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Gedichte in Prosa

Der Lehrer der Weisheit

Noch ein Kind, war er voller Erkenntnis Gottes, und da er noch ein Knabe war, waren heilige Männer und Frauen, die in seiner freien Geburtsstadt wohnten, zu Staunen bewegt von der tiefen Weisheit seiner Rede.

Als ihm seine Eltern das Kleid und den Ring der Mannbarkeit gegeben hatten, küßte er sie und verließ sie, um in die Welt zu gehen, der Welt von Gott zu reden. Denn in jener Zeit gab es viele, die Gott nicht kannten oder schlecht kannten, oder die falsche Götter anbeteten, die in Hainen wohnen und sich um ihre Verehrer nicht kümmern.

Er wandte sich gegen die Sonne und schritt dahin, ohne Sandalen an den Füßen, wie er die Heiligen hatte gehen sehen, und an seinem Gürtel trug er einen kleinen Sack und eine tönerne Kürbisflasche.

Er zog die Landstraße dahin voller Freude, die aus der vollkommenen Kenntnis Gottes wird, und ohne Aufhören sang er sein Lob; nach einer Zeit kam er in ein fremdes, städtereiches Land. Durch elf Städte kam er. Einige davon waren in Tälern, andere auf dem Ufer großer Flüsse, und wieder welche auf Bergen. In jeder Stadt fand er einen Schüler, der ihn liebte und ihm folgte, und so folgte ihm auch aus jeder Stadt eine große Menge Volkes, und die Erkenntnis Gottes breitete sich aus im ganzen Lande; viele Hauptstädte bekehrten sich, und die Priester der Götzentempel sahen die Hälfte ihrer Einkünfte verloren, und wenn sie des Mittags auf ihre Trommeln schlugen, kamen nur ganz wenige Gläubige mit Steuern und Gaben aller Art.

Und doch: je mehr Volk ihm nachfolgte und je größer die Zahl seiner Schüler wurde, desto größer wuchs sein Schmerz. Und er wußte nicht, weshalb sein Schmerz so groß war. Denn immer sprach er von Gott und entzündete sich an der völligen Erkenntnis Gottes, die Gott ihm gegeben hatte.

Eines Abends ging er aus der elften Stadt, die eine armenische Stadt war, und seine Schüler und eine große Menge Leute folgten ihm; er stieg auf einen Berg, ließ sich auf einen Felsen nieder, der auf dem Berge war, und seine Schüler scharten sich um ihn, und die Menge kniete im Tale.

Er legte sein Haupt in seine Hände und weinte; und er sagte zu seiner Seele: »Warum bin ich voll von Schmerz und Kummer, und warum ist jeder meiner Schüler ein Feind, der im Lichte wandelt?«

Und seine Seele antwortete: »Gott hat dich mit seiner vollkommenen Erkenntnis erfüllt, und die hast du andern gegeben. Die preislose Perle hast du geteilt, und das Kleid ohne Naht hast du zerschnitten. Der die Weisheit gibt, die er besitzt, der entäußert sich selbst. Er gleicht jenem, der einem Diebe seine Schätze gibt. Ist Gott nicht weiser als du? Wer bist du, daß du das Geheimnis preisgibst, das Gott dir anvertraut hat? Einstmals war ich reich, und du hast mich arm gemacht. Einstmals sah ich Gott, nun hast du ihn mir verborgen.« Und er weinte von neuem, denn er wußte, daß seine Seele die Wahrheit gesprochen hatte, und daß er die vollkommene Erkenntnis Gottes den andern preisgegeben hatte, und daß er wie einer war, der sich an das Kleid Gottes klammert, und daß sein Glaube ihn verließ, weil andere an ihn glaubten. Er sagte zu sich: »Ich will nicht mehr von Gott reden. Der, der seine Weisheit gibt, beraubt sich selbst.«

Nach einigen Stunden kamen seine Schüler zu ihm, fielen vor ihm nieder und sagten: »Herr, sprich uns von Gott, denn du hast die vollkommene Kenntnis Gottes, und keiner sonst als du besitzt sie.«

Er antwortete ihnen: »Von allem will ich zu euch reden, was im Himmel und auf Erden ist, aber ich werde euch nicht von Gott reden.«

Da wurden sie unwillig gegen ihn und sagten: »Du hast uns in die Wüste geführt, damit wir dich hören; und schickst uns und die Menge, die du dir folgen machtest, heim in Hunger?«

Er antwortete ihnen: »Ich werde euch nicht von Gott sprechen.«

Da murrte die Menge gegen ihn und sprach: »Du hast uns in die Wüste geführt und hast uns keine Nahrung gegeben. Sprich uns von Gott, und es wird uns genug sein.«

Aber er sagte darauf kein Wort mehr. Denn er wußte, er beraubte sich seines Schatzes, wenn er von Gott redete.

Und seine Schüler gingen traurig von dannen, und die Menge zog heim. Viele starben auf dem Weg.

Als er allein war, erhob er sich, wandte sein Antlitz gegen den Mond – und wanderte sieben Monde lang, sprach zu keinem und gab keinem Antwort. Am Ende des siebenten Mondes erreichte er die Wüste, welche die Wüste des großen Stromes ist. Er fand eine Höhle, die ehemals ein Zentaur bewohnt hatte, nahm sie zu seinem Wohnort und machte sich darin aus Schilf ein Lager. Er wurde ein Eremit. Und zu jeder Stunde lobte der Eremit den Herrn, daß er ihm erlaubt habe, noch einige Erkenntnis von ihm zu behalten, von ihm und seiner unendlichen Größe.

Da der Eremit eines Abends vor seiner Höhle saß, sah er einen jungen, schönen Menschen, der ein schlechtes Leben führte, vorübergehen, scheu und mit leeren Händen. Jeden Abend ging der junge Mensch, die Hände leer, vorüber, und jeden Morgen kam er zurück, die Hände gefüllt mit Purpur und Perlen. Denn er war ein Räuber, der die Karawanen der Kaufleute plünderte.

Der Eremit blickte ihn an und hatte Mitleid mit ihm. Aber er sprach kein Wort, denn er wußte, daß der seinen Glauben verliert, der spricht.

Eines Morgens, da der junge Mensch, die Hände voll Purpur und Perlen, wieder vorbeikam, blieb er stehen, zog die Brauen, stieß mit dem Fuß auf den Sand und sagte zum Eremiten: »Warum siehst du mich so an, wenn ich vorübergehe? Was ist das, was ich in deinen Augen sehe? Nie hat mich ein Mensch so angesehen, und es ist ein Dorn für mich und eine Qual.«

Der Eremit sagte darauf: »Was du in meinen Augen siehst, ist das Mitleid. Es ist das Mitleid, das dich mit meinen Augen ansieht«

Der junge Mensch schlug ein verachtendes Gelächter auf und sagte: »Ich habe Purpur und Perlen in meinen Händen, und du hast nichts als eine Streu von Schilf zum Lager. Was für ein Mitleid kannst du mit mir haben, und weshalb hast du dieses Mitleid?«

»Ich habe Mitleid mit dir,« sprach der Eremit, »weil du nicht die Erkenntnis Gottes besitzest.«

»Ist diese Erkenntnis Gottes etwas Kostbares?« fragte der junge Mensch und kam ganz nahe an die Höhle heran.

»Sie ist viel kostbarer als aller Purpur und alle Perlen der Welt«, sagte der Eremit.

»Und du besitzest sie?« sagte der Räuber und trat noch näher.

»Einmal ja«, antwortete der Eremit, »besaß ich die vollkommene Erkenntnis Gottes. Aber in meiner Torheit habe ich sie weggegeben und an die anderen verteilt. Doch was mir davon noch blieb, auch dies ist mir wertvoller als der Purpur und die Perlen.« Als der junge Räuber das hörte, warf er den Purpur und die Perlen hin, die er in seinen Händen trug, zog ein spitzes, krummes Schwert und rief: »Gib mir auf der Stelle diese Erkenntnis Gottes, die du besitzest, oder ich töte dich! Weshalb soll ich den nicht töten, der einen Schatz bewahrt, größer als der meine?«

Der Eremit öffnete die Arme und sprach: »Ist es nicht besser für mich, ich gehe bis ans äußerste Ende des Reiches Gottes und lobe ihn, statt in einer Welt zu leben, die ihn nicht kennt? Töte mich, wenn du es willst. Aber ich werde dir nicht meine Erkenntnis Gottes geben.«

Der junge Räuber kniete nieder und bat, aber der Eremit wollte ihm nicht von Gott reden, wollte ihm nicht seinen Schatz geben; der junge Räuber stand auf und sagte zum Eremiten:

»Sei es, wie du wünschest. Ich aber will in die Stadt der Sieben Sünden gehen, die drei Tagreisen von hier ist, und für meinen Purpur wird man mir da Vergnügen geben, und für meine Perlen verkaufen sie mir Freude.« Und er raffte Purpur und Perlen zusammen und eilte davon.

Der Eremit rief ihn, eilte ihm nach und beschwor ihn. Drei Tage lang folgte er dem jungen Räuber, bat ihn, umzukehren und nicht in die Stadt der Sieben Sünden zu gehen.

Von Zeit zu Zeit wandte sich der junge Räuber um und sagte: »Willst du mir diese Erkenntnis Gottes geben, die wertvoller ist als Purpur und Perlen? Wenn du mir sie geben willst, dann gehe ich nicht in die Stadt.«

Und jedesmal antwortete der Eremit: »Alles was ich habe, will ich dir geben, nur dieses einzige nicht. Denn dies dir zu geben, ist mir nicht erlaubt.«

Und im Morgendämmern des dritten Tages kamen sie an die scharlachnen Tore der Stadt der Sieben Sünden.

Und aus der Stadt kam der Lärm großer Freude, dem der junge Räuber mit seiner Freude antwortete, und er hob die Hände, um ans Tor zu schlagen. Da lief der Eremit auf ihn zu, zog ihn bei seinem Gewand und sagte: »Breite die Hände aus und lege die Arme um meinen Nacken; drücke dein Ohr fest an meine Lippen: ich will dir geben, was ich noch von der Erkenntnis Gottes habe.«

Der junge Räuber blieb stehen. Und nachdem der Eremit seine Erkenntnis Gottes gegeben hatte, sank er zu Boden und weinte, und eine große Finsternis verbarg ihm Stadt und Räuber, daß er sie nicht mehr sah.

Und da er weinend lag, wußte er, daß einer neben ihm stand. Und der neben ihm stand, hatte eherne Füße, und sein Haar war wie von feiner Wolle. Und er hob den Eremiten auf und sagte zu ihm: »Bis heute hattest du die vollkommene Erkenntnis Gottes. Nun hast du die vollkommene Liebe Gottes. Weshalb weinst du also?«

Und er küßte ihn.

 

Das Haus des Gerichts

Das Schweigen herrschte im Haus des Gerichts, und der Mensch trat, nackt, vor Gott.

Und Gott öffnete das Lebensbuch des Menschen.

Gott sprach zu dem Menschen: »Dein Leben ist ein schlechtes gewesen, du zeigtest dich grausam gegen jene, die der Hilfe bedurften, und gegen jene, die eines Führers bedurften, hattest du ein bitteres und hartes Herz. Die Armen riefen dir zu, und du hast sie nicht gehört, und dein Ohr war verschlossen dem Schrei meiner Heimgesuchten. Du hast für dich das Erbe der Waisen genommen und hast Füchse in den Weinberg deines Nachbars geschickt. Du hast das Brot der Kinder genommen und gabst es den Hunden zu essen, und meine Aussätzigen, die in den Sümpfen wohnten, in Frieden lebten und mich lobten, du hast sie auf die Landstraßen gejagt, und auf meine Erde, aus der du geformt bist, hast du unschuldiges Blut vergossen.«

Der Mensch antwortete: »Alles das habe ich getan.«

Und abermals schlug Gott das Lebensbuch des Menschen auf.

Und Gott sprach zu dem Menschen: »Dein Leben ist ein schlechtes gewesen, und die Schönheit, die ich den schauenden Augen geschenkt, der hast du nachgeforscht, und das Gute, das ich verborgen hatte, du hast es nicht beachtet. Die Wände deines Gemaches waren mit Bildern bemalt, und vom Bett deiner Schandtaten erhobst du dich beim Klang der Flöten. Du hast sieben Altäre errichtet für die Sünden, um die ich gestorben bin, und du hast gegessen, was nicht gegessen werden darf, und der Purpur deines Gewandes war bestickt mit den drei Zeichen der Schande. Deine Götzen waren nicht aus Gold und nicht aus Silber, die dauern, sie waren aus Fleisch, das stirbt. Du hast ihre Haare in Düfte getaucht und gabst Geruchäpfel in ihre Hände. Du badetest ihre Füße in Safran und breitetest Teppiche vor ihnen aus. Mit Antimon hast du ihre Brauen gefärbt, und ihre Körper bestrichest du mit Myrrhe. Du fielst vor ihnen nieder, und die Throne deiner Götzen waren errichtet in der Sonne. Du zeigtest der Sonne deine Schande und dem Monde deine Narrheit.«

Der Mensch antwortete: »Alles das habe ich getan.«

Und zum drittenmal schlug Gott das Lebensbuch des Menschen auf. Und Gott sprach zu dem Menschen: »Das Böse war dein Leben. Du hast das Gute mit Bösem vergolten und warst denen schädlich, die gut zu dir waren. Die Hände, die dich nährten, du hast sie verstümmelt, die Brüste, die dich stillten, du hast sie verhöhnt. Der zu dir mit Wasser gekommen ist, ging durstig von dir, und die Vogelfreien, die sich in ihren Zelten verbargen zur Nacht, du hast sie vor Tagesanbruch verraten. Dein Feind, der dich schonte, du hast ihn in einen Hinterhalt gelockt, und den Freund, der mit dir wanderte, hast du um Geld verkauft, und die dir die Liebe brachten, denen gäbest du dafür die Ausschweifung.«

Der Mensch antwortete: »Alles das habe ich getan.«

Gott schloß das Lebensbuch des Menschen und sagte: »Ich will dich sicher zur Hölle schicken; ja, zur Hölle will ich dich schicken.«

Der Mensch rief: »Du kannst nicht!« Gott sprach zu dem Menschen: »Weshalb kann ich dich nicht zur Hölle schicken?«

»Weil ich in der Hölle mein Leben verbracht habe«, antwortete der Mensch.

Und das Schweigen herrschte im Hause des Gerichts. Dann sprach Gott und sagte zu dem Menschen: »Da ich dich nicht zur Hölle senden kann, so will ich dich in den Himmel weisen; ja, in den Himmel will ich dich weisen.«

Der Mensch rief: »Du kannst nicht!«

Und Gott sprach zu dem Menschen: »Weshalb kann ich dich nicht in den Himmel senden?«

»Weil ich nie und nirgends mir den Himmel denken konnte«, antwortete der Mensch.

Und das Schweigen herrschte im Hause des Gerichts.

 

Der Künstler

Eines Abends da kam in seine Seele das Verlangen, ein Bildnis zu machen: Die Lust des Augenblickes. Und er ging in die Welt, nach Bronze zu suchen. Denn er konnte nur in Bronze denken.

Doch alle Bronze der ganzen Welt war verschwunden, und keine andere war in der ganzen Welt zu finden als die des Bildnisses: Ewiglastende Sorge.

Und dieses Bildnis hatte er selbst gefertigt mit seinen eigenen Händen und es auf das Grab des einzigen, das er im Leben liebte, gesetzt. Auf das Grab des einzigen, das er vor allem und allein in der Welt liebte, hatte er dies Bildnis gesetzt, daß es für ein Zeichen nie endender Menschenliebe diene und für ein Symbol der Menschensorge, die nie endet. Und es war in der ganzen Welt keine andere Bronze als diese.

Und er nahm das Bildnis, das er gemacht hatte, setzte es in einen großen Tiegel und gab es dem Feuer.

Und aus der Bronze »Die ewiglastende Sorge« machte er das Bildnis »Die Lust des Augenblickes.«

 

Der Mittler

Es war Nacht, und Er war allein.

Und Er sah weit in der Ferne die Mauern einer runden Stadt, und Er ging der Stadt zu.

Und da Er näher kam, hörte Er in der Stadt die Fußschritte der Freude und das Lachen vom Munde der Fröhlichkeit und den lauten Lärm vieler Flöten. Und Er klopfte an das Tor, das Ihm die Wächter öffneten.

Da nahm Er ein Haus wahr, das war von Marmor, und Marmorsäulen standen davor, über die hingen Blumengewinde, und innen und außen leuchteten Fackeln aus Zedernholz. In dieses Haus ging Er hinein.

Und da Er durch die Halle aus Chalzedon und die Halle aus Jaspis geschritten war, kam Er in ein großes festliches Gemach und sah hier auf einem purpurnen Lager einen, dessen Haar rote Rosen kränzten und dessen Lippen von Wein rot waren. Und Er trat hinter ihn, berührte seine Schulter und sprach zu ihm: »Weshalb lebst du so?«

Und der junge Mann wandte sich um, erkannte Ihn und gab zur Antwort: »Ich war ein Aussätziger, und Du heiltest mich – wie sonst soll ich leben?«

Und Er verließ das Haus und ging wieder auf die Straße. Und nach einer kleinen Weile sah Er eine, deren Gesicht und Kleider waren bemalt und deren Füße beschuht mit Perlen. Und hinter ihr kam ein junger Mensch, langsam, leise wie ein Jäger, und sein Kleid war zwiefarben. Das Gesicht des Weibes aber war wie das liebliche Gesicht einer Gottheit, und die Augen des Jünglings leuchteten vor Lust.

Und Er folgte schnell, berührte die Hand des Jünglings und sagte ihm: »Warum siehst du auf diese Frau und mit solchen Blicken?« Und der Jüngling wandte sich um, erkannte Ihn und sprach: »Ich war blind, und Du gabst mir das Gesicht. Auf was sonst soll ich schauen?«

Und Er lief vor und berührte das gemalte Kleid der Frau und sprach zu ihr: »Ist kein anderer sicherer Weg als der Weg der Sünde?«

Und die Frau wandte sich um, erkannte Ihn und sagte: »Doch Du vergabst mir meine Sünden, und der Weg ist ein lustiger Weg.«

Da ging Er die Stadt hinaus.

Und da Er vor der Stadt war, erblickte Er einen jungen Menschen, der saß am Wegrand und weinte.

Und Er ging auf ihn zu, berührte die langen Locken seines Haares und sagte zu ihm:

»Warum weinest du?«

Und der junge Mensch sah auf, erkannte Ihn und antwortete: »Ich war gestorben, und Du wecktest mich vom Tode auf. Was sonst soll ich tun als weinen?«

 

Der Meister

Nun, als Dunkelheit über die Erde kam, entzündete Joseph von Arimathia eine Fackel aus Fichtenholz und stieg den Hügel hinab ins Tal, denn er hatte im eigenen Hause zu tun.

Und im Tale der Betrübnis sah er auf den spitzen Steinen einen Jüngling knien, der war nackt und weinte. Sein Haar war honigfarben, und sein Leib war eine weiße Blume, doch hatte er seinen Leib mit Dornen verwundet und auf sein Haar Asche gesetzt als eine Krone.

Und der Reiche sagte zu dem Jüngling, der nackt war und weinte: »Ich bin nicht verwundert, daß dein Kummer so groß ist, denn sicher war Er ein gerechter Mann.«

Und der Jüngling gab die Antwort: »Nicht um Ihn weine ich, ich weine um mich selber. Auch ich habe Wasser in Wein verwandelt und heilte die Aussätzigen und gab den Blinden das Gesicht wieder. Ich bin über den Wassern gewandelt, und aus den Grabhöhlen vertrieb ich die Teufel. Ich habe die Hungrigen in der Wüste gespeist, da keine Nahrung war, und weckte die Toten aus ihren engen Häusern auf, und auf mein Gebet und vor einer großen Menge Volkes vertrocknete ein fruchtbeladener Feigenbaum. Alles was dieser Mensch getan hat, habe auch ich getan. Und doch haben sie mich nicht gekreuzigt.«

Der Schüler

Als Narziß starb, da wandelte sich der Teich seiner Freude aus einem Becher süßen Wassers in einen Becher salziger Tränen, und die Oreaden kamen weinend den Wald daher, um dem Teiche zu singen und ihn zu trösten.

Und als sie sahen, daß sich der Teich aus einem Becher süßen Wassers in einen Becher salziger Tränen verwandelt hatte, da lösten sie die grünen Flechten ihres Haares, schrien weinend auf und sagten: »Wir sind nicht verwundert, daß du in solcher Weise über Narziß trauerst, so schön war er.«

»War denn Narziß schön?« sagte der Teich.

»Wer wüßte das besser als du«, antworteten die Oreaden. »An uns ging er immer vorüber, aber dich suchte er auf, um an deinem Ufer zu liegen, auf dich hinabzuschauen und in dem Spiegel deines Wassers seine eigene Schönheit zu spiegeln.«

Und der Teich antwortete: »Ich aber liebte den Narziß, wenn er an meinem Ufer lag und auf mich niederschaute, denn in dem Spiegel seiner Augen sah ich immer meine eigene Schönheit.«

Buchschmuck: Heinrich Vogler

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