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Gedichte in Prosa

Übersetzt von Rudolph Lothar


Der Künstler

Eines Abends erwachte in seiner Seele der Wunsch, ein Bild zu formen, das »die Lust des Augenblicks« darstellen sollte. Und er ging in die Welt, um Bronze zu suchen, denn er konnte nur in Bronze denken.

Aber alle Bronze der ganzen Welt war verschwunden. Nirgends in der ganzen Welt war Bronze zu finden, mit Ausnahme der bronzenen Figur des »Ewigen Leides«.

Und diese Figur hatte er selbst gemacht, mit seinen eigenen Händen geformt, und er hatte sie auf ein Grab gesetzt, und unter diesem Grabe lag alles, was er im Leben geliebt hatte. Auf das Grab dessen, was er am meisten im Leben geliebt hatte, hatte er dies Werk seiner Kunst gesetzt, damit es zeuge für die Liebe des Mannes, die nie stirbt, und ein Symbol des Leides sei, das ewig dauert. Und in der ganzen Welt gab es keine andere Bronze als die Bronze dieser Figur.

Und er nahm die Figur, die er geformt hatte, und legte sie in den Schmelzofen und übergab sie dem Feuer.

Und aus dem bronzenen Bilde des Leidens, das ewig währt, formte er das Bild »der Lust, die einen Augenblick verweilt«.

*

Der Wohltäter

Es war Nacht, und Er war allein.

Und Er sah in weiter Ferne die Mauern einer runden Stadt, und Er ging auf die Stadt zu.

Und als Er näher kam, hörte Er in der Stadt den Tanzschritt freudiger Füße und das Lachen aus dem Munde des Frohsinns und den lauten Klang vieler Harfen. Und Er klopfte ans Tor, und einer von der Torwache öffnete Ihm.

Und Er sah ein Haus, das war ganz aus Marmor, und schöne Marmorsäulen standen davor. Und Blumengewinde hingen an den Säulen, und drinnen und draußen waren Fackeln aus Zedernholz. Und Er betrat das Haus.

Und Er ging durch die Halle aus Chalzedon und die Halle aus Jaspis, und so kam Er in die große Festhalle. Auf purpurnem Lager sah Er einen Jüngling liegen, dessen Haar war mit roten Rosen bekränzt, und dessen Lippen waren rot von Wein.

Und Er trat hinter ihn und berührte seine Schultern und sprach zu ihm: »Warum lebst du so?«

Und der Jüngling drehte sich um und erkannte Ihn und antwortete und sagte: »Ich war einst ein Aussätziger, und du hast mich geheilt. Wie anders sollt ich leben?«

Und Er schritt aus dem Hause und ging wieder auf die Straße.

Und nach einer Weile sah Er ein Weib mit bemaltem Gesicht und vielfarbiger Kleidung, und ihre Füße waren besetzt mit Perlen. Und hinter ihr ging langsam ein junger Mann wie ein Jäger, und sein Kleid war zweifarbig. Und das Angesicht des Weibes war wie das schöne Antlitz eines Götzenbildes, und die Augen des jungen Mannes glänzten vor Begierde.

Und Er folgte langsam und berührte die Hand des jungen Mannes und sprach zu ihm: »Warum blickst du so auf dieses Weib?«

Und der junge Mann drehte sich um und erkannte Ihn und sagte: »Ich war einst ein Blinder, und du gabst mir das Augenlicht. Zu was sonst soll ich es nützen?«

Und Er lief vor und berührte das bemalte Kleid des Weibes und sprach zu ihm: »Kennst du keinen andern Weg als den Weg der Sünde?«

Und das Weib drehte sich um und erkannte Ihn, lachte und sprach: »Du vergabst mir doch meine Sünden, und dieser Weg ist ein Weg der Freude.«

Und Er ging aus der Stadt hinaus.

Und als Er die Stadt verlassen hatte, sah Er am Wegrande einen jungen Mann sitzen, der weinte.

Und Er ging auf ihn zu und berührte die langen Locken seines Haares und sprach zu ihm: »Warum weinst du?«

Und der junge Mann blickte auf und erkannte Ihn und gab zur Antwort: »Ich war gestorben, und du hast mich vom Tode aufgeweckt. Was soll ich anderes tun als weinen!«

*

Der Schüler

Als Narzissus starb, wandelte sich der Teich seiner Lust aus einer Schale süßen Wassers in eine Schale salziger Tränen. Und die Oreaden kamen weinend durch den Hain, um bei dem Teiche zu singen und sie zu trösten. Und als sie sahen, daß der Teich sich gewandelt hatte und aus der Schale süßen Wassers eine Schale salziger Tränen geworden war, lösten sie die grünen Flechten ihrer Haare und riefen dem Teiche zu: »Wir wundern uns nicht, daß du so um Narzissus trauerst, denn er war so schön.«

»War denn Narzissus schön?« sagte der Teich.

»Wer weiß das besser als du!« antworteten die Oreaden. »An uns ging er immer vorbei, aber dich suchte er auf und lag an deinem Rande und blickte zu dir hinab und im Spiegel deiner Gewässer spiegelte er seine eigene Schönheit.«

Und der Teich antwortete: »Ich aber liebte Narziß, weil ich im Spiegel seiner Augen, wenn er am Ufer lag und niederschaute zu mir, meine eigene Schönheit gespiegelt sah.«

*

Der Meister

Und als Dunkelheit über die Erde gekommen war, zündete Joseph von Arimathia eine Fackel von Fichtenholz an und stieg nieder vom Hügel ins Tal, denn er hatte in seinem Hause zu tun.

Und er sah auf den Kieseln im Tal der Verzweiflung einen Jüngling knien, der war nackt und weinte. Sein Haar hatte die Farbe des Honigs, und sein Körper glich einer weißen Blume. Aber er hatte seinen Leib mit Dornen zerrissen und sein Haar mit Asche gekrönt. Und jener, der so große Reichtümer hatte, sprach zum Jüngling, der nackend war und weinte: »Ich wundere mich nicht, daß dein Kummer so groß ist, denn sicherlich war Er ein gerechter Mann.«

Und der Jüngling antwortete: »Nicht um ihn vergieße ich Tränen, sondern ich weine um meinetwillen. Auch ich habe Wasser in Wein verwandelt und ich habe die Aussätzigen geheilt und den Blinden das Augenlicht gegeben. Ich bin über das Wasser geschritten, und die Teufel vertrieb ich aus den Gräbern. Ich habe die Hungrigen in der Wüste genährt, wo es keine Nahrung gab, und ich erweckte die Toten aus ihrem engen Hause. Und auf mein Bitten vor einer großen Menge Volkes verdorrte ein unfruchtbarer Feigenbaum. Alles, was jener Mann getan hat, habe ich auch getan, und doch haben sie mich nicht gekreuzigt.«

*

Das Haus des Gerichts

Stille war es im Hause des Gerichtes. Und der Mensch trat nackt vor Gott.

Und Gott öffnete das Lebensbuch des Menschen, und Gott sprach zu dem Menschen: »Dein Leben ist böse gewesen, und du warst grausam gegen die, die Hilfe heischten. Und gegen die, die in Not waren, warst du bitter und hartherzig. Die Armen schrien zu dir, und du hörtest sie nicht, und der Ruf meiner Mühseligen fand bei dir taube Ohren. Du hast das Erbe der Vaterlosen an dich gerissen und die Füchse in deines Nachbars Weinberg gesandt. Du nahmst das Brot der Kinder und gabst es den Hunden zum Fraße. Und meine Aussätzigen, die in Sümpfen wohnten und im Frieden lebten und mich priesen, die jagtest du fort auf die Landstraße. Und auf meiner Erde, aus der ich dich geschaffen habe, hast du unschuldiges Blut vergossen.«

Und der Mensch gab Antwort und sprach: »So tat ich.«

Und wieder öffnete Gott das Buch des Lebens.

Und Gott sprach zu dem Menschen: »Dein Leben ist böse gewesen, und du hast die Schönheit gesucht, die ich offenbart habe, und du gingst vorüber an dem Guten, das ich verborgen habe. Die Wände deines Zimmers waren bedeckt mit Bildern, und vom Lager deiner Verruchtheit standst du auf beim Ton der Flöten. Du erbautest sieben Altäre den Sünden, für die ich gelitten habe, und aßest von der Speise, die nicht gegessen werden soll. Und der Purpur deines Gewandes war bestickt mit den drei Zeichen der Schande. Deine Götzenbilder waren weder von Gold noch von Silber, die dauern, sondern vom Fleische, das stirbt und vergeht. Du beflecktest ihr Haar mit Narden, und du gabst ihnen Granatäpfel in die Hände. Du beflecktest ihre Füße mit Safran und breitetest Teppiche vor ihnen aus. Mit Antimon beflecktest du ihre Augenlider und besudeltest ihren Leib mit Myrrhen. Du beugtest dich bis auf den Boden vor ihnen, und die Throne deiner Götzenbilder standen in der Sonne. Du zeigtest der Sonne deine Schande und dem Monde deine Narrheit.«

Und der Mensch gab Antwort und sprach: »So tat ich.«

Und ein drittes Mal öffnete Gott das Buch des Lebens.

Und Gott sprach zum Menschen: »Böse ist dein Leben gewesen, und mit Bösem vergaltst du Gutes, und mit Übeltat vergaltst du Wohltat. Die Hände, die dich nährten, hast du verwundet, und die Brüste, die dir Nahrung gaben, hast du verachtet. Der zu dir mit Wasser kam, ging dürstend von dir, und die Geächteten, die dich in ihren Zelten verbargen bei Nacht, verrietst du vor dem Morgengrauen. Den Feind, der dich verschonte, erschlugst du im Hinterhalt, und den Freund, der mit dir ging, verkauftest du um Geld, und allen, die dir Liebe brachten, gabst du nur Wollust dafür.«

Und der Mensch antwortete: »So tat ich.«

Und Gott schloß das Buch des Lebens und sprach: »Gewiß will ich dich zur Hölle schicken, ja, in die Hölle will ich dich schicken.«

Und der Mensch schrie: »Das kannst du nicht.«

Und Gott sprach zu dem Menschen: »Warum kann ich dich nicht zur Hölle schicken? Aus welchem Grunde nicht?«

»Weil ich immer in der Hölle gelebt habe«, antwortete der Mensch.

Und Schweigen herrschte im Hause des Gerichtes.

Und nach einer Weile sprach Gott und sagte zum Menschen: »Da ich sehe, daß ich dich nicht in die Hölle schicken kann, so werde ich dich wahrhaftig in den Himmel schicken. Ja, in den Himmel werde ich dich schicken.«

Und der Mensch schrie: »Das kannst du nicht.«

Und Gott sprach zu dem Menschen: »Warum kann ich dich nicht in den Himmel schicken? Aus welchem Grunde nicht?«

»Weil ich niemals und in keinerlei Weise imstande war, mir ihn vorzustellen«, antwortete der Mensch.

Und Schweigen herrschte im Hause des Gerichtes.

*

Der Lehrer der Weisheit

Von Kindheit an war er voll der vollkommenen Erkenntnis Gottes, und als er noch ein Knabe war, kamen viele von den Heiligen und auch heilige Frauen, die in der freien Stadt seiner Geburt wohnten und wunderten sich über die tiefe Weisheit seiner Antworten. Und nachdem ihm die Eltern Kleid und Ring der Mannheit gegeben hatten, küßte er sie und verließ sie und ging hinaus in die Welt, um der Welt von Gott zu sprechen. Denn es gab zu jener Zeit viele in der Welt, die überhaupt nichts wußten von Gott oder eine unvollkommene Kenntnis von ihm hatten oder falsche Götter anbeteten, die in Hainen wohnen und sich um ihre Getreuen nicht kümmern. Und er wandte sein Angesicht der Sonne zu und wanderte. Und er ging ohne Sandalen, wie er die Heiligen hatte gehen sehen, und er hatte an seinem Gürtel eine lederne Tasche und eine Wasserflasche von gebrannter Erde.

Und wie er auf der Landstraße dahinging, füllte ihn die Freude, die da kommt von der vollkommenen Erkenntnis Gottes, und ohne Unterbrechung sang er Lieder zu Gottes Preis; und nach einer Weile erreichte er ein fremdes Land, wo es viele Städte gab.

Und er kam durch elf Städte. Und manche Städte lagen in Tälern und andere an den Ufern großer Flüsse und andere wieder auf Hügeln. Und in jeder Stadt fand er einen Schüler, der ihn liebte und ihm folgte. Und auch eine große Menge Volkes folgte ihm in jeder Stadt, und die Kenntnis Gottes breitete sich aus im ganzen Lande, und viele der Regierenden wurden bekehrt, und die Priester in den Tempeln, wo die Götzenbilder standen, fanden, daß ihr halber Gewinn verloren sei. Und wenn sie mittags auf die Trommel schlugen, kamen gar keine oder nur sehr wenige mit Pfauen und Fleischopfern, wie dies vor seinem Kommen Sitte gewesen war im Lande.

Aber je mehr Volk ihm folgte, je größer die Zahl seiner Schüler wurde, desto größer ward sein Kummer. Und er wußte nicht, warum sein Kummer so groß war. Denn er sprach immer über Gott, schöpfend aus der Fülle vollkommener Erkenntnis Gottes, wie Gott selbst sie ihm gegeben hatte.

Und eines Abends ging er hinaus aus der elften Stadt, einer Stadt in Armenien, und seine Schüler und eine große Menschenmenge folgte ihm; und er ging hinaus auf einen Berg und setzte sich auf einen Felsblock auf dem Berge, und seine Schüler standen rings um ihn her, und die Menge kniete im Tale.

Und er beugte seinen Kopf auf seine Hände nieder und weinte und sagte zu seiner Seele: »Warum bin ich so voll von Kummer und Furcht, und warum ist es mir, als wäre jeder meiner Schüler ein Feind, der im Mittag wandelt?«

Und seine Seele antwortete ihm und sprach: »Gott füllte dich mit seiner vollkommenen Erkenntnis, und du gabst diese Erkenntnis weiter an andere. Die Perle von großem Werte hast du geteilt, und das Kleid ohne Naht hast du auseinandergerissen. Der die Weisheit weitergibt, beraubt sich selbst. Er ist wie einer, der seinen Schatz einem Räuber gibt. Ist Gott nicht weiser als du? Wer bist du, daß du das Geheimnis weitergibst, das Gott dir gesagt hat? Einst war ich reich, und du hast mich arm gemacht. Einst sah ich Gott, und nun hast du ihn mir verhüllt.«

Und wieder weinte er, denn er wußte, daß seine Seele die Wahrheit sprach und daß er anderen die Erkenntnis Gottes gegeben hatte und daß er war wie einer, der sich anklammert an Gottes Gewand, und daß sein Glauben ihn verließ in dem Maße, wie die Zahl jener wuchs, die an ihn glaubten.

Und er sprach zu sich selbst: »Ich will nicht mehr von Gott sprechen; wer die Weisheit weitergibt, beraubt sich selbst.« Und einige Stunden später kamen seine Schüler zu ihm und beugten sich zur Erde und sprachen: »Meister, sprich uns von Gott, denn du hast die vollkommene Erkenntnis Gottes, und niemand außer dir hat diese Erkenntnis.«

Und er antwortete ihnen und sprach: »Ich will zu euch sprechen von allen Dingen im Himmel und auf Erden, aber von Gott will ich nicht zu euch sprechen. Nicht jetzt, noch später will ich von Gott zu euch sprechen.«

Und da wurden sie böse und sprachen zu ihm: »Du hast uns in die Wüste geführt, auf daß wir dich hören sollten. Willst du uns hungrig fortschicken, uns und die große Menge, die dir gefolgt ist?«

Und er antwortete ihnen und sprach: »Ich will nicht von Gott zu euch reden.«

Und die Menge murrte gegen ihn und sprach: »Du hast uns in die Wüste geführt und gabst uns keine Nahrung zu essen. Sprich uns von Gott, und das wird uns genügen.«

Aber er antwortete ihnen mit keinem Worte. Denn er wußte, daß er seinen Schatz fortgeben würde, wenn er von Gott zu ihnen spräche.

Und seine Schüler gingen traurig fort, und die Menge kehrte in die Häuser zurück. Und viele starben auf dem Wege.

Und als er allein war, stand er auf und wandte sein Angesicht dem Monde zu und wanderte sieben Monde und sprach zu niemandem und gab niemandem Antwort. Und als der siebente Mond erfüllet war, erreichte er die Wüste, die da heißt die Wüste des großen Stromes. Und dort fand er eine Höhle, in der ein Zentaur einst gewohnt hatte, und er nahm sie als Wohnort und machte sich eine Matte aus Schilf, um darauf zu liegen, und wurde ein Einsiedler. Und jede Stunde pries der Einsiedler Gott, daß er ihm erlaubt hatte, noch einige Erkenntnis von ihm und seiner wunderbaren Größe zu bewahren.

Als nun eines Abends der Einsiedler vor der Höhle saß, aus welcher er seinen Wohnort gemacht hatte, sah er einen jungen Mann mit bösem und schönem Gesicht, der in schlechtem Kleide und mit leeren Händen vorüberging. Jeden Abend ging der junge Mann mit leeren Händen vorbei, und jeden Morgen kehrte er mit Purpur und Perlen wieder. Denn er war ein Räuber und beraubte die Karawanen der Kaufleute.

Und der Einsiedler sah ihn an und bemitleidete ihn. Aber er sprach kein Wort. Denn er wußte, daß, wer ein Wort spricht, den Glauben verliert.

Und eines Morgens, als der junge Mann mit den Händen voll Purpur und Perlen wiederkehrte, blieb er stehen und runzelte die Stirn und stampfte mit dem Fuß auf den Sand und sprach zum Einsiedler: »Was schaust du mich so an, wenn ich vorübergehe? Was ist es, was ich in deinen Augen sehe? Denn kein Mann hat jemals mich in solcher Weise angesehen. Und dein Blick ist wie ein Stachel und eine Qual für mich.«

Und der Einsiedler antwortete und sprach: »Was du in meinen Augen siehst, ist Mitleid. Mitleid blickt aus meinen Augen auf dich.«

Und der junge Mann lachte voll Hohn und schrie dem Einsiedler zu mit Bitterkeit in der Stimme und sprach: »Ich habe Purpur und Perlen in meinen Händen, und du hast bloß eine Matte von Schilf, darauf zu liegen. Was für Mitleid kannst du für mich haben, und aus welchem Grunde hast du dieses Mitleid?«

»Ich habe Mitleid mit dir,« sagte der Einsiedler, »weil du nicht die Erkenntnis Gottes hast.«

»Ist diese Erkenntnis Gottes eine kostbare Sache?« fragte der junge Mann und kam ganz nahe zur Öffnung der Höhle.

»Sie ist kostbarer als aller Purpur und alle Perlen der ganzen Welt!« antwortete der Einsiedler.

»Und du hast sie?« sagte der junge Räuber und kam noch näher.

»Einmal besaß ich sie«, antwortete der Einsiedler. »Ich besaß die vollkommene Erkenntnis Gottes. Aber in meiner Narrheit trennte ich mich von ihr und teilte sie mit anderen. Aber immer noch ist die Erkenntnis, die mir geblieben ist, kostbarer denn Purpur und Perlen.«

Und als dies der junge Räuber hörte, warf er Purpur und Perlen fort, die er in Händen trug, und zog ein kurzes Schwert von gekrümmtem Stahl und sagte: »Gib mir sofort diese Erkenntnis Gottes, die du hast, oder ich töte dich. Warum sollte ich den nicht erschlagen, der einen Schatz besitzt, der größer ist als meiner?«

Und der Einsiedler breitete die Arme aus und sprach: »Wäre es nicht besser für mich, in den innersten Vorhof Gottes zu treten und Ihn zu preisen, als in der Welt zu leben und keine Kenntnis von ihm zu haben? Töte mich, wenn du willst, aber meine Erkenntnis Gottes gebe ich nicht fort.«

Und der junge Räuber kniete nieder und flehte ihn an, aber der Einsiedler wollte nicht von Gott zu ihm sprechen, noch ihm seinen Schatz geben, und der junge Räuber stand auf und sprach zum Einsiedler: »Sei dem, wie du willst. Was mich betrifft, so will ich zur Stadt der sieben Sünden gehen, die nur drei Tagereisen von hier entfernt ist, und für meinen Purpur werden sie mir Freuden geben, und für meine Perlen werden sie mir Lust verkaufen.«

Und er nahm seinen Purpur und seine Perlen und ging eilends davon.

Und der Einsiedler schrie auf und folgte ihm und beschwor ihn. Drei Tage folgte er dem Räuber und bat ihn, umzukehren und nicht die Stadt der sieben Sünden zu betreten.

Und dann und wann blickte sich der junge Räuber nach dem Einsiedler um und rief ihn an und sprach: »Willst du mir deine Erkenntnis Gottes geben, die kostbarer ist als Purpur und Perlen? Wenn du so tust, so will ich die Stadt nicht betreten.«

Und immer antwortete der Einsiedler: »Alles, was ich habe, will ich dir geben, nur dies eine nicht. Denn dies eine fortzugeben, ist mir nicht erlaubt.«

Und in der Dämmerung des dritten Tages kamen sie an die großen scharlachnen Tore der Stadt der sieben Sünden. Und aus der Stadt heraus scholl der Lärm von lautem Gelächter.

Und der junge Räuber lachte zur Antwort und wollte ans Tor klopfen. Da aber lief der Einsiedler vor und packte ihn an seinem Gewand und sprach zu ihm: »Strecke deine Hände aus und lege deine Arme um meinen Hals und drücke dein Ohr an meine Lippen, und ich will dir geben, was mir von der Erkenntnis Gottes geblieben ist.«

Und der junge Räuber blieb stehen.

Und als der Einsiedler seine Erkenntnis Gottes fortgegeben hatte, da fiel er zu Boden und weinte, und eine tiefe Finsternis verhüllte ihm die Stadt und den jungen Räuber, so daß er sie nicht mehr sah.

Und als er so lag und weinte, da wurde er gewahr, daß einer neben ihm stand. Und der, der neben ihm stand, hatte Füße von Erz, und sein Haar glich feiner Wolle. Und er hob den Einsiedler auf und sprach zu ihm: »Bis jetzt hattest du die vollkommene Erkenntnis Gottes. Nun sollst du Gottes vollkommene Liebe haben. Warum weinest du also?« Und er küßte ihn.


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