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Ich hatte mit Erskine in einem hübschen kleinen Hause in Birdcage Walk zu Mittag gegessen, und nun saßen wir in dem Bibliothekszimmer bei Kaffee und Zigaretten, als die Frage der literarischen Fälschung aufs Tapet kam. Ich kann mich jetzt nicht erinnern, wie es geschah, daß wir auf dieses einigermaßen seltsame Thema gerieten, aber ich weiß, daß wir lange über Macpherson, Ireland und Chatterton debattierten, und daß, was den letzteren betrifft, ich bei der Meinung blieb, daß seine sogenannten Fälschungen nichts anderes seien, als der Ausdruck eines künstlerischen Wunsches nach vollkommener Darstellung; daß wir kein Recht hätten, den Künstler wegen der Bedingungen, unter denen er uns sein Werk vorführen wolle, zur Rede zu stellen; und daß, da alle Kunst schließlich bis zu einem gewissen Grad eine Tat darstelle, einen Versuch, seine eigene Persönlichkeit gewissermaßen in der Sphäre der Einbildungskraft, außerhalb der Zufälligkeiten, der Hindernisse und der Grenzen des täglichen Lebens zu verkürzen, es eine Vermengung eines ethischen mit einem ästhetischen Problem bedeute, wenn man einen Künstler wegen einer Fälschung zur Rechenschaft ziehe.
Erskine, der bei weitem älter war als ich und mir mit der heiteren Nachsicht eines Vierzigers zugehört hatte, legte mir plötzlich die Hand auf die Schulter und sagte: »Was würden Sie von einem jungen Manne halten, der bezüglich eines gewissen Kunstwerkes eine besondere Theorie hätte, an seine Theorie glaubte und eine Fälschung beginge, um sie zu beweisen?«
»Das ist etwas ganz anderes«, antwortete ich.
Erskine schwieg einen Augenblick und betrachtete die dünnen, grauen Rauchringel, die von seiner Zigarette aufstiegen. »Allerdings«, sagte er nach einer Pause. »Das ist etwas anderes.«
Es lag etwas im Ton seiner Stimme, vielleicht eine leichte Spur von Bitterkeit, die meine Neugier reizte. »Haben Sie etwa jemanden gekannt, der dies getan hat?« fragte ich.
»Ja«, antwortete er und warf seine Zigarette ins Feuer. »Es war ein guter Freund von mir, Cyril Graham. Er war sehr töricht, sehr herzlos und bezauberte die Menschen. Er hat mir übrigens die einzige Erbschaft hinterlassen, die ich je in meinem Leben erhalten habe.«
»Und was war das?« rief ich aus.
Erskine stand von seinem Sitze auf, ging zu einem hohen, eingelegten Schranke, der zwischen den beiden Fenstern stand, schloß ihn auf und kam zurück mit einem kleinen Gemälde auf Holz in einem alten und etwas befleckten elisabethanischen Rahmen.
Es war das Porträt eines jungen Mannes in ganzer Figur im Kostüm des ausgehenden 16. Jahrhunderts, an einem Tische stehend, die rechte Hand auf einem offenen Buche. Er schien ungefähr siebzehn Jahre alt und war von ganz außerordentlicher, wenn auch augenscheinlich etwas weibischer Schönheit. Wäre nicht das Kostüm gewesen und das kurzgeschnittene Haar, so hätte man wirklich glauben können, daß dieses Antlitz mit seinen träumenden, nachdenklichen Augen, mit seinen zarten, roten Lippen das Gesicht eines Mädchens sei. In seiner Technik und besonders in der Art, wie die Hände behandelt waren, erinnerte das Bild an die späteren Werke von Francois Clouet. Das schwarzsamtene Wams mit seinen phantastischen Goldspitzen und der pfauenblaue Hintergrund, von dem es sich so angenehm abhob und durch den es eine so leuchtende Farbenwirkung gewann, war ganz in Clouets Stil; und die beiden Masken der Tragödie und der Komödie, die einigermaßen konventionell an dem Marmorsockel hingen, zeigten den harten Ernst der Pinselführung – so verschieden von der leichten Grazie der Italiener –, den der große flämische Meister auch am französischen Hofe niemals ganz verloren hat und der an und für sich immer ein charakteristisches Merkmal nordischer Art geblieben ist.
»Das ist ein reizendes Bild!« rief ich aus. »Aber wer ist dieser wunderbare junge Mann, dessen Schönheit uns die Kunst so glücklich bewahrt hat?«
»Das ist das Bild von W. H.«, sagte Erskine mit einem traurigen Lächeln. Vielleicht war es bloß ein zufälliger Lichteffekt, aber mir kam es vor, als glänzten Tränen in seinen Augen.
»W. H.!« rief ich aus. »Wer war W. H.?«
»Erinnern Sie sich nicht?« antwortete er. »Sehen Sie doch das Buch an, auf dem seine Hand ruht.«
»Ich sehe eine Schrift darauf, aber ich kann sie nicht entziffern«, antwortete ich.
»Nehmen Sie dieses Vergrößerungsglas und versuchen Sie zu lesen«, antwortete Erskine, und dasselbe traurige Lächeln spielte um seinen Mund.
Ich nahm das Glas, hob die Lampe etwas näher und begann die schwierige Handschrift zu buchstabieren.
»Dem einzigen Erzeuger der nachfolgenden Sonette ...«
»Großer Gott,« rief ich, »ist das Shakespeares W. H.?«
»Das war Cyril Grahams Meinung«, murmelte Erskine.
»Aber es gleicht doch nicht im geringsten Lord Pembroke«, antwortete ich. »Ich kenne die Penshurst-Bilder sehr gut. Ich habe sie erst vor einigen Wochen gesehen.«
»Glauben Sie also wirklich, daß die Sonette an Lord Pembroke gerichtet sind?« fragte er.
»Ich bin davon überzeugt«, antwortete ich. »Pembroke, Shakespeare und Mrs. Mary Fitton sind die drei Personen der Sonette. Darüber kann kein Zweifel herrschen.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Erskine. »Aber ich dachte nicht immer so. Ich dachte sogar – ja, ich glaubte wirklich eine Zeitlang an Cyril Graham und seine Theorie.«
»Und worin bestand diese Theorie?« fragte ich und betrachtete das wundervolle Bild, das bereits begonnen hatte, mich in ganz merkwürdiger Weise zu fesseln.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Erskine und nahm mir das Bild fort – fast heftig, wie es mir damals vorkam – »eine sehr lange Geschichte, aber wenn es Sie interessiert, so will ich sie Ihnen erzählen.«
»Mich interessiert jede Theorie über die Sonette!« rief ich aus. »Aber ich glaube nicht, daß ich leicht zu irgendeiner neuen Anschauung bekehrt werden kann. Der Gegenstand hat aufgehört, ein Geheimnis zu sein. Ja, ich wundere mich, daß er jemals ein Geheimnis gewesen ist.«
»Da ich selbst nicht an die Theorie glaube, so werde ich Sie wahrscheinlich nicht bekehren«, sagte Erskine lachend. »Aber vielleicht interessiert Sie die Sache.«
»So erzählen Sie doch,« sagte ich, »wenn die Geschichte nur halb so entzückend ist wie das Bild, so bin ich mehr als zufrieden.«
»Ich muß«, sagte Erskine und zündete sich eine Zigarette an, »meine Geschichte damit beginnen, daß ich Ihnen etwas über Cyril Graham selbst erzähle. Er und ich lebten im selben Hause in Eton. Ich war ein oder zwei Jahre älter als er, aber wir waren dicke Freunde und wir arbeiteten und spielten immer zusammen. Wir spielten natürlich viel mehr als wir arbeiteten, aber ich kann nicht sagen, daß ich dies bedauere. Es ist immer ein Vorzug, nicht eine solide praktische Erziehung genossen zu haben, und was ich auf den Spielgründen in Eton lernte, ist für mich ebenso nützlich gewesen wie irgend etwas, was mir in Cambridge beigebracht wurde. Ich muß Ihnen noch sagen, daß Cyrils Eltern tot waren. Sie ertranken bei einem schrecklichen Jachtunglück bei der Insel Wight. Sein Vater stand in diplomatischen Diensten und hatte die einzige Tochter des alten Lord Crediton geheiratet, der nach dem Tode seiner Eltern Cyrils Vormund wurde. Ich glaube nicht, daß Lord Crediton für Cyril viel Sympathie hatte. Er hat es seiner Tochter nie verziehen, daß sie einen Mann ohne Titel geheiratet hatte. Er war ein sonderbarer alter Aristokrat, der wie ein Obsthöker fluchte und die Manieren eines Bauern hatte. Ich erinnere mich, ihn einmal bei unserer Schulfeier gesehen zu haben. Er brummte mich an, gab mir einen Sovereign und sagte mir, ich soll kein »verfluchter Radikaler« werden wie mein Vater. Cyril liebte ihn nicht sehr und war herzlich froh, den größten Teil seiner Ferien bei uns in Schottland verbringen zu dürfen. Eigentlich harmonierten sie überhaupt niemals. Cyril kam er vor wie ein Bär, und er fand Cyril weibisch. Cyril war in der Tat in vielen Dingen weibisch, wenn er auch ein sehr guter Reiter und ein glänzender Fechter war. Er erhielt sogar einen Fechtpreis, bevor er Eton verließ. Aber er hatte sehr lässige Manieren und war nicht wenig eitel auf sein Äußeres, und er hatte eine starke Abneigung gegen Fußball. In Eton liebte er es immer, sich zu kostümieren und Shakespeare zu rezitieren, und als wir Trinity-College bezogen, wurde er sofort Mitglied des Liebhabertheater-Klubs. Ich erinnere mich, daß ich ihn wegen seiner Schauspielerei immer beneidete. Ich war ganz vernarrt in ihn, vielleicht weil wir in einigen Dingen so ganz verschieden waren. Ich war ein ziemlich unbeholfener, schwächlicher Junge mit sehr großen Füßen und mit einem Gesicht voller Sommersprossen. Sommersprossen findet man in schottischen Familien ebenso regelmäßig, wie die Gicht in englischen. Cyril pflegte zu sagen, daß er von beiden die Gicht vorziehe. Aber er legte immer einen unsinnig hohen Wert auf die persönliche Erscheinung und hielt einmal einen Vortrag in unserer Diskussionsgesellschaft, um zu beweisen, daß es wertvoller sei, gut auszusehen als gut zu sein. Er war in der Tat von wunderbarer Schönheit. Leute, die ihn nicht mochten, Philister und Professoren und junge Leute, die sich für die theologische Laufbahn vorbereiteten, pflegten zu sagen, er sei bloß hübsch. Aber es lag doch bedeutend mehr in seinem Gesicht, als bloße Anmut. Ich glaube, es war das herrlichste Wesen, das ich je gesehen habe, und nichts übertraf die Grazie seiner Bewegungen und den Reiz seiner Manieren. Er bezauberte jeden, der des Bezauberns wert war und überdies noch eine Menge Leute, die es nicht wert waren. Er war oft eigensinnig und unverschämt und ich hielt ihn für schrecklich unaufrichtig. Das schrieb ich hauptsächlich auf die Rechnung seiner unmäßigen Begierde zu gefallen. Armer Cyril! Ich sagte ihm einmal, daß er sich mit sehr billigen Triumphen begnüge, aber er lachte bloß. Er war schrecklich verwöhnt. Ich glaube, alle reizenden Menschen sind verwöhnt, das ist das Geheimnis ihrer Anziehungskraft.
Ich muß Ihnen aber etwas über Cyrils Schauspielkunst sagen. Sie wissen, daß keine Schauspielerinnen im Liebhaber-Theaterklub spielen dürfen. Wenigstens war es so zu meiner Zeit. Ich weiß nicht, wie es jetzt damit steht. Natürlich wurde Cyril immer für die weiblichen Rollen genommen und als man ›Wie es euch gefällt‹ aufführte, spielte er die Rosalinde. Es war eine wunderbare Aufführung. Cyril Graham war wirklich die einzige vollkommene Rosalinde, die ich je gesehen habe. Es wäre unmöglich, Ihnen die Schönheit, die Zartheit, die Durchgeistigung des Ganzen zu beschreiben. Es war ein ungeheurer Erfolg, und das schreckliche kleine Theater war jeden Abend gedrängt voll. Selbst wenn ich das Stück jetzt lese, muß ich an Cyril denken. Als ob es für ihn geschrieben worden wäre! Im nächsten Semester holte er sich einen Grad und kam nach London, um sich für die diplomatische Karriere vorzubereiten. Aber er tat nie etwas. Er verbrachte seine Tage mit dem Lesen der Shakespeareschen Sonette und seine Abende im Theater. Er war natürlich ganz wild darauf, zur Bühne zu gehen. Nur mit großer Mühe konnten Lord Crediton und ich ihn davon abbringen. Vielleicht lebte er noch, wenn er zur Bühne gegangen wäre. Es ist immer dumm, einen Rat zu geben, aber es ist ganz und gar verderblich, einen guten Rat zu geben. Ich hoffe, Sie werden diesen Unsinn nie begehen. Wenn Sie es tun, so werden Sie es bedauern.
Ich will aber zum Kern meiner Geschichte kommen. Eines Tages erhalte ich einen Brief von Cyril, worin er mich ersucht, abends in seine Wohnung zu kommen. Seine Wohnung in Piccadilly war reizend und hatte den Ausblick auf den Park. Da ich ihn jeden Tag zu besuchen pflegte, so war ich überrascht, daß er sich die Mühe nahm zu schreiben. Natürlich ging ich hin und als ich bei ihm eintraf, fand ich ihn in einem Zustand großer Aufregung. Er sagte mir, daß er endlich das wahre Geheimnis der Shakespeareschen Sonette entdeckt habe; daß alle gelehrten Kritiker bisher eine ganz falsche Fährte verfolgt hätten, und daß er der erste sei, der sich bloß auf innerliche Zeugnisse stützend, herausgebracht habe, wer W. H. sei. Er war außer sich vor Freude und wollte lange Zeit mir seine Theorie nicht auseinandersetzen. Endlich brachte er einen Haufen Notizen herbei, nahm sein Exemplar der Sonette vom Kamin, setzte sich nieder und hielt mir einen langen Vortrag über die ganze Sache.
Er wies zunächst darauf hin, daß der junge Mann, an den Shakespeare diese leidenschaftlichen Gedichte gerichtet habe, jemand gewesen sein müsse, der einen wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung seiner dramatischen Kunst ausgeübt habe und daß man dies weder von Lord Pembroke noch von Lord Southampton behaupten könne. Wer immer es aber auch sei, es könne niemand von hoher Geburt gewesen sein, wie dies sehr klar aus dem 25. Sonett vorgehe, worin Shakespeare sich denjenigen, die ›großer Fürsten Günstlinge‹ seien, gegenüberstelle. Er sagt dort ganz klar:
›Laß die, so in der Gunst der Sterne stehn.
Mit Titelprunk sich blähn und lauter Ehre;
Ich, fern von solchem Glanz, will ungesehn
An dem mich freun, was ich zumeist verehre.‹
und endet das Sonett, indem er sich zu dem niedern Stande, der ihm so lieb ist, beglückwünscht.
›Drum glücklich ich! Ich lieb' und bin geliebt,
Wo ich nie wank' und nichts beiseit mich schiebt.‹
Cyril erklärte, daß dieses Sonett ganz unverständlich sei, wenn wir annehmen wollten, daß es dem Grafen Pembroke oder dem Grafen Southampton gelte, zwei Männern, die zuhöchst im Range in England standen und mit Recht ›große Fürsten‹ genannt werden durften. Und um seine Ansicht zu unterstützen, las er mir das 124. und 125. Sonett, worin Shakespeare uns sagt, daß seine Liebe nicht ›ein Kind der Größe‹ sei, daß sie nicht ›leidet an eitlem Prunk‹, wohl aber gebaut sei ›fern vom Zufall‹. Ich hörte mit großem Interesse zu, denn ich glaube nicht, daß die Bemerkung jemals gemacht worden ist. Was aber folgte, war noch viel seltsamer und schien mir damals vollkommen Pembrokes Ansprüche zu entkräften. Wir wissen von Meres, daß die Sonette vor 1598 geschrieben worden sind, und das 104. Sonett berichtet uns, daß Shakespeares Freundschaft für W. H. bereits drei Jahre dauere. Nun kam Lord Pembroke, der 1580 geboren wurde, nach London nicht vor seinem 18. Jahr, das heißt nicht vor 1598, und Shakespeares Bekanntschaft mit W. H. muß 1594 begonnen haben oder spätestens 1595. Shakespeare kann also Lord Pembroke erst nach der Niederschrift der Sonette kennen gelernt haben.
Cyril betonte auch, daß Pembrokes Vater nicht vor 1601 starb, indes aus dem Verse
›Ihr hattet einen Vater, laßt den Sohn es künden‹
hervorgeht, daß der Vater W. H.s im Jahre 1598 tot war. Überdies sei es unsinnig, anzunehmen, daß irgendein Verleger jener Zeit, und die Vorrede ist von der Hand des Verlegers, die Kühnheit gehabt hätte, William Herbert Graf von Pembroke mit Herrn W. H. anzusprechen. Der Fall von Lord Buckhurst, den man einmal Mr. Sackville nenne, sei in Wirklichkeit kein entsprechendes Beispiel, denn Lord Buckhurst sei kein Pair gewesen, sondern bloß der jüngere Sohn eines Pairs und mit einem sogenannten Höflichkeitstitel und die Stelle in Englands Parnaß, wo von ihm gesprochen wird, ist keine formelle und feierliche Widmung, sondern bloß eine zufällige Anspielung. So wurden Lord Pembrokes angebliche Ansprüche von Cyril mit leichter Hand zerstört, und ich saß ganz verwundert da. Mit Lord Southampton hatte Cyril noch weniger Mühe. Southampton wurde in sehr jungen Jahren der Liebhaber von Elisabeth Vernon, so daß er keine Aufforderung, sich zu verheiraten, brauchte; er war nicht schön; er ähnelte nicht seiner Mutter, wie W. H.
›Wie du ein Spiegel deiner Mutter scheinst,
Der ihren holden Mai ihr ruft zurück.‹
Und vor allem war sein Vorname Heinrich, indes die Sonette mit den Wortspielen 135 und 143 beweisen, daß der Vorname von Shakespeares Freund derselbe war wie sein eigener, nämlich William.
Was die übrigen Hypothesen unglückseliger Kommentatoren betrifft, daß W. H. ein Druckfehler ist für W. S., was William Shakespeare bedeute, daß ›Mr. W. H. all‹ gelesen werden müßte Mr. W. Hall, daß Mr. W. H. Mr. William Hathaway sei, daß nach ›wünscht‹ ein Punkt gemacht werden müsse, so daß W. H. als der Schreiber und nicht als der Angesprochene bei der Widmung erscheine – so wurde Cyril in sehr kurzer Zeit damit fertig. Und es ist nicht der Mühe wert, seine Gründe anzuführen, obzwar ich mich erinnere, daß ich hellauf lachte, als er mir, gottlob nicht im Original, einige Auszüge von einem deutschen Kommentator namens Barnstorff vorlas, der darauf bestand, daß Mr. W. H. niemand anders sei, als ›Mr. William Himself‹. Er gab auch keinen Augenblick zu, daß die Sonette etwa nichts anderes wären, als bloße Satiren auf die Dichtungen von Drayton und John Davies von Hereford. Ihm wie auch mir erschienen sie als Gedichte von ernster und tragischer Bedeutung, die Shakespeare der Bitterkeit seines Herzens entrang und mit dem Honig seiner Lippen versüßte. Noch weniger wollte er zugeben, daß sie bloß eine philosophische Allegorie bedeuten sollten und daß in ihnen Shakespeare sich an sein ideales Ich wende, oder an das Ideal der Mannhaftigkeit, oder den Geist der Schönheit, oder die Vernunft oder das göttliche Wort oder an die katholische Kirche. Er fühlte, wie wir tatsächlich alle fühlen müssen, daß die Sonette an ein Individuum gerichtet sind, an einen bestimmten jungen Mann, dessen Persönlichkeit aus irgendeinem Grunde Shakespeares Seele mit schrecklicher Freude und in nicht geringerem Maße mit schrecklicher Verzweiflung erfüllt haben muß.
Nachdem er auf diese Weise gleichsam den Weg freigemacht hatte, bat mich Cyril, alle vorgefaßten Ideen, die ich vielleicht über dieses Thema haben könnte, beiseite zu lassen und seiner Theorie ein unbefangenes Gehör zu schenken. Das Problem, das er lösen wollte, war folgendes: wer war der junge Mann aus den Tagen Shakespeares, der, ohne von edler Geburt oder selbst von edler Wesensart zu sein, von ihm in Ausdrücken von so leidenschaftlicher Verehrung angeredet wurde, daß wir uns fast fürchten, an den Schlüssel zu rühren, der das Geheimnis des Dichterherzens öffnet? Wer war der Mann, dessen physische Schönheit so groß war, daß sie der Eckstein von Shakespeares Kunst wurde, die Quelle seiner Begeisterung, die Verkörperung seiner Träume? Ihn bloß als Gegenstand gewisser Liebesgedichte betrachten, heißt die ganze Bedeutung der Gedichte verkennen: denn die Kunst, von der Shakespeare in seinen Sonetten spricht, ist nicht die Kunst der Sonette selbst, die er als etwas Geringes und rein Persönliches betrachtete, sondern es ist die Kunst des Dramatikers, auf die er immer wieder anspielt; und er, von dem Shakespeare sagt:
›Mir bist du alle Kunst, und meine Roheit
Hebst du so hoch wie der Gelehrten Hoheit.‹
er, dem er Unsterblichkeit verspricht
›Dank meiner Feder lebt von dir die Kunde,
Wo Lebenslust meist lebt, im Menschenmunde.‹
war sicherlich niemand anderer, als der jugendliche Schauspieler, für den er Viola und Imogen schuf, Julia und Rosalinde, Portia und Desdemona und selbst Kleopatra. Das war Cyril Grahams Theorie, die, wie Sie sehen, allein aus den Sonetten selbst abgeleitet war und deren Annahme weniger von überzeugenden Beweisen oder äußeren Zeugnissen abhing, als von einer Art künstlerischen und geistigen Empfindens, durch das allein, wie er behauptet, die wahre Bedeutung der Gedichte erfaßt werden könnte. Ich erinnere mich, wie er mir das schöne Sonett vorlas:
›Kann meine Muse Stoffs zu wenig haben,
Solang du lebst? Du strömst in mein Gedicht
Dein eignes Thema, lieblich und erhaben;
Dafür genügen Alltagsverse nicht.
O dir allein muß aller Dank verbleiben,
Wenn Lesenswertes du entdeckst in mir;
Wer ist zu stumm, dir ein Gedicht zu schreiben,
Wenn unsre Dichtkunst Licht empfängt von dir!
Die zehnte Muse sei, zehnmal so hehr
Wie jene neun, zu denen Reimer flehen,
Und wer dich anruft, Rhythmen schaffe der
Unsterblich, die in fernster Frist bestehen!‹
und dabei betonte, wie vollständig es seine Theorie bestätige. Und so ging er tatsächlich sorgfältig alle Sonette durch und zeigte oder glaubte zu zeigen, daß nach seiner neuen Erklärung der Bedeutung der Gedichte die Dinge, die bisher dunkel oder schlecht oder übertrieben geschienen hatten, nun klar, vernünftig und von hoher künstlerischer Bedeutung wurden und Shakespeares Auffassung von den wahren Beziehungen zwischen der Kunst des Schauspielers und der Kunst des Dramatikers erläuterten.
Es ist natürlich klar, daß in Shakespeares Gesellschaft ein wunderbarer jugendlicher Schauspieler von großer Schönheit gewesen sein muß, dem er die Darstellung seiner edlen Heldinnen anvertraute. Denn Shakespeare war ebenso sehr praktischer Theaterdirektor wie phantasievoller Poet und Cyril Graham hatte in der Tat den Namen des Schauspielers entdeckt. Es war Will oder, wie er ihn zu nennen liebte, Willie Hughes. Den Vornamen fand er selbstverständlich in den Wortspielsonetten 135 und 143. Der Zuname war ihm zufolge verborgen in der siebenten Zeile des 20. Sonetts, wo W. H. beschrieben wird als:
›A man in hue, all Hues in his controlling.‹
und wie er annahm, bewies das klar, daß hier ein Wortspiel beabsichtigt war und seine Ansicht erhielt eine kräftige Unterstützung durch die Sonette, wo merkwürdige Wortspiele mit den Worten › use‹ und › usury‹ gemacht werden. Natürlich war ich gleich bekehrt, und Willie Hughes wurde für mich eine ebenso wirkliche Persönlichkeit wie Shakespeare selbst. Den einzigen Einwand, den ich gegen diese Theorie erhob, war, daß der Name Willie Hughes in der Liste der Schauspieler der Shakespeareschen Gesellschaft nicht vorkommt, wie sie in der ersten Folioausgabe abgedruckt ist. Aber Cyril wies darauf hin, daß gerade das Fehlen von Willie Hughes' Namen auf der Liste seine Theorie erst recht unterstütze, denn es werde aus dem Sonett 86 klar, daß Willie Hughes Shakespeares Gesellschaft verlassen hatte, um in einem Konkurrenztheater zu spielen, wahrscheinlich in irgendeinem Stücke von Chapman. Darauf bezieht sich, was in seinem großen Sonette über Chapman Shakespeare zu Willie Hughes sagt:
›Als deine Gunst begann sein Lied zu feilen.
Da schwand mein Stoff, da lahmten meine Zeilen.‹
Der Ausdruck › Your countenance filled up his line‹ bezieht sich offenbar auf die Schönheit des jungen Schauspielers, die Chapmans Versen Leben und Wirklichkeit und neue Reize gab. Und derselbe Gedanke kommt noch einmal vor im 79. Sonett –
›Als ich allein noch anrief deine Gunst,
Floß meinem Lied allein dein Anmutschatz!
Nun aber welkt die Anmut meiner Kunst,
Die Muse, krank, macht einer andern Platz.‹
und in dem unmittelbar vorangehenden Sonett, wo Shakespeare sagt
›Daß nun die ganze Zunft, wie ich's begann
Gedichte ausstreut unter deinem Schutze.‹
Das Wortspiel mit den Worten use und Hughes ist natürlich ganz klar und die Phrase ›Gedichte ausstreut unter deinem Schutze‹ bedeutet: ›durch deine Mitwirkung als Schauspieler ihre Stücke vor das Publikum bringt.‹
Es war ein wundervoller Abend, und wir saßen fast bis zur Morgendämmerung und lasen die Sonette immer wieder. Nach einiger Zeit begann ich jedoch einzusehen, daß es notwendig sei, ehe die Theorie in vollkommener Form der Welt vorgelegt werden könne, für die Existenz des Schauspielers Willie Hughes einen einwandfreien Beweis zu schaffen. In diesem Falle gäbe es keinen möglichen Zweifel mehr an seiner Identität mit W. H. Mißlang dieser Beweis, dann war es freilich nichts mit der Theorie. Ich setzte dies sehr ernsthaft Cyril auseinander, der sich einigermaßen über meine, wie er es nannte, philiströse Anschauung ärgerte und sehr bittere Worte brauchte. Aber ich nahm ihm das Versprechen ab, daß er in seinem eigenen Interesse seine Entdeckung nicht früher veröffentlichen würde, ehe er nicht alles über allen Zweifel erhoben hätte. Und wochenlang durchsuchten wir die Matrikeln in den Kirchen der Stadt, die Alleyn-Mss. in Dulwich, das Record Office, die Akten des Lord Chamberlain, kurz alles, was eine Anspielung auf Willie Hughes hätte enthalten können. Natürlich fanden wir nichts, und mit jedem Tag schien mir die Existenz von Willie Hughes problematischer zu werden. Cyril war in einem schrecklichen Zustande und ging mit der Absicht, mich zu überzeugen, die ganze Frage Tag für Tag durch. Aber ich sah die eine Lücke in der Theorie und ich wollte mich nicht überzeugen lassen, ehe nicht die tatsächliche Existenz von Willie Hughes, dem Schauspielerknaben aus der elisabethanischen Zeit, allen Zweifeln und Spitzfindigkeiten zum Trotz bewiesen wäre.
Eines Tages verließ Cyril die Stadt, um zu seinem Großvater zu gehen, wie ich damals glaubte. Aber ich hörte später von Lord Crediton, daß dies nicht der Fall gewesen war. Und vierzehn Tage später erhielt ich ein in Warwick aufgegebenes Telegramm von ihm, worin er mich bat, bestimmt abends um halb acht Uhr mit ihm zu speisen. Als ich eintrat, sagte er zu mir: ›Der einzige Apostel, der keinen Beweis verdiente, war der heilige Thomas, und der heilige Thomas war der einzige Apostel, dem er zuteil wurde‹. Ich fragte ihn, was er damit meine. Er antwortete, daß er nicht nur imstande gewesen sei, die Existenz eines Schauspielerknaben namens Willie Hughes im 16. Jahrhundert nachzuweisen, sondern auch das unumstößliche Zeugnis erbracht habe, daß dies der W. H. der Sonette sei. Er wollte mir in diesem Augenblicke nichts mehr sagen. Aber nach dem Essen brachte er mir feierlich das Bild herbei, das ich Ihnen gezeigt habe, und erzählte mir, daß er es ganz zufällig entdeckt habe, angenagelt an einen alten Kasten, den er in einem Pächterhause in Warwickshire gekauft habe. Den Kasten selbst, ein sehr feines Stück elisabethanischer Arbeit, hatte er natürlich mitgebracht und in der Mitte des vorderen Faches waren die Anfangsbuchstaben W. H. unzweifelhaft eingeschnitzt. Das Monogramm hatte seine Aufmerksamkeit erregt und er sagte mir, daß der Kasten schon einige Tage in seinem Besitz gewesen sei, ehe er daran gedacht habe, das Innere sorgfältig zu prüfen. Eines Morgens nun sah er, daß die eine Seite des Kastens viel dicker als die andere sei und bei näherer Prüfung entdeckte er an dieser Seite ein eingefügtes und eingerahmtes Holzbild. Er nahm es heraus, und es war das Bild, das nun auf dem Sofa liegt. Es war sehr schmutzig und ganz mit Schimmel bedeckt. Aber er reinigte es schließlich und sah zu seiner großen Freude, daß das, was er schon so lange gesucht hatte, ihm nun durch bloßen Zufall in die Hände gefallen sei. Da war ein authentisches Porträt von W. H., die Hand auf dem Widmungsblatt der Sonette, und auf dem Rahmen selbst konnte man undeutlich in schwarzen Unzialbuchstaben auf einem verblaßten Goldgrund den Namen des jungen Mannes lesen: ›Master Wil. Hews.‹
Was sollte ich nun sagen? Ich dachte keinen Augenblick daran, daß Cyril Graham mir einen Streich spielen wollte, oder daß er versuchte, seine Theorie mit Hilfe einer Fälschung zu beweisen.«
»Aber ist es denn eine Fälschung?« fragte ich.
»Natürlich«, sagte Erskine. »Es ist eine sehr gute Fälschung, aber darum nicht weniger eine Fälschung. Damals glaubte ich, daß Cyril ganz ruhig über die Sache denke. Aber ich erinnere mich, daß er mir mehr als einmal sagte, er selbst brauche keinen Beweis und daß er an seine Theorie auch ohne Beweis glaube. Ich lachte darüber und sagte ihm, daß ohne Beweis seine Theorie nicht haltbar sei, und ich beglückwünschte ihn in warmen Worten zu seiner wunderbaren Entdeckung. Wir beschlossen dann, daß das Bild gestochen oder faksimiliert werden sollte, um als Titelblatt für Cyrils Ausgabe zu dienen. Und drei Monate lang tat ich nichts anderes, als jedes Gedicht Zeile für Zeile durchzugehen, bis wir jede Schwierigkeit des Textes oder des Sinnes gelöst hatten. Eines unglückseligen Tages war ich in einem Kupferstichladen in Holborn, wo ich oberhalb des Pultes einige wundervolle Zeichnungen in Silberstift hängen sah. Sie gefielen mir so sehr, daß ich sie kaufte, und der Ladenbesitzer, ein Mann namens Rawlings, sagte mir, daß ein junger Maler namens Edward Merton sie gemacht habe, ein sehr geschickter Mensch, aber arm wie eine Kirchenmaus. Einige Tage später suchte ich Merton auf, nachdem ich seine Adresse von dem Kupferstichhändler erfahren hatte, und ich fand einen blassen, interessanten jungen Mann mit einer etwas gewöhnlich aussehenden Frau, seinem Modell, wie ich später erfuhr. Ich sagte ihm, wie sehr ich seine Zeichnungen bewundert hätte, was ihn offenbar sehr freute, und ich bat ihn, mir noch einige von seinen anderen Sachen zu zeigen. Als wir seine Mappe durchblätterten, die ganz voll war mit wirklich entzückenden Sachen – Merton hatte eine sehr zarte und anmutige Stilführung –, entdeckte ich plötzlich eine Zeichnung des Bildes von W. H. Kein Zweifel war möglich. Es war fast wie ein Faksimile. Der einzige Unterschied war der, daß die beiden Masken, Tragödie und Komödie, nicht an der Marmortafel hingen wie auf dem Bilde, sondern auf dem Boden zu den Füßen des jungen Mannes lagen. ›Wo um Himmels willen haben Sie das her?‹ sagte ich. Er wurde etwas verlegen und antwortete: ›Oh, das ist nichts. Ich wußte nicht, daß das in dieser Mappe sei. Es hat gar keinen Wert.‹ ›Das ist doch das Ding, das du für Herrn Cyril Graham gemacht hast!‹ rief seine Frau. ›Und wenn dieser Herr es zu kaufen wünscht, so laß es ihm doch.‹ ›Für Herrn Cyril Graham?‹ wiederholte ich. ›Haben Sie das Bildnis des Herrn W. H. gemalt?‹ ›Ich verstehe nicht, was Sie meinen,‹ antwortete er und wurde sehr rot. Die ganze Geschichte war furchtbar peinlich. Die Frau verriet alles. Ich gab ihr fünf Pfund, als ich wegging. Ich kann jetzt gar nicht daran denken. Natürlich war ich wütend. Ich ging sofort zu Cyrils Wohnung, wartete dort drei Stunden, bevor er kam, und die schreckliche Lüge starrte mir entgegen; ich sagte ihm, daß ich seine Fälschung entdeckt hätte. Er wurde sehr bleich und erwiderte: ›Ich tat es einzig und allein Ihretwegen. Sie wollten sich nicht anders überzeugen lassen. Das berührt die Wahrheit der Theorie durchaus nicht.‹ ›Die Wahrheit der Theorie?‹ rief ich aus. ›Je weniger wir darüber sprechen, desto besser. Sie selbst haben nie daran geglaubt, sonst hätten Sie nicht eine Fälschung begangen, um sie zu beweisen.‹ Es fielen erregte Worte. Wir stritten heftig. Vielleicht wurde ich ungerecht. Am nächsten Morgen war er tot.«
»Tot?« rief ich.
»Ja, er erschoß sich mit einem Revolver. Einige Tropfen Blut spritzten auf den Rahmen des Bildes, gerade dort, wo der Name geschrieben steht. Als ich kam – sein Diener hatte sofort nach mir geschickt –, war die Polizei bereits an Ort und Stelle. Er hatte einen Brief für mich hinterlassen, der offenbar in der größten Aufregung und Geistesverwirrung geschrieben war.«
»Was stand darin?« fragte ich.
»Es stand darin, daß er unbedingt an Willie Hughes glaube und daß die Fälschung des Bildes nur mir zuliebe geschehen sei und nicht im allergeringsten Maße die Richtigkeit der Theorie zweifelhaft mache. Und daß, um mir zu zeigen, wie fest und unerschütterlich sein Glaube in die ganze Sache sei, er sein Leben dem Geheimnis der Sonette zum Opfer bringen wolle. Es war ein törichter, toller Brief. Ich erinnere mich, daß er am Ende sagte, er lege nun die Theorie von Willie Hughes in meine Hände und es sei nun meine Aufgabe, sie der Welt bekannt zu machen und das Geheimnis von Shakespeares Herzen zu enthüllen.«
»Das ist eine sehr tragische Geschichte!« rief ich aus. »Aber warum haben Sie den Wunsch des Toten nicht erfüllt?«
Erskine zuckte die Schultern. »Weil die Theorie vom Anfang bis zum Ende ein Unsinn ist«, antwortete er.
»Mein lieber Erskine«, sagte ich und stand auf. »Sie haben in der ganzen Sache vollständig unrecht. Die Theorie ist der einzige vollkommene Schlüssel zu Shakespeares Sonetten, der bis heute gefunden worden ist. Jedes Detail stimmt. Ich glaube an Willie Hughes.«
»Sagen Sie das nicht«, sagte Erskine sehr ernst. »Ich glaube, diese Idee bringt Unglück mit sich. Und Vernünftiges läßt sich dafür nicht sagen. Ich habe die ganze Sache gründlich untersucht und versichere Ihnen, die Theorie ist durch und durch irrig. Bis zu einem gewissen Punkte mag sie einleuchtend sein. Aber dann ist auch alles aus. Um Gottes willen, mein lieber Freund, nehmen Sie sich nicht der Sache Willie Hughes an. Ihr Herz wird darüber brechen.«
»Erskine,« antwortete ich, »es ist Ihre Pflicht, die Theorie der Welt vorzulegen. Tun Sie es nicht, so werde ich es tun. Indem Sie die Sache unterdrücken, schädigen Sie das Andenken Cyril Grahams, des letzten und glänzendsten Märtyrers der Literatur. Ich beschwöre Sie, geben Sie ihm, was ihm gebührt. Er starb für diese Sache, lassen Sie ihn nicht umsonst gestorben sein.«
Erskine schaute mich ganz überrascht an. »Das Gefühl für die Sache reißt Sie fort«, sagte er. »Sie vergessen, daß eine Sache nicht notwendigerweise wahr sein muß, weil ein Mann für sie gestorben ist. Ich war Cyril Graham ein treuer Freund. Sein Tod war ein furchtbarer Schlag für mich. Ich habe ihn Jahre lang nicht verwunden. Ich glaube, daß ich ihn überhaupt nicht verwunden habe. Aber Willie Hughes? Was ist uns Willie Hughes? Er hat niemals gelebt. Und der Welt die Sache vorlegen? Die Welt glaubt, daß ein zufällig losgegangener Schuß Cyril Graham getötet hat. Der einzige Beweis seines Selbstmordes war in seinem Briefe an mich enthalten und von diesem Briefe hat die Öffentlichkeit nie etwas gehört. Bis auf den heutigen Tag glaubt Lord Crediton, daß die ganze Sache nur ein unglückseliger Zufall war.«
»Cyril Graham opferte sein Leben einer großen Idee«, antwortete ich. »Und wenn Sie nicht von seinem Märtyrertum berichten wollen, so erzählen Sie wenigstens von seinem Glauben.«
»Sein Glaube«, sagte Erskine, »betraf eine Sache, die falsch war, eine Sache, die ein Unsinn war, eine Sache, die kein Shakespeareforscher nur einen Augenblick ernst nehmen kann. Die Theorie würde ausgelacht werden. Seien Sie kein Narr und folgen Sie nicht einer Spur, die nirgends hinführt. Sie gehen von der Existenz einer Person aus, deren Existenz gerade das ist, was bewiesen werden soll. Überdies weiß jedermann, daß die Sonette an Lord Pembroke gerichtet waren. Die Sache ist ein für allemal entschieden.«
»Die Sache ist nicht entschieden!« rief ich aus. »Ich will die Theorie dort aufnehmen, wo Cyril Graham sie gelassen hat, und ich werde der Welt beweisen, daß er recht hatte.«
»O Sie Tor!« sagte Erskine, »gehen Sie nach Hause. Es ist zwei Uhr vorbei. Und denken Sie nicht mehr an Willie Hughes. Es tut mir leid, daß ich Ihnen überhaupt etwas erzählt habe und es täte mir sehr leid, Sie zu einer Sache bekehrt zu haben, die ich selbst nicht glaube.«
»Sie haben mir den Schlüssel gegeben zum größten Geheimnis der modernen Literatur«, antwortete ich. »Und ich werde nicht ruhen noch rasten, bis nicht Sie, bis nicht die ganze Welt erkannt hat, daß Cyril Graham der feinste Shakespeareforscher unserer Tage gewesen ist.«
Als ich durch den St.-James-Park heimging, dämmerte der Morgen gerade über London. Die weißen Schwäne lagen schlafend auf dem glatten Spiegel des Sees und der schlanke Palast erschien purpurn gegen den blaßgrünen Himmel. Ich dachte an Cyril Graham und meine Augen füllten sich mit Tränen.
Es war zwölf Uhr vorbei, als ich erwachte. Und die Sonne strömte durch die Vorhänge meines Zimmers in langen, schrägen Strahlen von Goldstaub. Ich sagte meinem Diener, daß ich für niemand zu Hause wäre. Und nachdem ich meine Tasse Schokolade und mein Brötchen genommen, holte ich aus meiner Bücherei mein Exemplar der Shakespeareschen Sonette und begann sie sorgfältig durchzugehen. Jedes Gedicht schien mir Cyril Grahams Theorie zu bekräftigen. Mir war, als läge meine Hand auf Shakespeares Herz und als könnte ich jeden einzelnen Schlag der pulsierenden Leidenschaft zählen. Ich dachte an den wunderbaren jugendlichen Schauspieler und aus jeder Zeile blickte mir sein Gesicht entgegen. Ich erinnere mich, daß mir zwei Sonette besonders auffielen, das 53. und das 67. In dem ersteren beglückwünscht Shakespeare Willie Hughes zu der Vielseitigkeit seiner Schauspielkunst, zur großen Skala seiner Rollen, einer Skala, die von der Rosalinde zur Julia und von der Beatrice zur Ophelia geht und sagt zu ihm:
Aus welchen Stoffen schuf dich die Natur,
Daß tausend fremde Schatten dich begleiten?
Ein Schatten folgt uns, jedem einer nur;
Dir folgt der Schatten aller Herrlichkeiten.
Die Verse wären ganz unverständlich, wenn sie nicht an einen Schauspieler gerichtet wären, denn das Wort »Schatten« hatte zu Shakespeares Zeiten eine bühnentechnische Bedeutung. »Das beste dieser Art sind bloß Schatten«, sagt Theseus von den Schauspielern im Sommernachtstraum, und es gibt zahlreiche ähnliche Anspielungen in der damaligen Literatur. Diese Sonette gehörten offenbar zu den Werken, in denen Shakespeare das Wesen der Schauspielerkunst, das merkwürdige und seltene Temperament, das für den Schauspieler notwendig ist, erörtert. »Wie kommt es,« sagt Shakespeare zu Willie Hughes, »daß du so viele Persönlichkeiten in dir hast?« Und dann geht er hin und beweist, daß seine Schönheit derart ist, daß sie jede Form und Art der Phantasie zu verwirklichen scheint, daß sie jeden Traum der Schöpferkraft verkörpert, – ein Gedanke, der noch weiter ausgeführt ist in dem nächsten Sonett, wo Shakespeare mit dem schönen Gedanken beginnend:
O wie viel schöner wird die Schönheit doch,
Wenn sie der holde Schmuck der Wahrheit hebt!
uns darauf aufmerksam macht, wie die Wahrheit der Schauspielkunst, die Wahrheit der sichtbaren Darstellung auf der Bühne das Wunder der Dichtung erhöht, ihrer Anmut Leben gibt und ihrer idealen Form Wirklichkeit verleiht. Und doch fordert Shakespeare im 67. Sonett Willie Hughes auf, die Bühne zu verlassen mit all ihrer Künstlichkeit, ihrem falschen Spiel des geschminkten Gesichts und unwahren Kostüms, mit ihren unmoralischen Einflüssen und Verlockungen, ihrer Ferne von der wahren Welt der edlen Tat und der aufrichtigen Rede.
O warum lebt er heut in kranker Welt,
Mit seiner Gegenwart das Laster zierend,
Wo Sünde Vorschub nun durch ihn erhält,
Mit seinem Umgang sich herausstaffierend?
Wo falsche Schminke nachäfft seine Wangen
Und seinem Leben stiehlt ihr totes Rot,
Wo dürft'ge Schönheit, um gleich ihm zu prangen,
Gemalte Rosen sucht in ihrer Not?
Es mag seltsam erscheinen, daß ein so großer Dramatiker wie Shakespeare, der seine eigene Vollendung als Künstler und seine Menschlichkeit als Mann auf dem idealen Boden der Bühnenkunst und des Bühnenspiels wohl kannte, in solchen Ausdrücken vom Theater geschrieben hat. Aber wir müssen daran erinnern, daß in den Sonetten 110 und 111 uns Shakespeare zeigt, wie auch er der Puppenwelt müde war und wie er sich schämte, »ein Narr vor den Leuten« gewesen zu sein. Das 111. Sonett ist besonders bitter:
Schilt auf Fortunen für mein übles Leben,
Die schuld'ge Göttin, die mich Armen zwingt,
Daß sie zum Leben Beßres nicht gegeben
Als Pöbeldienst, der Pöbelsitten bringt.
Drum trägt mein Nam' ein Brandmal eingebrannt;
Drum geht mein Wesen fast in dem verloren,
Worin es wirkt, wie eines Färbers Hand.
Fühl' Mitleid denn und wünsch' mich neugeboren.
Und so gibt es auch anderwärts viele Andeutungen desselben Gefühls, Stellen, die allen Shakespeareforschern vertraut sind. Etwas machte mir sehr großes Kopfzerbrechen, als ich die Sonette las, und es dauerte Tage, bis ich die richtige Deutung fand, die Cyril Graham selbst verfehlt zu haben scheint. Ich konnte nicht verstehen, wieso es kam, daß Shakespeare einen so großen Wert auf die Verheiratung seines jungen Freundes legte. Er selbst hatte jung geheiratet und das Ergebnis war höchst unglücklich gewesen und es schien nicht wahrscheinlich, daß er von Willie Hughes verlangte, den gleichen Irrtum zu begehen. Der jugendliche Schauspieler, der die Rosalinde spielte, hatte von der Ehe und von den Leidenschaften des wirklichen Lebens nichts zu erwarten. Die früheren Sonette schienen mir durch ihre merkwürdige Aufforderung, Kinder zu zeugen, einen falschen Ton zu haben. Die Erklärung des Geheimnisses kam mir ganz plötzlich und ich fand sie in der merkwürdigen Widmung. Diese Widmung lautet bekanntlich folgendermaßen:
»Dem alleinigen Erzeuger
dieser nachstehenden Sonette
Mr. W. H. wünscht alles Glück
Und jene Unsterblichkeit
verheißen von
unserm ewig lebenden Dichter
der wohlwollende Unternehmer
beim Beginne
T. T.«
Einige Forscher haben angenommen, daß das Wort »Erzeuger« in der Widmung nichts anderes bedeute als den Mann, der die Sonette dem Verleger Thomas Thorpe verschafft habe; aber diese Annahme ist längst aufgegeben und die höchsten Autoritäten sind darüber einig, daß das Wort im Sinne einer Inspiration genommen werden muß; die Metapher ist hier nichts anderes als eine Analogie mit dem physischen Leben. Nun fand ich, daß dieselbe Metapher von Shakespeare in allen Gedichten gebraucht werde und das führte mich auf den richtigen Weg. Schließlich machte ich meine große Entdeckung. Die Ehe, die Shakespeare Willie Hughes vorschlägt, ist die Ehe mit der Muse, ein Ausdruck, der in dieser Form im 82. Sonett vorkommt, wo er tief erbittert über den Abfall des jugendlichen Schauspielers, für den er seine besten Rollen geschrieben hatte und dessen Schönheit ihn im Banne hielt, die Klage mit den Worten beginnt:
»Du bist ja meiner Muse nicht vermählt.«
Die Kinder, die zu erzeugen er ihn beschwört, sind nicht Kinder von Fleisch und Blut, sondern die unsterblichen Kinder unvergänglichen Ruhmes. Der ganze Zyklus der ersten Sonette ist nichts anderes als Shakespeares Bitte an Willie Hughes, auf die Bühne zu gehen und Schauspieler zu werden. »Wie unfruchtbar und nutzlos ist deine Schönheit,« sagt er, »wenn sie nicht genützt wird.«
Wann vierzig Winter erst dein Haupt berennen
Und in der Schönheit Plan Laufgräben ziehn,
Wer wird dein Jugendstaatskleid dann noch kennen,
Und den zerfetzten Rock, wer achtet ihn?
Befragt alsdann: »Wo blieb all deine Zier?
Wo deines Frühlings stolzes Eigentum?«
Zu sagen: »In den hohlen Augen hier«,
Wär' allverzehr'nde Schmach und Bettelruhm.
Du mußt irgend was in der Kunst schaffen; mein Vers »ist dein und von dir geboren«. Hör' nun auf mich und ich will »Rhythmen schaffen, unsterblich, die in fernster Frist bestehen«. Und du wirst mit den Formen deines eigenen Bildes die Phantasiewelt der Bühne bevölkern. Diese Kinder, die du haben wirst, fährt er fort, werden nicht verwelken wie sterbliche Kinder, sondern du wirst in ihnen und in meinen Stücken leben.
»Schaff dir ein andres du zuliebe mir,
Daß Schönheit leb' im dein'gen oder dir.«
Ich sammelte alle Stellen, die diese Auffassung zu bestätigen schienen, und sie machten auf mich einen starken Eindruck und bewiesen mir, wie vollständig Cyril Grahams Theorie in Wahrheit war. Ich sah auch, daß es ganz leicht sei, die Verse, in welchen er von den Sonetten selbst spricht, von jenen abzusondern, in welchen er von seinen großen dramatischen Werken spricht. Das war ein Punkt, der bisher von allen Forschern, bis auf Cyril Graham, übersehen worden war. Und doch war es einer der wichtigsten Punkte in der ganzen Reihe der Gedichte. Shakespeare selbst war seinen Sonetten gegenüber mehr oder weniger gleichgültig. Er wollte seinen Ruhm nicht auf ihnen begründen. Sie bedeuteten ihm die leichte Muse, wie er es nennt, und sie waren, wie Meres erzählt, nur bestimmt, unter wenigen, sehr wenigen Freunden von Hand zu Hand zu gehen. Andrerseits war er sich durchaus des hohen künstlerischen Wertes seiner Stücke bewußt und zeigt ein edles Selbstvertrauen auf sein dramatisches Genie. Wenn er zu Willie Hughes sagt:
Nie aber wird dein ew'ger Sommer schwinden,
Noch jene Schönheit missen, die du hast;
Nie wird der Tod im Schattenreich dich finden,
Wann dich die Zeit in ew'ge Verse faßt.
Solang noch Menschen atmen, Augen sehn,
Lebt
dies und gibt dir Leben und Bestehn.
Der Ausdruck »ew'ge Verse« spielt offenbar auf eines der Stücke an, das er ihm damals schickte, und die letzten zwei Zeilen zeugen für seinen Glauben, daß seine Stücke immer gespielt werden würden. In seiner Anrufung der dramatischen Muse, Sonette 100 und 101, finden wir dasselbe Gefühl.
»Wo bist du, Muse, daß du säumst so lange,
Dem, was dir alle Macht gab, Lob zu weihn?
Verbrauchst du deine Glut in eitlem Sange,
Verdunkelst dich, um Schlechtem Glanz zu leihn?«
ruft er aus und dann beginnt er der Herrin der Tragödie und Komödie wegen ihrer »Vernachlässigung der Wahrheit in den Farben der Schönheit« Vorwürfe zu machen, und sagt:
»Schweigst du, weil er des Lob's dich überhebe?
O leere Ausflucht! Deines Amtes ist,
Daß er sein gülden Grabmal überlebe
Und Lob ihm werde bis zur fernsten Frist.
Ans Werk denn, Muse! Wie, das lehr' ich dir,
Daß ihn die späte Zukunft kennt wie wir.«
Vielleicht aber ist das 55. Sonett dasjenige, in dem Shakespeare diesem Gedanken den vollsten Ausdruck gibt. Anzunehmen, daß die »mächtigen Verse« in der zweiten Zeile sich auf das Sonett selbst beziehen, hieße Shakespeares Absicht vollständig mißverstehen. Es schien mir, nach dem ganzen Charakter des Sonetts zu schließen, höchstwahrscheinlich, daß ein bestimmtes Stück gemeint sei und daß dieses Stück kein anderes sei als »Romeo und Julia«.
Kein gülden Fürstenbild, kein Marmelstein
Wird diese mächt'gen Verse überleben;
Sie werden dir ein hell'es Denkmal sein
Als Quadern, die vom Schmutz der Zeiten kleben.
Ob Zwietracht stürzt der Häuser fest Gemäuer,
Ob wüster Krieg die Statuen niederrennt,
Kein Schwert des Mars, kein fressend Kriegesfeuer
Tilgt deines Ruhms lebendig Monument.
Trotz Tod und feindlicher Vergessenheit
Sollst du bestehn, soll Raum dein Name finden
Noch in den Augen allerfernsten Zeit,
Bis die Geschlechter dieser Welt verschwinden.
Bis am Gerichtstag du dich selbst erhebst,
Wohnst du im Auge Liebender und lebst.
Es ist außerordentlich interessant zu beobachten, wie hier sowie anderwärts Shakespeare Willie Hughes Unsterblichkeit in einer den Menschen sichtbaren Form verspricht, d. h. im Rahmen des Theaters, in einem Stücke der Schaubühne.
Zwei Wochen arbeitete ich eifrig an den Sonetten, ging kaum aus und nahm keine Einladung an. Jeden Tag glaubte ich etwas Neues zu entdecken und Willie Hughes schien mir im Geist gegenwärtig zu sein, eine alles beherrschende Persönlichkeit. Mir kam vor, als stünde er im Schatten meines Zimmers, so gut hatte Shakespeare ihn gezeichnet mit seinem goldenen Haar, mit seiner zarten, blütengleichen Grazie, seinen verträumten, tief eingesunkenen Augen, seinen feinen beweglichen Lippen und seinen weißen Lilienhänden. Selbst sein Name bezauberte mich. Willie Hughes! Willie Hughes! Wieviel Musik liegt in diesem Namen! Ja, wer anders als er konnte Herr-Herrin von Shakespeares Leidenschaft sein (20/2), der Herr seiner Liebe, dem er untertan war (26/1), der zarte Liebling der Natur (126/9), die Rose der ganzen Welt (Sonett 109/14), der Herold aller Frühlingsreize (Sonett 1/10), gehüllt in das stolze Staatskleid der Jugend (Sonett 2/3), der zarte Knabe, den zu hören süßer Musik gleichkommt (Sonett 8/1) und dessen Schönheit das Kleid von Shakespeares Herzen war (Sonett 22/6), wie der Eckstein seiner dramatischen Kunst. Wie bitter erscheint nun die ganze Tragödie seines Abfalls und seiner Schmach, einer Schmach, die er süß und lieblich machte (Sonett 95/1), durch den bloßen Zauber seiner Persönlichkeit, aber die trotzdem eine Schmach blieb. Da ihm aber Shakespeare vergab, sollten wir ihm nicht auch vergeben? Ich wollte nicht an das Geheimnis seiner Sünde rühren.
Daß er Shakespeares Theater verließ, war eine andere Sache und ich durchforschte sie mit großer Mühe. Schließlich kam ich zu dem Schlusse, daß Cyril Graham sich geirrt hatte, als er annahm, der dramatische Nebenbuhler des 80. Sonetts sei Chapman. Es ist offenbar Marlowe, der hier gemeint ist. Zur Zeit, als die Sonette geschrieben wurden, konnte ein Ausdruck wie »der stolze Vollsegel seines gewaltigen Verses« nicht auf Chapman angewendet werden, wenn er auch auf den Stil seiner späteren Stücke anwendbar gewesen wäre. Nein. Marlowe war offenbar der dramatische Nebenbuhler, von dem Shakespeare in so lobendem Tone sprach. Und jener »gütige, vertraute Geist, der nächtlich mit Klugheit ihn betrügt«, war der Mephistopheles seines Doktor Faustus. Zweifellos war Marlowe bezaubert von der Schönheit und Grazie des jugendlichen Schauspielers und lockte ihn vom Blackfriars Theater fort, damit er den Gaveston in seinem Eduard II. spiele. Daß Shakespeare das gesetzliche Recht hatte, Willie Hughes in seiner eigenen Truppe zurückzuhalten, geht aus dem Sonett 87 hervor, wo er sagt:
»Leb' wohl! Du weißt, dein Wert ist viel zu groß,
Als daß ich dauernd dich besitzen könnte;
Der Freibrief deines Wertes spricht dich los;
Erloschen ist die Pacht, die mir dich gönnte.
Durch deine Schenkung wardst du meine Habe,
Und wie verdient' ich je so reiche Spende?
Der Rechtsgrund fehlt in mir für solche Gabe,
Und folglich ist's mit meinem Recht zu Ende.
Du gabst dich mir, unkundig deines Wertes,
Wohl auch getäuscht in mir, der ihn empfangen.
Nun ist die Schenkung als ein aufgeklärtes
Versehen an dich selbst zurückgegangen.
So hab' ich dich gehabt, wie Träum' entweichen,
Im Schlaf ein König, wachend nichts dergleichen.«
Aber den er nicht durch Liebe halten konnte, wollte er nicht durch Gewalt festhalten. Willie Hughes wurde ein Mitglied von Lord Pembrokes Truppe und vielleicht spielte er im offenen Hofe der Red Bull Tavern die Rolle von König Eduards zartem Liebling. Nach Marlowes Tode scheint er zu Shakespeare zurückgekehrt zu sein, der, was auch seine Mitteilhaber über die Affäre gesagt haben mögen, nicht zögerte, dem jungen Schauspieler die Eigenwilligkeit und den Verrat zu verzeihen.
Wie vortrefflich hat übrigens Shakespeare das Temperament des Schauspielers gezeichnet! Willie Hughes war einer von denen, »die nicht das tun, was sie am meisten zeigen und andere rührend selbst ungerührt bleiben wie Stein.«
Er konnte Liebe spielen, aber er konnte sie nicht fühlen, er konnte Leidenschaft darstellen, ohne sie zu empfinden.
»Bei vielen liest man gleich, was sich begeben
In Launen, Runzeln, finstrem Angesicht.«
Aber mit Willie Hughes stand es nicht so. »Dich aber,« sagt Shakespeare in einem Sonett voll wilder Anbetung,
»Dich aber hat der Himmel so geschaffen,
Daß süße Liebe stets dein Aug' erfüllt,
Und welche Abgründ' auch im Herzen klaffen,
Dein Blick nur Süßigkeit von dort enthüllt.«
In seinem »unbeständigen Geiste«, in seinem »falschen Herzen« war es leicht, die Unaufrichtigkeit und den Verrat zu erkennen, die gewissermaßen unzertrennlich sind von der künstlerischen Natur, ebenso wie die Sehnsucht nach unmittelbarer Anerkennung, die alle Schauspieler kennzeichnet. Und doch war Willie Hughes darin glücklicher als andere Schauspieler, denn er sollte einen Hauch der Unsterblichkeit verspüren. Untrennbar verknüpft mit Shakespeares Stücken war es ihm bestimmt, in ihnen zu leben.
»Dein Name wird fortan unsterblich leben;
Ich, einmal tot, sterb' ab für alle Zeit;
Mir wird die Erd' ein Grab wie andern geben;
Dir ist der Nachwelt Aug' als Gruft geweiht.
Mein feines Lied wird dann dein Grabmal sein,
Und unerschaffne Augen werden's lesen:
Ruhm, der erst sein wird, preist dereinst dein Sein,
Wann alle Atmer dieser Zeit verwesen.«
Dann waren da endlose Anspielungen auf Willie Hughes' Macht über die Zuhörer, die Gaffer, wie Shakespeare sie nennt. Aber vielleicht die vollkommenste Schilderung seiner wunderbaren Beherrschung der dramatischen Kunst steht in der »Klage der Liebenden«, wo Shakespeare von ihm sagt:
Er ist ein Inbegriff von feinen Stoffen,
Die sich in jede Form beliebig fügen;
Bald wild und kühn, bald blaß und wie betroffen,
Bald schlau versteckt, bald ungestüm und offen,
Versteht er's stets aufs beste, zu betrügen.
Ihm stehen Schamrot, Ohnmacht, bleicher Schreck
Sogleich zu Diensten, je nach seinem Zweck.
Auf seiner Zunge wachten oder schliefen
Die Gründe zur Entscheidung schwerer Fragen,
Sein Blick durchmaß im Nu des Denkens Tiefen,
Er wußte rasch das rechte Wort zu sagen;
Der Hörer weinte, lachte vor Behagen,
Wie's
ihm gefiel, denn seines Geistes Kraft
Beherrschte spielend jede Leidenschaft.
Übersetzung von Wilhelm Jordan.
Einmal glaubte ich auch, daß ich wirklich Willie Hughes in der Literatur der elisabethanischen Zeit gefunden hätte. In einer wundervollen plastischen Schilderung der letzten Tage des großen Grafen Essex, erzählt uns sein Kaplan Thomas Knell, daß der Graf in der Nacht, bevor er starb, »William Hews« rufen ließ, seinen Musiker, damit er auf dem Spinett spiele und singe. »Spiele«, sagte er, »mein Lied, Will Hews, und ich will selbst es singen.« Das tat er denn auch mit großer Freudigkeit, »nicht wie ein klagender Schwan, der niederwärts blickend seinen Tod beklagt, sondern wie eine süße Lerche, die ihre Flügel hebt und die Augen aufschlägt zu Gott, und so schwang er empor zum kristallnen Himmel und erreichte mit nimmermüdem Gesang die blaue Höhe.« Gewiß war der Knabe, der vor dem sterbenden Vater von Sidneys Stella Spinett spielte, kein anderer als Willie Hughes, dem Shakespeare die Sonette widmete und der, wie er selbst sagt, »Musik dem Ohre war.« Aber Lord Essex starb 1576, als Shakespeare erst 12 Jahre alt war. Sein Musiker konnte unmöglich mit dem W. H. der Sonette identisch sein. Vielleicht war Shakespeares junger Freund der Sohn des Spinettspielers. Es war immerhin etwas, entdeckt zu haben, daß William Hews ein elisabethanischer Name war. In der Tat schien der Name Hews mit Musik und Bühne eng verknüpft zu sein. Die erste englische Schauspielerin war die reizende Margaret Hews, die Prinz Rupert so toll liebte. Was ist wahrscheinlicher, als daß zwischen ihr und Lord Essex' Musiker der Schauspielerknabe der Shakespearestücke stand? Aber wo waren die Beweise, die Verbindungsglieder? Ich konnte sie leider nicht finden. Es schien mir, als stünde ich immer an der Schwelle der vollkommenen Aufklärung, aber ich konnte sie niemals wirklich fassen.
Meine Gedanken schweiften bald von Willie Hughes' Leben zu seinem Tode. Ich grübelte oft darüber, wie wohl sein Ende gewesen sein könnte.
Vielleicht war er einer jener englischen Komödianten, die 1604 übers Meer nach Deutschland gingen und vor dem großen Herzog Heinrich Julius von Braunschweig spielten, der selbst ein Dramatiker von nicht geringem Range war, und am Hofe jenes seltsamen Kurfürsten von Brandenburg, der so für Schönheit schwärmte, daß er von einem reisenden griechischen Kaufmann dessen Sohn um sein Gewicht in Bernstein gekauft und zu Ehren seines Sklaven Feste gegeben haben soll, das ganze schreckliche Jahr 1606/07 hindurch, als das Volk vor Hunger auf den Straßen dahinstarb und sieben Monate lang kein Regen fiel. Wir wissen auf jeden Fall, daß Romeo und Julia 1613 in Dresden herauskam, gleichzeitig mit Hamlet und König Lear, und gewiß ward niemand anderem als Willie Hughes im Jahre 1616 die Totenmaske von Shakespeare durch einen Herrn aus dem Gefolge des englischen Botschafters gebracht, ein bleiches Abschiedszeichen des großen Dichters, der ihn so heiß geliebt hatte. Es hätte in der Tat etwas besonders Bestrickendes in dem Gedanken gelegen, daß der jugendliche Schauspieler, dessen Schönheit ein so starkes Lebenselement in dem Realismus und der Romantik von Shakespeares Kunst gewesen war, zuerst den Samen der neuen Kultur nach Deutschland brachte und so in seiner Weise der Vorläufer jener Aufklärung oder Erleichterung des 18. Jahrhunderts war, jener glänzenden Bewegung, die, wenn auch von Lessing und Herder begonnen und von Goethe zur höchsten und vollkommenen Höhe gebracht, in nicht geringem Maße von einem anderen Schauspieler, nämlich Friedrich Schröder, gefördert wurde, der das Volksbewußtsein erweckte und durch die Mittel gespielter Leidenschaften und szenischer Darstellungen die intime und lebendige Verbindung zwischen Literatur und Leben aufzeigte. War dem so – und gewiß sprach nichts unbedingt dagegen, so war es nicht unwahrscheinlich, daß Willie Hughes einer jener englischen Komödianten war ( mimae quidam ex Britannia, wie die alte Chronik sie nennt), die in Nürnberg bei einem plötzlichen Volksaufstand erschlagen und dann heimlich in einem kleinen Weinberge außerhalb der Stadt von einigen jungen Leuten begraben wurden, »die Vergnügungen gefunden an ihren Darbietungen und von denen einige Unterricht in den Geheimnissen der neuen Kunst gesucht hatten.« Gewiß konnte für den, von dem Shakespeare gesagt hatte, »du bist meine ganze Kunst,« kein passenderer Begräbnisort gefunden werden, als dieser kleine Weinberg vor den Stadtmauern. Entsprang nicht auch die Tragödie den Leiden des Dionysos? Klang nicht das helle Gelächter der Komödie mit seiner sorglosen Fröhlichkeit und seinen schlagfertigen Antworten zuerst von den Lippen sizilianischer Winzer, gaben nicht die purpurnen und roten Flecken des schäumenden Weines auf Gesicht und Gliedern die erste Anregung zu dem Reiz und Zauber, der in der Verkleidung liegt? Zeigte sich nicht auf diese Weise der Wunsch, sein Selbst zu verbergen, der Sinn für den Wert der Objektivität, in den rohen Anfängen der Kunst? Wo immer aber er auch begraben lag, ob in dem kleinen Weinberge vor dem Tore der gotischen Stadt oder in irgendeinem dunklen Londoner Kirchhof, mitten im Lärm und Treiben unserer großen Stadt, kein schimmerndes Denkmal bezeichnet die Stätte seines Friedens. Sein wahres Grab, wie Shakespeare erkannte, war der Vers des Dichters, sein wahres Denkmal die Unsterblichkeit des Dramas. So war es mit andern gewesen, deren Schönheit ihrer Zeit schöpferische Impulse gab. Der elfenbeinerne Körper des bythinischen Sklaven modert im grünen Schlamme des Nils. Und auf den gelben Hügeln des Kerameikos ward die Asche des jungen Atheners ausgestreut. Aber Antinous lebt in der Bildhauerkunst und Charmides in der Philosophie.
Als drei Wochen verstrichen waren, entschloß ich mich, Erskine energisch zu mahnen, dem Andenken Cyril Grahams Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und der Welt seine wunderbare Deutung der Sonette vorzutragen, die einzige Deutung, die das Problem vollständig löse. Ich habe leider keine Abschrift meines Briefes mehr, noch war ich imstande, des Originals habhaft zu werden; aber ich erinnere mich, daß ich die ganze Sache durchging und Bogen über Bogen mit der leidenschaftlichen Wiederholung aller Argumente und Beweise füllte, die meine Nachforschungen mir eingegeben hatten. Es schien mir, als ob ich nicht nur Cyril Graham den ihm gebührenden Platz in der Literaturgeschichte anweise, sondern als ob ich auch die Ehre Shakespeares von der langweiligen Erinnerung an eine platte Intrige reinige. Ich gab meiner ganzen Begeisterung in dem Briefe Ausdruck. Ich legte meinen ganzen Glauben hinein.
Aber kaum hatte ich ihn tatsächlich abgeschickt, als eine merkwürdige Reaktion über mich kam. Es war mir, als hätte ich meine Fähigkeit, an die Willie-Hughes-Theorie der Sonette zu glauben, von mir gegeben, als wäre etwas gleichsam von mir fortgegangen und als wäre mir die ganze Sache nun vollständig gleichgültig. Was war denn geschehen? Es ist schwer zu sagen. Vielleicht hatte ich eine Leidenschaft erschöpft, indem ich den vollständigen Ausdruck dafür gefunden hatte. Gefühlskräfte haben wie die Kräfte des physischen Lebens ihre bestimmten Grenzen. Vielleicht bringt die bloße Anstrengung, einen anderen zu einer Theorie zu bekehren, in irgendeiner Form den Verzicht auf die Kraft des Glaubens mit sich. Vielleicht war ich bloß der ganzen Sache müde und mein Verstand war wieder fähig, leidenschaftslos zu urteilen, nachdem die Begeisterung ausgebrannt war. Sei dem wie immer, es kam so und ich kann es nicht erklären; jedenfalls wurde Willie Hughes plötzlich für mich ein bloßer Mythos, ein müßiger Traum, die kindische Phantasie eines jungen Mannes, dem es wie den meisten Feuergeistern mehr darum zu tun war, andere zu überzeugen als selbst überzeugt zu werden.
Da ich Erskine in meinem Briefe einige ungerechte und harte Dinge gesagt hatte, so entschloß ich mich, ihn sofort zu besuchen und mich bei ihm wegen meines Benehmens zu entschuldigen. Ich fuhr also am nächsten Morgen nach Birdcage Walk und fand Erskine in seinem Bibliothekszimmer, das falsche Bild Willie Hughes' vor sich.
»Mein lieber Erskine«, rief ich, »ich komme, mich bei Ihnen zu entschuldigen.«
»Sich zu entschuldigen?« sagte er. »Wofür?«
»Wegen meines Briefes«, antwortete ich.
»In Ihrem Briefe sieht nichts, was Sie nicht hätten sagen sollen«, sagte er. »Im Gegenteil, Sie haben mir den größten Dienst erwiesen, der in Ihrer Macht lag. Sie haben mir gezeigt, daß Cyril Grahams Theorie vollkommen richtig ist.«
»Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß Sie an Willie Hughes glauben?« rief ich aus.
»Warum nicht?« entgegnete er. »Sie haben mir die Sache bewiesen. Glauben Sie, ich kann den Wert von Beweisen nicht schätzen?«
»Aber es gibt ja überhaupt keinen Beweis!« stöhnte ich und sank in einen Sessel. »Als ich Ihnen schrieb, stand ich unter dem Einfluß einer ganz törichten Begeisterung. Die Geschichte von Cyril Grahams Tod hatte mich gerührt, seine romantische Theorie hatte mich geblendet, das Wunderbare und Eigenartige der ganzen Idee hatte mich eingesponnen. Jetzt sehe ich, daß die ganze Theorie auf einer Täuschung aufgebaut ist. Der ganze Beweis für das Dasein von Willie Hughes ist das Bild von Ihnen, und dieses Bild ist eine Fälschung. Lassen Sie sich doch nicht durch ein bloßes Gefühl in dieser Sache hinreißen. Was auch die Romantik zu der Willie-Hughes-Theorie zu sagen haben mag, die Vernunft hat nichts damit zu schaffen.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Erskine und schaute mich ganz verblüfft an. »Sie haben mich durch Ihren Brief überzeugt, daß Willie Hughes tatsächlich gelebt hat. Warum haben Sie Ihre Ansicht geändert? Oder war alles, was Sie mir gesagt haben, nur ein Scherz?«
»Ich kann es Ihnen nicht erklären«, sagte ich. »Aber ich sehe jetzt ein, daß zugunsten von Cyril Grahams Theorie gar nichts vorgebracht werden kann. Die Sonette sind an Lord Pembroke gerichtet. Verlieren Sie um Gottes willen Ihre Zeit nicht mit dem törichten Versuch, einen jungen Schauspieler aus der elisabethanischen Zeit zu entdecken, der niemals gelebt hat, und aus dem Phantom einer Puppe den Mittelpunkt der Shakespeareschen Sonette zu machen.«
»Ich sehe, daß Sie die Theorie nicht verstehen!« antwortete er.
»Mein lieber Erskine,« rief ich, »ich sollte sie nicht verstehen? Mir ist, als wäre sie aus meinem Kopf hervorgegangen. Gewiß hat Ihnen mein Brief gezeigt, daß ich nicht bloß die ganze Sache durchgesehen habe, sondern daß ich Beweise jeder Art beibrachte. Die einzige Lücke in der Hypothese ist der Umstand, daß sie die Existenz einer Person voraussetzt, deren Existenz eben der Gegenstand des Streites ist. Wenn wir zugeben, daß es in Shakespeares Truppe einen jungen Schauspieler namens Willie Hughes gegeben hat, so ist es nicht schwer, ihn zum Mittelpunkt der Sonette zu machen. Da wir aber wissen, daß es keinen Schauspieler dieses Namens am Globe-Theater gab, so ist es müßig, die Sache weiter zu verfolgen.«
»Aber das ist ja gerade, was wir nicht wissen«, sagte Erskine. »Es ist vollkommen richtig, daß sein Name in der Liste der ersten Folioausgabe nicht vorkommt. Aber wie Cyril ausführte, ist es eher ein Beweis für die Existenz von Willie Hughes als gegen sie, wenn wir uns erinnern, wie verräterisch er Shakespeare wegen eines dramatischen Nebenbuhlers verlassen hat.«
Wir debattierten stundenlang, aber nichts, was ich sagte, konnte Erskines Glauben an Cyril Grahams Hypothese erschüttern. Er sagte mir, daß er die Absicht habe, sein Leben dem Beweis der Theorie zu widmen, daß er entschlossen sei, dem Andenken Cyril Grahams Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich beschwor ihn, lachte ihn aus, ich bat, ich flehte, alles umsonst. Endlich schieden wir, nicht gerade im Bösen, aber sicherlich mit dem Schatten einer Verstimmung zwischen uns. Er hielt mich für einfältig, ich ihn für töricht. Als ich ihn wieder besuchte, sagte mir sein Diener, er sei nach Deutschland gereist.
Zwei Jahre später übergab mir der Portier in meinem Klub einen Brief mit einer ausländischen Postmarke. Er war von Erskine und im Hotel d'Angleterre in Cannes geschrieben. Als ich ihn gelesen hatte, war ich starr vor Schrecken, wenn ich auch nicht glaubte, daß er toll genug sein könnte, sein Vorhaben auszuführen. Der Kern des Briefes war, daß er auf jede Weise versucht habe, die Willie-Hughes-Theorie zu beweisen und daß ihm dies mißglückt sei. Und da Cyril Graham sein Leben für die Theorie geopfert habe, so sei er auch entschlossen, sein eigenes Leben für dieselbe Sache hinzugeben. Die letzten Worte des Briefes lauteten folgendermaßen: »Ich glaube immer noch an Willie Hughes. Wenn Sie diesen Brief erhalten, werde ich durch eigene Hand für die Sache Willie Hughes gestorben sein: für seine Sache und für die Sache von Cyril Graham, den ich durch meinen leichtsinnigen Zweifel und meinen törichten Mangel an Glauben in den Tod getrieben habe. Die Wahrheit war Ihnen einst offenbar, und Sie haben sie verworfen. Sie steht nun wieder vor Ihnen, befleckt mit dem Blut von zwei Menschen – wenden Sie sich nicht von ihr ab.«
Es war ein schrecklicher Augenblick. Mich lähmte das Grauen, und doch konnte ich es nicht glauben. Der schlimmste Gebrauch, den ein Mensch von seinem Leben machen kann, ist, es für seinen theologischen Glauben zu opfern. Aber für einen literarischen Glauben zu sterben? Es schien mir unmöglich.
Ich sah das Datum an. Der Brief war eine Woche alt. Ein unglückseliger Zufall hatte mich verhindert, einige Tage in den Klub zu gehen, sonst hätte ich den Brief noch rechtzeitig erhalten, um Erskine retten zu können. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Ich eilte nach Hause, packte meine Sachen und fuhr mit dem Nachtzug von Charing Croß ab. Die Reise war unerträglich. Ich glaubte, sie würde gar kein Ende nehmen.
Kaum war ich angekommen, so fuhr ich in das Hotel d'Angleterre. Man sagte mir, daß Erskine zwei Tage vorher auf dem englischen Friedhof begraben worden sei. Es lag etwas furchtbar Groteskes über der ganzen Tragödie. Ich sprach allerlei wildes Zeug, und die Leute in der Halle blickten mich neugierig an.
Plötzlich kam Lady Erskine in tiefer Trauer durch die Vorhalle. Als sie mich sah, kam sie auf mich zu, murmelte etwas über ihren armen Sohn und brach in Tränen aus. Ich führte sie auf ihr Zimmer. Ein älterer Herr erwartete sie dort. Es war der englische Arzt. Wir sprachen viel von Erskine, aber ich sagte nichts über die Motive, die ihn zum Selbstmord getrieben hatten. Es war klar, daß er seiner Mutter nicht gesagt hatte, was ihn zu einer so furchtbaren und tollen Tat getrieben habe. Endlich stand Lady Erskine auf und sagte: »George hat Ihnen etwas zur Erinnerung hinterlassen. Etwas, was er sehr hoch schätzte. Ich hole es Ihnen.«
Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, so wandte ich mich zum Arzt und sagte: »Welch ein furchtbarer Schlag muß das für Lady Erskine gewesen sein. Ich wundere mich, daß sie es so trägt.«
»Oh, sie wußte seit Monaten, was kommen mußte«, antwortete er.
»Sie wußte es seit Monaten?« rief ich aus. »Aber warum hinderte sie ihn nicht? Warum ließ sie ihn aus dem Auge? Er muß ja wahnsinnig gewesen sein!«
Der Arzt starrte mich an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte er.
»Wie«, rief ich aus, »wenn eine Mutter weiß, daß ihr Sohn im Begriffe ist, einen Selbstmord zu begehen –«
»Selbstmord?« antwortete er. »Der arme Erskine hat keinen Selbstmord begangen. Er starb an Auszehrung. Er kam her, um zu sterben. Gleich wie ich ihn sah, wußte ich, daß keine Hoffnung war. Eine Lunge war fast ganz aufgezehrt, und die andere war sehr stark angegriffen. Drei Tage vor seinem Tode fragte er mich, ob ich noch Hoffnung hätte. Ich sagte ihm aufrichtig, wie die Sache stünde und daß er nur einige Tage zu leben habe. Er schrieb einige Briefe, war ganz gefaßt und blieb bis zum Ende bei Bewußtsein.«
In diesem Augenblick trat Lady Erskine ins Zimmer, mit dem unglückseligen Bilde von Willie Hughes in der Hand. »Als Georg im Sterben lag, bat er mich, Ihnen dies zu geben«, sagte sie. Als ich das Bild entgegennahm, fiel ihre Träne auf meine Hand.
Das Bild hängt jetzt in meinem Bibliothekszimmer, und meine künstlerischen Freunde bewundern es sehr. Sie sind übereingekommen, daß es kein Clouet ist, sondern ein Luvry. Ich habe ihnen die wahre Geschichte des Bildes nie erzählt. Aber manchmal, wenn ich es betrachte, glaube ich doch, daß sich noch manches für die Willie-Hughes-Theorie der Shakespeareschen Sonette sagen ließe.