lag und hieß ihn sein Bild malen. Nicht ein Bild, das ihn darstellte in Kraft und Gewandung seines Lebens – denn offenbar war es ein reicher und mächtiger Mann gewesen – sondern so, wie er sich in seinem Jammer fühlte, als armen Sünder, in aller Nacktheit der schuldbewussten Seele, von Flammen gebrannt, von dem Schlangenrachen der Reue zerfleischt.
Er selber gab die Inschrift an, die man auf das Bild setzen sollte, und bestimmte, daß es aufgehängt würde in der Kirche, die er selbst gebaut, sein eigenes Ich im eigenen Werke eingesperrt, sein Schatten, den er von Grabesruhe und vom Frieden des Vergessens ausschloss, damit es dort hinge wie der graue Aschenrest einer schrecklichen Feuersbrunst, wie der fahle Widerschein eines mit Blut gemalten Vorgangs, so lange die Kirche stehen würde, Jahrhunderte lang, immer und für alle Zeit. Immer wieder, so oft die Augen zukünftiger Menschen sich auf das Bild richten würden, den Schauder erweckend, der mit tastenden Fühlfäden hinunter langte in das Grab, wo der Verbrecher lag, und für immer, wenn kein Besucher in der Kirche war, mit sich allein in der furchtbaren Einsamkeit, Jahre lang, Jahrhunderte lang, mit sich allein und der Erinnerung an das, was einstmals gewesen.
Ich riss mich los und wandte mich hinaus. Seinen Namen hatte er den kommenden Menschen nicht genannt. Warum? Weil er gewollt hatte, daß nichts übrig bleiben sollte als nur der Schatten des Vergangenen? Sein körperloses Ich? Seine Seele? Oder vielleicht, weil, wenn man seinen Namen nannte, er sein Geschlecht zugleich an den Bußpfahl gekettet haben würde? Sein Geschlecht, seine Familie, die doch nicht schuldig war an seiner Tat, die es ja eben gewesen war, gegen die seine Tat sich gerichtet hatte. Denn ich weiß nicht, wie es kam, aber ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß es eine Freveltat gewesen sein mußte von Familienangehörigen gegen Familienangehörige, von Bruder gegen Bruder.
Und indem meine Vorstellung hieran arbeitete und knetete, nahmen meine Gedanken plötzlich ihren eigenen Gang, weit fort von der Stelle, wo ich mich befand, aus dem Westen Deutschlands in den fernen Osten, und mit einem Male wusste ich, warum es eine Tat von Bruder gegen Bruder gewesen sein mußte. Eine Geschichte fiel mir ein, die ich dort einmal gehört hatte, in der alten Stadt am breiten Strom, der schweigend durch den Osten Deutschlands geht, wie die schweigende Lahn durch den Westen.
In der alten Stadt, von der ich spreche, wohnte ein alter Mann, ein einsamer.
Einsam durchs Leben gegangen, ohne Frau und Kinder, war es jetzt doppelt still um ihn geworden, seitdem er sein Amt niedergelegt, den Abschied genommen, und seitdem hierdurch auch der Verkehr mit den Kollegen aufgehört hatte, mit denen er, dienstlich wenigstens, in Verbindung gehalten worden war.
Er war Regierungsrat gewesen, der alte Graumann; jetzt war er pensionierter Regierungsrat außer Diensten.
Gleich in den ersten Tagen, als ich die Stadt bezogen, hatte ich seinen Namen gehört. Er war ja gewissermaßen eine Sehenswürdigkeit des Ortes, und als solche war er mir genannt worden. Damit aber hatte es sein Bewenden gehabt; man wusste eigentlich nichts von ihm. Er selbst erzählte nichts, er verkehrte ja beinahe mit niemandem; vielleicht gab es auch nicht viel zu erzählen. Er war eben Beamter gewesen wie hundert andere auch und auf der aktenstaubigen Straße des preußischen Beamtentums zum Regierungsrat hinaufgeklettert und dann, nach Jahren, an die Tür gelangt, aus der es wieder hinaus geht aus dem Beamtentum, durch den Abschied in das Außer-Diensttum.
»Jetzt fängt meine gute Zeit an«, so berichtete die Stadtchronik, hatte er zu einem Kollegen gesagt, als er zum letzten Male vom Amte kam, »jetzt falle ich dem Staate zur Last.«
Recht höhnisch, beinahe teuflisch sollte er gelacht haben, indem er das sagte, wie die Leute denn überhaupt geneigt waren, in dem alten Sonderling etwas Unheimliches zu sehen, Etwas, wovor man sich eigentlich in Acht nehmen mußte. Schrecklich heftig konnte er werden, so erzählte man sich, wenn irgend Etwas ihm in die Quere kam, und fürchterlich grob, wenn Menschen sich berufen fühlten, ihn seiner Einsamkeit zu entreißen, und die Menschen ihm nicht paßten. »Man brauchte ihn ja nur anzusehen – er sah ja so böse aus.«
Inwieweit dieses zutraf, hatte ich bald Gelegenheit festzustellen, denn ich begegnete ihm oftmals auf dem Spaziergange. In dem hohen Kiefernwald, der sich, stromaufwärts, auf sandigen Hügeln erhebt, sah ich ihn zum ersten Male, dann, mit Unterbrechungen, gingen wir öfter und öfter an einander vorüber.
Gingen an einander vorüber – denn indem ich ihn daher kommen sah, die Hände auf dem Rücken, den großen, schweren Kopf, den kurz geschorenes, graues Haar einfaßte, vornüber hängend, den abgebrauchten, schwarzen Zylinderhut in den Nacken gerückt, die Augen zur Erde gesenkt, nicht rechts noch links blickend, fühlte ich, daß da ein Mann an mir vorüber ging, der nicht angesprochen sein wollte, weil Ansprache Störung gewesen wäre, Störung in dem, was ihn beschäftigte.
Denn er war immer beschäftigt, das sah man dem verwitterten Gesicht an, in dessen derben, beinahe plumpen Zügen ein beständiges Regen und Bewegen war – beschäftigt mit seinen Gedanken, mit sich selbst. Manchmal auch gewann das stumme Mienenspiel Laute und Töne; seine Lippen zuckten, er sprach vor sich hin. Ich hörte es, indem mich mein Weg an ihm vorüber führte. Meistens nur ein Murmeln und Flüstern, dann und wann zusammenhängende laute Worte, die polternd und grollend herauskamen, und manchmal auch ein Lachen, »ein recht höhnisches, beinahe teuflisches«, würden die Leute gesagt haben, das aus einem grimmig lächelnden Munde herausbrach.
Als wäre er immer von Menschen umgeben gewesen, mit denen er sich unterhielt, so sah es aus – Menschen, die vielleicht noch jetzt lebendig umher gingen wie er selbst, ohne daß er mit ihnen zusammenkam; Menschen auch vielleicht, die einstmals gewesen und jetzt nicht mehr da waren.
Jedenfalls ein Mann, der manches gesehen, erlebt und wohl auch gelitten hat, dieser alte Graumann, so sagte ich zu mir; einer jener Menschen, die man ja in Deutschland trifft, die unscheinbar, fast unsichtbar durch die Welt gehen und in ihrem Innern eine solche Fülle des Lebens, eine so reich bevölkerte Welt verschließen, daß sie davon zehren können, wenn es Abend im Leben wird, daß sie sich mit ihren Gestalten unterhalten können, ohne daß sie das Geplauder und Geschwätz der umgebenden Gesellschaft brauchen. Vorausgesetzt freilich, daß sie die Gabe besitzen, die das Entlegene nahebringt, das Vergangene gegenwärtig, Tote wieder lebendig macht, Fantasie.
Ob ihm diese Gabe innewohnte? Seitdem ich ihm in die Augen gesehen hatte, glaubte ich es.
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Einmal nämlich, nachdem wir schon manchmal an einander vorüber gegangen waren, und als wir uns wieder begegneten, bemerkte ich, daß er auf mich Acht gab. Der Unbekannte, der ebenso beharrlich und einsam wie er selbst die Gegend durchstreifte, mochte ihm aufgefallen sein. Er kam den Weg zurück, den ich hinaus ging: als wir nahe bei einander waren, wandte er das Haupt zur Seite und sah mich an. Er tat nichts weiter, er grüßte nicht, sprach nicht, aber mir war, als hätte jemand gesprochen. Solch' ein redender Blick war in den Augen gewesen, die mit dunkel glühendem Feuer unter buschigen Brauen hervorschauten. Wie das Nachglühen eines innerlich bewegten Lebens, das nicht zur Ruhe kommen, nicht im Vergessen einschlafen will, sondern im Erinnern weiterlebt und weiter. Ich konnte den Blick nicht vergessen, und ungefähr zu derselben Zeit, als unter Bekannten das Gespräch auf ihn kam, hörte ich etwas, das meine Vermutung bestätigte, das ihn mir als einen Menschen erscheinen ließ, den mehr und anderes bewegte als die wirkliche Alltagswelt, die ihn umgab. Wundervolle Bilder, so hieß es, hätte er an den Wänden seiner Wohnung hängen. Wer sie gesehen haben sollte, da eigentlich niemand zu ihm kam, war schwer zu sagen; aber die Kunde war da und behauptete sich. In der Vorstadt, jenseits der Brücke, bewohnte er eine Wohnung von einigen Zimmern; eine alte Wirtschafterin, die des Morgens kam und des Abends ging, besorgte ihm die Wohnung. Wahrscheinlich war sie es, von der die Nachricht ausging. Wundervolle Bilder, und in seinem Schlafzimmer ein ganz besonderes, in Öl gemaltes, während in den Vorderzimmern Kupferstiche hingen; ein Bild, auf dem zwei Kinder dargestellt waren, zwei Knaben. Und der eine von den beiden Knaben, so hieß es flüsternd weiter, das wäre er selbst, wie er damals ausgesehen hätte, der jetzige Regierungsrat außer Diensten, der alte Graumann.
So wurde erzählt, teils laut, teils flüsternd; und dann ganz leise wurde noch etwas hinzugesetzt: in dem Schlafzimmer, wo das Bild mit den zwei Knaben hing, da wäre an einer Wand, so hieß es, ein Vorhang und unter dem Vorhang etwas, das niemand kannte, niemand gesehen hatte, weil keine Hand den Vorhang lüften durfte. Auch die der Wirtschafterin nicht.
»Bei Todesstrafe?« hatten einige Spötter gefragt. Nun – vielleicht nicht gerade bei Todesstrafe, aber beim Zorn des alten Graumann, und der konnte bös sein; man wusste davon in der Stadt zu erzählen.
Also forschte man nicht weiter und ließ dem Vorhang sein Geheimnis.
Aber das mit dem Kinderbild? Ja, das war vorhanden, und »solch ein schönes Bild« sollte es sein, hatte die Wirtschafterin erzählt. »Ein schönes Kind müßte er einmal gewesen sein, der Herr Regierungsrat! Ein paar Augen im Kopf! Eigentlich schon damals ganz die Augen, die er noch jetzt hätte, nur viel freundlicher, und nicht solche Zotten und Borsten von Augenbrauen darüber, wie er sie jetzt hätte.«
»Und der andere von den beiden Knaben?«
Ja – von dem wusste die Wirtschafterin nichts zu sagen, hatte ihn nie gesehen und gekannt. »Aber es sähe so aus, als müßte es wohl ein Bruder von dem Herrn Regierungsrat gewesen sein, ein jüngerer; denn so eine Art von Ähnlichkeit mit dem älteren, was der Herr Regierungsrat wäre, könnte man schon darin finden. Nur viel zarter und magerer und schwächlicher. Und so ein liebes Gesichtchen, aber so traurig; wie solche Kinder eben aussehen, die nicht lange leben sollen.« Denn daß er gestorben sein mußte, schon lange Zeit, das nahm die Wirtschafterin für bestimmt an. »Er würde doch sonst wohl einmal von dem Bruder gesprochen haben, der Herr Regierungsrat, und das tat er nie.«
Das Alles kam mir so nach und nach und stückweise zu Ohren, und als von dem Kinderbilde gesprochen wurde, ging das Gespräch weiter, zu den Kindern überhaupt, und da erfuhr ich denn, daß er eigentlich ein Kinderfreund sei, der alte Graumann. »Aber freilich in seiner Art«, setzte der Erzähler lachend hinzu.
»Wieso, in seiner Art?«
»Je nun«, hieß es, »so, daß man ihn schließlich hat auffordern müssen, seine Freundschaft für die Kinder lieber für sich zu behalten.«
In der Stadt nämlich, so wurde erzählt, bestand eine Anstalt, von ein paar wohltätigen alten Damen geleitet, in der alle Jahre zu Weihnachten armen Kindern aufgebaut und beschert wurde. Gaben und Geschenke wurden mit Dank entgegengenommen, und natürlich stand es den Gebern frei, der Bescherung beizuwohnen. Zu diesen gehörte auch der alte Graumann, der sich regelmäßig am Heiligen Abend mit einem ganzen Haufen von Paketen und Päckchen einzustellen pflegte. Eigentlich hätten, der Hausordnung gemäß, die Geschenke schon vorher abgeliefert sein müssen, um von den Damen nach bestem Ermessen verteilt zu werden. Aber der alte Graumann war nicht der Mann, sich irgend einer Hausordnung zu fügen. Seitdem er den Regierungsfrack ausgezogen hatte, wollte er die Ellenbogen frei haben nach allen Richtungen. Wollten die Damen seine Geschenke haben, so mußten sie ihn gewähren lassen. Also ließ man ihn gewähren.
Und nun eben kam das Verrückte:
Spät erst, wenn der Baum schon längst angezündet war, und die Kinder ihre Tische und Gaben in Empfang genommen hatten, erschien als letzter Geschenkgeber der alte Graumann. Wie der Knecht Ruprecht selber sah er aus mit seinem alten, verwitterten Gesicht, und die Schätze, die er sorgsam verhüllt unter den Armen trug, erweckten sogleich eine atemlose Spannung, eine Spannung, die in hellen Jubel ausgebrochen sein würde, wenn sich die Kinder nicht eigentlich ein wenig vor ihm gefürchtet hätten. Denn wenn er nun so dastand im erleuchteten Raume, zunächst die kleinen Köpfe stumm überzählend, ob er auch keinen übergangen hätte, und dann, wenn er sah, daß Alles stimmte, in sich hinein lächelnd, geheimnisvoll, beinahe listig, ohne ein Wort zu sprechen, dann überkam nicht nur die Kinder ein seltsam schauerndes Gefühl, sondern auch die Erwachsenen gestanden sich, daß er doch wirklich anders sei als alle anderen vernünftigen Menschen.
Einen Stuhl rückte er sich dann heran; mitten unter seinen Päckchen und Paketen, die er auf den Erdboden gelegt hatte, setzte er sich nieder, ganz ernsthaft jetzt, beinahe feierlich, und nun, langsam, langsam begann er eins der Pakete aufzuknüpfen und dann ein zweites. Lautlose Stille begleitete sein Tun, und all' die jungen Augen hingen an ihm, wie wenn sie auf einen alten Zauberer blickten. Noch einmal ein Blick über die lauschende Schar, dann mit erhobenem Zeigefinger winkte er zwei von den Kindern heran, zwei Knaben. Die letzte Hülle sank von dem Paket – und ein allgemeines »Ah!« des entzückten Erstaunens atmete aus jungen Kehlen auf – was war da für eine Herrlichkeit zu Tage gekommen! Ein Schaukelpferd oder so etwas Ähnliches. Und das glückselige Jauchzen dessen, der das schöne Geschenk in die Hände bekam! Daß sich der andere von den beiden Jungen vor Ungeduld kaum zu lassen wusste, begreift sich; das für ihn bestimmte zweite Paket war ja freilich viel kleiner als das erste, aber der Inhalt würde schon nicht schlechter sein, das verstand sich doch von selbst. Und langsam, langsam schälte sich auch die zweite Gabe aus ihrer Papierhülse heraus, und – ein allgemeines Verstummen sprachloser Verblüfftheit – ein ganz minderwertiger Gegenstand, der sich mit dem ersten gar nicht vergleichen ließ, kam zum Vorschein. Die Augen dessen, der das zweite Geschenk erhielt, schielten unwillkürlich über die eigenen Hände hinweg, zu denen hinüber, in denen sich das Schaukelpferd befand, und es fehlte nicht viel, so hätten sie sich mit Tränen gefüllt.
Und während sich dieses begab, saß der alte Graumann regungslos auf seinem Stuhl; seine großen, runden, glühenden Augen ruhten unverwandt auf dem enttäuschten Gesichte des Kindes, forschend, prüfend, mit einem ganz sonderbaren, tief bekümmerten Ausdruck, und wenn er sah, wie das kleine Gesicht unter verhaltenem Weinen zuckte, streckte er den Arm aus und zog den Knaben an sich, beugte sich zu ihm, und leise, so leise, daß Keiner von den Anwesenden es verstand, flüsterte er ihm ein Wort ins Ohr. Und dann kam ein anderes Paar von den Kindern an die Reihe.
Jetzt waren es zwei kleine Mädchen, die er heranwinkte. Wieder, wie vorhin, nestelten sich zwei Pakete auf; wieder erschien aus dem einen eine prächtige Gabe, eine schön gekleidete Puppe oder so etwas Ähnliches, und wieder aus dem anderen ein Gegenstand, der sich mit dem ersten kaum vergleichen ließ. Abermals dann der Vorgang wie zuvor, die kleine Enttäuschte wurde herangezogen, und so wie vorhin dem Knaben flüsterte er dem kleinen Mädchen, indem er ihm traurig und zärtlich das Köpfchen streichelte, ein Wort ins Ohr, das kein anderer verstand.
Und so ging das weiter. Immerfort abwechselnd entzücktes Staunen und schweigende Verdutztheit; stammelnde, jauchzende Freude bei den einen, betrübte Niedergeschlagenheit bei den anderen. Und mitten in all' dem Wechsel von Gefühlen, von Freude und Leid der alte Graumann, wie das verkörperte Schicksal, seine Pakete auswickelnd, seine Gaben verteilend, bis daß die letzte verschenkt war. Die letzte war immer die schönste, und merkwürdiger Weise, in jedem Jahre wiederkehrend, dieselbe: ein blitzblanker Küraßierhelm, ein Küraß und ein Säbel mit Säbelkoppel.
Die zappelnde Wonne, die ein solches Geschenk jedesmal hervorrief, läßt sich denken, aber nicht beschreiben, und kaum beschreiben auch läßt sich die Enttäuschung, die jedesmal die Gegengabe erweckte, eine magere, kleine Blechtrompete, die wirklich erbärmlich gegen die Kürassierausrüstung abstach. Das Merkwürdigste aber bei diesem Vorgange, der gewissermaßen den Gipfel aller vorherigen Absonderlichkeiten bildete, war immer der alte Graumann selbst, der jedesmal, wenn die letzte Gabe herankam, wie in einen Zustand der Erstarrung, in einen Traum mit wachen Augen zu versinken schien. Seine großen, runden Augen weiteten sich über ihr gewöhnliches Maß und blickten starr vor sich hin, über die Köpfe der Kinder hinweg, in die leere Luft, und es sah aus, als müßte er zu sich selbst zurückkommen, bis er endlich den Kleinen heranzog und ihm, wie den anderen vorher, sein leises Wort ins Ohr raunte.
War dieses dann erledigt, so erhob er sich, griff nach seinem alten, widerhaarigen Zylinderhut, verneigte sich schweigend vor den Anstaltsdamen, und ohne ein Wort zu sagen, ging er hinaus. Den Anstaltsdamen blieb es dann überlassen, die erregten Gemüter der Kinder wieder zur Ruhe zu bringen, und leichte Arbeit war das natürlich nicht.
»Was hat der Herr Regierungsrat Dir denn ins Ohr gesagt?« so wurde, vom Ersten anfangend, gefragt. – »Er hat mir gesagt«, hieß es: »›wer neidisch ist, kommt in die Hölle; sei nicht neidisch, Du lieber, kleiner Junge.‹« – »Und Dir? Was hat er Dir gesagt?« – »Er hat gesagt: ›Wer neidisch ist, kommt in die Hölle; sei nicht neidisch, Du liebes, kleines Mädchen.‹«
Beiden also wörtlich das Nämliche. Und als die übrigen Kinder, in gleicher Weise befragt, ihre Lippen auftaten und feierlich, wie wenn sie als Zeugen vor Gericht ständen, aussagten, was ihnen der alte, unheimliche Mann anvertraut hatte, da stellte es sich heraus, daß es immer und jedesmal dasselbe geheimnisvolle Wort, dieselbe Mahnung gewesen war, die jedes von ihm empfangen hatte. Das wiederholte sich, wie gesagt, zwei oder drei Weihnachten, und dann hatten es die Anstaltsdamen satt. Solch ein böser, alter Mann! Er machte ihnen ja die Kinder geradezu aufsässig und zerstörte alle Weihnachtsfreude. Und das absichtlich; denn daß er mit wohlüberlegter Absicht verfuhr, das war ja klar; hätte er es sonst einmal wie das andere Mal gemacht?
Darum, als zum vierten Male Weihnachten heranrückte, erhielt der alte Graumann eines schönen Tages von den Anstaltsdamen einen Brief, worin ihm höflichst für die liebevolle Gesinnung gedankt wurde, die er ihren Schützlingen bisher erwiesen hatte, in dem ihm aber zugleich zu erwägen gegeben wurde, ob er in Zukunft seine Geschenke nicht lieber vor der Bescherung einsenden wollte, damit sie von den Damen verteilt würden. Die ethisch-erzieherische Methode, nach der er seine Gaben verteilte, wäre ja den Erwachsenen durchaus einleuchtend und auch dankenswert, aber er würde sich ja wohl selbst sagen, daß Kinder noch nicht fähig wären, eine Methode, die solche Selbstüberwindung forderte und so harte Proben auferlegte, gebührend zu würdigen, und darum möchte es vielleicht besser sein – der alte Regierungsrat hatte verstanden; seit dem Tage hat man ihn in der Anstalt nie wieder gesehen.
»Die Damen hätten es anders einrichten sollen«, hörte man später den Weinhändler Kurzer sagen, »hätten den Herrn Regierungsrat nicht so zu ärgern brauchen; denn geärgert hat er sich schmählich.«
Der Weinhändler Kurzer war nämlich der Mann, der einen Weinkeller unweit des Marktes besaß, einen Keller mit schönen Spitzbogengewölben. Und in dem Keller erschien an jedem Nachmittag, pünktlich wie nach der Uhr, zu einer Zeit, wo sonst niemand anwesend war, der alte Graumann, um einen kräftigen Schluck zu trinken.
Ob es die Gesellschaft des Herrn Kurzer war, die ihn lockte? Oder das Spitzbogengewölbe? Man erzählte sich, daß es noch etwas anderes war, und das war wieder einmal solch' eine Schrulle des tollen alten Mannes. In dem Keller nämlich, in einer Ecke, von Staub bedeckt, stand eine aus Ton geformte Figur, ein Weib auf einem Löwen reitend. Halb und halb erinnerte das Ding an Danneckers Ariadne; es war eine noch ganz unfertige Arbeit, offenbar von Händen angefertigt, die sich zum ersten Male an so etwas versucht hatten; noch unfrei in der Erfindung, noch ungeschickt in der Gestaltung. Trotzdem – wer es für der Mühe wert gehalten hätte, das sonderbare Gebilde näher anzusehen, würde vielleicht entdeckt haben, daß sich in all' dem Unfertigen etwas regte, das dermaleinst hätte fertig werden können. Aber es hielt es niemand für der Mühe wert – ausgenommen Einen – den alten Graumann. Er, so hieß es, war geradezu verliebt in die Stümperei. Es knüpfte sich auch eine Legende an die Figur: in der alten Stadt war vor Jahren ein junger Bursche gewesen, der Sohn armer, achtbarer Eltern. Sein Vater war Aktuar am Gericht gewesen, und durch Fleiß, der nicht einen Tag aussetzte, durch darbende Sparsamkeit, die sich nicht einen guten Tag gönnte, hatte er es durchgesetzt, daß sein Sohn so viel gelernt hatte, daß er auch Unterbeamter werden konnte, Unterbeamter an der Regierung. Und für das Alles hatte ihm der Schlingel übel gelohnt; er tat als Beamter nicht gut. Nicht, daß er getrunken hätte oder eigentlich liederlich gewesen wäre, aber er hatte den Kopf voller Flausen. Zum Künstler, hatte er behauptet, wäre er geboren; ein Bildhauer steckte in ihm, das fühle er, und das sollte hervorkommen.
Natürlich war er fürchterlich ausgelacht worden, und der alte Vater empfand schier tödlich den Schimpf, den ihm der Sohn bereitete. Denn boshaft, wie die Menschen nun einmal sind, versäumten sie nie, wenn sie des alten Aktuars ansichtig wurden, ihn zu fragen, wie es seinem Sohne, »dem Bildhauer«, ginge, ob er Fortschritte machte, und was dergleichen Scherze mehr waren. Und während alle anderen vernünftigen Leute der Stadt es als ihre Pflicht erkannten, dem jungen Menschen zur Vernunft zu reden, war Einer, der das Gegenteil tat, der ihn in seinen Abgeschmacktheiten durch Zureden bestärkte. Das war unrecht von dem einen, und dieser eine war niemand anders als der Herr Regierungsrat Graumann. Man erzählte sich, daß er dem jungen Menschen die Erlaubnis gegeben habe, ihn zu besuchen; daß dieser oft Stunden lang bei ihm verweilte, daß der Regierungsrat ihm seine Bilder zeigte, sich mit ihm über seine Pläne unterhielt, ihn sogar mit Geld unterstützte. Lauter Dinge, die aller Vernunft und gesellschaftlichen Ordnung doch geradezu ins Gesicht schlugen. Und natürlich hatte es denn auch zu keinem guten Ende geführt. Eines schönen Tages war der »Bildhauer« verschwunden gewesen, fort von der Regierung, aus der Stadt, und fort von seinen Eltern. Einfach durchgebrannt; niemand wusste, wohin. niemand wusste es und hat es je erfahren. Denn seit dem Tage blieb er verschollen, und kein Mensch hatte je wieder von ihm gehört. Ob vielleicht der alte Graumann? Möglich – aber der sagte nichts.
Bei dem Weinhändler Kurzer nun hatte »der Michelangelo der Uckermark«, wie ihn einer von den Regierungsreferendaren, ein junger, besonders geistreicher Mann, betitelt hatte, eine Rechnung. Er hatte dort manchmal ein Glas Wein, und mehr als eins, getrunken, aber keins bezahlt. Wahrscheinlich war es auch wieder dieser alte Sünder, der alte Graumann, gewesen, der den Herrn Kurzer zu so sträflicher Nachsicht veranlaßt hatte. Wenige Tage dann, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwand, hatte er dem Weinhändler seine Löwenreiterin gebracht, gewissermaßen als Bezahlung. »Vielleicht würde er sie später einmal verwerten können«, hatte er gemeint. Bis jetzt war es freilich nicht geschehen.
»Wird auch wohl so bald nicht kommen«, meinte mit resigniertem Schmunzeln der Herr Kurzer, wenn das Gespräch darauf kam.
Am Nachmittag des besagten Weihnachtsabends war also der alte Graumann im Weinkeller erschienen. Statt einer halben Flasche, die er für gewöhnlich trank, hatte er sich sogleich eine ganze bestellt, eine ganze Flasche schweren Burgunder. Überhaupt war er dem Herrn Kurzer ganz besonders aufgeregt erschienen.
»Gehen Sie denn heute Abend nicht zur Bescherung ins Stift?« hatte Herr Kurzer gefragt; darauf aber war der Herr Regierungsrat gleich sacksiedegrob geworden.
»Soll ich in ein Haus gehen, wo man mich 'rausschmeißt?« Und dann hatte er die Geschichte mit dem Briefe erzählt. Furchtbar schien ihn die Geschichte aufgeregt zu haben. So wie an dem Tage hatte Herr Kurzer ihn noch niemals gesehen. Eine ganze Weile hatte er sich schweigend mit seinem Burgunder unterhalten, dann war er mit einem Mal aufgestanden, hatte die Figur aus der Ecke geholt und sie, ohne ein Wort zu sagen, mitten auf den Tisch gestellt.
»Ganz staubig ist das Ding gewesen«, berichtete Herr Kurzer, »so daß ich es erst habe abklopfen müssen.«
Alsdann hatte der Alte davorgesessen und kein Wort gesprochen und immerfort das Ding angeschaut – immerfort, »eigentlich nicht anders als wie ein Verrückter«, hatte Herr Kurzer gemeint. Und dann hatte es angefangen, in seinem Gesicht zu arbeiten. »Sie wissen ja, wenn er so mit sich Unterhaltung macht;« diesmal aber hatte es ausgesehen, als ob er sich mit der Löwenreiterin unterhielte oder vielmehr mit dem, der die Löwenreiterin gemacht hatte. Immerfort in die Luft hätte er vor sich hingesprochen; lauter sonderbares Zeug. Herr Kurzer, der mit ihm am Tische saß, hatte Einiges davon verstehen können.
»Dir haben sie es auch nicht gegönnt! Darum bist Du um die Ecke gegangen. Und nun bist Du zum Teufel. Daß so etwas hier hat geboren werden können, in dem Nest! Wie sie ihm das Herz abgefressen haben, immerfort, bis er nicht mehr gekonnt hat, nicht mehr ausgehalten hat! Nun ist er zum Teufel. Sie haben ihn auf dem Gewissen. Haben ihm das Herz abgefressen. Mit ihrem ewigen dummen Gelache und Gehöhn. Mit dem sie sich so klug vorgekommen sind, die Dummköpfe, die gottserbärmlichen, die Strohköpfe, die Banausen!«
Was er dann weiter sagte, hatte Herr Kurzer nicht verstehen können, weil es ein dumpfes Murren gewesen war. Dann aber hatte er wieder ein Glas hinunter getrunken, mit der flachen Hand, wie es seine Gewohnheit war, sich den Mund gewischt und dann plötzlich mit der Faust auf den Tisch geschlagen, daß Flasche und Gläser geklirrt hatten und die tönerne Figur, als sei die Seele ihres Verfertigers für einen Augenblick in sie zurückgekehrt, einen dumpfen Klang von sich gegeben hatte. Zu Herrn Kurzer hatte er sich herum gewandt »mit ein paar Augen, daß ich doch gleich denke, der Teufel selber guckt mich an.« – »Nicht gegönnt haben sie's ihm«, hatte er Herrn Kurzer angeschrien, »das ist der Kern von dem ganzen Pudel! Neid ist die ganze Geschichte gewesen. Nicht vertragen haben sie's können, daß da mitten unter ihnen so Einer gekommen ist, der was anderes gewesen ist als sie, mehr gekonnt hat als sie! Ist ein Liederjan – hat's geheißen; ist nicht wahr, er war kein Liederjan. Kartoffeln sind sie gewesen, Alle mit einander, und er war eine – eine – was soll ich sagen – mitten unter den Kartoffeln eine Ananas.«
»Das ist sehr gut«, hatte Herr Kurzer rasch eingeschoben, indem er einen verunglückten Versuch machte, der Sache eine scherzhafte Wendung zu geben. Einen sehr verunglückten, denn der Herr Regierungsrat hatte ihn angesehen – noch schrecklicher als vorhin.
»Gut nennen Sie das?«
»Ich meinte nur, was Sie da eben gesagt haben, von den Kartoffeln und der Ananas«, beeilte sich Herr Kurzer zu seiner Entschuldigung anzubringen.
Darauf aber hatte der alte Graumann lange Zeit gar nichts gesagt, sondern schweigend das Haupt in die Hand gestützt wie jemand, der ganz in sich und seine Gedanken hineinkriecht. Endlich war er wieder herausgekommen und hatte die Hand auf Herrn Kurzers Arm gelegt.
»Herr Kurzer«, hatte er gesagt, »kennen Sie die Geschichte von dem Apostel Johannes, der sich, als er ein alter Mann geworden war, immer in die Kirche tragen ließ und immer nur ein Wort und nichts als das sagte: ›Kinder, liebt Euch unter einander?‹«
Herr Kurzer glaubte sich zu erinnern, daß er so etwas einmal gehört hätte.
»Mein lieber Herr Kurzer, sehen Sie, das war ein alter Mann, und ich bin auch ein alter Mann. Der hatte das Leben erfahren, sehen Sie, und wusste, was er sagte, und hatte recht. Einmal wird die Zeit kommen, da werden auch Sie sagen: der alte Graumann hat doch recht gehabt. Sehen Sie, mein lieber Herr Kurzer, da sind nun unsere Prediger. Alle Sonntage, die Gott werden läßt, klettert das auf die Kanzel und sabbert den Leuten eine Stunde lang was vor und nachher, wenn's zu Ende ist, gehen die Leute hinaus und sind genau so klug wie vorher. Wissen Sie, was sie tun sollten? Auf die Kanzel sollten sie steigen, ihre Bücher zu Hause lassen und den Leuten ein einziges Wort sagen, aber so, daß die Leute es hören: ›Seid nicht neidisch!‹«
Herr Kurzer hatte sich unwillkürlich umgesehen. So fürchterlich gebrüllt hätte der Regierungsrat, als er das sagte, daß er doch wirklich geglaubt hätte, die Vorübergehenden würden von der Straße herunterkommen, zu fragen, was da unten los sei.
Den alten Graumann aber hatten solche Befürchtungen offenbar nicht angefochten.
»So sollten sie sprechen, die Prediger«, hatte er fortgefahren; »›ich kenne Euch,‹ sollten sie zu den Leuten sagen, ›ich kenne Euch Alle, die Ihr da vor mir sitzt; durch Eure andächtigen, scheinheiligen Gesichter sehe ich hindurch, bis in Eure schwarzen Herzen. Ja, guckt mich nur an; denn in Euren Herzen ist es finster, finster, schwarz. Ein Höllenhund sitzt in Euren Herzen, in jedem einzigen, der Neid! der Neid! Der verdammte, verfluchte Neid!‹«
Bei diesen Worten, so erzählte Herr Kurzer später, war der Herr Regierungsrat aufgesprungen und im Keller auf- und abgegangen, auf und ab, so daß es ihm beinahe ungemütlich zumute geworden wäre und er gar nicht mehr gewußt hätte, was er eigentlich machen sollte. Endlich hatte er sich ermannt und noch einmal den Versuch gemacht, die Geschichte von der humoristischen Seite zu nehmen.
»Da würden die Herren Prediger ihre Kirchen wohl bald schön leer haben«, hatte er bemerkt.
Ein Geknurr war die Antwort gewesen. »Glaub' ich selber. Habe Ihnen ja den Brief gezeigt; haben es gehört, wie's Einem geht, wenn man den Menschen die Wahrheit sagt, daß sie Neidhammel sind. Zum Hause schmeißen sie einen 'raus. Denn sie fühlen, daß man recht hat, und weil sie's fühlen, wollen sie's nicht Wort haben. Natürlich. Wenn man unter Kranken steckt, darf man von der Krankheit nicht sprechen; ist nicht angenehm, wenn man daran erinnert wird. Denn krank sind die Menschen allesamt, und ihre Krankheit, wissen Sie, wie die heißt? Der Neid.«
»Es wird doch aber Ausnahmen geben«, hatte Herr Kurzer einzuwenden gewagt; aber ein Lachen – »Sie wissen ja, so ein recht höhnisches, beinahe teuflisches« – war von dem alten Graumann gekommen. »Ausnahmen« – und damit hatte er sich wieder zu seinem Burgunder gesetzt, »wie soll's denn Ausnahmen geben, wenn die ganze Welt aufgebaut ist auf dem verfluchten Gesetz: Seid neidisch auf einander! Was einem Andern gehört, gehört nicht mir; und daß es nicht mir gehört, sondern einem Andern, das ist nicht recht, und darum ist der Andre mein Feind. Das ist die Weltordnung, diese – diese famose, von der die Prediger von den Kanzeln erzählen. Haben Sie's einmal angesehen, wenn man Spatzen füttert? Da werfen sie einen Brocken hin – surr, ist ein Sperling da. Noch einen Brocken – rutsch, kommt ein zweiter. Was tut der erste? Von seinem Brocken, an dem er herum pickt, läßt er los und fährt über den zweiten her, warum? Bloß damit der andere Spatz nicht auch etwas abbekommt. Die Kanaille! Wenn die Menschen so etwas sehen, lachen sie. Schämen sollten sich die Menschen, statt zu lachen, sollten sich sagen, daß sie's genauso machen wie die Spatzen, aber ganz genau! Sind Sie einmal durch einen Wald gegangen? Haben Sie's gesehen, wie das Gestrüpp und das Unterholz aufwächst und sich breit macht zwischen den hohen Bäumen? Sie denken: das macht sich so von selbst, das ist eben die Natur. Jawohl ist's die Natur, aber in der Natur steckt der Teufel. Neidisch ist das Unterholz auf die hohen Bäume und möchte sie am liebsten ersticken. Würde sie auch ersticken, wenn der Mensch sich nicht darüber hermachte und das Unterholz kappte. Ja, der Mensch – dem Gestrüpp gegenüber hat er ein Einsehen, aber wenn man ihm sagt: seht in Euch selber hinein, rodet es aus, was da drinnen bei Euch wächst, das Wucherzeug, die Wasserpest, dann schmeißen sie Einen zum Haus hinaus. Herr Kurzer, ich bin Beamter gewesen, bin lange Zeit Beamter gewesen, viel zu lange. Ich habe es zu nichts gebracht. Nicht einmal das haben sie mir gegönnt, daß sie mir den ›Geheimrat‹ gegeben haben. Warum? Soll ich's Ihnen sagen? Weil ich ein Esel gewesen bin mein Leben lang, ein Dummkopf; weil ich auf meinem Weg immer zur Seite gesehen habe, was sich da neben mir begab, statt daß so ein tüchtiger Beamter, verstehen Sie, so ein Streber, immer mit Scheuklappen seinen Weg gehen muß, immer nur vorwärts sehen muß, vor sich hin und hinauf, damit er hübsch vorwärts kommt. – Aber ich will Ihnen etwas sagen, Herr Kurzer: wenn sie so an mir vorbei avanciert sind, mit so einem halb mitleidigen Lächeln, weil ich immer hinter ihnen geblieben bin, bewundert habe ich sie nicht und beneidet um ihre Orden, mit denen sie klunkerten, auch nicht. Denn in meiner Dummheit bin ich klüger gewesen als sie und habe etwas gewußt, was sie Alle nicht gewußt haben, daß sie krank sind, Einer wie der andere, neidisch, der eine auf den anderen, und weil ich nichts gewollt habe, bin ich nicht neidisch gewesen.«
Und nach diesen Worten war der Herr Regierungsrat wieder stumm geworden, hatte vor sich hingesehen und dann mit einer Stimme, »gerade als wenn er aus dem Grabe heraus spräche«, gesagt: »Ich habe es mir abgewöhnt.«
Was er damit hatte sagen wollen, vermochte Herr Kurzer nicht anzugeben. Es hatte so ausgesehen, als wenn sich der alte Mann an etwas erinnerte, an etwas, das vor langer Zeit einmal geschehen war, vielleicht damals, als er noch ein Kind war; denn plötzlich war er dann auf die Kinder gekommen.
»Ja, die Kinder«, hatte er wieder angefangen, »wenn man solch ein Kind ansieht – es ist doch so etwas Schönes. Das glaubt noch an einen ›lieben Gott‹, weiß noch nichts von all' dem Dreck, durch den man patschen muß, wenn's nachher ins Leben geht, Streberei, Kriecherei, Heuchelei, und wie die Teufelseier alle heißen. Und sehen Sie, Herr Kurzer« – und dabei hatte er den Arm des Herrn Kurzer zwischen seine Finger gepreßt, als wenn er ihm den Knochen zerdrücken wollte – »sehen Sie, Herr Kurzer, neidisch ist das darum doch. So ist der Mensch! Neidisch sind solche Würmer auf einander auch schon! Schenkt man Einem was, so sieht's nicht auf das, was es bekommen hat, sondern nach dem, was das andere gekriegt hat; und wenn ihm das schöner erscheint und besser gefällt, dann geht der Teufel in ihm los. Das, was ich nicht habe, das gerade möchte ich bekommen haben. Und da sitzt man nun vor solch einem kleinen Geschöpf, solch einem armen, kleinen Ding und sieht, wie das Gift in ihm zu kochen anfängt, und wie das Pflänzchen krank wird, weil es die Krankheit eingesogen hat und angeerbt, die aus dem Boden kommt, aus dem es wächst, der Welt, die so schön eingerichtet ist, der – der schlechten, schändlichen, verfluchten Welt! Und über das Alles sieht man in die Zukunft hinaus, wenn das Kinderpflänzchen einmal ausgewachsen sein wird und ein Strunk geworden sein wird, ein dicker, grober, knotiger Strunk. Dann wird es gerade sein wie all' die Strünke, die vor ihm gewesen sind, so hart, daß man andere damit totschlagen kann. Und das Alles muß man mit ansehen und kann nichts tun, es zu ändern; denn wenn man es ändern will, dann kommen die Erwachsenen und schmeißen Einen zum Hause hinaus. Sie haben den Brief gehört, Herr Kurzer – schmeißen Einen zum Hause hinaus!«
Über diesem Gespräch, berichtete Herr Kurzer, war es mittlerweile spät geworden, der Weihnachtsabend angebrochen. Durch das Kellerfenster hindurch sah man in dem gegenüberliegenden Hause bereits einen flammenden Lichterbaum. Da hinüber hatte der Herr Regierungsrat gesehen, mit einem Ausdruck im Gesicht, meinte Herr Kurzer, daß man recht gefühlt hätte, was für ein einsamer alter Mann er eigentlich war. Dann hatte er gesagt: »Sie werden nun wohl auch Ihren Keller zuschließen und bei sich zu Hause aufbauen wollen, Herr Kurzer; darum will ich nur gehen.« Und damit war er aufgestanden, und Herr Kurzer hatte ihm geholfen, den Mantel anziehen. Und als er schon den Mantel angezogen und den Hut in der Hand hatte, war er noch einmal stehen geblieben und in Gedanken versunken.
»Weil ich jetzt also den Kindern nichts mehr schenken soll«, hatte er gesagt, »will ich Ihnen etwas lassen, Herr Kurzer. Wenn Sie wollen, können Sie's wegschmeißen: Erfahrung, Herr Kurzer! Darauf, daß der Mensch Erfahrung macht, darauf kommt es an!« Und indem er so sagte, hätte der Herr Regierungsrat die Hand, darin er den Hut hielt, emporgehoben und ausgesehen – »gradezu feierlich«, meinte Herr Kurzer.
»Man muß etwas erlebt haben, Herr Kurzer, und das, was man erlebt hat, behalten. Aber nicht im Kopf, verstehen Sie, sondern da, da drinnen im Herzen. Ein Herz muß man haben, das sich erinnern kann. Und daran eben fehlt es bei den Menschen; denn wenn man etwas aufbewahren soll, dann muß man einen Raum haben, wo man es hineintun kann; wenn man sein Leben mit sich tragen soll im Herzen, muß man ein Herz haben, wo Platz dafür da ist. Und das eben haben die Menschen nicht, sondern ihre Herzen sind wie flache Teiche, wo ihre Strebergedanken drin herumschwimmen wie gierige Fische mit dummen Glotzaugen, die nichts anderes denken können, als daß sie danach umhersehen, ob nicht irgendwo ein Brocken herunterfällt, den sie aufschnappen können. Nein, Herr Kurzer, nicht wie ein Teich muß das Herz des Menschen sein, sondern wie das Meer. Sind Sie schon einmal am Meere gewesen, Herr Kurzer? – Da werden Sie gesehen haben, daß das Meer nicht die Farbe annimmt von dem Tage, der grade darüber scheint, sondern daß es seine Farbe für sich hat, und daß die Farbe immer bleibt, einen Tag wie alle. Woher erklären Sie sich denn, daß das kommt? Das will ich Ihnen sagen; es kommt daher, daß das Meer immerfort den ganzen Himmel widerspiegelt, bei Tag und bei Nacht, Sonne, Mond und Sterne, heute hell und morgen dunkel, und das Alles, was da immer von oben hinuntersieht, bleibt aufbewahrt in dem tiefen Meere, und davon bekommt das Meer seine gleichmäßige Farbe. Ist der Himmel, der darüber liegt, wie das bei uns da oben im Norden zu sein pflegt, meistens grau, so wird auch das Meer grau; ist er hell und blau, wie da unten im Süden, wird auch das Meer blau. Und so wie mit dem Meere, sehen Sie, so ist es mit den Herzen der Menschen. Denn was der Himmel für das Meer, das ist das Leben für den Menschen, das immer über ihm liegt mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen und Schicksalen. Nicht immer nur den heutigen Tag muß man in sich hineinschlucken, sondern alle Tage müssen dem Menschen gegenwärtig sein, die er schon gelebt hat. Und nicht immer zappeln und streben muß man nach dem, was morgen etwa kommen wird, sondern erinnern muß man sich, erinnern, erinnern! Aber damit man sich erinnern kann, dazu gehört, daß man eben ein tiefes Herz hat, so tief wie das Meer. Und daran eben fehlt es bei den Menschen. Und wenn sie solche Herzen hätten, dann stände es besser um die Welt; dann würden sie eine Ahnung davon bekommen, was das eigentlich sagen will, wenn es heißt, daß vor Gott hundert Jahre sind wie ein Tag. Denn das ist ein merkwürdiges Wort, Herr Kurzer, viel merkwürdiger, als die Menschen es sich träumen lassen, die es gar nicht verstehen. Einer hat es einmal verstanden, und das ist der alte Apostel Johannes gewesen, von dem ich Ihnen gesagt habe. Als der alt geworden ist, sehen Sie, da hat Alles vor ihm gelegen, was er jemals erlebt hatte, an sich und an anderen. Und weil er ein alter Mann geworden war, der sich tragen lassen mußte und wahrscheinlich auch nicht viel mehr sprechen konnte, hat er bei sich überlegt, wie er Alles das, was er gesehen und mitgemacht und erlebt hatte, in ein einziges Wort zusammendrücken könnte, das sie alle verständen, und da hat er kein besseres gefunden, als das, was ich Ihnen gesagt habe: ›Kinder, liebet einander‹. Und er hätte auch kein besseres finden können; denn damit hat er Alles gesagt, was den Menschen not tut, und was sie heilen kann von ihrer niederträchtigen Krankheit, und es ist wirklich ein schönes Wort gewesen, ein schönes, schönes.«
Und damit hatte der Herr Regierungsrat den Hut auf den Kopf gesetzt und war hinausgegangen, und es hätte ausgesehen, meinte Herr Kurzer, als hätte er vergessen gehabt, daß Herr Kurzer oder sonst noch jemand auf der Welt gewesen wäre.
Möglicher Weise war es bald nach dieser Unterhaltung des alten Graumann mit dem Weinhändler Kurzer, jedenfalls in einem Winter, als ich seine nähere Bekanntschaft machte.
Eine sonderbare Begebenheit bot den Anlaß dazu:
Vom Nachmittagsspaziergang zurückkehrend, ging ich den hohen Damm entlang, der die Straße der Vorstadt, in deren Zeile die Wohnung des Regierungsrats lag von tief gelegenen Wiesen auf der anderen Seite trennte. Der vorüberfließende Strom überflutete das flache Gelände; die Wiesen bildeten das Schlittschuhlaufgebiet der Stadt. An jenem Tage lag tiefer Schnee; die Eisbahn aber war glatt gefegt und wimmelte von fahrendem Volk.
Das Haus, in welchem der alte Graumann wohnte, lag etwas von der Straßenflucht zurückgerückt; ein Vorgarten befand sich davor, und in diesem Vorgarten sah ich, indem ich näherkam, zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, damit beschäftigt, einen Schneemann zu bauen. Je lauter von der Eisbahn her das Gewirr und Gelärm vergnügter Stimmen ertönte, um so stiller ging es auf dieser Seite zu, wo die beiden Kleinen, offenbar armer Leute Kinder, emsig und wortlos ihrem Werke oblagen.
Der weiße Mann war schon so ziemlich fertig; zwei Kohlenstücke waren als Augen in seinen Kopf gesteckt; mit schwarzer Kohle war ihm eine Nase und ein Mund gezeichnet, und aus dem Munde ragte, eine Zigarre andeutend, ein Stück Holz. Aus dem Hause wurde ein Besen geholt und ihm in den linken Arm gegeben. Und nun schien das Werk vollendet. Brüderchen und Schwesterchen standen bewundernd davor. Nur eins noch fehlte; Meister Schneemann hatte noch keine Kopfbedeckung. Eine flüsternde Beratung der Geschwister, und dann lief der Junge abermals ins Haus, um das fehlende Bekleidungsstück zu holen.
Im Augenblick aber, als er den Platz verließ, erschien von der Eisbahn her eine Schar von Knaben, die Schlittschuhe über den Arm gehängt, in ihrer Mitte, gewissermaßen den Kern bildend, zwei auffallend hübsche, aber dreist blickende, dunkeläugige und dunkellockige Burschen von etwa elf oder zwölf Jahren, die Jedermann in der Stadt kannte, weil es die Söhne eines der reichsten und angesehensten Kaufleute des Orts und einer überaus zärtlichen Mutter waren, »die die Rangen«, wie man sich in der Stadt zuflüsterte, »kolossal verzog«. Immer sah man die Beiden zusammen und als Dritten im Bunde stets einen großen, gelb-weißen Bernhardiner, den der Vater ihnen geschenkt hatte, und der sie auf Schritt und Tritt begleitete. Auch heute war der Hund mit ihnen auf der Eisbahn gewesen, und mit der dicken Schnauze im Schnee wühlend trabte er der Schar voraus.
Sobald nun die Jungen den Damm erstiegen hatten und des Schneemanns drüben ansichtig geworden waren, entstand ein jauchzendes »Hallo«, und im nächsten Augenblick war der ganze Schwarm vom Damm herab, über die Straße hin, am Staketenzaun des Vorgartens, mitten unter ihnen der Bernhardiner, der sich auf den Hinterbeinen aufgerichtet hatte und die Vorderpfoten auf den Zaun aufstützte.
Anfänglich begnügte man sich damit, den Schneemann, der einige Schritt weit vom Stakete entfernt stand, schweigend zu bewundern; bald aber wurde das langweilig, und die beiden Anführer griffen in den Schnee, machten sich Schneebälle, die anderen folgten ihrem Beispiel, und im nächsten Augenblick eröffnete sich ein Bombardement von Schneebällen auf den weißen Mann.
»Nicht schmeißen! Nicht kaputt machen!« schrie das kleine Mädchen, das allein auf dem Platze war, aber ein höhnendes Gelächter erstickte ihren Ruf, denn gerade jetzt hatte ein wohlgezielter Wurf die Zigarre aus dem Munde des Schneemannes geschleudert, und im nächsten Augenblick hatte er nur noch ein Auge.
Jetzt kam der kleine Bruder aus dem Hause zurück. Von der Schwester, die schon nah am Weinen war, auf das Unheil aufmerksam gemacht, das ihrem Kunstwerk drohte, besann er sich nicht lange, steckte dem Schneemann wieder die Zigarre in den Mund, das ausgeschossene Kohlenauge wieder in den Kopf, stülpte ihm die alte, große Mütze, die er mitgebracht hatte, auf den Kopf; dann griff auch er in den Schnee, und klatsch – hatte der eine von den Angreifern einen Schneeball mitten im Gesicht.
Das gab dem »Ulk« eine neue Wendung; ein Schneeballkampf entstand, und es dauerte nicht lange, so war der arme kleine Bursche da drinnen im Vorgarten so mit Würfen und Schüssen zugedeckt, daß er mit dem Schwesterchen, das er an der Hand nahm, bis an die Haustür flüchten mußte; für den Schneemann gab es nun keine Rettung mehr; das ausdrucksvoll gemalte Gesicht war bald nur noch eine unförmliche Masse, und alle Anstrengungen der Angreifer richteten sich darauf, ihm die Mütze, die immer noch nicht herunter wollte, vom Kopfe zu schießen. Endlich war »der große Wurf gelungen«, ein Schneeball hatte die Mütze getroffen, ein zweiter, dritter schlug an der gleichen Stelle ein; ein Triumphgeschrei erhob sich, und in das Geschrei der Knaben mischte sich das tiefe, vergnügte Gebell des Bernhardiners. Der Hund wollte auch dabei sein und sollte es auch. Im Augenblick, als die Mütze vom Kopfe des Schneemanns herabglitt, packte einer von den beiden wilden Burschen den Bernhardiner am ledernen Halsband, und indem er auf die Mütze zeigte, die dunkelfarbig vom weißen Schnee abstach, rief er: »Allons, apporte, Nero! Apporte!« Mit gellendem Jubel wurde der Gedanke aufgenommen; »apporte, Nero, faß' Nero!« Der Hund, von allen Seiten angefeuert, gebärdete sich wie rasend und machte die verzweifeltsten Anstrengungen, über den Staketenzaun hinüber zu kommen. »Wir müssen ihm helfen«, hieß es; sämtliche Knaben vereinigten ihre Hände unter dem Leibe des Hundes, und indem sie das schwere, mächtige Tier emporhoben, verschafften sie ihm die Möglichkeit, hinüber zu gelangen. Ein letztes, aufgeregtes Geblaff, und dann, halb selber springend, halb geschleudert, flog der Bernhardiner über den Staketenzaun in den Schnee des Vorgartens, in dem er sich überschlug. Im nächsten Augenblick stand er hochaufgerichtet an dem Schneemann, in den er seine breiten Pfoten einschlug, während er mit dem Maule nach der Mütze schnappte, die auf der Schulter des Schneemanns liegen geblieben war. Jetzt aber, aller Furcht vor etwaigen Schneebällen vergessend, kam der kleine Junge wieder nach vorn gerannt. Die Mütze war offenbar die eines erwachsenen Mannes, wahrscheinlich die seines Vaters, die er sich, während der Vater außer Haus war, eigenmächtig geholt hatte. Wenn sie in den Zähnen des Hundes entzwei ging, standen dem kleinen Kerl die bedenklichsten Folgen in Aussicht. In voller Verzweiflung warf er sich daher dem Hunde entgegen, um die Mütze zu retten. Aber es war zu spät; der Hund hatte sie schon gepackt, und nun griff der Junge zu, um sie dem Tier wieder zu entreißen. Ein Ringkampf entstand zwischen beiden, zum brüllenden Ergötzen der Burschen draußen, die vor Entzücken über ihr gelungenes Tun jauchzten und quietschten. Der Bernhardiner, nicht bösartig von Natur, aber tolpatschig, wie solche große Hunde sind, mochte glauben, daß der Knabe mit ihm spielen wollte; je mehr der Gegner an der Mütze zog, umso fester packte er sie mit den Zähnen. Beide Kämpfer drängten sich in den Schneemann hinein; der Schneemann kam ins Wanken, und plötzlich, wie ein Schneeberg, fiel er über sie, beide für einen Augenblick unter seiner Masse begrabend.
Der Jubel da draußen, den dieses Schauspiel hervorrief, artete zu einem wahrhaft höllenmäßigen Lärm aus, und in den Lärm mischte sich das Zetergeschrei des kleinen Mädchens, das jetzt auch herangekommen war und sich, unter strömenden Tränen, bemühte, den Bruder zu befreien, der prustend, selbst wie ein kleiner Schneemann aussehend, unter der Lawine hervorgekrochen kam.
In diesem Augenblick jedoch erscholl ein Laut, der sowohl den Freudenlärm wie das Zetergeschrei jählings verstummen machte. Auf dem Balkon seiner Wohnung, der sich über dem Hauseingange befand, war der alte Graumann erschienen. Und mit einer Stimme, die wirklich furchtbar, wie die eines angeschossenen Bären, klang, brüllte er in den Kampf hinunter.
»Ihr Schlingel, Ihr infamen«, schrie er zu den Jungen hinüber, die draußen am Staketenzaun standen, »was macht Ihr da? Wollt Ihr gleich Euren Köter fortrufen, Euren verfluchten!«
Die Erscheinung des alten Mannes, der sich, blaurot vor Zorn im Gesicht, über die Brüstung des Balkons gebeugt hatte, und der Ton seiner Stimme wirkten so erschreckend, daß für einen Augenblick allgemeine Stille eintrat und die von Winterluft und Aufregung glühenden Gesichter der Knaben erblaßten. Dann aber, von den beiden Rädelsführern ausgehend, erhob sich ein höhnisches Flüstern und Kichern, »der olle Graumann! der olle, verdrehte Graumann!« Ob das Gekicher bis zu ihm hinauf drang, vermag ich nicht zu sagen; jedenfalls aber richtete sich der Alte plötzlich auf, und indem er die Glastür des Balkons schmetternd hinter sich zuwarf, verschwand er im Innern seiner Wohnung. Kaum eine Minute darauf kam er durch die Haustür unten wieder zum Vorschein, eine große Lederpeitsche in den Händen, mit der er sich sofort, unter wütenden Hieben, auf den Bernhardiner stürzte. Der Hund stieß ein klägliches Geheul aus, und mit eingezogenem Schweif floh er rund um den Garten, von dem alten Graumann unablässig verfolgt.
Aus dem, was als ein Spaß begonnen hatte, schien jetzt bitterböser Ernst werden zu wollen. Die Jungen draußen, namentlich die beiden Besitzer des Bernhardiners, gerieten auch ihrerseits in eine wilde Erregung, und als der Alte jetzt dicht am Staket vorbei kam, schrie ihn der eine der beiden Buben, indem er wütend beide Fäuste ballte, kreischend an: »Herr Graumann, ich werde es meinem Vater sagen, wenn sie unseren Hund schlagen! Sie dürfen unseren Hund nicht schlagen, Herr Graumann! Und ich werde es meinem Vater sagen!«
Der alte Mann blieb jählings stehen, und mit einer schweren Bewegung drehte er das Gesicht zu dem Jungen herum. »Deinem Vater wirst Du es sagen? Du rotznäsiger, frecher, infamer Schlingel! Erst werde ich mit Dir ein Wort sprechen, Du –« und mit den Worten griff er über den Zaun hinweg, nach dem Kragen des Jungen, der sich nur durch einen schnellen Sprung vor dem Griffe zu retten vermochte.
»Ihr Kanaillen«, donnerte der Regierungsrat, indem er dicht an den Zaun herantrat, »das, was Ihr verdient, das ist die Karbatsche!«
Er schwang auch wirklich die Peitsche empor, als wenn er mitten unter die Knabenschar hineinhauen wollte, und bei der Aufregung, in der er sich befand, würde er sein Vorhaben sicherlich ausgeführt haben, wenn nicht in diesem Augenblick eine Frauenstimme ertönt wäre, die seinen erhobenen Arm langsam niedersinken ließ. Es war die Mutter der beiden »Rangen«, die herausgekommen war, ihre Söhne von der Eisbahn abzuholen, und die sie nun hier in einem solchen Konflikt vorfand.
»Aber Herr Regierungsrat« – die ohnehin energische Stimme der Dame klingelte förmlich in gellender Erregtheit –, »ich würde es doch nicht für möglich gehalten haben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, daß Sie auf offener Straße mit der Peitsche nach meinen Knaben schlagen!« Der alte Graumann verneigte sich mit höhnischer Beflissenheit, indem er die grüne Sammetkappe lüftete, die er auf dem Kopfe trug: »Und ich würde es nicht für möglich gehalten haben, gnädige Frau, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, daß sich Ihre Musjehs von Söhnen auf offener Straße wie Strolche und Einbrecher benehmen würden.«
»Wie – Einbrecher?« Die Dame brachte es beinah mit einem Schrei hervor, indem sie fragend die Augen auf ihre Jungen richtete. Jetzt drängten sich diese an die Mutter, und indem der Rückschlag der bisherigen Aufregung eintrat, brachen sie in Tränen aus. »Es haben welche einen Schneemann gebaut«, berichteten sie, »und ihm eine Mütze aufgesetzt, und die Mütze ist heruntergefallen, und dann ist Nero über den Zaun gesprungen und hat die Mütze apportiert.«
»Lüge nicht, Du Galgenstrick!« donnerte der alte Graumann dazwischen. »Nicht heruntergefallen ist die Mütze! herunter geschmissen habt Ihr sie, mit Euren Schneebällen!«
»Aber ist denn das ein so himmelschreiendes Unrecht«, hob die erzürnte Verteidigerin ihrer Sprößlinge wieder an, »wenn Kinder mit Schneebällen nach einem Schneemann werfen?«
»Jawohl, gnädige Frau!« – der Alte schrie ihr seine Worte jetzt ohne alle Höflichkeit ins Gesicht – »jawohl ist es ein himmelschreiendes Unrecht, wenn ein Paar Bengel, die von ihrer Mutter wie Chenille-Affen verzogen werden, die Alles geschenkt bekommen, was sie sich nur denken können, und viel mehr, als ihnen gut ist, wenn solche Bengel einem Paar armer Kinder, die nichts von all' dem haben, was sie haben, das arme, kleine bißchen Vergnügen stören und zunichte machen, was solche arme Kinder haben! Jawohl, gnädige Frau! Eine Niederträchtigkeit, das ist es, was Ihre Musjehs gemacht haben! Daß solch ein Schneemann keine große Kostbarkeit ist, das weiß ich; jawohl, gnädige Frau, ich bin so frei, es zu wissen. Aber darauf kommt es nicht an. Denn der Schneemann gehörte den beiden Kleinen, und darauf kommt es an. Gehörte nicht Ihren Musjehs, gehörte den beiden Kleinen, die ihn sich gemacht hatten! Ihre Jungen haben Schlittschuhe und Schlitten und einen Hund, so groß wie der Chimborasso, und die Kleinen haben nichts. Und daß Ihre Jungens ihnen nicht das einmal gönnen wollen, das ist eine Niederträchtigkeit! Daß sie ihren großen Köter auf die Kleinen hetzen, das ist eine Niederträchtigkeit!«
»Aber, wer hat denn mit Hunden gehetzt?«
»Ihre Herren Jungens, gnädige Frau. Jawohl, gnädige Frau, bin so frei; Ihre Herren Söhne haben den Chimborasso auf die Kleinen gehetzt! Und dafür soll sie der Teufel frikassieren, gnädige Frau! Bin so frei, Ihnen das zu sagen.«
Die Augen der beleidigten Dame verdrehten sich förmlich und richteten sich abermals auf die Knaben.
»Nicht gehetzt«, schrien beide wie mit einem Munde. »Nero ist von selber über den Zaun gesprungen!«
Jetzt kam die Reihe, die Augen zu verdrehen, an den alten Graumann, und er tat es so, daß man nur noch das Weiße darin sah.
»Ihr – Lügenbolzen«, sagte er keuchend, »Ihr habt ihn nicht gehetzt? Von selber ist er gesprungen? Mit Euren eignen Händen habt Ihr den Köter aufgehoben, Ihr samt Euren Kumpanen, und ihn hinüber geworfen über den Zaun!«
»Herr Regierungsrat« – unterbrach die Dame. Aber der Alte ließ sich nicht unterbrechen.
»Das habe ich gesehen! Mit meinen eigenen Augen gesehen!«
»Herr Regierungsrat«, – wiederholte die Dame, und sie bemühte sich, ihren Worten den scharfen und kühlen Ton zu geben, mit dem man im Weltverkehr Ungebildeten den Unterschied zwischen ihnen und den Gebildeten klar macht, »Ihren Behauptungen stehen die Worte meiner Söhne entgegen, und meine Söhne lügen nicht.«
Der Alte ließ sein bekanntes, beinah teuflisches Lachen hören. »Vielleicht interessiert es Sie, gnädige Frau« – und er machte abermals seine höhnische Verbeugung –, »zu erfahren, daß Ihre Herren Söhne lügen wie gedruckt.«
»Sie irren sich! Meine Söhne lügen nicht, Herr Regierungsrat!« Das Taschentuch wurde aus dem Pelzmuff gerissen und fuchtelte in zuckenden Bewegungen in der Luft herum. Der alte Graumann trat so nahe an den Staketenzaun heran, als er vermochte. »Gnädige Frau«, – und er bohrte die großen, runden, glühenden Augen in das aufgeregte Gesicht der Frau, – »Sie hören, daß ich es Ihnen sage, und ich bin ein alter Mann, und« –
»Und das sind meine Söhne, und meine Söhne sind anständiger Leute Kind und lügen nicht, und Sie –« die Stimme der Frau, die beinah zum Überschnappen gestiegen war, brach ab.
»Und ich?«
»Und Sie – Sie müssen mir das nicht übel nehmen, Herr Regierungsrat, alle Welt weiß das – Sie – sind ein aufgeregter alter – Mann.«
In diesem Augenblick trat ich heran. Ich hatte den Wortwechsel vom ersten bis zum letzten Worte mit angehört. Ein Gefühl sagte mir, daß ich eingreifen mußte, wenn etwas Unangenehmes auf offener Straße vermieden werden sollte.
»Erlauben Sie einem Unparteiischen das Wort, gnädige Frau, der, vom Zufall geführt, den Vorgang von Anfang bis zu Ende mit angesehen hat.«
Die Augen aller Kriegführenden richteten sich in überraschtem Schweigen auf mich.
»Ich habe den Vorgang, wie gesagt, in allen Einzelheiten verfolgt und muß bestätigen, daß es sich genau so zugetragen hat, wie Herr Regierungsrat Graumann gesagt hat. Der Hund ist nicht von selbst gesprungen; die Knaben haben ihm mit eigenen Händen über den Zaun geholfen und ihn auf die Mütze gehetzt, die der Schneemann auf dem Kopfe trug.«
Eine Stille trat nach diesen Worten ein, als wenn eine Granate geplatzt wäre und Alles sich umsähe, wer verwundet und tot und wer noch am Leben sei. Dann, mit einem Griff, faßte die lautlos gewordene Mutter ihre beiden Söhne an der Hand, drehte sich herum, daß die Schleppe ihres schwerstoffenen Kleides wie ein zorniger Drachenschweif durch den Schnee fegte, und ohne Wort und Gruß, nicht einmal mit einem Kopfnicken, trat sie mit ihren Jungen den Rückzug nach der Stadt zu an. Der alte Graumann sah ihr nach, öffnete die Tür des Gartenzauns, jagte den Bernhardiner, der sich immer noch hinter ihm herumdrückte, zum Garten hinaus, und dann, als er sah, daß auch ich meines Wegs gehen wollte, streckte er mir über den Zaun die Hand hin.
»Bitte, kommen Sie doch herein.«
Ob es nur mein Dazwischentreten in seiner Streitsache oder was es sonst war, das ihn zu der Aufforderung veranlaßte, ich weiß es nicht. Ebenso wenig war ich mir klar darüber, was ich bei ihm sollte und wollte; aber der tiefe Klang seiner Stimme, die von der Aufregung heiser geworden war, hatte etwas Gebieterisches. Ich trat ein.
Im Vorgarten standen die beiden Kleinen, dicht an einander gedrückt, die Mütze in Händen, auf die sie unter stummen Tränen niederblickten. Der alte Graumann nahm ihnen die Mütze aus der Hand. »Hm! Ist wohl kaputt gegangen?« fragte er.
»Es is Vatern seine«, erwiderte schluchzend und stockend der kleine Junge, »und wenn Vater nach Haus kommt –« »Dann gibt's Prügel!« ergänzte der alte Graumann, indem er sich zu mir wandte. Er klopfte dem Jungen den Schnee ab, der noch immer, wie ein weißer Überzug, an seinem Rock und in seinen Haaren klebte. »Ihr hättet die Mütze von Eurem Vater nicht zu so etwas gebrauchen sollen«, sagte er, indem er sich zu den Kindern niederbeugte; »denn was für die Menschen ist, das ist doch nicht für die Schneemänner, nicht wahr?« Er stand zwischen den Beiden, indem er sie mit dem rechten und dem linken Arme an sich drückte. »Aber laßt nur jetzt das Weinen sein«, fuhr er fort, »Ihr seid nicht schuld dran, daß die Mütze entzwei gegangen ist, das werde ich Eurem Vater sagen, und dann werde ich Vatern eine neue Mütze kaufen, und dann ist Alles wieder gut, und er wird Euch nichts tun.«
Er war mit den Kleinen in das Haus eingetreten. Zu ebener Erde befand sich die Wohnung, in der die Kinder mit ihren Eltern wohnten. Er klopfte; niemand gab Antwort. Die Türe war nicht verschlossen; er öffnete, und hinter ihm stehend blickte ich in die leere, ärmliche Behausung.
»Ist denn Eure Mutter nicht zu Hause?« fragte der alte Graumann.
»Mutter is auf Wäsche in die Stadt«, gab das kleine Mädchen mit dünner, piepsender Stimme zur Antwort. Der alte Graumann ließ den Kopf niederhängen, und dann, mit der eigentümlichen schweren Bewegung, die ich vorhin an ihm wahrgenommen hatte, drehte er das Gesicht zu mir herum; in seinen Augen brannte wieder das finstere Glühen, das ich an ihm kannte. »Sehen Sie«, sagte er mit unterdrücktem Laut, »so ist es nun. Solche Lümmel –« und er deutete mit dem Kopfe nach der Stadt zu –, »das geht nach Hause, und zu Hause zieht ihnen die Frau Mama trockene Stiefel an und trockene, warme Kleider, und dann, statt der Karbatsche, die sie verdient hätten, gibt's Kaffee oder Tee oder womöglich Schokolade, und das hier muß in die alte, finstre Kabache kriechen, wo nicht Vater und Mutter und niemand auf sie wartet, und niemand ihnen einen anderen Rock gibt, und einen Schluck Warmes, und womöglich nachher noch Prügel.«
In diesem Augenblicke trat, den Schnee von den Füßen trampelnd, zur Haustür die Wirtschafterin des Regierungsrats herein, die von ihren Nachmittagsbesorgungen kam. Ein Freudenschein ging über das Gesicht des alten Graumann.
»Sie kommen zur rechten Zeit«, sagte er. »Nu mal gleich hinauf und Kaffee gekocht! Aber ordentlich, eine ganze große Kanne voll! Hier sind zwei Herrschaften, die welchen haben wollen. Nicht wahr, meine Herrschaften? Wir wollen Kaffee haben?« Dabei faßte er die Kleinen unters Kinn und hob ihre blassen, verfrorenen Gesichter empor. Die beiden Kinder sahen ihn mit aufgerissenen Augen staunend an. »Und dann zum Bäcker«, fuhr er zu der Wirtschafterin fort, »oder vielmehr nicht zum Bäcker, zum Konditor, über die Brücke, an der Ecke, Sie wissen ja, und Kuchen geholt, für eine ganze Mark; da haben Sie eine Mark. Hier sind zwei Herrschaften, die Kuchen haben wollen. Nicht wahr, meine Herrschaften, wir wollen Kuchen haben?« Wieder wurden die beiden kleinen Gesichter emporgehoben. Der Bruder sah die Schwester, die Schwester den Bruder an. Dann richteten sich beider Augen auf den unbegreiflichen alten Mann, und ein schüchtern-verschämtes, beinahe mißtrauisches Lächeln stieg in den Gesichtern auf und färbte ihre Wangen mit leiser Röte. War es ein Traum, was sie erlebten? War das »der alte, böse Regierungsrat«, von dem man im Hause nur flüsternd sprach, weil das ganze Haus sich vor ihm fürchtete? Der alte Graumann hatte den Ausdruck in den Kindergesichtern bemerkt. Er winkte der Wirtschafterin, daß sie sich auf den Weg machen sollte, dann drehte er sich wieder zu mir herum.
»Sehen Sie«, sagte er halblaut, »so ist das nun mit dem Menschen. So verprügelt, daß er es gar nicht glauben kann, daß man ihm einmal was Gutes tun will. So trampeln sie auf einander herum, diese Menschen, diese Kanaillen; so läßt Einer den Andern neben sich verkommen und erfrieren, bis daß er ein Eiszapfen wird!« Plötzlich trat er wieder auf die Kleinen zu. »Seid Ihr Schneemänner? Nein, Ihr seid doch keine Schneemänner. Seid Ihr kleine Menschen? Ja, Ihr seid doch Menschen! Das wißt Ihr doch, daß Ihr Menschen seid?« Die Kinder brachten keinen Laut hervor; die Freudigkeit war von ihren Gesichtern wie weggewischt. Jetzt, wo er so polternd auf sie einsprach, Dinge, die sie nicht verstanden, war es doch wieder der alte, böse Mann, zu dem sie furchtsam emporschauten.
Der alte Graumann legte seine beiden großen Hände auf die kleinen blonden Köpfe; seine dicken Finger trommelten leise auf ihrem Haar. Es war eine unbehülfliche, beinahe hülflose Bewegung. Was sie Alles zu sagen hatten, die schweren fingernden Hände! Wie wenn jemand auf einem stummen Klavier spielt, so sah es aus, dem er Musik entlocken möchte, und das keine Töne von sich gibt. Was er Alles zu sagen haben mochte, der alte Mann, der über die beiden Kinderhäupter hin in die Ecke des Flurs starrte, mit einem so in sich versunkenen, so in das eigene Innere gerichteten trostlosen Blick? Ich konnte die Augen nicht von ihm lassen. Was er Alles zu sagen hatte und nicht sagen konnte, weil er in lebenslanger Einsamkeit gewissermaßen die Sprache verlernt hatte, so daß sie nur noch stoßweise, in gewaltsamen Ausbrüchen, beinah im Gebrüll herauskam, den Hörer im Zweifel lassend, ob Hass oder Liebe, Zorn oder Güte aus ihm sprach!
An der Flurwand stand eine Bank, und auf diese ließ der alte Graumann sich niederfallen, indem er die Kinder zu sich heranzog. Er drückte ihre Stirnen an seine Schläfen, zur Rechten den Knaben, zur Linken das Mädchen; zwischen den beiden kleinen Köpfen hing sein großer, grauer, schwerer Kopf herab.
Er sprach zu den Kindern, aber weil diese lautlos blieben und keine Antwort hervorbrachten, war es wie ein murmelndes Selbstgespräch.
»Das ist Dein Bruder? Nicht wahr? Und das ist Deine Schwester? Also seid Ihr Geschwister. Habt Ihr Euch lieb? Ja, nicht wahr, Ihr habt Euch lieb. Alle Menschen müssen sich lieb haben. Aber Geschwister, das ist noch was Besonderes, die müssen sich noch mehr lieb haben. Werdet Ihr daran denken? Ja, nicht wahr, Ihr werdet daran denken.«
Er hob das Haupt empor; wieder erschien der dumpfe, trostlose Blick von vorhin. »Geschwister, die sich nicht lieb haben, die kommen in die Hölle.« Und da er nach diesen Worten verstummte, auch niemand anders sprach, entstand eine Stille, in der das düstere Wort nachzuzittern schien, das er da eben ausgesprochen hatte.
Die Haustür klappte, die Wirtschafterin kam zurück, mit einer großen Kuchentüte in den Händen. Der alte Graumann erhob sich.
»Jetzt wollen wir Kaffee trinken gehen«, sagte er. Seine schweren Augen gingen zu mir herüber. »Trinken Sie vielleicht auch eine Tasse mit?«
Es würde mir unmöglich gewesen sein, nein zu sagen. »Gern, Herr Regierungsrat«, erwiderte ich. Er hielt mir plötzlich die Hand hin. »Danke Ihnen.« Und ich fühlte meine Hand mit einem Druck erfaßt, wie ich mich eines gleichen kaum zu erinnern vermochte.
Die beiden Kleinen trappelten die Treppe hinauf, uns voraus; wir folgten. Und im nächsten Augenblicke also stand ich in dem geheimnisvollen Raum, den das Gemunkel und Geflüster der Stadt wie die Behausung eines bösen Geistes umschlich.
Einer solchen aber sah die Wohnung keineswegs ähnlich; im Gegenteil. Ich hatte selten eine so zum Verweilen einladende Ausstattung gesehen, und das kam daher, daß die Wände von oben bis unten mit Bildern bedeckt waren. »Kupferstiche« hatte die Wirtschafterin in der Stadt verbreitet, aber ich erkannte, daß es keine Kupferstiche, sondern Radierungen waren, und auf Tischen und Stühlen lagen große Mappen, anscheinend mit ähnlichen, noch nicht eingerahmten Blättern gefüllt.
Der Dämmer, der im Zimmer herrschte, ließ mich zunächst nur einen allgemeinen Überblick gewinnen. Erst nachdem die Wirtschafterin die große Hängelampe angezündet und noch mehr Licht gebracht hatte, wurde es mir möglich, das Einzelne genauer zu erkennen. Es waren Alles Stücke von künstlerischem Wert, einige von älteren, die Mehrzahl von neueren Meistern, vorwiegend Landschaften, dann auch ganz fantastische Sachen, mit der zartesten Empfindung, mit dem feinsten Verständnis ausgewählt und zusammengestellt.
So etwas hier in der Stadt, an welcher der große, warme Strom der Kunst vorüberging in weiter, weiter Ferne, kaum vernommen und kaum gesehen! Ich war völlig verblüfft. Als ich mich umsah, stand der alte Graumann hinter mir. Er war unhörbar herangetreten; seine Augen ruhten auf mir.
»Gefallen sie Ihnen?«
»Ja«, versetzte ich; »ich hätte nie geglaubt, daß ich hier am Orte so etwas finden könnte.«
Ein grimmiges Lächeln huschte um seine Mundwinkel, als hätte er sagen wollen: »Das glaube ich«, aber er sagte nichts, sondern ließ den Blick schweigend neben dem meinigen über die Bilder wandern.
»Eine schöne Kunst«, sagte er nach einiger Zeit; »finden Sie auch?«
»Sie meinen – das Radieren?« Er nickte.
»Eine tiefe, stille, einsame Kunst«, fuhr er, wie in Gedanken zu sich selbst sprechend, fort. »Ganz, wie ich mir immer gedacht habe, daß Kunst eigentlich sein muß. So vor seinem Brett sitzen; erst das Bild sich herbeiholen aus seiner Fantasie; dann das Bild ausführen, Strich, Strich nach Strich, so voll Andacht, voll Liebe, voll Liebe. Und darüber Alles vergessen, was da draußen vor unseren Fenstern vorbeiläuft, das ganze Menschenvolk, das da draußen umherstrampelt, in seinen Alltagsgedanken und Eintagsgedanken« – er brach ab.
Es fiel mir ein, was man mir vom Weinkeller des Herrn Kurzer erzählt hatte und von der Figur der Löwenreiterin in dem Keller.
»Herr Regierungsrat üben die Kunst vielleicht selbst aus?« fragte ich.
Ein dumpfes Knurren, beinahe ein Fauchen war die Antwort.
»Wissen Sie nicht, daß ich Beamter gewesen bin? Beamter in Preußen und Kunst machen! Ja! Nicht wahr?« Er schlurfte mit weiten Schritten im Zimmer umher. Dann blieb er stehen. »Wenn ich nicht Beamter gewesen wäre – aber wer's einmal ist, der wird's nicht wieder los. Einmal vielleicht« – Abermals verstummte er, und wieder erschien der schwere, trostlose Blick, den ich schon öfters an ihm bemerkt hatte. Dann schlug er mit der Hand durch die Luft, als wenn er etwas abtun wollte, irgend eine Erinnerung.
»Sie sind Referendar?« fragte er nach einiger Zeit.
»Ich bin Referendar.«
»Wollen also auch Beamter werden.« Er zuckte mit den Achseln, er wiegte das Haupt. »Dann darf Ihnen so etwas« – er warf die Hand nach den Bildern hin – »eigentlich gar nicht gefallen. Liegt seitab vom Weg. Gibt's nicht, darf's nicht geben! Scheuklappen an den Kopf und vorwärts und geradeaus! Nicht rechts noch links gesehen! Vorwärts und geradeaus! Immer die Leiter 'rauf! Immer die Leiter 'rauf! Und das ein Lebenlang« – er fing wieder an auf- und abzugehen, und seine Worte verloren sich in einem unverständlichen Gemurmel, das fast wie Grunzen klang.
Inzwischen war der Kaffee fertig geworden. Die Wirtschafterin räumte behutsam die Mappen von dem großen Tische, der in der Mitte des Zimmers stand und setzte die dampfende Kanne, Tassen und Teller auf.
»Jetzt Kaffee, Kinder, Kaffee!« rief der alte Graumann. Er nahm das kleine Mädchen unter die Arme, setzte es auf einen Stuhl und rückte den Stuhl an den Tisch. Desgleichen den Jungen. Die Wirtschafterin schenkte ihnen die Tassen voll.
»Und jetzt einstippen, Kinder!« sagte er. Er schob ihnen den Kuchenteller zu, und als er sah, daß die Kinder zu schüchtern waren zuzulangen, steckte er jedem von ihnen ein Stück Kuchen in die Hand. Nun kam die Sache in Gang. Ich stand in der dunklen Ecke des Zimmers. Plötzlich faßte mich der alte Mann beim Arm. Mit einem Blick, als sollte ich leise sein, deutete er mit dem Kopfe nach dem Tische hin, an dem die Kleinen saßen, ihren Kuchen in den Kaffee tauchten und eifrig und immer eifriger zu essen begannen. Seine Lippen bewegten sich, so leise, daß ich ihn kaum verstand: »Wie das auftaut! Wie das 'rauskommt aus dem Boden! Wie das Mensch wird!« Als wenn er ein Wunder gewahrte, so blickte er zu den Kindern hinüber. Das kleine Mädchen hatte ausgetrunken. Noch bevor die Wirtschafterin ihm zuvorkommen konnte, war der alte Graumann heran und schenkte ihr die Tasse wieder voll. Dann setzte er sich selbst an den Tisch, den Kindern gegenüber. Das Licht der Hängelampe fiel auf sein Gesicht; sein großes, plumpes Gesicht leuchtete.
»Schmeckt es, Kinder?« fragte er. »Schmeckt es?«
Die beiden kleinen Gesichter erhoben sich zu ihm. Ein glückliches Lächeln strahlte aus ihren Augen. »Ja – gut«, sagte der Junge mit einem Tone des gesättigten Behagens. Der alte Graumann wischte sich mit der breiten, flachen Hand über den Mund. »Und Dir? schmeckt Dir es auch?« wandte er sich an das Mädchen. »Ja, Herr Regierungsrat, sehr gut«, erwiderte die kleine, piepende Stimme.
Der alte Graumann lachte wie ein vergnügter Bär. Er sprang auf, nahm die kleinen Köpfe, einen nach dem anderen, in seine Hände und drückte sie. »Ihr Kinder!« sagte er, »Ihr Kinder!« Dann plötzlich stürzte er ans Fenster, schüttelte die geballte Faust nach der dunklen Straße zu, als stände da draußen jemand. »Ihr Menschen«, brüllte er, »o Ihr – Kanaillen!«
Die Kinder fuhren erschrocken auf. Vom Fenster kam er zu ihnen zurück; er streichelte sie, klopfte sie auf Kopf und Rücken.
»Habt Ihr Taschen an den Röcken? Nein –. Also packen wir den Kuchen wieder in die Tüte. Gehört Euch; nehmt Ihr mit zu Vater und Mutter.« Er raffte die Überbleibsel des Kuchens in dem Papier zusammen und gab sie dem kleinen Mädchen in die Hand. Die Kleinen hatten sich erhoben; er stand vor ihnen.
»Nächstens kommt Ihr wieder zu mir 'rauf. Wollt Ihr wieder zu mir 'rauf kommen? Trinkt Ihr wieder Kaffee bei mir. Wollt Ihr wieder Kaffee trinken?«
Die Kinder standen und blickten stumm und ratlos zu ihm auf. Dann mit unwillkürlicher Bewegung erhob der Knabe den rechten Arm und streckte dem alten Mann die kleine Hand hin. Der alte Graumann legte die kleine Hand in die Fläche seiner rechten Hand und deckte die linke darüber, als wenn er eine Kostbarkeit in seiner Hand verschlösse. »Wir bedanken uns auch schön«, piepte das kleine Mädchen.
Der alte Graumann ließ die Hand des Knaben fahren, drückte die Köpfe der beiden Kinder an einander und sein Gesicht darauf, so daß er beide mit den Lippen berührte. »Ach«, sagte er, »ach, ach, ach.«
Er richtete sich auf und drehte sich nach mir um. »Ich muß mit ihnen hinuntergehen«, erklärte er. »Sie wissen, wegen der Mütze. Sie schenken sich eine Tasse Kaffee unterdessen ein. Nicht wahr? Kuchen ist nicht mehr da. Aber eine Zigarre vielleicht?« Er stellte die Zigarrenkiste vor mich auf den Tisch.
»Gern«, sagte ich, denn ich fühlte, daß er mich noch haben wollte.
Der Regierungsrat trat zwischen die beiden Kleinen, nahm den Jungen an der rechten, das Mädchen an der linken Hand, so zu Dreien verließen sie das Zimmer.
Ich schaute ihnen nach. Wie sie neben ihm einhertrippelten, die kleinen Geschöpfe, immer noch befangen, kaum im Klaren darüber, was sich eigentlich mit ihnen begeben hatte, und doch vertrauensvoll, weil er wie ein Schutzgeist zwischen ihnen ging, der sie vor dem Zorn ihres Vaters bewahren würde! »Der alte, böse Mann« ihr Schutzgeist! Ich hatte Zeit, dem Gedanken nachzuhängen, denn ich blieb eine Weile allein. Wie merkwürdig das Alles! Gestern noch war er mir als eine Spukgestalt erschienen und heute so nahe und so lebendig. Und indem ich dieses Mannes gedachte, dieses sonderbaren, scheinbar aus Widersprüchen zusammengesetzten, erlebte ich, was man erlebt, wenn man zum ersten Male in die Atmosphäre eines ungewöhnlichen Menschen tritt: man bekommt ein unbestimmtes, aber starkes Allgemeingefühl von seiner Persönlichkeit. Ich fühlte, indem ich seiner gedachte, eine Wärme, beinahe eine Glut; nicht anders, als wenn ein Ofen vor mir stände, in dem unausgesetzt ein mächtiges Feuer brannte. Alles, was mir die stummen, heißen Augen angedeutet hatten, wenn ich auf dem Spaziergang an ihm vorüber schritt, bestätigte sich: ein Mensch, der über seinem Innern stand wie über einem brodelnden Kessel; darin herumwühlend in unablässigem Sinnen; Erinnerungen heraus fischend, Gedanken daraus schöpfend. Und das alles stumm, in stummer, verschlossener Brust. Bis daß eine Stunde kam, da ein Mensch ihm erschien, der ihm Vertrauen einflößte. Und da wuchs der dunkle Strom, der sein Inneres durchwogte, wuchs und schlug an die Wände der Brust, als wenn er sie sprengen und durchbrechen wollte. Wie ein dumpfer Ruf erhob es sich aus dem dunklen Strom, wie ein Hülfeschrei: »Höre mich an!«
Sollte ich ihn nicht anhören? Ja – ich sollte, ich sollte.
Durch eine andere Tür, als durch die wir eingetreten waren, durch das Schlafzimmer, das an den Vorderraum anstieß, kam er zurück. Ein Kopfnicken begrüßte mich, als er mich rauchend am Tische sah. Dann, seiner Gewohnheit folgend, durchmaß er ein paarmal schweigend das Zimmer.
»Einmal vor Jahren«, hob er an, »als der Oberpräsident der Provinz Brandenburg eine Inspektionsreise machte und sich seine Beamten vorstellen ließ, hat er mir die Hand gegeben. Eine kolossale Ehre, nicht wahr?« Er war stehen geblieben und sah mit höhnisch zwinkernden Augen zu mir herüber. »Und vorhin, sehen Sie, als der Junge seine kleine Pfote aufhob und nach meiner Hand langte, ist mir zu Mute gewesen, als wenn mir eine zehnmal größere Ehre angetan würde als damals, wo der Herr Oberpräsident mir seine kalte, schwammige Hand zu drücken erlaubte. Mangel an Standes- und Beamtenbewußtsein – das haben sie mir in die Konduitenliste geschrieben, ich weiß es. Sehen Sie, die haben mich erkannt. Es ist wahr; in Preußen, wenn der Mensch Geheimrat wird, wird er bekanntlich klug. Schade, daß ich's nicht geworden bin; hätte vielleicht noch was aus mir werden können.« Unter innerlichem Lachen nahm er seine Wanderung durch die Stube wieder auf.
»Die Menschen«, begann er von Neuem, »da schreiben sie dicke Bücher, haspeln sich die Seele aus dem Leibe in parlamentarischem Geschwätz, ganze Zeitungen schreiben sie voll, wie die Not abgeschafft und der Menschheit geholfen werden kann. Ihr Dummköpfe und flachen Herzen! Steht's nicht geschrieben auf dem Gesicht Eures Mitmenschen? Könnt Ihr's nicht lesen, was da steht, das einzige Mittel, das helfen kann und helfen würde, das Jeder brauchen könnte, wenn Ihr's nur brauchen wolltet: Fülle Deines Nebenmenschen Herz mit Glück!«
Er hatte das so laut gesagt – »gebrüllt« würde der Weinhändler Kurzer gesagt haben –, daß ich mich unwillkürlich im Stuhle aufreckte. Mitten im Zimmer stand er, die glühenden Augen ins Leere gerichtet, den rechten Arm in unbewußter Bewegung emporgestreckt, wie ein Bußprediger der alten Zeit, mächtig, feierlich, ergreifend.
In schweigendem Staunen blickte ich auf den alten, wundersamen Mann. Langsam ließ er den Arm sinken, langsam kamen seine Augen aus der Ferne zurück, zu mir herüber.
»Langweilt Sie das Alles?« fragte er mit schwerem Ton.
»Nein«, erwiderte ich rasch, »durchaus nicht.«
Seine Augen ruhten auf mir wie eine körperliche Last, seine Brust hob sich, er trat einen Schritt auf mich zu.
»Ich muß Ihnen etwas sagen, – Sie gefallen mir.« Dreimal, als wenn er das Wort bestätigen und bekräftigen wollte, nickte er mit dem grauen Haupte vor sich hin. »Wir sind uns manchmal auf dem Spaziergange draußen begegnet. Wenn wir uns begegnet sind, sind Sie immer anders gewesen als die anderen. Die anderen gehen ja fast niemals allein, immer wie die Dohlen, in ganzen Schwärmen, immer schwatzend. Wenn mir so ein Haufen begegnet, stoßen sie sich unter einander an: ›da kommt der verrückte alte Kerl‹ und dann grinsen sie, als sollten ihnen die Gesichter auseinander klappen. Kommt zufällig mal einer allein, dann grinst er, solange wir noch weit voneinander sind, und wenn er nahe 'ran ist, macht er, daß er vorbeikommt, als wenn er sich fürchtete. Sie sind manchmal an mir vorbei gegangen, nicht wie ein flacher, leerer Mensch, der auf nichts Acht gibt, denn Sie hatten mich wohl bemerkt, das habe ich gesehen. Aber Sie haben es gemacht wie ein ernster, nachdenklicher Mensch. Haben nicht gegrinst und sich auch nicht gefürchtet. ›Wirst ihn nicht stören, den alten Kerl‹, so sind Sie an mir vorüber gegangen, aufmerksam und still und anständig. Ich habe das wohl bemerkt. Sie haben's vielleicht nicht gedacht, aber ich habe es bemerkt. Ich weiß, was die Menschen von mir sagen. Aber es ist nur halb richtig, wie Alles immer nur halb richtig ist, was sie sagen, die Menschen, die Alles immer nur von außen ansehen. Ich bin ein Grobian, das ist wahr; aber ich will Ihnen etwas sagen, – nur von außen, – innerlich vielleicht nicht.«
Bei den letzten Worten hatte sich seine Stimme beinahe zum Flüstern gesenkt. Dennoch hatte ich ihn verstanden, und indem ich ihm von der Seite zusah, wie er wieder auf- und niederzugehen anfing, und indem ich an Alles dachte, was ich heute mit ihm erlebt hatte, begriff ich, was er meinte, und gab ihm schweigend Recht.
»Und heute«, fuhr er, hin und her wandelnd fort, »bei dem, was heute geschehen ist, und wie Sie dabei gewesen sind, das hat mir gefallen. Ich muß es Ihnen sagen, hat mir gefallen. Sie hatten es mit angesehen, was sich da anspann mit den beiden Kleinen, die sich ihren Schneemann gebaut hatten, und den rüden Bengeln, die ihnen das Vergnügen störten. Hundert andere wären einfach vorüber gegangen. Natürlich. Sind ja Kinder. Alles Kinderei. Wie wird sich ein vernünftiger Mensch um so etwas kümmern. Ihr Flachköpfe! Wer von den Kindern nicht lernt, von den Erwachsenen lernt so Einer gewiß nichts. Die Erwachsenen sind ja gar keine Menschen mehr. Jeder hat einen Beruf, und der Beruf, das wird seine Natur. Eine wirkliche Natur hat so Einer gar nicht mehr. Das Kind, das ist die Menschenpflanze, wie sie aus der Erde kommt, das hat noch gar nichts anderes als seine angeborene Natur, das ist der Mensch. Wer darin zu lesen versteht, der kann Dinge erfahren – merkwürdige –, die er sein ganzes Leben lang nicht wieder vergißt.«
Wieder verloren sich diese letzten Worte in einem murmelnden Geflüster, und ich fing an zu bemerken, daß dieses Flüstern immer da eintrat, wo seine Worte und Gedanken sich auf ihn selbst richteten. Durch die Schlafstubentür, die bei seinem Wiedereintreten offen geblieben war, konnte ich in das Schlafzimmer hineinsehen. Auf einem kleinen Tische an der Hinterwand, mir gerade gegenüber, hatte die Wirtschafterin, indem sie davonging, eine Lampe aufgestellt, und diese Lampe beleuchtete ein Bild, das darüber an der Wand hing. Ein Ölbild, zwei Knaben darstellend, mit runden, roten Wangen, mit feurigen Augen der eine, der größere, mit schmalem, blassem Gesicht, mit wehmütig bittenden Augen der andere, der kleinere. Das Bild, von dem ich gehört hatte, das ihn darstellte, den alten Graumann, wie er ausgesehen hatte als Kind. Und der andere – sein Bruder? Meine Augen hingen an dem Bilde. Die Dinge, »die man ein Leben lang nicht wieder vergißt« – ob sie im Zusammenhang stehen mochten mit dem Bilde da drüben?
Ob er es bemerkt hatte, daß das Bild meine Aufmerksamkeit fesselte, – ich weiß es nicht; jedenfalls sagte er nichts. Er setzte seine Stubenwanderung und sein Selbstgespräch fort.
»Sie haben es anders gemacht als die andern, sind nicht vorbeigegangen, sind stehen geblieben, haben sich die Geschichte angesehen. Von meinem Fenster habe ich Alles sehen können. Das ist ein Mensch, habe ich mir gesagt, der nimmt die Kinder ernst; denn daß Sie nicht aus bloßer Neugier stehen geblieben sind, habe ich an Ihrem Gesichte bemerkt. Das muß ein Mensch sein, habe ich mir gesagt, der innerlich Zeit hat; denn wer Kindern zusehen will, muß Zeit haben. Darum kann es kein Streber sein, denn ein Streber hat nie Zeit. Das muß ein innerlich feiner Mensch sein, habe ich mir gesagt, denn wer Kinder ernst nehmen will, muß innerlich fein sein. Und das eben ist das Unglück«, – er brach plötzlich wieder in seinen Donnerlaut aus – »daß es so grässlich wenig innerlich feine Menschen gibt! Wenn man so alt geworden ist wie ich, – es ist grässlich, wenn man zurückdenkt und sieht, wie wenig innerlich feine Menschen Einem begegnet sind auf der Welt! Alles so gar nicht da für den Nebenmenschen! Alles nur immer vor sich hinstierend auf den eigenen Weg! So roh, so ordinär, so knotig! Ja, Knoten –, das sind sie, die Menschen, alle, wie sie gebacken sind, Beamtenknoten, Geldknoten, Berufsknoten! Und am knotigsten, wenn sie sich Lackstiefel anziehen, einen Frack darüber hängen und womöglich ein paar Orden dran stecken und sich einbilden, jetzt wären sie fein. O Du Herrgott im Himmel, was für eiserne Seelen, was für erbarmungslose Gemüter laufen unter den schwarzen Fräcken und hinter den weißen Hemdenbrüsten umher! Weil sie eine Hornhaut über ihrem Inneren haben, die immer dicker wird, je weiter sie hineinkommen in das Leben! In dieses Leben, das gar kein eigentliches Leben mehr ist, sondern so eine Art von Wettlauf zwischen zwei Reihen von Schutzmännern, die Acht geben, daß Keiner dem Andern das Portemonnaie aus der Tasche holt und den Andern totschlägt. Und unterdessen wird das da drinnen, was man die Seele nennt, die Menschenseele, was etwas so Schönes ist, wenn es aus Gottes Händen zur Erde herunterkommt, etwas so Zartes, Empfängliches und Empfindliches –, das wird nun immer härter und holziger, bis daß es zur Borke wird, zur fühllosen Borke! Da gibt's keine Augen mehr für das blasse Gesicht, das neben uns hergeht, keine Ohren mehr, wenn etwas neben uns seufzt; da wird zugegriffen, und wenn man dabei einem Andern ins Herz greift, – seine Schuld, warum ist er mir in den Griff gekommen. Da wird drauf los gegangen, und wenn man dabei einen Andern unter die Füße tritt, – seine Schuld, warum ist er mir in den Weg gekommen. Und wenn das zufällig ein Kind war, – ja, Du mein Gott – es ist ja so etwas Kleines; wer hat denn Zeit, auf so ein Pflänzchen zu achten. Und wenn es wirklich einen Tritt abbekommen hat, – na, mein Gott – wird ja nicht dran sterben, ist ja noch so jung, das wächst sich ja Alles wieder aus.«
Er war stehen geblieben.
»Und das ist eben der Irrtum! Das ist nicht wahr! Es wächst sich nicht wieder aus. Es gibt Seelen, die können Fußtritte nicht vertragen. Wenn die einmal wund geworden sind, bleiben sie wund, ihr Lebenlang; ihr Lebenlang.«
Er war an den Tisch getreten, an dem ich saß. Er stützte die Hände auf; das Licht der Lampe spiegelte sich in seinen Augen. Seine Augen gingen über mich hinweg; seine Brust arbeitete, als wühlte darinnen ein Entschluß. Wie ein Gefäß sah er aus, wie ein übervolles, aus dem der Inhalt herauswill, und auf das man den Deckel niederdrückt, weil nichts heraus soll. Ich gab keinen Laut von mir. Verstohlen, von der Seite blickte ich ihn an. Mir ahnte, daß, wenn ich ein Wort spräche, ich die Seele, die da vor mir kämpfte und rang, stören würde, zurückschrecken und wieder stumm machen würde, diese merkwürdige Seele, die hinter Borsten und Stacheln der Außenseite versteckt lag wie ein Geheimnis, weich, beinah hülflos wie ein Kind.
»Sie sind ein Mensch«, fing er wieder an, »der innerlich Zeit hat. Mit solchen Menschen kann man sprechen. Solche Menschen können zuhören. Wollen Sie zuhören?«
Er hatte mich nicht angesehen, indem er sprach.
»Wenn Sie sprechen wollen«, erwiderte ich, »gern; wirklich gern.«
Wieder, wie er vorhin getan hatte, nickte er dreimal mit dem grauen Haupte vor sich hin. Er sah mich auch jetzt nicht an. Vom Tische trat er zurück, in die dunkle Ecke des Gemaches, hinter mich. Ob er stand, ob er sich setzte, ich weiß es nicht. Ich fühlte, daß er nicht angesehen sein wollte; ich sah mich nicht um. Und aus der dunklen Ecke hinter mir, so wie ich es hier wiedergebe, mit allen Kreuz- und Quersprüngen und Sonderbarkeiten, kam nun das, was er mir an dem Abend erzählte, der alte Graumann.
»Es waren einmal zwei Kinder. Zwei Knaben. Brüder. Geschwister. Die Kinder hatten Eltern.
Wenn man so von Eltern spricht, dann klingt das immer, als wäre das so ein Ding, gewissermaßen ein Mensch. In Wahrheit ist das ganz anders. Vater und Mutter sind jedes ein Mensch für sich, und die Menschen sind verschieden. Sehr. Der Vater also von den Beiden war ein Beamter. Ein Jurist. Und Juristen sind noch mehr Beamte als andere. Was ein guter Jurist sein will, das muß denken können wie ein Mathematiker, ganz unkörperlich, was man so abstrakt nennt. Und wer ein ganzes Leben lang so abstrakt denkt, wird es zuletzt selbst; und dann sieht er die Welt wie ein Schachbrett an und die Menschen darauf wie Schachfiguren, die jede ihre vorgeschriebene Gangart haben, im übrigen aber sich nicht unterscheiden, weil sie alle von Holz oder von Elfenbein oder von irgend einer Masse überhaupt sind. Und wenn so eine Schachfigur einen anderen Gang gehen will, als die Regel befiehlt, dann – dann geht das einfach nicht. So eine ist abgeschmackt. Ist abgeschmackt – es gibt ja schlimmere Worte – aber wenn er so vom Gericht kam, die Akten unterm Arm, in seinem schwarzen Gerichtsfrack – denn damals trugen sie ja noch Fräcke – und unzufrieden war mit irgend etwas, dann kam das: »es ist abgeschmackt«, und das war dann jedesmal, als wenn Eis zerhackt würde, und die Eissplitter flogen umher und trafen, wohin es war, in das Gesicht, in die Augen, aber immer dahin, wo es wehe tat.
Er war nämlich ein Rat am Gericht, an einem Oberlandesgericht, und ein sehr angesehener, ein Senatspräsident.
Vielleicht wäre er gern Gerichtspräsident gewesen, und es wurmte ihn heimlich, daß er's nicht war. Denn er war ehrgeizig und stolz und eigentlich furchtbar leidenschaftlich. Aber er zeigte das nicht, hatte sich immer in der Gewalt, wie wenn er immer am Tische säße als Senatspräsident, schluckte Alles in sich hinein. Und so etwas ein Leben lang. Das ist wie eine Feuersbrunst in einem Bergwerk, wo man die Schächte zubaut, damit sie erstickt. Inwendig frißt das doch weiter, und einmal, bei Gelegenheit bricht das doch heraus, und dann wird so etwas fürchterlich.
In seiner Jugend mußte er ein stattlicher Mann gewesen sein, schlank und groß; daher wird es sich erklärt haben, daß er solch' eine Frau bekommen hat, wie er sie gehabt hat. Denn die Frau – das war eine herrliche Frau.
Ich weiß nicht – daß heißt, ich habe es immer scheußlich gefunden, wenn Menschen von ihrer »schönen Mutter« sprechen. Ein Muttergesicht ist ganz etwas anderes als schön, das ist heilig. Ich bin jetzt nahe an die siebzig Jahre und wenn ich denke, wie lange das her ist, daß sie nicht mehr da ist, dann ist mir, als wäre es eine Ewigkeit. Aber noch jetzt, wenn ich so einsam für mich hingehe oder des Nachts liege und nicht schlafen kann, dann sehe ich ihr Gesicht. Dann ist mir wie an dem Tage, als das Bild da gemalt wurde, von den beiden Brüdern. Das war an einem Sommertag. Und da setzte sie sich uns gegenüber, damit wir hübsch still hielten. Ihren Strohhut hatte sie an den Bändern – denn damals banden die Frauen die Hüte noch unterm Kinn zusammen – um den Arm gehängt und eine Häkelarbeit vorgenommen. Und immer über die Arbeit sah sie zu uns hinüber und freute sich und sah so glücklich aus wie später niemals wieder, niemals wieder.
Daß nämlich das Bild gemalt wurde, das war ihr Werk gewesen, das hatte sie durchgesetzt, während er es eigentlich gar nicht hatte haben wollen. Wenigstens, daß auch der ältere von den beiden Jungen auf dem Bilde war, daran lag ihm nun schon gewiß gar nichts, denn –
Aber wie gesagt – denn ihren Willen hatte sie auch; nur daß es eine ganz andere Art war als wie der seine. So eine Art warmer Südwind, bei dem die Geschöpfe aufleben, gegen einen harten, kalten Nordost, der Alles erfrieren macht.
Aber mit dem Bilde, das hatte sie durchgesetzt. Das war ihr ein Bedürfnis gewesen. So etwas liebte sie. Wie sie denn überhaupt gar nicht abstrakt war. Sondern sie hatte etwas, was er nicht hatte, wovon er keine Ahnung hatte, was er gar nicht verstand, Fantasie! Fantasie! Fantasie!
Und damals, als das Bild gemalt wurde, war überhaupt Alles noch gut. Wenigstens so ziemlich. Da saßen die beiden Brüder noch einträchtig beisammen und hatten einander lieb. Während später – aber das ist eigentlich nicht richtig – denn der Kleine hat den Andern immer lieb gehabt, auch später. Aber der andere – – An dem Tage aber war auch der andere dem Kleinen noch gut und hielt ihn an der Hand und sagte: »Schnudri, jetzt mußt Du stillsitzen, sonst kann der Maler Dich nicht malen.« Und da lachte der Kleine. Und wenn er lachte, das war immer so rührend anzusehen, weil es immer aussah, als täte ihm das Lachen eigentlich weh. Und es sah auch gar nicht bloß so aus, sondern wahrscheinlich war es wirklich so, weil der arme, kleine Junge innerlich krank war, was der andere damals freilich noch nicht wusste. Das hat er später erst erfahren, und als er es später erfuhr, war es zu spät; da war Alles vorbei – Alles vorbei.
An dem Tage aber, als er sagte: »Schnudri, jetzt mußt Du still sitzen«, da war der Kleine ganz glücklich. Denn er hörte es so gern, daß der Bruder ihn Schnudri nannte; denn das war ihm ja ein Zeichen, daß ihm der Bruder gut war. Und mehr wollte er ja gar nicht. Nur gut sollte er ihm sein; denn es war eine so zärtliche Seele in dem kleinen Jungen, eine so feine!
Und daß er an dem älteren Bruder hing, das kam vielleicht auch daher, daß er ihn bewunderte. Denn der konnte alles Mögliche, was er nicht konnte. Der war größer und stärker als er und hatte runde, rote Backen und eine breite Brust, und er hatte schmale Backen und eine eingesunkene, kleine Brust. Wenn sie neben einander her gingen, konnte der Schnudri kaum Schritt halten mit dem anderen und fing an zu keuchen. Und dann nahm ihn der andere an der Hand und ging langsamer. Das heißt, das tat er früher; später nicht mehr. Später, wenn er hörte, daß der Kleine neben ihm einher keuchte, tat er, als hörte er es nicht, gab ihm auch nicht die Hand und ging nicht langsamer. Weil er ein Hund geworden war und schlecht, eine Kanaille!
Aber das allein, daß der Bruder größer und stärker war als er, das war es nicht, was das Brüderchen an ihm bewunderte. Sondern es war noch etwas anderes. Nämlich der andere wusste immer sehr schöne Spiele anzugeben, die sie zusammen spielten. Immer fiel ihm was Neues ein, und das dachte er sich dann im Stillen so aus, und dem Kleinen – das war merkwürdig – fiel nie etwas ein. Sondern wenn sie zusammen hinaus gingen in Wald und Feld, oder auch wenn sie bei schlechtem Wetter zu Hause spielten, wartete er immer ganz still und geduldig, was der andere heute Neues angeben würde. Und wenn der es ihm dann gesagt hatte, leuchteten ihm die Augen, und dann mit dem allergrößesten Eifer machte er sich daran, daß er das neue Spiel nur ja recht genau ausführte und so, daß der Bruder zufrieden war.
Da wurde alles Mögliche gespielt. Zum Beispiel »Kaufmann«. Dazu gingen wir am See entlang, an dem unsere Stadt lag. Und an einer Stelle des Ufers lagen eine Masse Kieselsteine. Unter denen suchten wir uns welche aus, und jeder Kieselstein bedeutete ein Geldstück: einen Silbergroschen, ein Fünfgroschen-, ein Zehngroschenstück – damals gab's noch keine Markrechnung – und die schönsten waren Taler. Dann wurde gezählt bis Hundert, und wer bis dahin die schönsten Kiesel zusammengesucht hatte, der war der reichste Kaufmann und hatte gewonnen. Und zu Hause hatten wir einen kleinen Verkaufsladen; den hielt die Mutter unter Verschluß. Da war alles Mögliche drin: Mandeln und Rosinen, Pfeffermünzkügelchen und Lakritzenstangen und Mehlweißchen, was so eine Art Pfefferkuchen war; und mit unseren Kieselsteinen kauften wir uns dann von der Mutter aus dem Laden. Denn die Mutter, die spielte mit uns, aber der Vater nicht. Sondern wenn der dazu kam, störte er uns.
Zwar für gewöhnlich ging er nur ganz rasch durch das Zimmer hindurch, um an seine Akten zu kommen. Aber einmal kam es vor, da blieb er stehen und erkundigte sich, wie das Spiel wäre, und was es für Regeln hätte. Und weil nun, wie das gewöhnlich der Fall war, der Ältere von den Beiden mehr Kiesel gefunden hatte und also mehr kaufen konnte als der Kleine, so sagte der Vater: »Das ist ja abgeschmackt; natürlich ist da der große Bengel dem Kleinen voraus.« Und dabei griff er ohne Weiteres in den einen Kasten, wo die Rosinen und Mandeln waren, und gab dem Kleinen eine Hand voll. Darauf machte der Kleine ein ganz langes Gesicht und sah sich ganz ängstlich nach dem Bruder um, als ob er es nicht annehmen wollte, weil er fühlte, daß das doch alles Spiel zerstörte. Dann aber, wie ihn der Vater unters Kinn faßte und sagte: »Na, was besinnst Du Dich denn, Hänschen« – denn in Wirklichkeit hieß der Schnudri Hans – da nahm er die Rosinen und Mandeln und fing an, davon zu essen. Dabei aber sah er sich immer wieder nach dem Bruder um. Und im Augenblick, als der Vater hinaus war, lief er auf den Bruder zu und legte ihm die Arme um den Hals und sagte ihm ganz hastig ins Ohr: »Das gilt ja nicht; das weiß ich ja; ich habe auch nur ganz wenig Rosinen gegessen und will Alles gleich wieder hineintun.« Und damit lief er auch wirklich zu dem Kasten und tat Alles wieder hinein, was ihm der Vater gegeben hatte. Alsdann so blieb er an dem Kasten stehen, ganz verschüchtert, als hätte er ein Unrecht begangen, und wie er den Bruder so mitten im Zimmer stehen sah und sah, daß der Bruder mit keinem Auge zu ihm hinsah, sondern immer nur an den Boden vor sich hin, da fragte er ganz kleinlaut: »Wollen wir denn jetzt nicht weiterspielen?« Darauf aber schüttelte der andere den Kopf und sagte: »Nein! Und ich will überhaupt gar nicht mehr spielen!«
Und wie der Kleine das hörte, wurde er ganz still, und dann mit einem Male fing er an zu weinen, bitterlich, und lief zu der Mutter hin und steckte den Kopf in ihren Schoß und sagte: »Ich kann doch nichts dafür! Ich kann doch nichts dafür!«
Und der andere – der andere – wenn er damals gewußt hätte, der andere, was er jetzt weiß – daß er den Ton, mit dem es heraus kam, das: »Ich kann doch nichts dafür!« hören und wieder hören würde, ein Leben lang und auch jetzt noch, da er an die siebzig Jahre alt ist, in so mancher, mancher schlaflosen Nacht – dann würde er gekommen sein und weiter mit ihm gespielt haben und gesagt haben: »Nein, nein, Du kleine, Du feine, Du kluge Seele, Du bist nicht schuld, und ich will Dir nicht weh tun und Dir nicht noch mehr aufladen als Dir schon zu tragen gegeben ist.« Aber weil er das Alles damals nicht wusste, kam er nicht und spielte mit ihm nicht weiter. Und auch als die Mutter ihn rief und mit den traurigen Augen ansah und sagte: »Sei doch nicht so häßlich gegen Deinen kleinen Bruder; sieh doch, wie er sich grämt« – auch da kam er nicht, sondern schüttelte den Kopf und lief zur Stube hinaus. Wie ein Hund lief er hinaus, wie ein böser, verstockter. Denn es war ihm auch zumute wie einem Hunde, der einen Fußtritt bekommen hat. Und das war das Wort, das er vorhin gehört hatte: »Natürlich ist da der große Bengel dem Kleinen voraus!« und der Ton, mit dem das Wort heraus gekommen war, der kalte, scheußliche Ton, der ihm jetzt auch noch immer wieder kommt, wenn er Nachts nicht schlafen kann, wie ein Splitter von zerhacktem Eis, mitten hinein ins Herz!
Neben dem »Kaufmannsspiel«, von dem ich gesagt habe, gab es aber noch andere: »Pascher und Grenzsoldat«, »Jagd« und »Post und Reise«, was der Schnudri sehr gern hatte, weil er dabei immer in einem kleinen Wagen gefahren wurde. Und an bestimmten Stellen, wo die »Post« an Hindernisse kam, schmiß der Wagen um; und weil das immer die nämlichen Stellen waren, wusste der Kleine schon vorher, wo er umgeschmissen werden würde, und fürchtete sich immer ein bißchen, aber er freute sich doch noch mehr und bereitete sich vor, und jedesmal gab es dann ein Gequietsche vor lauter Vergnügen.
Das schönste von allen Spielen aber war das »Matrosenspiel«, das konnten wir aber nicht alle Tage spielen, sondern immer nur, wenn der Wind wehte; und je mehr Wind, umso besser. Dann ging es in den Wald hinaus. In dem Walde stand eine alte, große Linde; und auf die kletterten wir hinauf. Die Linde, das war unser Schiff. Darum, wenn wir in die Nähe von dem Baume kamen, kommandierte der Ältere: »Alle Mann an Bord!« und dann krähte der Kleine hinter drein: »Alle Mann an Bord!« und lief, so schnell er laufen konnte, daß er an den Baum und hinaufkam. Aber das wurde ihm jedesmal etwas schwer. Denn obschon die Zweige der Linde ziemlich tief ansetzten, war es doch für den kleinen Jungen zu hoch; darum mußte ihm immer der andere, der vorauf geklettert war und schon in der untersten Gabel stand, die Hand hinunter reichen, und an seiner Hand zog er sich dann hinauf. Alsdann so hieß es: »Matrosen in die Toppen!« und der Schnudri krähte wieder nach. Dann wurde weiter hinaufgeklettert, und der Baum war jetzt unser Mast. Und wenn der Wind den Mastbaum packte und herüber beugte und hinüber, dann war das ein herrliches Vergnügen. Wenn die Äste durch einander rauschten und aneinanderschlugen, dann hieß es: »Die Taue knarren!« und: »Die Taue knarren!« wiederholte der Kleine. »Es ist ein mächtiger Sturm« – »es ist ein mächtiger Sturm.« Dann holten wir unsere Taschentücher hervor und faßten die Zipfel zusammen und hielten sie so, daß sich der Wind hineinsetzte und sie aufbauschte wie kleine Segel. »Jetzt segeln wir!« sagte der Ältere; »jetzt segeln wir!« sagte der Kleine. »Hü – wie das geht!« »Hü – wie das geht!«
Und wenn wir dann eine Zeit lang gesegelt waren, ging es noch einmal den Baum hinauf, immer höher, beinahe bis in die Spitze. Da war es am schönsten. Da zweigten sich mehrere Äste nach rechts und links, so daß eine ziemlich große Gabel entstand. Und wenn wir uns dicht zu einander drängten, konnten wir beide in der Gabel sitzen. Das war die Kajüte. Und da setzten wir uns dann hinein, und der Kleine, weil er sich immer ein bißchen fürchtete, hielt sich mit seinem einen Arm an den Ästen, mit dem anderen schlang er sich um den Bruder, ganz eng, ganz eng. Und wenn er sich so an mich drückte, dann konnte ich sein Herz an meinem Leibe schlagen fühlen; das ging immer so rasch: puck, puck, puck; beinahe als wenn es flatterte wie ein kleiner Vogel, oder als wenn es das Pendel einer Uhr gewesen wäre, die zu rasch lief, zu rasch. Aber das Alles habe ich mir erst später gesagt, als die Uhr abgelaufen war und das Pendel stand. Damals gab ich nicht Acht darauf. Damals war ich ja selbst noch ein Kind, und daran, daß ein Kind sterben könnte, daran denkt ein gesundes Kind nicht. Wenn also nun die Beiden in ihrer Kajüte saßen und der Wind sie wiegte herüber – hinüber, herüber – hinüber, dann nach einem Weilchen fing der Schnudri an und fragte: »Wo fahren wir denn jetzt?« Denn er wusste, daß er so fragen mußte, weil das zum Spiel gehörte. Und dann sagte der andere: »Jetzt fahren wir an Spitzbergen vorbei nach dem Nordpol« oder: »Jetzt fahren wir nach Ostindien.« Und jedesmal wusste der Schnudri, was er darauf zu sagen und zu tun hatte, und das tat er auch immer wie am Schnürchen. Wenn es hieß: »Nach Spitzbergen!« dann fing er an zu schnattern, als wenn ihn fröre, und rief: »Na ja, darum wird es ja auch so kalt! Puh! Und da kommt ja schon ein Eisbär gelaufen! Den müssen wir schießen. Puff – da liegt er.« Dagegen, wenn es hieß, daß wir nach Indien führen, dann fing er an zu schnaufen wie vor Hitze: »Na ja«, sagte er dann, »da sehe ich ja schon die große Stadt Calcutta. Und da kommt ja auch schon der Großmogul. Guten Morgen, Herr Großmogul, wie haben Sie geschlafen?« Und jedesmal, wenn er den Großmogul begrüßte, war ihm das so komisch, daß er lachte, lachte, daß sein magerer, kleiner Körper an meinem Leibe schütterte. Und das Alles hatte sich der Ältere ausgedacht. Immer fuhr er mit dem kleinen Bruder durch die weite Welt, immerfort erzählte er ihm, und Alles, was er erzählte, stand ihm immer ganz leibhaftig vor Augen. »Jetzt fahren wir durch den indischen Ozean«, hieß es; »der ist so blau, daß, wenn man die Hand hinein taucht, kommt sie wieder heraus, als wenn man sie in blaue Tinte gesteckt hätte. Der ist so tief – wohl zwanzigtausend Meilen tief. Und ganz, ganz unten ist es wunderschön. Da sind große Wiesen, aber die sind nicht grün wie die hier oben, sondern ganz blau. Und auf diesen Wiesen gehen die Meermänner spazieren und auf die Jagd. Und wie man hier oben nach Hirschen und Rehen jagt, so jagen sie da unten nach Fischen. Aber natürlich nicht mit Flinten; die würden ja im Wasser nicht losgehen, sondern mit Spießen. Und die Spieße sind ganz von Gold und haben Spitzen von lauter Diamanten. Und jetzt steigen wir aus«, hieß es weiter, »und jetzt sind wir in China. Da laufen die Chinesen herum, und die sind so gelb, daß ihre Köpfe aussehen wie Zitronen, und die Augen darin sind so klein wie kleine, schwarze Rosinen. Jetzt kommen wir an die große Mauer. Und auf der großen Mauer da laufen immerfort die Wächter auf und ab und lassen niemanden heraus und niemanden hinein, wenn er nicht die Parole weiß. Und die Parole, die heißt: ›Plumpudding‹.«
Und jedesmal, wenn der Schnudri das hörte, wurde er ganz schwach vor Lachen und drückte seinen Kopf und sein Gesicht an den Bruder und stöhnte zuletzt, weil er nicht mehr lachen konnte: »Oh – oh – oh!«
»Und weil wir die Parole gewußt haben«, erzählte der andere weiter, »sind wir durch die große Mauer durchgekommen, und jetzt sind wir in einem Wald, der ist so groß, daß er gar kein Ende hat; so groß wie ganz Asien. Und in dem Walde sind alle Tiere, die man sich nur denken kann: Löwen und Tiger, Hirsche und Rehe, Elefanten und Giraffen, und dann noch eines, das ist das merkwürdigste von allen, ein Tier, das es sonst gar nicht weiter gibt, das Einhorn.« Und jedesmal, wenn der Kleine von dem Einhorn hörte, machte er ganz große Augen und hörte ganz lautlos zu. Und der andere beschrieb es ihm dann so genau, als hätte er es eben erst gesehen: »Das ist ein Tier ungefähr wie ein Pferd und ganz weiß. Aber nicht wie ein Schimmel so weiß, sondern viel weißer noch, wie es sich gar nicht beschreiben läßt. Auf der Stirn hat es ein Horn, aber nicht ein so krummes wie das Nashorn eins hat, sondern ganz grade und lang und so spitz wie eine Lanze. Von seinen vier Hufen ist der eine von Gold, der andere von Silber, der dritte ist so schwarz wie eine Steinkohle und der vierte wie einer von den blauen Steinen, wie Mama welche um den Hals trägt.« Unsere Mutter trug nämlich einen Halsschmuck von Amethysten.
Und das Alles sich auszudenken und zu erzählen, machte dem anderen solches Vergnügen, daß er oft gar nicht aufhören konnte und es manchmal beinahe schon dunkel war, wenn sie von ihrem Baume herunterkletterten und alsdann – was hast Du, was kannst Du – machten, daß sie nach Hause kamen. Und mit dem Allen, was er gehört hatte, war der Kleine dann immer so vollgeladen wie eine kleine Kanone, daß er es gar nicht aushielt, sondern losschießen mußte gegen irgend jemanden. Das war dann gewöhnlich die Mutter. Auf die lief er mit ausgebreiteten Armen zu und prustete vor Lachen: »Mama, Mama, weißt Du, wie die Parole heißt, damit sie Einen durchlassen durch die große Mauer? ›Plumpudding! Plumpudding!‹«
Und weil die Mutter sich immer freute, wenn der Kleine vergnügt war, nahm sie ihn dann manchmal auf den Schoß und ließ sich noch mehr von ihm erzählen, und wenn sie dann hörte, was sich ihr Ältester Alles ausgedacht hatte, schüttelte sie manchmal leise den Kopf und sah sich nach ihm um und lächelte. Das war dann jedesmal so merkwürdig anzusehen, halb traurig, halb freudig, aber Alles zusammen so sanft, so schön, so – so – Aber einmal wieder, als der Schnudri auf ihrem Schoße saß und ihr gerade erzählte, was er von dem Einhorn gehört hatte, da erschien der Vater auf der Schwelle von seinem Arbeitszimmer. Es hatte ihn niemand kommen sehen, und erst als er plötzlich sagte: »Von wem hast Du denn all' das dumme Zeug?« da merkten wir, daß er da war.
Alsdann, wie der Kleine stumm wurde, wie er das immer wurde, wenn der Vater zu ihm sprach, faßte er ihn wieder unters Kinn und sagte: »Wer hat Dir denn das Alles erzählt, Hänschen?« Darauf drehte der Schnudri ganz ängstlich das Gesicht zu dem Bruder herum, und der Vater zuckte die Achseln, wie wenn er sagen wollte: »Na ja! – Das ist doch die Abgeschmacktheit in der Potenz«, sagte er darauf zu dem anderen, »daß Du Deinem kleinen Bruder solchen Unsinn vorerzählst! Besser, als daß Du Dich mit Einhörnern und solchem Zeug abgibst, wäre es, wenn Du Dich mit Deinen Rechenaufgaben beschäftigtest. Deine Zensur im Rechnen und Mathematik ist wieder einmal miserabel ausgefallen.«
Darin hatte er nun recht. Denn Mathematik, und was damit zusammenhing, wollte dem Jungen absolut nicht in den Kopf. Darum, als der Vater die Tür wieder hinter sich zugeworfen hatte, stand er wie vor den Kopf geschlagen da. Er schämte sich. Aber nicht darüber, daß er im Rechnen und Mathematik nichts taugte, sondern es war eine ganz andere Scham in ihm, eine viel tiefere, schlimmere. Wie ein heißes Feuer stieg sie in seinem Innern auf und ging ihm über den ganzen Leib, daß er feuerrot wurde von Kopf zu Füßen. Kein Feuer, das den Menschen erleuchtet, sondern im Gegenteil ein rauchiges, das Alles dunkel machte da drinnen. Und der Rauch, der sich damals in der Seele des Jungen entwickelte – wenn ich überlege – ganz hat er sich eigentlich nie wieder verzogen, bis heute, siebzig Jahre lang.
Denn das Schlimmste war, daß er eigentlich nicht sagen konnte, warum er sich schämte. Denn er war ja noch ein Kind. Zwar dem Kleinen gegenüber hieß er ja immer »der Große«. Aber er war noch nicht groß, war auch noch ein Kind.
Immer, wenn er dem kleinen Bruder erzählte von dem indischen Ozean, von dem großen Wald und dem Einhorn im Walde, war ihm das so gegenwärtig gewesen, daß er zuletzt gar nicht mehr fragte, ob es wahr sei oder nicht. Und weil das Alles so etwas ganz anderes war als das, was er in der Schule zu lernen und zu arbeiten hatte, versteckte er es wie eine geheimnisvolle Sache, beinahe wie eine verbotene in sich. Nur dem kleinen Bruder erzählte er es, und dem band er es auf die Seele: »Du darfst niemandem davon sagen, höchstens der Mama.«
Und nun war doch Alles an den Tag gekommen. Und im Augenblick, als es herauskam, war auch gleich so hineingefahren worden. Alles war dummer Unsinn! Darum schämte er sich. Denn er war damals noch zu klein, um sich gegen den Verstand zur Wehr zu setzen, der ihm da gegenüberstand; er wusste damals noch nicht, daß gar nicht Alles Unsinn ist, was solch einem kalten, abstrakten Juristenverstande so erscheint.
Seine Erzählungen, das war ihm immer gewesen wie eine andere Welt, in der er sich vor seinem Vater versteckte und vor seinem Mathematiklehrer. Und nun war das Alles aufgedeckt und gab's kein Versteck mehr. Darum war der schwarze Rauch in ihm, von dem ich gesagt habe; und er grämte sich, grämte sich.
Zwar am nächsten Tage stieg er wieder mit dem kleinen Bruder auf den Baum, und als sie in der Kajüte saßen, wollte er wieder anfangen, zu erzählen. Im Augenblick aber, als er den Mund auftat, war es ihm, als hörte er das von gestern: »Das ist ja die Abgeschmacktheit in der Potenz« – ganz deutlich, mit dem kalten, verächtlichen, gräßlichen Ton – und das Wort brach ihm vom Munde ab; er sah nichts mehr vom indischen Ozean und vom Wald und vom Einhorn, sondern nur noch die graue Schiefertafel zu Hause, wo er ein Exempel zu rechnen hatte. Und als der kleine Bruder ganz schüchtern fragte: »Fahren wir denn heute nicht?« sagte er kurz und wild: »Nein – kann nicht mehr«, und stieg vom Baum hinunter, der Kleine ganz stumm hinter drein, und ging mit ihm nach Hause und sprach auf dem ganzen Wege kein Wort, denn in seinem Herzen war die Verzweiflung.
Und an dem Allen – daß das Alles so gekommen war, das hatte ihm doch eigentlich der kleine Bruder angerichtet. Zwar, wenn er gerecht gewesen wäre, hätte er sich ja sagen müssen, daß der Kleine gar nicht schuld daran war. Der Mama hatte er es erzählt, und das hatte er ihm ja selbst erlaubt, und hatte nicht gemerkt, daß der Vater hinzugekommen war. Weil er sich vor Freude gar nicht zu lassen vermochte, hatte er Alles ausgeschwatzt, aus lauter Bewunderung. Das Alles hätte er sich sagen müssen, wenn er gerecht gewesen wäre. Aber er war nicht gerecht. Er hatte vom Vater das Temperament geerbt, das böse, heftige, während der Kleine sanft war, wie die Mutter. Darum wurde Alles stumm in ihm, was da zum Guten reden wollte, und nur der Groll blieb lebendig, der finstere, verstockte. Der kleine Bruder war doch an Allem schuld. Und von dem Tage an nistete sich in seinem Herzen etwas ein, etwas Schreckliches, so eine Art von Hass gegen den kleinen Bruder.
Eine Art von Hass, mit Neid vermischt. Denn was er schon lange dunkel gefühlt hatte, das wurde ihm nun immer deutlicher: daß der Kleine dem Vater lieber war als er. Vielleicht eben, weil der Vater in ihm das nämliche Temperament spürte, wie in sich selbst, das ihm wahrscheinlich böse Stunden bereitete, von denen er niemandem etwas sagte; während der Kleine, wie ich schon gesagt habe, ganz das sanfte, liebe Temperament von der Mutter hatte. Auch in der Schule war der Kleine ganz anders als der andere; ein viel besseres Lern-Kind; schrieb eine viel sauberere Handschrift, rechnete viel besser, ja sogar sehr gut; brachte auch immer sehr gute Zensuren nach Hause. War mit seiner Kleidung viel ordentlicher, überhaupt in Allem viel gründlicher, so daß es eigentlich gar nicht zu verwundern war, daß der Vater ihn lieber mochte als den Andern.
Aber das ist eben das Leiden in den Kindern, daß sie keine Vernunftgründe haben, um ihrem Gefühle aufzuhelfen, wenn es verwundet wird. Und darum – wer ein Kind in seinem Gefühle verwundet, der begeht ein Verbrechen – ein – ein –
Und darum, weil der Junge fühlte, daß sein Vater häßlich gegen ihn war und lieblos, fing er an, seinen Vater zu hassen. Und in dem Vater auch den kleinen Bruder, den der Vater mehr liebte als ihn. Darum, wenn der Kleine mit ihm spazieren ging und mit ihm spielen wollte, sagte er bei sich: »So – also? Zu Hause bist du schon der Verzug und Hahn im Korbe, und nun bin ich Dir gut dazu, daß ich Dir auch noch zu Gefallen sein soll?« Und dann, wenn der kleine Bruder nach seiner Hand griff und sich daran hängen wollte, zog er die Hand zurück und gab sie ihm nicht. Wenn der Kleine mit den stummen Augen zu ihm aufsah, ob er ihn nicht wieder einmal »Schnudri« nennen würde, nannte er ihn »Hans«, und wenn er wartete und lauschte, ob sie nicht wieder einmal auf den Baum und in die Kajüte steigen und durch die Welt reisen würden, biß er die Zähne auf einander und spielte nicht und erzählte ihm nichts.
Und nun weiß ich nicht, ob der arme, kleine Junge sich dessen bewußt war, was in der Seele des Bruders vorging; aber das eine weiß ich, daß er stiller wurde und trauriger von einem Tage zum andern. Er war ja krank, und solche kranken Kinder – das ist ja, als wenn sie schon vom jenseitigen Licht etwas in den Augen hätten, daß sie wie kleine Hellseher Dinge sehen, allen Erwachsenen verborgen. Wohl möglich darum, daß er wohl geahnt hat, was für ein Wurm an dem Herzen des Bruders fraß. Und wenn er es gefühlt hat, was muß sie dann gelitten haben, die arme, stumme Seele, die kleine! Da er doch fühlte, daß er nicht schuld war und nicht ändern konnte, nicht helfen!
Damals habe ich erfahren, daß die Seelen der Menschen einander ansehen können, ohne daß sie die Augen, mit einander sprechen können, ohne daß sie den Mund brauchen; habe erfahren, daß der Mensch für den Nebenmenschen ein Kraut ist, an dem er sich das Leben essen kann – oder den Tod.
Ja, es gibt solche Seelen, in deren Nähe wir aufblühen; und was man die großen Menschen nennt, sind eben solche, an deren Seele tausende aufblühen, während an dem gewöhnlichen Menschen nur eine oder ein paar. Und es gibt dagegen Seelen, von denen der eisige Frost zu uns herüberweht, so daß wir an ihnen verkommen und verwelken. Und so ist es damals gewesen, daß der kleine Junge verwelkt ist an der Seele seines Bruders, neben der er herging wie ein armer, kleiner Bettler, weil er sie brauchte, und die der andere vor ihm zuschloß wie ein hartherziger Schuft!
Ich habe das Leben kennen gelernt seitdem und Dinge verstehen gelernt, die ich damals nicht verstand. Ich habe es mir wiederholt, tausend und tausendmal, daß er krank war, der Kleine, und gestorben sein würde so wie so. Aber in der schlaflosen Nacht, in der schrecklich geheimnisvollen Stunde, wo uns die Dinge gegenüber treten, so, wie sie sind, wo kein Tageslärm die Stimme des Gewissens übertönt, und kein Sonnenlicht das Nachtgesicht der Reue verdunkelt, da ist das Bewußtsein über mich hergefallen und hat zu mir gesprochen: »Es ist nicht wahr, was Du Dir einredest. Er ist verwelkt und verkommen an Deinem bösen, finstern, harten Herzen, Dein kleiner Bruder, Dein armer, weicher, kleiner Bruder!« Und daß er mir das später ins Gesicht gesagt hat, der Mann – er – der Eishacker – so wie er mir Alles sagte, ins Gesicht hinein, ohne alle Rücksicht, das hat einen Riß zwischen uns gemacht, über den ich nicht wieder hinweg gekommen bin, hat mir mein Leben vergiftet; denn das Leben eines Menschen ist vergiftet, der in Feindschaft seines Vaters gedenkt.
Als nun die Eltern merkten, daß der Kleine immer blässer wurde und immer elender, da natürlich schlossen sie ihn immer zärtlicher in ihr Herz. Und weil sie anfingen, sich um ihn zu sorgen, so forschten sie nach, woher es kommen möchte, daß es so bergab mit ihm ging. Aber zunächst bekamen sie es nicht heraus, denn der kleine Junge sagte nichts. Allen Gram, den ihm der Bruder bereitete, verschloß er in seinem stummen Herzen, und davon wurde das kranke, kleine Herz natürlich noch kränker. Er wollte den Bruder nicht verraten. Immer, wenn der Vater so hart zu dem anderen sprach, dann sah man, wie der Kleine darunter litt, weil er doch den Bruder so lieb hatte. Dann zuckte es ihm durch den ganzen kleinen Körper, und sein Gesicht wurde ganz lang und sah gar nicht mehr wie ein Kindergesicht aus, sondern wie das eines alten Menschen. Und das war jedesmal ein so jämmerlicher Anblick, daß die Mutter es gar nicht mehr mit ansehen konnte; und darum kam es vor, wenn der Vater so heftig, beinahe wütend gegen den anderen losfuhr, daß sie aufstand und sagte: »Aber Graumann« – denn das war merkwürdig, daß sie ihn nie beim Vornamen nannte –, »aber Graumann, denk doch an Hänschen! Sieh doch Hänschen an!« Und dann brach der Vater in seinem Strafgericht ab und nahm Hänschen unters Kinn und streichelte ihn und ging hinaus. Aber dem anderen gönnte er darum doch kein gutes Wort, so daß alsdann die Mutter aufstand und den Kopf des anderen in ihre Arme nahm und ihn küßte. Und dabei weinte sie – weinte, – denn sie fühlte, was sich da anspann zwischen Vater und Kind; daß das etwas Böses, etwas Schreckliches war. Und von da an wurde auch die Mutter immer stiller und immer trauriger.
Eines Tages aber, als der Kleine mit der Mutter allein war, muß ihm doch das Herz übergegangen sein, und er muß der Mutter erzählt haben, wie es zwischen ihm und dem Bruder stand. Und ob der Vater wieder dazu gekommen ist – ich weiß es nicht – aber soviel ist sicher, er hatte es auch erfahren. Und sobald er es erfahren hatte, muß ihm gleich die Wut zu Kopfe gestiegen sein, denn mit einer Stimme, daß das ganze Haus erdröhnte, rief er den anderen herein. Und wie der nun vor ihm stand und ihn nicht ansah, weil er ihn nicht mehr ansehen konnte, sondern den Kopf zur Erde senkte, da muß er sich jedenfalls gedacht haben, daß es ein böser, schlechter, verstockter Bube sei, mit dem man nicht anders sprechen dürfe als mit äußerster Strenge. Und vielleicht, wenn er in dem Augenblicke sanft und freundlich zu ihm gesprochen und ihm vorgestellt hätte, wie unrecht das war, was er an dem kleinen Bruder tat, vielleicht, daß dann Alles geschmolzen wäre, was sich in der verrauchten Seele zu verhärten angefangen hatte, daß Alles noch gut geworden wäre; aber statt dessen ging es gleich in einem Tone los, als wäre jedes Wort ein Peitschenhieb gewesen, der den Jungen zusammenhauen sollte. »Und jetzt auf der Stelle gehst Du mit Deinem kleinen Bruder! Und gehst ordentlich, langsam mit ihm spazieren! Und wenn Ihr nachher nach Hause kommt, erkundige ich mich. Und wenn Du's anders gemacht hast, sprechen wir uns anders!«
Und damit wies er uns hinaus. Und ich mußte den Schnudri an der Hand nehmen, und die kleine, magere Hand zitterte in der meinigen. Sie zitterte! Die Hand des Brüderchens zitterte in des Bruders Hand! Und der Bruder fühlte es, er sah die eingefallenen Wangen und die Augen darüber, mit dem hohlen Blick. Und in seinem Herzen war keine Mahnerstimme, die ihn warnte, vorsichtig zu sein mit dem gebrechlichen, kleinen Geschöpf, in seiner Seele kein Mitleid, kein Erbarmen, sondern nur Gefühl für das eigene Leid und die eigene Beschimpfung und die eigene Kränkung. Und jetzt hatte er es ja vor Augen, daß es der kleine Bruder gewesen war, der ihm das eingerührt hatte. Darum gewann der Teufel Macht über ihn, und in seiner verwilderten Seele stieg ein scheußlicher Gedanke auf: Rache! Er nahm den kleinen Wagen mit, den sie brauchten, wenn sie »Post und Reise« spielten, und sprach kein Wort, und der Kleine ging lautlos neben ihm her. Als sie ins Feld hinausgekommen waren, sagte er: »Wir wollen Post und Reise spielen, setz' Dich ein«. Und obwohl man dem Kleinen ansah, daß er sich fürchtete, wirklich fürchtete, tat er doch ganz gehorsam, was ihm der andere befohlen hatte, und setzte sich still in das Wägelchen. Nur mit den Händen hielt er sich fest an den Seiten des Wagens, beinahe krampfhaft. Aber das hatte der andere wohl bemerkt, die Kanaille, und er dachte bei sich: »Das soll Dir doch nichts helfen«. Darauf nahm er die Deichsel des Wagens in die Hände und fing an zu laufen und den Wagen hinter sich her zu ziehen, immer schneller, immer toller, immer wilder. Und wie das so über Stock und Stein ging und gar nicht den gewohnten Weg, da fing der Kleine an zu merken, daß das gar kein Spiel mehr war wie früher, sondern ganz etwas anderes; er fing an zu weinen und dann zu schreien, ganz laut, ganz kläglich. Aber der andere tat, als hörte er es nicht, und plötzlich an einer Stelle, wo der Kleine es sich nicht versah, mit einem Krach warf er den Wagen um, so daß der kleine Kerl hinausflog und mit Kopf und Gesicht auf die Erde schlug. Und so, mit dem Gesicht an der Erde, blieb er liegen, eine lange Zeit, eine merkwürdig lange Zeit, daß es fast unheimlich wurde. Und als er sich dann endlich aufrichtete, da hatte er eine dicke Beule an der Stirn. Denn an der Stelle, wo der andere ihn umgeworfen hatte, lagen Steine, und auf einen davon war er mit der Stirn aufgeschlagen.
Als der andere das sah, bekam er einen Schreck, und so niederträchtig er auch schon geworden war, so tat ihm das Brüderchen in dem Augenblick doch leid. Darum wollte er ihm die Erde vom Gesicht abwischen und ihm gut zureden.
Aber inzwischen hatte sich der Kleine aufgesetzt und die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf die Kniee gesenkt und schluchzte vor sich hin. Und wie der Bruder herantrat und ihn trösten wollte, schüttelte er den Kopf, als sollte er nicht kommen, sollte nicht kommen. Und wenn er in dem Augenblick aufgestanden wäre und dem anderen eine Strafpredigt gehalten hätte wegen seiner Schändlichkeit, so wäre es nicht halb so schrecklich gewesen wie der kleine, stumme Kopf, der immer hin und her ging, hin und her, so traurig, als wären die Gedanken darin so trostlos gewesen, daß kein Mund sie aussprechen konnte. Darum blieb der andere stehen, wo er stand, und getraute sich kein Wort zu sagen und wartete, bis daß der Kleine von selbst aufstand und anfing, nach Hause zu gehen. Und auf dem Nachhauseweg gingen sie neben einander her; der Kleine faßte nicht nach der Hand des Bruders, sah nicht zu ihm auf, und der andere sah nicht zu ihm hin, und das Schweigen, das zwischen den Brüdern war, redete eine Sprache – eine Sprache –
Zu Hause natürlich wurde die Beule sogleich entdeckt, und es kam auch heraus, wie er zu der Beule gekommen war, und es dauerte nicht lange, so wusste auch der Vater, was geschehen war.
Und da zeigte es sich, wie das ist, wenn ein Mensch seine Leidenschaft immer hinunterschluckt, und die Leidenschaft eines Tages sich nicht mehr halten läßt, sondern herausbricht. Denn für gewöhnlich hatte er so kalte Augen und Züge wie von Stein. Aber an dem Tage, als er gehört hatte, was geschehen war, wurden die Augen – ganz grässlich wurden sie, – die Glieder flogen ihm am Leibe, und wenn nicht in dem Augenblicke die Mutter dazwischen gefahren wäre – mit einem Schrei kam sie zwischen beide – so glaube ich, er hätte den Jungen am Halse genommen und erwürgt. Weil aber die Mutter dazwischenkam, blieb er stehen und wollte etwas sagen. Denn zuerst konnte er nicht sprechen, so furchtbar war die Aufregung in ihm und die Wut. Und endlich sagte er: »Solch ein niederträchtiger Lümmel!« Und als der Junge das hörte und den Vater vor sich stehen sah und fühlte, wie der Vater ihn haßte, da kam etwas über ihn, – als wenn er verrückt geworden wäre in dem Augenblick – als wenn ein wildes Tier in seinem Leibe gesessen hätte und plötzlich herauskam. Da vergaß er, daß der Mann ihm gegenüber sein Vater war, daß der Mann ein starker, erwachsener Mann war, der ihn mit einem Streich in Grund und Boden hätte schmettern können. Er hob beide Fäuste auf und ballte sie und stieß damit in die Luft nach dem Vater hin und schrie, – so laut er konnte, schrie er: »An dem Allen bist Du schuld! Du! Du! Ich habe eine Menge mit dem Schnudri gespielt. Und die Spiele haben ihm immer sehr gut gefallen. Und dann hast Du uns alle Spiele zunichte gemacht. Und aus unserem Laden hast Du die Mandeln und Rosinen genommen. Und hast gesagt, ich wäre ein großer Bengel. Und hast sie an den Schnudri gegeben. Und was ich dem Schnudri erzählt habe von dem Einhorn in dem großen Walde, das wäre alles Unsinn, hast Du gesagt. Und darum kann ich ihm nichts mehr erzählen. Und weiß nicht mehr, was ich mit ihm spielen soll. Und daß das Alles so gekommen ist –«
In dem Augenblick aber stürzte sich die Mutter auf den Jungen. Wie eine Verzweifelte stürzte sie sich auf ihn und hielt ihm die Hände, beide weiche Hände, vor den Mund, – ja – es sind sechzig Jahre her, – und noch jetzt fühle ich, wie weich die Hände waren, die sie dem Jungen vor den Mund drückte. Und als der Junge die Hände an seinem Gesicht fühlte, fing er an zu weinen, zu heulen. Denn er fühlte, was er an dem kleinen Bruder getan hatte, und fühlte, wie grässlich das Alles war, daß er so sprach und schrie, und konnte sich doch nicht helfen, nicht helfen. Und als er so zu heulen anfing, drückte die Mutter seinen Kopf an sich, fest, als wenn sie ihn ersticken wollte mit seinem Weinen. Und ihren Shawl – denn es fror sie damals schon immer so, und darum trug sie auch in der Stube immer einen Shawl – ihren Shawl, den wickelte sie förmlich um dem Jungen seinen Kopf, als wenn sie ihn verstecken wollte. Vielleicht, weil es ihr graute, ihn anzusehen, vielleicht auch, weil sie ihn schützen wollte. Und zu dem Allen sprach sie kein Wort. Nur das Keuchen konnte ich hören, mit dem ihre Brust ging, als sie mich an sich drückte, so fest, so fest, so fest. Dann riss sie ihn fort, aus dem Zimmer hinaus. Als sie mit ihm auf den Flur gekommen war, ließ sie ihn los. Aber es war nicht, als wenn sie ihn freiwillig losließe, sondern die Arme fielen ihr herab, wie von selbst. Und auf dem Flur stand eine Bank. Auf die setzte sie sich. Aber es sah wieder nicht so aus, als ob sie sich freiwillig setzte, sondern als ob sie darauf niederfiele. Ihr Kopf fiel hinten über an die Wand. Sie machte beide Augen zu, ihr Gesicht wurde so blaß, als wenn gar kein Blut mehr darin gewesen wäre, und der Mund ging ihr halb auf, so daß sie aussah wie eine Tote. Als der Junge, der vor ihr stand und immer auf sie hinblickte, das sah, wollte er wieder anfangen zu schreien und zu heulen. Aber da tat sie die Augen auf, riss sie auf, und die Augen waren so verstört, so verstört. Und wollte etwas sagen, konnte aber nicht sprechen, sondern winkte ihn heran. Und da kniete der Junge vor ihr nieder, zwischen ihren Knieen, und umfaßte ihre Kniee mit seinen beiden Armen. Und sie beugte sich auf seinen Kopf, legte die Hände auf seinen Kopf, faltete die Hände auf seinem Kopf. Auf die gefalteten Hände drückte sie das Gesicht. Und dann kam ihr das Weinen. Und so furchtbar weinte sie, so furchtbar, daß ihr ganzer Leib sich schüttelte und zuckte. Und während sie so weinte, sprach sie immer vor sich hin, sie murmelte nur, so daß der Junge nicht verstehen konnte, was sie sagte. Aber es klang, als wenn sie betete. Und sicherlich war es auch so; sicherlich hat sie in dem Augenblick gebetet für die Seele ihres Kindes, für die arme, verlorene Seele. Sicherlich hat sie vorausgesehen in dem Augenblick in die weite, weite Zukunft, in die Zeit, wo sie nicht mehr da sein würde, um ihm zu helfen, um die Einzige zu sein, die ihn noch liebte, und hat geahnt, was für eine Zeit das für ihn sein würde, was für ein Leben! Was für ein Leben!
Nachdem sie alsdann zu weinen aufgehört hatte, tat sie die Hände vom Kopfe des Jungen und legte sie um sein Gesicht und zog seinen Kopf zu sich herauf, so daß sie ihm ins Ohr sprechen konnte, und dann sagte sie: »Weißt Du denn nicht mehr, was ich Dir gesagt habe? Daß Kindern, die nach ihren Eltern schlagen, die Hände aus dem Grabe wachsen? Wie konntest Du denn nur die Fäuste gegen den Papa erheben? Warum bist Du denn jetzt so? So häßlich und böse gegen Deinen kleinen Bruder? Siehst Du denn nicht, wie er sich grämt? Weil er Dich doch so lieb hat! Hänschen ist doch so schwach; also solltest Du doch doppelt gut zu ihm sein. Und stattdessen wirfst Du ihn mit dem Wagen um, so daß er sich Beulen an den Kopf schlägt. Weißt Du denn nicht, daß Du Deiner Mutter das Herz brichst, wenn Du so bist? Willst Du denn das? Hast Du denn Deine Mutter gar nicht ein bißchen lieb?«
Und indem sie so sprach, hielt sie den Kopf ihres Jungen an ihre weiche Brust gedrückt, ein so milder Hauch ging von ihr aus, von ihrem Kleide, ihrem Munde, ihrem ganzen Wesen, beinahe, wie ein Duft von Blumen, und doch noch anders, noch lieblicher, und indem der Junge die holde Luft atmete und ihre sanften, traurigen Worte hörte und daran dachte, wie er sie da eben hatte sitzen sehen, so blaß, beinahe als wenn sie tot gewesen wäre, und eine Ahnung ihm kam, daß das Alles, was er da umfaßt hielt, die Güte, die Liebe, die Mutter, daß ihm das Alles einmal verloren gehen könnte und er dann nichts mehr haben würde, nichts, da kam ihm die Reue, der Kummer, der Jammer, und all' der Neid, der sein Herz verbittert hatte, all' die Verstocktheit, die seine Seele verhärtet hatte, all' das Böse, Schlechte, Niederträchtige wurde noch einmal weich, und er wurde noch einmal wieder gut; denn von Haus aus war er nicht schlecht, war es nicht, – nur Fußtritte konnte er nicht vertragen. Darum, statt daß er vorhin geheult hatte, fing er jetzt an, bitterlich zu weinen, und küßte die Mutter ins Gesicht, immer wieder und noch einmal.
Und weil sie eine so feine Seele war, eine so kluge, eine, wie ich gesagt habe, daß die Menschen daran aufblühen und warm und lebendig werden, so mochte sie wohl fühlen, daß es jetzt nicht gut gewesen wäre, wenn sie dem Jungen noch mehr zusetzte, sondern daß es am besten war, wie es jetzt war. Darum streichelte sie ihm das Haar und küßte ihn und sagte nur: »Und morgen, nicht wahr, gehst Du wieder wie früher mit Hänschen? Und spielst mit ihm? Und bist gut zu ihm? Bist wieder mein lieber Junge?«
Und darauf nickte der Junge, – Alles wollte er tun, Alles.
Und alsdann ging sie in die Stube zurück und kam dann wieder heraus und führte den Kleinen an der Hand mit sich. Dem Kleinen hatten sie inzwischen, der Beule wegen, den Kopf verbunden; und wie das kleine Gesicht unter dem weißen Verbande beinahe verschwand, sah das so jämmerlich aus, so jämmerlich, daß der andere wieder zu weinen anfing. Aber da sagte die Mutter: »Hör' nur jetzt auf zu weinen; morgen ist Hänschens Kopf wieder heil, und dann ist Alles wieder gut. Nicht wahr, Hänschen?« Darauf hing sich der Kleine an ihr Kleid und sah zu der Mutter auf und dann auf den Bruder und dann wieder auf die Mutter und sagte: »Post und Reise will ich nicht wieder spielen.« Und die Mutter drückte ihn an sich, ganz vorsichtig, daß sie ihm nicht wehe tat, und sagte: »Nein, nein, er wird etwas anderes mit Dir spielen. Ihr habt ja noch eine Menge anderer Spiele. Aber jetzt gebt Euch die Hände, gebt Euch die Hände.«
Aber da sah es so aus, als wenn der Kleine sich fürchtete, und es zuckte ihm durch den Leib, wie es immer geschah, wenn der Vater zu ihm sprach, vor dem er sich auch immer fürchtete. Darum nahm die Mutter seine kleine Hand in ihre Hand und winkte den Bruder heran und sagte: »Komm her und gib Hänschen die Hand und sag ihm, Du wirst ihm nie wieder weh tun.« Und unter Stocken und Schluchzen nahm der die Hand des Brüderchens und sprach nach, wie die Mutter ihn geheißen.
Alsdann so setzte sie sich auf die Bank, auf der sie vorhin gesessen hatte; den Schnudri nahm sie auf ihren Schoß, und den anderen winkte sie heran, daß er sich zu ihr setzen sollte, an ihre andere Seite. Mit dem rechten Arme hielt sie den Kleinen an sich, den linken hatte sie um den anderen geschlungen, und so saßen die Dreie, und keines sprach ein Wort, so daß eine tiefe Stille entstand. Und weil es schon Nachmittag gewesen war, als das Alles geschah, und im Flur noch kein Licht angezündet war, so wurde es immer dunkler. Und wie die Mutter so zwischen den beiden Brüdern, ihren Kindern saß, mit dem Kopfe zurückgelehnt an die Wand, immer vor sich hin denkend – wer weiß, was sie da Alles gedacht haben mag –, da schimmerte ihr Gesicht durch das Dunkel ganz weiß, fast schneeweiß, so daß es dem Jungen, indem er zu ihr aufblickte so erschien, als säße da ein Engel zwischen ihnen, wie er sich immer vorgestellt hatte, daß die Engel aussehen müßten, schneeweiß von Kopf zu Füßen und im ganzen Gesicht. Und endlich, nach einer langen Zeit seufzte sie auf, und das klang, als wenn sie fort gewesen wäre, weit fort, und nun zurückkäme. Dann richtete sie den Kopf von der Wand auf, legte die rechte Hand auf den Kopf des Kleinen, die linke auf des anderen Haupt und drückte sie zueinander, daß ihre Stirnen sich berührten, ganz leise, damit es dem Kleinen nicht weh' tat, und auf die beiden Köpfe drückte sie die Lippen, so daß sie beide zugleich berührte, und dann sprach sie, mit einer Stimme, die ganz anders klang als gewöhnlich, so wunderbar, so tief: »Meine Kinder, meine Kinder, denkt daran, was der Herr Christus gesagt hat, der so gut war und ohne Neid – Menschen müssen nicht neidisch sein auf einander, alle Menschen müssen sich lieben. Aber Geschwister noch mehr als alle anderen, die müssen sich noch mehr lieben. Und wenn Geschwister sich nicht lieb haben, kommen sie in die Hölle.«
So sagte sie. Und der Ton, mit dem sie das sagte, der war so wunderbar, so feierlich, daß mir in dem Augenblick war, als spräche Gott selber vom Himmel herab, so daß ich das Wort nie wieder vergessen konnte, sondern es behalten habe, sechzig Jahre lang, ein Leben lang. Und in den sechzig Jahren habe ich erfahren, daß es die Wahrheit gewesen ist, was sie damals sprach, die Wahrheit! die Wahrheit!
Von da an gingen die beiden Brüder wieder mit einander spazieren, neben einander und Hand in Hand, so daß es aussah wie früher. Aber es war doch nicht mehr, wie es früher gewesen war. Denn obgleich Keiner es dem anderen sagte, so war es doch so: sie fürchteten sich vor einander. Der Kleine – das merkte man ihm an und daran konnte man sehen, was für eine feine Seele in dem Kinde war – der Kleine zwar wollte den anderen vergessen machen, was geschehen war, und hing sich an seine Hand und bemühte sich beinahe, Unterhaltung zu machen, wenn er den Bruder so stumm vor sich hingehen sah. Aber wenn der andere eine plötzliche Bewegung machte oder ein heftiges Wort sprach, dann zuckte er unwillkürlich zusammen, durch den ganzen Leib, wie er es früher nie getan hatte. Und das Alles sah der andere, und er merkte daran, daß der Kleine sich zwang, und daß im Grunde seiner Seele das Mißtrauen saß. Und darum war es ihm, als ginge in dem kleinen Bruder sein böses Gewissen neben ihm her, und er getraute sich nicht mehr, die Spiele mit ihm zu spielen, die sie früher gespielt hatten, weil er immer dachte, daß das Brüderchen sich vor ihm fürchten würde. Und an das Erzählen, wie früher in der Kajüte, dachte er schon gar nicht mehr; denn auf seiner Seele lag es jetzt immer wie eine Zentnerlast, wie ein Alb.
Und trotz alledem – wenn damals – denn die Seele eines Menschen, in der es so hergegangen ist, die ist ja wie ein umgestürzter Acker, wo es nur darauf ankommt, was hineingesät wird – wenn damals ein Säemann gekommen wäre, ein kluger, wahrhaft kluger, herzenskluger, und die Saat gestreut hätte, aus der das Heil für die Menschen aufgeht, einzig und allein, Vergebung, Vergebung, Vergebung, statt des tauben, toten Zeugs, was so schöne Schulmeister-Namen hat, Zucht und Ordnung, heilsame Strenge, und wie es heißt – es hätte damals – auch damals noch, Alles – aber –
Und die Gelegenheit war eigentlich so günstig.
Denn dieses Alles, was ich da gesagt habe, hatte sich im Winter zugetragen, nicht allzu lange vor Weihnachten. Und jetzt rückte die Weihnachtszeit heran. Weihnachten aber, das ist eine so wunderbare Zeit. Da werden die Menschen ein paar Tage lang besser. Kinder, die krank gewesen sind, werden gesund, und Kinder, die nicht mehr kindlich gefühlt haben, lernen wieder fühlen, daß sie schließlich doch Alles nur durch die Eltern haben. Denn in der Zeit werden ihnen die Eltern heilig, weil sie mit dem Weihnachtsmann sich unterhalten, der doch eigentlich niemand anders ist als der liebe Gott.
Und so, als der Heilige Abend heranrückte, ging es auch den beiden Kindern, den verstörten. Die Erwartung und die Freude ging in ihren Herzen auf, wie ein Licht; erst nur leise, dann aber immer heller, zuletzt wie ein brennender Lichterbaum, der da drinnen angezündet war, lange vor dem wirklichen. Und vor dem Freudenlichte ging aller Schatten, alles Dunkle aus ihren Seelen, das da hinein gekommen war, und es war, als ob sie sich in dem hellen Lichte wieder fänden, daß der Ältere den Schnudri wieder erkannte, und der Schnudri den anderen.
Statt hinauszulaufen ins Feld, gingen sie jetzt durch die Straßen der Stadt spazieren. In den Straßen war es ja jetzt viel schöner als da draußen. Da waren die vielen Läden mit den herrlich erleuchteten Schaufenstern, und in den Schaufenstern all' die wundervollen Sachen. Namentlich die Spielwarenläden. Vor denen blieben die Beiden schier stundenlang stehen, und Einer machte den anderen auf die einzelnen Herrlichkeiten aufmerksam. Und in ihren Köpfen machten sie sich förmlich ein Verzeichnis, so daß sie am nächsten Tage immer genau wußten, was alles neu hinzugekommen war.
Da kam auch dem Älteren die Lust wieder, sich Geschichten auszudenken und sie dem kleinen Bruder zu erzählen. Wenn sie eine Eisenbahn im Schaufenster stehen sahen, setzte er sich mit dem Schnudri im Geiste hinein, und dann fuhren sie, fuhren immer durch ungeheuer lange Tunnels, wo es pechrabenschwarze Nacht drin war, so daß den Kleinen das Gruseln ankam und er sich an dem Bruder drückte. Oder durch alle Hauptstädte der Welt. Und wenn sie nach Paris kamen, fuhren sie gleich bei einem »ganz berühmten« Hotel vor, wo sie sich ein Mittagessen von mindestens zwanzig Gerichten auftischen ließen. Und wenn sie alsdann nach Haus gingen, sagte der Schnudri: »Jetzt sieh nur, was ich für einen dicken Bauch gekriegt habe; so kolossal haben wir in Paris in dem berühmten Hotel zu Mittag gegessen.« Dabei zeigte er auf seinen Leib, und der kleine Leib war so mager, so mager – denn obschon der Kleine jetzt wieder ganz vergnügt geworden war, wollte es doch körperlich gar nicht wieder mit ihm werden, aber auch gar nicht.
Und eines Tages, als sie wieder an die Spielwarenläden kamen und vor das Schaufenster traten, taten beide zu gleicher Zeit einen Schrei, ja geradezu einen Schrei, obschon sie sich gleich darauf Mühe gaben, ihre Aufregung zu unterdrücken; so ungeheuer war die Wirkung von dem gewesen, was sie da im Schaufenster angekommen sahen: das war nämlich eine Kürassieruniform, Küraß, Helm und Säbel, und sogar noch eine Trompete dazu. Wie das so vor ihnen hing und flimmerte und blitzte, da wurden beide ganz lautlos und standen, und standen, und endlich, wie betäubt, gingen sie nach Haus.
Zu Hause aber – wie das die Art des Kleinen war – lief der Kleine gleich wieder mit ausgebreiteten Armen auf die Mutter zu: »Mama! – Mama!« – Und dann kletterte er ihr auf den Schoß und erzählte ihr ins Ohr, was sie da gesehen hatten von der Kürassieruniform. Und dabei zitterte er vor Aufregung am ganzen Leibe, so daß die Mutter ihn wieder an sich drücken mußte und »rege Dich nicht so auf, Hänschen«, sagte, – »rege Dich nicht so auf.«
Am nächsten Nachmittage aber gingen die Eltern zusammen in die Stadt. Und da zog der Kleine den anderen in die Ecke der Stube und flüsterte ihm zu: »Paß auf, was ich Dir sage, sie gehen und kaufen den Kürassiergeneral!« Denn daß die Uniform nur für einen General sein könnte, das stand für den Kleinen fest.
Und von dem Augenblick an wurde die Kürassieruniform geradezu der einzige Gedanke in den Köpfen der Beiden, so daß sie sogar des Nachts davon träumten. Der Ältere aber faßte den Plan zu einem großartigen Spiele, und als er es dem Schnudri erzählte, wurde der ganz Feuer und Flamme.
Mit einigen von ihren Schulkameraden – natürlich sollten das nur ihre besten Freunde sein, und sie wurden auch gleich namentlich alle festgestellt – wollten sie sich am ersten oder zweiten Feiertag, je nachdem das Wetter sein würde, zusammentun zu einem Spiel »Pascher und Grenzsoldat«. Sobald der Kleine das gehört hatte, fing er vor Entzücken an, auf einem Beine herumzutanzen. »Famos! Und Du bist der General von den Grenzsoldaten.«
Das hatte sich der andere im Stillen auch schon so gedacht; denn die Kürassieruniform war ja, wie es schien, nur einmal vorhanden, also konnte nur Einer von ihnen beiden sie bekommen. Aber der Schnudri war doch eigentlich zu schwach dafür und zu klein, während er sich im Geiste schon sah, wie er mit geschwungenem Säbel durchs Feld galoppierte und seine Soldaten gegen die Pascher anführte. Und dem Schnudri leuchtete das auch gleich so ein, daß ihm gar kein anderer Gedanke kam, zumal doch der andere es wieder gewesen war, von dem der Gedanke zu dem famosen Spiele ausging. Darum war das Einzige, was er sagte, nur, daß er fragte: »Bei welcher Partei soll ich denn aber sein? Pascher oder Grenzsoldat?« Worauf der andere erwiderte: »Natürlich bist Du auch Grenzsoldat, und ich gebe Dir die Trompete, und dann bist Du der Trompeter von den Grenzsoldaten und galoppierst immer neben dem General.« Und wie der Kleine das hörte, wurde er ganz taumelig vor Freude, und galoppierte durch das Zimmer, legte die hohle Hand an den Mund und machte »tütü! tütü!«, als wäre es schon die Trompete. Und obschon die Trompete doch eigentlich nur etwas Jämmerliches war im Vergleich zu der ganzen herrlichen Kürassieruniform, die der andere bekommen sollte, war der kleine Junge doch ganz zufrieden damit, und es schien ihm bloß ganz natürlich, daß der andere die ganze Herrlichkeit bekam, und es war kein Hintergedanke in ihm, keine Bitterkeit, sondern in dem kleinen Leibe war ein Gemüt größer, als das manches Erwachsenen, in dem armen, kranken Körper eine Seele, so schön, so gesund, so rein, und ohne die Krankheit, an der die Menschen kranken, ohne Neid. Ohne Neid! Ohne Neid!
Und so rückte nun der Heilige Abend immer näher, und es waren bis zu ihm nur noch wenige Tage, und täglich standen die Beiden vor dem Kalender und zählten, wie viel Tage noch dazwischen waren. Und der Ältere sagte zu dem Schnudri: »Siehst Du«, sagte er, »das sind jetzt die kürzesten Tage vom ganzen Jahr. Weißt Du, warum sie so kurz sind? Weil sie wissen, daß sie eigentlich ganz überflüssig sind und dem Heiligen Abend bloß den Weg vertreten. Darum machen sie, daß sie so schnell aus der Welt kommen als nur möglich.« Und wie der Schnudri an den Späßen des anderen immer ein großes Vergnügen empfand, so auch an diesem. Darum lief er schnurstracks wieder zu der Mutter und wollte sich ausschütten vor Lachen: »Mama, jetzt gib mal Acht, weißt Du, wer ich bin? Einer von den kürzesten Tagen. Siehst Du, die sind so kurz – ›guten Morgen‹ sagen sie und dann gleich darauf ›gute Nacht.‹« Und damit machte er der Mutter eine Verbeugung und gleich darauf noch eine und lief davon. Aber es war merkwürdig – die Mutter, die sonst immer so froh dreinschaute, wenn sie ihr Kerlchen vergnügt sah, blieb heute ganz ernst, beinah traurig. Ja, es sah beinah so aus, als ob sie verweinte Augen hätte, so daß ich immer bei mir denken mußte, sie hätte da still in ihrem Zimmer über ihrer Arbeit gesessen und vor sich hin geweint. Worüber denn nur? Und dann fiel es mir ein, daß heute Morgen, bevor der Vater auf das Gericht ging, da hatte ich Vater und Mutter so laut mit einander sprechen hören, beinah heftig, als wenn sie sich zankten. Als die Tür aufging, und der Vater heraustrat, hatte ich noch die letzten Worte der Mutter gehört: »Doch nur jetzt nicht! Nur jetzt nicht!« Aber der Vater hatte sich nicht mehr umgesehen, sondern mit dem Hut auf dem Kopf war er davon gegangen, zum Hause hinaus, den Kopf so gesenkt und die Augen in die Erde gebohrt, was immer ein Zeichen war, daß irgend etwas wieder »abgeschmackt« in der Welt war, daß es in dem Bergwerke da drinnen brannte, brannte, brannte. Und ich weiß nicht – aber von dem Augenblick an legte es sich dem Jungen auf das Herz – wie ein Vorgefühl, eine Ahnung, wie etwas Schweres, das ihm das Herz erdrückte, so daß er sich gar nicht mehr freuen konnte, wie er sich bisher gefreut hatte.
Dann endlich, wie nun der Tag gekommen, an dem Abends beschert werden sollte, weil da die Kinder in das Zimmer nicht hineindurften, wo aufgebaut wurde, drückten sich die Beiden im Hause herum; der Kleine immer am Schlüsselloch, um in die Weihnachtsstube hineinzugucken, der andere aber still in irgend einer Ecke. Darauf, als die Mutter aus dem Zimmer heraustrat, und als sie merkte, daß der Schnudri durch das Schlüsselloch geguckt hatte, drohte sie ihm mit dem Finger und lächelte. Aber es war ein so schwaches Lächeln, gar kein recht freudiges, sondern als ob traurige Gedanken dahinterständen. Und wie sie den anderen so dahinten stehen sah, in der Ecke, blieb sie stehen, als überlegte sie etwas, und dann ging sie hin zu ihm, legte den Arm um ihn und ging mit ihm hinaus, in ein anderes Zimmer, wo sie mit ihm allein war. Da ging sie mit ihm auf und ab, sagte erst gar nichts, und endlich fing sie an, und man hörte, wie schwer es ihr wurde.
»Heut ist nun Weihnachten«, sagte sie, »und das, was ich Euch neulich gesagt habe, als ich mit Euch auf der Bank saß, nicht wahr, das hast Du behalten? Daran wirst Du denken? Nicht wahr? Und mein lieber Junge sein? Daß Menschen nicht neidisch sein sollen auf einander? Und Hänschen ist noch so schwach; ein krankes kleines Kind. Und so einem armen kranken Kinde dem tut man doch gern etwas besonders Gutes an. Und das begreifen die anderen. Nicht wahr?« Dann schwieg sie. Und es war, als wenn sie eigentlich noch mehr hätte sagen wollen, als ob sie aber nicht recht gewußt hätte, ob sie es sagen sollte. Beinah als wenn sie sich davor fürchtete. Und weil der Junge auch nicht wusste, was er erwidern sollte, so gingen sie noch eine Weile stumm mit einander auf und ab. Und dann blieb sie stehen, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn auf den Kopf. Ganz schwer drückte sie die Lippen darauf, und es war ein so langer, langer Kuß – beinah, wie wenn man jemand küßt, den man vor einer schweren Gefahr weiß, oder von dem man Abschied nimmt. Ja – wie wenn sie Abschied nähme – so war es. Denn während ihm sonst immer zumute war, als küßte ihn das Leben selbst, wenn die Mutter ihn küßte, ging es heute wie ein kalter Strom von ihren Lippen durch ihn hin, vom Kopf bis zu den Füßen.
Und nun endlich, als es dunkel geworden war, kam die Mutter und kleidete die Beiden zur Bescherung an, in ihre Sonntagssachen. Der Vater war im Zimmer geblieben, und aus dem Zimmer erscholl jetzt eine Klingel, was so viel heißen wollte als: »Jetzt könnt Ihr kommen.« Und die Klingel, die tönte so kurz, so grell und gar nicht wie eine freundliche Einladung, sondern wie ein Befehl. Darauf nahm die Mutter die Beiden an der Hand, und so mit ihnen ging sie hinein.
Als wir eintraten, war das ganze Zimmer ein Meer von Glanz. Alle Lichter brannten. Aber vor dem strahlenden Baume stand es wie ein Schatten; das war der Vater in seinem langen, schwarzen Gehrock. Er war ja von Natur lang und groß, heute aber sah es aus, als wäre er noch länger gewesen als gewöhnlich. Die Mutter ließ die Hände ihrer Jungen los und ging auf die andere Seite des Zimmers hinüber, die Beiden aber blieben auf der Schwelle, weil sie sahen, daß der Vater zwischen ihnen und dem Baume stehen blieb. Er wollte ihnen zuvor noch einige Worte sagen, und das tat er denn auch. »Bevor Ihr an Eure Tische tretet«, sagte er, »wünsche ich, daß Ihr Euch überlegt, was Weihnachten bedeutet. Weihnachten bedeutet das Ende eines Jahres, und wenn ein Jahr zu Ende geht, sollte sich ein Jeder Rechenschaft geben, wie er sich im Laufe des Jahres verhalten hat, ob er Anlaß zur Zufriedenheit gegeben hat oder zur Unzufriedenheit. Und ob das Erstere oder das Letztere der Fall gewesen ist, das wird ein Jeder an dem erkennen, was er am Weihnachtsabend geschenkt bekommt. Und darnach möge dann ein Jeder sich für das nächste Jahre einrichten und ernste, feste Entschlüsse fassen, damit, wenn im abgelaufenen Jahre nicht Alles so gewesen ist, wie es hätte sein sollen, dieses im nächsten Jahre anders und besser wird.« Und während er beim Beginn seiner Ansprache die Beiden angesehen hatte, als spräche er zu beiden gemeinsam, richtete er die letzten Worte ganz ausschließlich an den Älteren, an den Großen. Und unter seinen Worten stand der Junge mit gesenktem Haupt; die Worte gingen über ihn hin wie ein eisiger Strom, und trotz der Wärme, die von dem brennenden Baume kam, fing er an zu zittern, wie im Frost. Denn hinter all' dem Licht und dem Glanz stieg ihm die Erinnerung wieder auf an all' die schrecklichen Dinge, die da gewesen waren, die da untergetaucht waren unter der Erwartung, der Freude, und die nun wiederkamen, wie etwas, was immer da sein würde, vor dem es kein Entrinnen gab.
»Und nun kommt heran«, sagte der Vater, und damit trat er auf die Seite.
Im Augenblick aber, als er zur Seite trat und die Aussicht auf den Baum frei machte, kam ein Jubelschrei, als ob das ganze Zimmer bersten sollte. Von dem Schnudri kam das her, und es war geradezu merkwürdig, daß der Kleine so viel Kraft in der Lunge hatte, um solch einen Laut von sich zu geben. Unter dem Weihnachtsbaume flimmerte, funkelte und blitzte es; das war der Kürassiergeneral, Küraß, Helm und Säbel; auch die Trompete fehlte nicht, und das Alles lag auf dem Kleinen seinem Tische. Solch ein Entzücken nun wie damals an dem kleinen Jungen habe ich mein ganzes Leben lang bei keinem Menschen gesehen. »Der Kürassiergeneral«, schrie er, »der Kürassiergeneral!« Dann galoppierte er rund um die Stube, flog auf den Vater zu und kletterte an dem hinauf, lief auf die Mutter zu, sprang ihr auf den Schoß und küßte sie, wie nicht gescheit. Und von der Mutter zu dem Bruder, den er mit seiner Umarmung anlief, als wenn er ihn umreißen wollte. Er hatte eben gar nicht an die Möglichkeit gedacht, daß er die Uniform bekommen könnte, darum war seine Überraschung so ungeheuer groß; der andere würde sie bekommen, so hatte er gedacht. Und der andere hatte sie nicht bekommen. Auf dessen Tisch lagen ein paar Bücher, die er für die Schule brauchte; auch eine Reisebeschreibung, eine vernünftige, in der vom Einhorne nichts stand, dann noch einige nützliche Gegenstände – und weiter nichts. Von Spielsachen nichts.
Und vor dem Tische stand er nun, und das weiße Tischtuch, das von den paar Büchern kaum zugedeckt wurde, sah ihn an wie ein blasses, weißes, leeres Gesicht, in dem nur eins zu lesen war: Vorwurf, Vorwurf. Er konnte sich kaum entschließen, eins der Bücher zu berühren. Endlich tat er es doch, weil er den Blick des Vaters auf sich gerichtet sah, weil er sich fürchtete und sich schämte. Denn die schreckliche Scham von damals war wieder in ihm; das rauchige Feuer, das Alles dunkel in ihm machte, dunkel. Und unterdessen sah er, wie der kleine Bruder schier närrisch vor Freude herumtanzte. Und da kam ihm ein ganz sonderbares Gefühl, – als gehörte er gar nicht mehr mit dem kleinen Bruder zusammen, als wären sie gar nicht Brüder mehr, als wäre der Kleine das Kind seiner Eltern, er aber nicht mehr, sondern als wäre er ganz fern von dem Allen hier, ganz wo anders, ganz da draußen, ganz allein. All' diese Gedanken, all' diese Vorstellungen, das ging ihm durch den Kopf, als wenn schwarze Flügel ihm um die Ohren schlugen. Darum fühlte er zunächst kaum einen Kummer, überhaupt nichts Bestimmtes, sondern nur eine dumpfe Betäubung.
Und wie er so stand und gar nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte, fühlte er, wie sich von hinten zwei Arme um ihn legten, das waren die Arme der Mutter, und wie sich ein Gesicht an sein Gesicht schob, das war wieder die Mutter, und sie flüsterte ihm ins Ohr, so leise, als ob niemand außer ihm es hören sollte: »Du bist mein lieber Junge – das weißt Du – nicht wahr?« Aber er regte kein Glied, er konnte nicht, denn zum ersten Mal im Leben war ihm auch die Mutter fremd geworden, und nichts war in ihm als eine Angst und ein kaltes Grausen. Darum, als die Mutter ihm weiter sagte: »Komm mit mir, der Vater erwartet, daß Du Dich bedankst«, setzte er keinen Widerstand entgegen, sondern ließ sich führen, ganz willenlos, ganz mechanisch – ja – mechanisch – denn heute noch fühle ich, wie das war, als er die paar Schritte da hinüberging zu dem langen, schwarzen Mann in dem langen, schwarzen Rock. Wie wenn Einem die Füße eingeschlafen sind, so daß man sie gar nicht fühlt, sondern immer denkt, sie müßten unten Einem abbrechen wie Stücke Holz, so war das.
Der Vater hatte sich in den Armstuhl gesetzt und die Zeitung vorgenommen. Als nun die Mutter mit dem Jungen zu ihm herantrat, ließ er die Augen nicht von der Zeitung, drehte sich auch nicht herum, sondern sagte nur: »Nun?« Darauf sagte die Mutter für mich: »Er will sich bedanken.« Der Vater las in seiner Zeitung weiter und zuckte mit den Achseln, und das sah so aus, als wollte er sagen: »Das glaube ein anderer.« Alsdann, nach einiger Zeit ließ er die Zeitung sinken, wandte sich herum und sagte: »Daß Du im Rechnen kein Held bist, brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen. Trotzdem, was ein Defizit ist, das wirst Du doch wohl wissen? Und dann wird es Dir auch klar sein, daß dieses Jahr mit einem gehörigen Defizit abschließt. Laß Dir das jetzt als eine heilsame Lehre dienen für das kommende Jahr und sorge dafür, daß das nächste Jahr besser abschließt.« Und nachdem er das gesagt hatte, nahm er seine Zeitung wieder auf und fing an, weiter zu lesen. Der Junge aber, als er hörte, daß der Vater nicht weiter sprach, richtete das Haupt auf, das er bis dahin gesenkt gehabt hatte, und als er sah, daß der Vater ihn nicht mehr ansah, sah er ihn von der Seite an, und da war es ihm, als ob es nie auf Erden ein menschliches Wesen geben würde, vor dem er solches Entsetzen empfände wie vor dem Manne, der da saß, und der sein Vater war. Darum, ganz still ging er in eine Ecke, hinter dem Baume, und setzte sich dort hin und sah auf den Lichterbaum und in der Stube umher und auf die Menschen da vorn, und es kam ihm vor, als wäre das eine ganz andere Stube als früher, als wären das Menschen, die er gar nicht kannte, und als wäre das Alles, was er erlebte, ein gräßlicher, gräßlicher Traum.
Von seiner Ecke aus sah er dann, wie die Eltern dem Schnudri den Küraß anlegten, den Säbel umschnallten und den Helm aufsetzten. Aber der Körper des kleinen Jungen war viel zu mager und dürftig für die Sachen, so daß sie ihm alle nicht paßten. Der Helm rutschte ihm beinahe über das kleine Gesicht, der Küraß und das Säbelkoppel waren zu weit; die Sachen waren eben auf einen größeren Jungen berechnet. Und als er sah, daß der Kleine ein betrübtes Gesicht machte, freute er sich. Den Kummer des kleinen Bruders zu sehen, das war an dem Heiligen Abend seine Weihnachtsfreude.
Aber die Mutter wusste der Sache abzuhelfen. Sie holte rasch ein paar alte Zeitungen herbei, stopfte davon einen Ballen in den Helm, ein paar Ballen unter den Küraß, dann holte sie einen Hammer und einen runden Nagel und schlug damit noch ein paar Löcher in den Riemen des Säbelkoppels und als nun die Sachen dem Schnudri wieder anprobiert wurden, saß Alles wie angegossen, und der kleine Kerl stand mitten im Zimmer und strahlte vor Wonne und Vergnügen, daß sein Gesicht fast noch heller glänzte als der Küraß, in dem die Lichter spiegelten. Und wie er da stand – unterm Weihnachtsbaum – so froh, so glücklich, ohne eine Ahnung, daß jemand es ihm mißgönnen könnte, weil er selbst von Neid nichts wusste, so sehe ich ihn stehen, immer noch, heute noch, nach sechzig Jahren noch, den Kleinen, das Brüderchen, dem er seine Freude nicht gönnte, – seine unschuldige Freude, die auch seine letzte sein sollte – in seinem armen, kleinen unschuldigen Leben – der andere – die Kanaille, der Satan, der Hund!
Und bis dahin war der Kleine so von der eigenen Freude erfüllt gewesen, daß er noch an gar nichts anderes hatte denken können. Erst nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, fiel ihm der Bruder wieder ein, und er ging an dessen Tisch, um zu sehen, was der Schönes bekommen hatte. Und als er vor dem Tische stand und sah, wie traurig der aussah, wurde er ganz still, und sein Gesicht wieder ganz alt, und über den Tisch hin blickte er in die Ecke, hinter dem Baume, wo er den anderen sitzen sah. Da wurde er ganz ratlos; das konnte man an seinem Gesichte wahrnehmen. Es fiel ihm ein, was zwischen ihm und dem Bruder verabredet worden war, daß sie mit den Schulkameraden »Pascher und Grenzer« spielen wollten, und daß der andere der General hatte sein sollen – und nun war es so gekommen, und das Alles war doch nicht mehr möglich.
Was sollte denn nun werden? Er wusste sich keinen Rat. Er grämte sich für den Bruder – das sah man ihm an. Daneben aber konnte er doch die Freude nicht unterdrücken, daß er die Uniform bekommen hatte – das sah man ihm auch an. Und plötzlich, weil er den Drang fühlte, irgend etwas zu tun, trat er hinter den Baum, zu dem Bruder, und ohne ein Wort zu sagen, bot er ihm die Trompete an, die er in Händen trug. Die wollte er ihm schenken; so hatte er doch etwas. Und nun war das ja von dem Kleinen so gut gemeint, wie nur möglich, aber es kam zur unrechten Zeit. Denn dem anderen, der auch daran gedacht hatte, wie er als General den Kleinen zu seinem Trompeter hatte machen wollen, und der schon zu den Schulkameraden geprahlt hatte, wie er morgen als Kürassiergeneral erscheinen würde, kam es vor wie eine furchtbare Beschimpfung, daß er nun vorlieb nehmen sollte mit dem elenden Ding da, der Trompete. Wie ein Almosen erschien es ihm, das der Kleine, der Alles bekommen hatte, ihm hinwarf, wie einem Bettler. Darum, als der kleine Bruder ihm die Trompete hinhielt, riss er sie ihm aus der Hand, – wie ein böser Affe riss er sie ihm aus der Hand. In seinem Herzen war eine Wut, ein Hass und ein Neid – mit beiden Händen packte er die Trompete, um sie zu zerbrechen, und weil er sie nicht zerbrechen konnte, verbog er sie, so daß sie einen Knick bekam und nicht mehr zu gebrauchen war. Das Alles geschah ganz lautlos, so daß die Eltern nichts davon hörten und sahen. Nur der kleine Bruder sah es, und der wurde leichenblaß, als er es sah, und wollte aufschreien. In dem Augenblick aber kam dem anderen das Bewußtsein, was er getan hatte, und die erbärmliche Angst vor dem Manne im langen, schwarzen Rock, und unwillkürlich sah er hinüber, wo der saß, ob der auch nichts gesehen hätte. Und als der kleine Bruder den Blick gewahrte, schluckte er den Schrei hinunter, den er hatte tun wollen. – Solch ein Kind war das! Solch eine Seele war in dem kleinen Kind! Schluckte den Schrei hinunter, schluckte Alles hinunter, Schreck, Kummer, Jammer und blieb ganz still, ganz lautlos, und nahm die verbogene Trompete rasch wieder an sich und stopfte sie irgendwohin, versteckte sie, daß niemand sie finden, niemand sehen sollte, was der andere getan hatte, niemand den Bruder strafen sollte! Nur sprechen konnte er an dem Abend mit dem Bruder nicht mehr, kein Wort, kein Wort. Mit dem Bruder nicht mehr, und überhaupt mit niemand mehr, sondern er wurde ganz still; lachte nicht mehr und freute sich nicht mehr, und so blaß, wie er in dem Augenblick geworden war, als der andere ihm die Trompete verbog, so blieb er den ganzen Abend. Nur von Zeit zu Zeit sah er nach der Ecke hin, wo der Bruder war, und immer, wenn er es tat, war eine Angst in seinen Augen, eine Angst –
Und, wie gesagt, das blieb den ganzen Abend so, ja, es wurde eigentlich immer schlimmer. Wie ein armes, kleines Tier, das den Raubvogel über seinem Kopfe sieht, oder irgend etwas Schreckliches wittert, das nach ihm blinzelt, so war es mit dem Kinde, so daß er am ganzen Leibe zitterte, als die Mutter ihm sagte: »Jetzt, Hänschen, denk' ich, gehen wir zu Bett!« Und als sie ihm den Helm abnahm und den Küraß und den Säbel, fing er plötzlich an, lautlos zu weinen. Lautlos, wie solche kranke Kinder weinen. Und als die Mutter ihn an sich drückte und fragte: »Warum weinst Du denn, Hänschen?« sagte er: »Aber morgen gehört sie mir doch wieder?« Darauf lächelte die Mutter, und als sie fühlte, wie er zitterte, setzte sie sich und nahm ihn auf den Schoß: »Wem soll sie denn sonst gehören? Freilich doch gehört sie Dir. Meinst Du denn, es wird jemand kommen, sie Dir wegnehmen?« Und so etwas Ähnliches war es gewiß, was er meinte; aber er sagte es nicht, sondern drückte seinen kleinen Kopf an die Mutter, und allmählich hörte er auf, zu weinen.
In der Nacht aber – die Brüder schliefen nämlich in einem und demselben Zimmer, und für gewöhnlich schliefen sie ein, sobald sie sich hingelegt hatten – in dieser Nacht aber konnte der andere nicht einschlafen, weil ihn die bösen Gedanken wach hielten. Und wie er so wach dalag, merkte er, daß auch der Kleine nicht schlief, sondern es war, als wenn er immerfort lauschte und horchte. Als wenn er immerfort in Angst gewesen wäre, daß plötzlich etwas Schreckliches geschehen würde, daß jemand kommen und ihm seine Uniform wegnehmen würde, so war es. Und als es ganz tief in der Nacht und im Hause Alles ganz still war, da muß in dem Weihnachtszimmer irgend eine Tür aufgestanden und zugeklappt, oder irgend etwas gefallen sein, – es kam von dem Weihnachtszimmer ein Geräusch.
Im Augenblick also, wie das Geräusch kam, war der Kleine in seinem Bette auf und aus dem Bette heraus, und so, wie er war, im Hemd und ohne Schuh und Strümpfe, lief er aus dem Schlafzimmer hinaus, auf den dunklen, kalten Flur hinaus und in das Weihnachtszimmer hinüber. Gleich darauf kam er dann wieder, und wie er ging, klipperte und klapperte etwas, und da war es der Helm, der Küraß, der Säbel, die ganze Kürassieruniform, die er mit sich schleppte und die er auf sein Bett legte und zu sich unter die Decke nahm, als wenn er gemeint hätte, daß er anders nicht sicher gewesen wäre und doch jemand kommen und sie ihm fortnehmen würde.
Und dieses Alles machte er so leise, als er nur konnte. Kaum einen Laut gab er von sich. Nur als er wieder in sein Bette kroch, konnte man hören, wie es ihn schauderte und fror, daß ihm die Zähne im Munde klapperten. Und dieses Alles hörte der andere, und weil das Laternenlicht von der Straße ins Zimmer schien, konnte er es auch sehen. Und auch er gab keinen Laut von sich. Unter seiner Decke lag er zusammengeringelt wie ein böses Tier, und Alles, was er dachte, war nur, daß es kindisch war, was der Kleine tat, kindisch und lächerlich. Und wenn er voraus hätte sehen können in die Zukunft, so würde er gewußt haben, daß einmal eine Zeit kommen würde, wo er sein halbes Leben dafür hingegeben hätte, wenn er in der Nacht aufgestanden wäre und dem kleinen Bruder gesagt hätte: »Fürchte Dich nicht! Ich will Dir Deine Sachen nicht nehmen. Und wenn Du Dich vor mir nicht zu fürchten brauchst, brauchst Du es vor keinem anderen. Denn alle anderen gönnen Dir ja Deine Freude.« Aber er kam nicht und sagte nichts, sondern in seinem Herzen war nur der giftige Neid, als er sah, wie der Kleine das Alles zu sich ins Bett nahm, wonach er verlangt hatte, weil es dem Kleinen gehörte und nicht ihm, dem anderen.
Darauf nun, am nächsten Tage, was der erste Weihnachtsfeiertag war, kamen die Schulkameraden, mit denen sie sich verabredet hatten, daß sie zusammen »Pascher und Grenzer« spielen wollten. Der Schnudri hatte seine Kürassieruniform angelegt, denn es machte ihn doch ungeheuer stolz, sich so zeigen zu können. Für den anderen aber, als er sah, wie die Jungen sich erstaunten, als sie den Kleinen mit der Uniform sahen und nicht ihn, für den war das ein fürchterlicher Augenblick. Sie fragten ihn ja nicht geradezu, aber er las es doch in ihren Augen: »Warum hast denn Du sie nicht gekriegt?« Erklären konnte er ja nichts; dazu hätte er Dinge erklären müssen, die er selbst kaum verstand. Darum, wie nun ein allgemeines, verlegenes Schweigen entstand, ging ihm wieder die Scham über den Leib, vom Kopf bis zu Füßen, daß er blutrot wurde. Ihm war, als wenn man ihn mit der Faust auf den Kopf geschlagen hätte, so daß er den Kopf gar nicht erheben konnte. Und so zogen sie denn ins Feld hinaus und waren alle ganz still.
Als sie hinausgekommen waren, blieben sie alle stehen, als wenn sie sich beraten wollten, aber niemand wusste etwas zu sagen. Alle sahen auf die beiden Brüder, namentlich den Älteren, was der sagen würde, weil er es doch immer war, der bei den Spielen Alles angab; aber weil der nichts sagte, sagte auch kein anderer etwas.
Endlich fragte Einer: »Aber, wer soll denn nun General sein?« Darauf zeigte der Ältere auf den Kleinen und sagte: »Na, wer? – Da steht er ja.« Das sagte er aber nicht in gutem Sinne, sondern aus Bosheit, weil es ihm wie ein Hohn vorkam, daß der Kleine der Anführer sein sollte und weil er wusste, daß die anderen es auch so aufnehmen würden. Und so war es auch. Denn der Schnudri war ja beinah der kleinste und schwächste von Allen. Darum erschien es den übrigen Jungen wie eine Beleidigung, daß er sie kommandieren sollte. Und außerdem erschien es ihnen überhaupt ungerecht, daß er solch eine schöne Uniform bekommen sollte. Denn unter den Jungen war es eine allgemeine Ansicht, daß der Kleine ein verzogenes Muttersöhnchen wäre, weil sie doch nicht wußten, daß er krank war. Oder, wenn sie es gewußt hätten, würden sie vermutlich doch keine Rücksicht darauf genommen haben. Denn darin sind ja die Jungen wie die Tiere in einer Herde; wird ein Stück krank, so gehört es nicht mehr zu ihnen. Aber Rücksicht darauf nehmen – das gibt es nicht.
Darum, als der andere gesagt hatte: »Da steht er ja«, wurde ein allgemeines Gemurmel unter den Jungen, und der eine, der vorhin gefragt hatte, sagte: »Na, das wäre mir auch ein schöner General.« Und wie er das gesagt hatte, wurde aus dem Gemurre ein allgemeines Gejohle, und der Kleine stand ganz verdonnert mitten unter den anderen, weil er merkte, daß sie alle gegen ihn waren, und weil er doch auch fühlte, daß er zu schwach war, um sie anzuführen. Und wie er so dastand und den Kopf hängen ließ, trat Einer auf ihn zu und sagte: »Weißt Du, was Du tun solltest? Deine Uniform solltest Du ausziehen, und sie Deinem Bruder geben; denn für den paßt sie doch viel besser als wie für Dich.« Darauf stimmten alle die Übrigen mit »ja! ja!« dem bei. Der Kleine aber verzog das Gesicht, als wenn er zu weinen anfangen wollte, und drückte die Hände über der Brust zusammen, wie um seinen Küraß fest zu halten, weil er doch um alle Welt die schöne Uniform nicht hergeben wollte. Der andere aber, wie er gehört hatte, was für ein Vorschlag gemacht worden war, und daß der Schnudri die Uniform hergeben sollte für ihn – mit einem Mal kam ihm ein Gedanke, und er sagte: »Jetzt will ich Euch sagen, was wir spielen wollen: Rebellion! Der Hans also ist der General, und wir anderen sind die Soldaten. Und die Soldaten also machen Rebellion gegen den General. Und der General will ihnen entwischen, und die Soldaten verfolgen ihn. Und dazu kriegt er zwanzig Schritte Vorsprung. Und wenn er bis da oben auf den Berg rauf kommt« – in der Mitte der Ebene war nämlich ein Hügel – »dann hat er gewonnen. Wenn er aber vorher eingeholt wird, dann haben die Soldaten gewonnen, und dann wird dem General seine Uniform weggenommen.«
Das war denn ein Vorschlag, der sofort zündete. »Ein famoses Spiel! Ein famoses Spiel!« Feuer und Flamme waren sie gleich alle mit einander. Aber Höllenfeuer war es, und von dem Teufel angezündet, der einstmals dem Kain zugeflüstert hatte: »Schlage deinen Bruder Abel tot.« Wenn er hinauf kam bis auf den Berg, dann sollte ihm seine Uniform gehören dürfen – jawohl – aber sie wußten, daß er nicht hinaufkommen würde, daß sie ihn vorher einholen und berauben und vergewaltigen würden, den armen, schwachen, kleinen Kerl.
Ein Spiel nannten sie das, – und es war kein Spiel, sondern etwas Ernsthaftes, Furchtbares, Gräßliches, ein Stück Menschenniedertracht, die sich einen unschuldigen Mantel umhing, wie sie das immer tut, weil sie sich schämt und fürchtet vor dem Gottesauge dadrinnen in der Seele; Neid, höllischer, verdammter, verfluchter Neid, der sich Spiel nannte, während er in Wirklichkeit die Jungen, so, wie sie waren, in Wölfe verwandelte, in habgierige Bestien. Und daß so etwas vorging, daß er plötzlich umgeben und umringt war wie von Wölfen, das muß er gefühlt haben, der kleine Junge; das sah man seinem Gesicht an, wie er umhersah, so kläglich, wie er nach seinem Bruder sah, seinem großen Bruder, ob ihm der nicht zu Hülfe kommen würde. Aber der – von dem ging ja die ganze Geschichte aus; und in dessen Seele war jetzt wahr und wahrhaftig der Teufel los, daß er nichts anderes mehr denken konnte, als daß die Uniform, nach der er sich so rasend gesehnt hatte, ihm nun für einige Zeit wenigstens doch gehören würde, doch!
Darum sah man dem Kleinen an, wie ihm die Sache unheimlich wurde, und wie er dicht am Weinen war, und wie er am liebsten gar nicht mitgespielt hätte, sondern fortgegangen und weit davon gewesen wäre, weit davon. Aber das Alles war nun nicht möglich, und die Jungen würden ihn auch gar nicht davon gelassen haben. Sondern sie sagten ihm: »Hier, wo wir jetzt sind, bleibst Du also stehen. Wir gehen jetzt zwanzig Schritt zurück. Dann wird gezählt eins – zwei – drei – und bei drei fängst Du an zu laufen, nach dem Berge hin, und wir hinterher.« Und damit so ging der ganze Haufe von ihm fort, zurück, und indem sie gingen, zählten sie laut ihre Schritte, bis daß sie zwanzig gezählt hatten; und alsdann so machten sie wiederkehrt, und Einer zählte ganz laut eins – zwei – drei. Und im Augenblick, als das »Drei« herauskam, fing die ganze Meute an zu laufen, zu laufen – und Jeder schrie, so laut er schreien konnte: »Fangt den General! Fangt den General!« Und wenn in dem Augenblick ein Erwachsener vorübergegangen wäre und es mit angesehen hätte, dann, in der Art, wie die Erwachsenen über die Kinder denken, würde er wahrscheinlich gesagt haben: »Sieh' Einer, wie die munteren Jungen sich amüsieren«, – und nicht geahnt würde er haben, daß das, was er für ein Vergnügen hielt, in Wahrheit ein Wettlauf war um Leben und Tod. Ja! Um Leben und Tod! Denn wie er die Meute losbrechen sah, fing auch der Kleine zu laufen an, so schnell die kleinen Beine vermochten. Aber gleich bei den ersten Schritten muß er gefühlt haben, daß es eine verlorene Sache war, daß sie ihn einholen würden. Wie er das Geschrei hinter sich hörte, muß es ihm gewesen sein als käme eine Indianerhorde hinter ihm drein, die ihm die Kopfhaut abziehen würde, so daß ihn die Todesangst ergriff und die Verzweiflung. Darum gleich nach den ersten Schritten fing er an zu schreien, ganz gellend, ganz kreischend. Was es war, konnte man nicht verstehen, aber es klang, als wenn er »nein! nein! nein!« schrie. Sie sollten ihm das nicht tun, sollten nicht so gegen ihn sein. Aber natürlich hörte Keiner darauf, sondern die Hetzjagd ging weiter. Der Helm flog ihm vom Kopfe. Wie er zur Erde rollte, waren gleich drei, vier darüber her, aber der andere stieß sie alle fort; Keiner außer ihm sollte den Helm haben und die Uniform. Er setzte sich den Helm auf; und dann mit einem »Hussa« weiter und wie ein wildes Tier hinter dem Kleinen her. Denn wie ein toller Hund, so war er gerade, der nichts mehr von Allem weiß, was er früher gescheut und geliebt hat, sondern nach Allem schnappt und beißt. Die Uniform! die Uniform! Das war das Einzige, was er noch denken konnte und fühlen. Wie eine Fackel, die ihm der Teufel vor die Augen hielt, so war das. Und darauf, wie der Kleine die Schritte immer näher hinter sich hörte und das keuchende Laufen und die Stimmen, die schon ganz heiser geworden waren von dem rauhen Geschrei, blieb er plötzlich stehen, lief nicht weiter, blieb stehen, gab Alles verloren, warf sich zur Erde, ganz platt, streckte beide Arme von sich und drückte das Gesicht in das feuchte, graue, kalte Wintergras. In dem Augenblick waren sie über ihn her, und allen voran der andere, der Bruder über den Bruder.
Die Schnallen, mit denen der Küraß an den Schultern des Kleinen fest gemacht war, schnallte er auf. Das Säbelkoppel, das der Kleine um den Leib hatte, schnallte er ihm ab. Alles rack – rack – rack. Alles mit ein paar Griffen. Alles so rasch, obschon ihm die Hände vor Leidenschaft flogen, wie ein Räuber, der jemanden überfallen hat und ausplündert. Und dann eben so rasch den Küraß an die eigenen Schultern, das Säbelkoppel um den eigenen Leib. Und dann den Säbel herausgerissen. Und »hurra« – jetzt war er der General! Und »hurra«, jetzt hatten sie einen Anführer, wie es sich gehörte. Jetzt konnten sie spielen. Jetzt wollten sie spielen, »Pascher und Grenzsoldat«, gehörig, so daß man sich am Kragen kriegte und raufte und prügelte; denn sie waren Alle wild geworden, wild, wild. Zwar der Kleine lag noch immer an der Erde, die Arme ausgestreckt, das Gesicht ins Gras gedrückt, und schluchzte und wimmerte, daß der kleine Körper gegen den Erdboden stieß. Aber – ach was – das Muttersöhnchen! Es war ihm ja gar nichts geschehen. Er würde sich schon beruhigen und, wenn er sich ausgeheult, aufstehen und nachkommen. Alles war doch ein Spiel; und Spaß muß doch Jeder verstehen. Darum jetzt nur fort von hier und vorwärts, daß wir zum Spiel kommen! Fort – denn ob es den anderen so ging, wie ihm, daß sie eine Art Grauen fühlten, als sie den Kleinen nicht aufstehen sahen – ich weiß es nicht – aber wahrscheinlich war es so. Wahrscheinlich war es so, daß sie fühlten, sie hätten da etwas getan, was sie lieber nicht hätten tun sollen, nicht hätten tun sollen.
Und so wurde denn nun losgespielt, so wild und toll und wütig wie nur möglich. Eine Stunde lang, und noch eine, und immer weiter. Und endlich kam dann eine Pause, und in der Pause ein Umhersehen, ein Hälserecken, ein Fragen von Einem zum anderen – war denn der Kleine nicht nachgekommen? Nein – der Kleine war nicht nachgekommen. Also in einem Hui ging es nach der Stelle zurück, wo vorhin, – aber die Stelle war leer. Er war nicht mehr da – war fort – wo denn hin? Und darauf, als nach all' dem Lärm und Geschrei eine Stille eintrat, eine ganz lautlose, allgemeine, kam Einer damit heraus – er glaubte – er hätte gesehen, wie der Kleine ganz allein übers Feld gegangen wäre – nach der Stadt zu – nach Hause zu. – Und da mit einem Mal – wie wenn jemand in einem wüsten Rausch gewesen ist und plötzlich zur Besinnung kommt – so ging es dem Betreffenden, so war ihm zumute. »Nach der Stadt zu wäre er gegangen?« – »Ja! – Als ob er eins getrunken gehabt hätte – ganz taumelig – und die Hände am Kopf.«
Wie ein eiskalter Strom ging es dem Jungen über den Leib und sauste und brauste ihm in den Ohren. Keinen Laut konnte er hervorbringen. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Ohne ein Wort zu sprechen, knöpfte er sich den Küraß ab, und den Säbel ab, nahm den Helm vom Kopf. Nichts vom Spiel mehr; das Spiel war ihm verleidet. Die Uniform, nach der er so wütend verlangt hatte, sie war ihm verleidet. Am liebsten hätte er sie von sich geworfen, fort. Aber das ging doch nicht; es war doch dem Kleinen sein Eigentum. Also mußte er sie dem Kleinen wiederbringen, nach Haus. Und indem er das dachte – nach Haus – war ihm, als wenn eine Hand in seiner Brust gewesen wäre, mit langen, eisernen Fingern, die sich um sein Herz legten und sein Herz zusammendrückten, langsam wie eine Schraube.
Keiner von Allen dachte mehr ans Spielen; Keiner sprach ein Wort. Wie eine Herde von stummen Tieren zogen sie nach der Stadt zurück. Es war ein grauer, nebeliger Wintertag. Kein Strahl von Sonne, auch keine Ahnung davon. Wie sie nun in die Nähe der Stadt kamen und die Stadt vor ihnen lag und der graue Himmel über den Dächern, den Ziegeldächern, auf denen die roten Ziegel ganz rostbraun aussahen vor Alter, so daß Alles in einander verschwamm, so öde, so grau in grau – wie er das Alles sah – da war es ihm – da überkam es ihn – als wenn da etwas Totes vor ihm läge – wie ein totes Gesicht, das er früher gekannt, das ihm zugenickt und gelächelt hatte, und das nun gestorben war und die Augen auf ihn richtete, erloschene, in denen nie wieder Licht sein würde, nie wieder. Und nicht wie ein Gesicht nur – wie ein großer, stummer, toter Leib, so sah es aus, daß er denken mußte, so müßte es aussehen, wenn die Mutter vor Einem läge, kalt, stumm und tot. So war ihm zu Mut; und so stark fühlte er das, so furchtbar, daß er nicht weiter gehen konnte, sondern stehen bleiben mußte. Und dabei schlugen der Küraß und der Helm und der Säbel, die er in den Händen trug, an einander, und gaben einen leisen Klang, beinah wie eine ferne, ferne Glocke. Und da war es ihm, als wäre irgendwo, wo er sie nicht sehen konnte, eine Uhr, eine große Uhr, und als schlüge die Glocke in der Uhr mit einem Tone, wie er nie einen gehört, so tief, so dumpf, so schwer. Und heute, da sechzig Jahre um sind seit dem Augenblick, weiß ich, wo die Uhr war, die er damals nicht sehen konnte – in seiner Seele – und was die Uhr damals schlug: Schicksal, Schicksal, Schicksalsstunde.
Eine solche Angst war in ihm, solch' ein Grauen, daß er am liebsten gar nicht in die Stadt zurück und nach Hause gegangen wäre, sondern in die Welt, irgend wohin – vielleicht noch lieber in den See, in das kalte Wasser hinunter und den Tod. Ja – so war ihm, so war ihm zumute. Aber die Sachen des Kleinen, die ihm in den Händen wie Blei lagen, weil er sie dem Kleinen genommen hatte, geraubt, gestohlen, er mußte sie doch zurück bringen an den Kleinen. Darum mit den anderen ging er in die Stadt, und als sie in die Stadt gekommen waren, wandte er sich in der Richtung, wo das Haus der Eltern lag. Als er aber an die Straße kam und das Haus von ferne sah, packte ihn das Grausen wieder so, daß er nicht darauf zu gehen konnte, sondern umkehrte und in eine Nebenstraße ging und aus der in eine andere und wieder in eine andere, immerfort, die ganze Stadt entlang, wie sinnlos, wie betäubt, wie ein verwildertes Tier, das vom Hofe gelaufen ist und sich nicht wieder zurück getraut. Essen und Trinken – Hunger und Durst – danach fragte er nicht, daran dachte er nicht, davon wusste er nichts. Erst als es dunkler und immer dunkler, zuletzt fast ganz dunkel wurde, und weil er doch nicht auf der Straße bleiben konnte in der Nacht, und weil er so müde geworden war, daß er kaum mehr gehen konnte, sondern beinahe hingefallen wäre und liegen geblieben auf dem Pflaster, schlich er nach Hause, ganz langsam, leise, ganz leise. Und nun hatte er sich vorgestellt, wenn er in die Nähe von dem Hause käme, dann würde darin ein Lärmen und Toben sein, und bis auf die Straße hinaus würde er die Stimme hören, vor der er sich so fürchtete, die Stimme des Vaters, die mit dem Tone, den er kannte, mit dem schrecklichen Tone durch das ganze Haus donnerte: »Wo steckt der Bengel? Wo bleibt er?« Und als er nun an das Haus herankam, lag das Haus so dunkel, so still, und kein Laut war rings herum zu hören, kein Laut. Eigentlich hätte ihm das ja lieb sein müssen – aber dennoch war es ihm nicht lieb, sondern – er wusste selbst kaum, warum – unheimlich, unheimlich.
Also klinkte er die Haustür auf, ganz vorsichtig, ganz leise, und dann auf den Fußspitzen, wie ein Verbrecher schlüpfte er hinein. Und im Hause war Alles dunkel, und so, wie es draußen gewesen war, so war es drinnen, ganz still Alles, daß man keinen Laut hörte, fast totenstill.
Kein Mensch war zu sehen, nicht der Vater, nicht die Mutter und der Kleine erst recht nicht. Darum tappte er sich über den Flur nach dem Zimmer hin, wo er mit dem kleinen Bruder zusammen schlief; da wollte er hinein, ins Bett und sich verstecken. Im Augenblick aber, als er die Tür ergreifen wollte, kam ein Lichtschein, und den Gang herauf, der nach der Küche führte, kam jemand, und die da kam, das war die alte Köchin. Sie hatte ein Licht in der Hand, und weil sie gehört haben mochte, daß jemand da herum schlich, blieb sie stehen und hielt die Hand vor das Licht, damit sie erkennen konnte, wer es war – und wie sie da stand und das Licht ihre Stirn beleuchtete, die so alt und voll Runzeln und Falten war, das sehe ich noch, daß ich es malen könnte, so genau. Darauf, als sie erkannt hatte, wer es war, ließ sie die Hand herab und sagte – und auch das, wie sie sprach, höre ich heute noch ganz deutlich und genau – und sagte – kein Vorwurf war in dem Ton, wie sie sprach, nicht einmal ein Erstaunen, sondern nur etwas so Schweres, als wenn sich die Worte aus ihrem Munde heraus schleppten – und sagte: »Wo bist denn Du gewesen? Weißt Du denn nicht, was hier geschehen ist? Und daß Hänschen im Sterben liegt?«
So sagte sie, und als sie so gesagt hatte, war dem Jungen, als würde ihm ein Nagel, ein ganz langer Nagel vom Kopf herunter durch den ganzen Leib geschlagen und nagelte ihn am Fußboden fest. Und was man den kalten Schweiß nennt, damals in der Stunde habe ich das kennengelernt.
Darauf, wie ein Rasender wollte er auf und in die Stube der Eltern hinein, aber da faßte ihn die alte Köchin am Arm und sagte, und diesmal sprach sie ganz hastig, ganz flüsternd, ganz angstvoll: »Nein, nein, da darfst Du nicht hinein, Vater und Mutter sind ja da bei ihm drin, und niemand darf hinein.« Und dann, wie der Junge am Türpfosten lehnte, selber so starr und steif wie ein Stück Holz, machte sie die Tür zu dem Zimmer auf, wo die Brüder schliefen und leuchtete hinein und sagte: »Geh Du nur jetzt und leg Dich zu Bett, da ist nun nichts mehr zu machen.«
Und als sie so hineinleuchtete und er hinein trat in das Zimmer, da sah er, daß das Bett, in dem der Kleine sonst lag, nicht mehr da war, und an der Stelle, wo es gestanden hatte, war ein leerer Fleck. Und was damals in dem Zimmer war, das ist seitdem in seinem Herzen geworden, ein leerer Fleck. Ein leerer Fleck! Sechzig Jahre sind hingegangen seitdem, und der leere Fleck ist geblieben, nichts hat ihn ausgefüllt; nur ein Schattengesicht, das mich ansieht mit traurigen Augen, an dem kein Leib mehr ist, kein Leben, das mich ansieht in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann!
Dann bewegt es die Lippen, dann hör' ich's: »Kann nicht mehr spielen mit Dir, nicht mehr sitzen mit Dir in der Kajüte und den Arm um Dich schlingen und zuhören, wenn Du erzählst von dem großen Wald und dem Einhorn und den Tieren darin. Nie mehr – nie mehr – –«
Die Erzählung brach ab.
Aus der Ecke hinter mir, von wo die Erzählung gekommen war, kam es hervor; mit schwerem Schritt kam der alte Graumann hervor. Auf einen Stuhl fiel er nieder; auf den Tisch daran ich saß, warf er die Arme, auf die Arme fiel sein graues Haupt. »O Bruder! O Brüderchen! O armer, kleiner Bruder!«
Ein Stöhnen durchschütterte ihn. Wie ein alter Baum sah er aus, den Sturmwind schüttelt, als wenn er ihn brechen wollte.
»Und am nächsten Tage« – aber er vollendete den Satz nicht. Vom Stuhl, auf den er niedergesunken war, sprang er auf. »Aber das kann ich nicht erzählen! Kann ich nicht erzählen!« Im Zimmer stürmte er auf und ab. »Wie er an der Tür stand, an der Tür des Zimmers, wo sie ihn hineingetragen hatten, den Kleinen, in seinem Bett. Wie er hinein wollte und nicht hineinkonnte, weil die Tür von innen verriegelt war. Wie er an der Tür klinkte und hineinwollte, mit Gewalt. Bis daß wieder die alte Köchin kam und ihn am Arme nahm und zurückzog und sagte: ›Mach doch keinen solchen Lärm. Es darf ja kein lautes Wort gesprochen werden im Haus.‹ Wie er dann stehen blieb auf dem Flur, immer die Augen auf der Türe und sein Schluchzen verschluckte und seine Tränen, daß ihm ein Geschmack im Munde wurde und in der Kehle, als wenn er Gift hinunterwürgte. Und wie die alte Köchin immer wieder kam und versuchte, ihn von der Stelle fortzubringen und wie er nicht fortzubringen war, sondern auf den Küraß zeigte und den Helm und den Säbel, die er den ganzen Tag nicht aus den Händen ließ, und sagte: ›Ich muß ihm doch seine Sachen wieder bringen, seine Sachen wieder bringen.‹ Worauf dann die Alte sagte: ›Ach laß doch die Sachen; was soll er denn damit? Er weiß ja von nichts mehr etwas.‹ Worauf es ihm erst ganz klar wurde, wie es um den kleinen Bruder stand, und daß er ihn vielleicht nie wiedersehen würde. Und so kam es auch. So geschah es auch. Aber das Alles kann ich nicht mehr erzählen! Was ich keinem Menschen erzählt habe, das habe ich Ihnen erzählt. Aber das kann ich nicht, das können Sie nicht verlangen! Sechzig Jahre lang hat das Alles begraben gelegen da drinnen in mir. Sprechen muß der Mensch. Nicht nur zu sich selbst; wenn er immer nur zu sich selbst spricht, das macht verrückt. Sprechen muß der Mensch zu einem anderen Menschen. Sechzig Jahre lang habe ich keinen gefunden, – Sie sind ein weicher Mensch, ein guter Mensch, ein feiner Mensch, – zu Ihnen habe ich gesprochen. Darum habe ich das Grab aufgebrochen, worin die alten Geschichten liegen, die schrecklichen Geschichten. Nun sind sie wieder wach geworden, die Toten wieder lebendig geworden. Nun ist es wieder da, und ich wieder drin, mitten drin, in der Hölle! In der Hölle! Und das Wort ist wieder da – hier in meinen Ohren – das gräßliche, das er nachher mir gesagt hat, der Mann von Stein, der Mann von Eis – ›Daran, daß Dein kleiner Bruder gestorben ist, daran – bist –‹, und der Schrei ist wieder da, mit dem die Mutter sich dem Manne entgegen warf, als er das sagte – mit einem Gesicht – wie ich es nie an ihr gesehen – so verzerrt, so – so – gar nicht mehr das Gesicht meiner Mutter, meiner sanften, süßen Mutter – wie sie den Arm gegen ihn ausstreckte, ganz lang: ›Es ist nicht Dein Kind nur, sondern meines auch! Und meinem Kinde das Leben vergiften – das sollst Du nicht! das darfst Du nicht! das – das –‹, und wie sie dann – krach – zur Erde fiel, ganz starr, ganz weiß, wie mit einem Schlage, bevor jemand sie aufzufangen vermochte, – das Alles erzähle ich Ihnen nicht, erzähle ich nicht. Wie soll ein Mensch das erzählen, ein Mensch von Fleisch und Blut, – wie kann er das? Aber zeigen will ich Ihnen – kommen Sie mit –, Ihnen, dem ich Alles gesagt, Ihnen will ich zeigen, was kein Mensch gesehen, – kommen Sie mit.«
Er nahm die Lampe auf, die auf dem Tische stand, und wandte sich nach dem Schlafzimmer. Als er bemerkte, daß dort bereits eine Lampe stand, setzte er jene wieder nieder. »Kommen Sie.« Er schritt mir voran; ich folgte ihm. Indem ich aufstand, fühlte ich, daß mir die Glieder so schwer geworden waren, daß ich Mühe hatte, mich zu erheben.
In dem Schlafzimmer, an der Wand, dem Bette gegenüber, war ein Vorhang von schwerem, dunkelgrünem Stoff. Es fiel mir ein, daß man mir von einem solchen erzählt hatte.
Der Vorhang war geschlossen. Er trat heran, und mit einem Griff schlug er ihn auseinander. Das Licht der Lampe, die unter dem Bilde der beiden Brüder stand, fiel auf die Stelle; an der Wand, im stillen Lichte leise blinkend, hingen die Stücke einer Kinderuniform, einer Kürassieruniform, ein kleiner Helm, ein Küraß, ein Säbel und eine verbogene Trompete, – wie so etwas ausgesehen hatte vor sechzig Jahren.
Keiner Bewegung fähig, wortlos stand ich da. Diese armen, kleinen Überbleibsel lang vergangener Zeit, diese Erinnerungszeichen an Dinge und Menschen, von denen auf Gottes weiter Welt nur ein Mensch noch, ein einziger, etwas wusste, – so hatte dieser Mensch sie festgehalten und bewahrt in seinem liebeverlangenden, liebeberaubten, tiefen, unglücklichen Herzen!
Zwischen der Lampe und dem Vorhang, mitten im Zimmer, stand ein Stuhl; auf diesen Stuhl hatte er sich gesetzt, beide Arme auf der Lehne, das Gesicht in die Arme gedrückt, so daß das graue Haupt gerade vor mir war. Eine unwillkürliche Regung erfaßte mich, ich beugte mich nieder und drückte die Lippen auf sein graues Haar. Er blickte nicht auf, er nickte nur, und es sah aus, als hätte er gesagt: »Ja, nicht wahr? Ja, nicht wahr?«
Als ich sah, daß er keine Bewegung machte, aufzustehen, und weil ich fühlte, daß er für heute nichts mehr zu sagen hatte, beugte ich mich zu seinem Ohr. »Lassen Sie mich jetzt gehen«, sagte ich, »aber wenn Sie erlauben, komme ich wieder!« Statt aller Antwort griff er nach meiner Hand, und seine Hand sagte, was sein Mund nicht aussprach: »Komm wieder! Laß mich nicht allein! Komm wieder!«
Geräuschlos verließ ich ihn. Über die dunkle Treppe tappte ich mich hinunter. Die Haustür war geschlossen; ich mußte den Vater der Kinder, durch die ich heute die Bekanntschaft des alten Mannes gemacht hatte, herausklopfen, damit er mir aufschloß. Am Nachmittag war ich gekommen – als ich über die Brücke zur Stadt zurück ging, schlug es von den Türmen Mitternacht. Tief, dumpf und schwer kam der Klang über das Wasser. Ich blieb stehen. An die Uhr mußte ich denken, von der er mir gesagt hatte, die unsichtbare, die in seiner Seele Schicksal, Schicksal, Schicksalsstunde geschlagen hatte. Über das Brückengeländer sah ich hinunter in den winterlichen Strom, auf dessen grauem Rücken die Eisschollen dahin rauschten. Von der Strömung getrieben, stürmten sie, wie ein angreifender Haufen, gegen das Ufer, auf dem die Häuser der Stadt lagen. Aber das Bollwerk stand fest; machtlos prallten sie dagegen, und zerschellend setzten sie ihren Lauf fort. Gegen die Elemente hat der Mensch Schutzwehr und Dämme gefunden – wer schützt den Menschen wider den Menschen? Wer schützt ihn gegen sich selbst? Der Stern, der in Jahrtausenden immer einmal aufgeht aus einem göttlichen Herzen, der heilige Stern, den wir Liebe und Vergebung nennen, wann endlich bleibt er am Himmel, um nicht wieder unterzugehen? Das Wort, das ich heute vernommen hatte, als letzten aus sechzig Jahren qualvoller Erfahrung gekelterten Lebensspruch, wann endlich wird es Gebot für jeden Einzelnen – »Fülle das Herz Deines Nebenmenschen mit Glück?«
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