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Szene:
Morgenzimmer in Algernons Wohnung. Das Zimmer ist luxuriös und künstlerisch eingerichtet. Man hört aus dem Nachbarzimmer den Ton eines Pianos.
( Lane deckt für den Nachmittagstee. Nachdem die Musik aufgehört hat, tritt Algernon ein.)
Algernon: Haben Sie gehört, was ich spielte, Lane?
Lane: Ich dachte, es schickt sich nicht, zu horchen.
Algernon: Das tut mir leid, um Ihretwillen. Ich spiele nicht ganz richtig – jeder kann richtig spielen –, aber ich spiele mit wundervollem Ausdruck. Soweit das Klavier in Betracht kommt, ist das Gefühl meine starke Seite. Die Wissenschaft spare ich mir fürs Leben auf.
Lane: Ja, gnädiger Herr.
Algernon: Und da ich gerade von der Wissenschaft des Lebens rede: haben Sie die Gurkenbrötchen für Lady Bracknell schneiden lassen?
Lane: Ja, gnädiger Herr. ( Reicht sie auf einem Teebrett.)
Algernon ( prüft sie, nimmt zwei und setzt sich aufs Sofa): Oh! ... Nebenbei, Lane, ich sehe aus Ihrem Buch, daß Donnerstag abend, als Lord Shoreman und Mr. Worthing bei mir aßen, acht Flaschen Champagner als verbraucht eingetragen sind.
Lane: Ja, gnädiger Herr; acht Flaschen und eine halbe.
Algernon: Woher kommt es, daß im Haushalt eines Junggesellen die Diener beständig den Champagner trinken? Ich frage nur aus Neugier.
Lane: Ich glaube, es liegt an der besseren Marke, gnädiger Herr. Ich habe oft bemerkt, daß in Ehehaushaltungen der Champagner selten von erster Qualität ist.
Algernon: Um des Himmels willen! Ist die Ehe so demoralisierend?
Lane: Ich glaube, die Ehe ist ein sehr angenehmer Stand, gnädiger Herr. Ich selbst habe bisher wenig Erfahrung darin. Ich bin erst einmal verheiratet gewesen. Das war infolge eines Mißverständnisses zwischen mir und einer jungen Dame.
Algernon ( gelangweilt): Ich glaube, ich interessiere mich nicht sehr für Ihr Familienleben, Lane.
Lane: Nein, gnädiger Herr. Es ist nicht sehr interessant. Ich selber denke niemals daran.
Algernon: Sehr natürlich, scheint mir. Es ist gut so, Lane, ich danke Ihnen.
Lane: Danke, gnädiger Herr. ( Lane geht.)
Algernon: Lanes Ansichten über die Ehe scheinen etwas locker zu sein. Wahrhaftig, wenn die unteren Klassen uns kein gutes Beispiel geben, wozu sind sie da noch gut? Sie scheinen als Gesamtheit gar kein Verständnis für moralische Verantwortung zu haben.
( Lane tritt ein.)
Lane: Mr. Ernst Worthing.
( Jack tritt ein.) ( Lane geht.)
Algernon: Wie geht's dir, mein lieber Ernst? Was führt dich nach London?
Jack: Oh, das Vergnügen, das Vergnügen! Was sollte einen sonst irgendwohin führen? Du ißt, wie gewöhnlich, Algy!
Algernon ( steif): Ich glaube, es ist Sitte in guter Gesellschaft, um fünf Uhr eine kleine Erfrischung zu nehmen. Wo bist du seit letztem Donnerstag gewesen?
Jack ( setzt sich aufs Sofa): Auf dem Lande.
Algernon: Was in aller Welt hast du da zu tun?
Jack ( zieht die Handschuhe aus): Wenn man in der Stadt ist, amüsiert man sich, wenn man auf dem Lande ist, amüsiert man andere. Es ist furchtbar langweilig.
Algernon: Und wen amüsierst du?
Jack ( leicht): Oh, Nachbarn, Nachbarn.
Algernon: Hast du nette Nachbarn auf deinem Sitz in Shropshire?
Jack: Abscheuliche! rede nie mit einem.
Algernon: Wie mußt du sie amüsieren! ( Steht auf und nimmt ein Brötchen.) Nebenbei, Shropshire ist deine Grafschaft, nicht wahr?
Jack: Wie? Shropshire? Ja, natürlich. Hallo! Wozu all diese Tassen? Wozu Gurkenbrötchen? Wozu solche Verschwendung bei einem so jungen Menschen? Wer kommt zum Tee?
Algernon: Oh, nur Tante Auguste und Gwendolen.
Jack: Wie wundervoll!
Algernon: Ja, das ist alles recht schön und gut, aber ich fürchte, Tante Auguste wird nicht ganz damit einverstanden sein, daß du hier bist.
Jack: Darf ich fragen, warum?
Algernon: Mein lieber Junge, es ist einfach schändlich, wie du mit Gwendolen flirtest. Beinah so schlimm, wie Gwendolen mit dir flirtet.
Jack: Ich liebe Gwendolen. Ich bin eigens nach London gekommen, um ihr meinen Antrag zu machen.
Algernon: Ich dachte, du wärest zum Vergnügen gekommen? ... Das nenn' ich Geschäfte.
Jack: Wie unromantisch du bist!
Algernon: Ich sehe wirklich nichts Romantisches in einem Antrag. Es ist sehr romantisch, verliebt zu sein. Aber es liegt nichts Romantisches in einem bestimmten Antrag. Er kann sogar angenommen werden. Er wird es gewöhnlich, glaube ich. Und dann ist die ganze Aufregung vorüber. Das Wesen der Romantik ist die Ungewißheit. Wenn ich mich je verheirate, werde ich sicher versuchen, es zu vergessen.
Jack: Daran zweifle ich keinen Augenblick, lieber Algy. Für Leute, deren Gedächtnis so merkwürdig veranlagt ist, ist ausdrücklich der Ehescheidungs-Gerichtshof eingerichtet.
Algernon: Oh, es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ehescheidungen werden im Himmel geschlossen. ( Jack streckt die Hand nach einem Brötchen aus. Algernon protestiert sofort.) Bitte, rühre die Gurkenbrötchen nicht an. Sie sind eigens für Tante Auguste bestellt. ( Nimmt eins und ißt es.)
Jack: Du hast doch die ganze Zeit davon gegessen.
Algernon: Das ist ganz etwas anderes. Sie ist meine Tante. ( Nimmt eine Platte von unten.) Nimm etwas Butterbrot. Die Butterbrote sind für Gwendolen. Gwendolen schwärmt für Butterbrot.
Jack ( tritt an den Tisch und bedient sich): Und gut ist das Butterbrot.
Algernon: Nun, mein lieber Junge, du brauchst nicht zu essen, als wolltest du alles essen. Du tust, als wärest du schon mit ihr verheiratet, und ich glaube nicht, daß du es je sein wirst.
Jack: Warum meinst du das?
Algernon: Nun, erstens heiratet kein Mädchen den Mann, mit dem es flirtet. Sie halten es nicht für richtig.
Jack: Oh, das ist Unsinn!
Algernon: Das ist kein Unsinn. Es ist eine große Wahrheit. Es erklärt die ungewöhnlich hohe Zahl von Junggesellen, die man überall trifft. Und zweitens gebe ich meine Einwilligung nicht.
Jack: Deine Einwilligung?
Algernon: Mein lieber Junge, Gwendolen ist meine Cousine. Und ehe ich zugebe, daß du sie heiratest, mußt du die ganze Geschichte mit Cecily aufklären. ( Er schellt.)
Jack: Cecily! Was in aller Welt meinst du, Algy? Cecily? Ich kenne niemand des Namens.
( Lane tritt ein.)
Algernon: Bringen Sie mir die Zigarettendose, die Mr. Worthing das letztemal im Eßzimmer vergessen hat.
Lane: Ja, gnädiger Herr.
( Lane geht.)
Jack: Willst du etwa sagen, du hättest die ganze Zeit meine Zigarettendose gehabt? Wollte Gott, du hättest es mich wissen lassen. Ich habe der Kriminalpolizei wilde Briefe deswegen geschrieben. Ich hätte beinahe eine große Belohnung ausgesetzt.
Algernon: Nun, ich wollte, du setztest noch eine aus. Ich bin gerade ungewöhnlich knapp an Geld.
Jack: Es hätte keinen Sinn, jetzt noch eine große Belohnung auszusetzen, da das Ding gefunden ist.
( Lane tritt ein, mit der Zigarettendose auf einem Teebrett. Algernon nimmt sie sofort. Lane geht.)
Algernon: Ich sollte meinen, das ist ziemlich gemein von dir, Ernst. Das muß ich sagen. ( Öffnet die Dose und prüft sie.) Aber es tut nichts. Denn jetzt, da ich die Gravierung sehe, finde ich, daß die Dose überhaupt nicht dir gehört.
Jack: Natürlich gehört sie mir. ( Geht auf ihn zu.) Du hast mich hundertmal damit gesehen, und du hast gar kein Recht, zu lesen, was da drinnen geschrieben steht. Es ist sehr unschicklich, zu lesen, was in einer privaten Zigarettendose eingraviert ist.
Algernon: Oh, es ist absurd, eine feste Regel aufzustellen, was man lesen sollte und was nicht. Mehr als die Hälfte der modernen Kultur stammt aus dem, was man nicht lesen sollte.
Jack: Das weiß ich recht gut, und ich habe keine Lust, über moderne Kultur zu reden. Darüber sollte man nie anders als öffentlich reden. Ich will nur meine Zigarettendose zurückhaben.
Algernon: Ja, aber es ist nicht deine Zigarettendose. Diese Zigarettendose ist ein Geschenk von jemand namens Cecily, und du sagtest, du kenntest niemand dieses Namens.
Jack: Nun, wenn du es durchaus wissen willst: Cecily ist meine Tante.
Algernon: Deine Tante?
Jack: Ja; eine reizende alte Dame. Wohnt in Tunbridge Wells. Nun gib sie mir wieder, Algy.
Algernon ( zieht sich hinter das Sofa zurück): Aber warum nennt sie sich die kleine Cecily, wenn sie deine Tante ist und in Tunbridge Wells wohnt? ( Liest.) »Von der kleinen Cecily mit herzlichem Gruß.«
Jack ( geht zum Sofa, kniet darauf): Mein lieber Junge, was tut das? Einige Tanten sind groß, andere Tanten sind nicht groß. Das ist etwas, was man doch wohl den Tanten selbst überlassen kann. Du scheinst zu glauben, alle Tanten müßten wie deine Tante sein. Das ist absurd! Um Gottes willen, gib mir meine Zigarettendose zurück. ( Folgt Algernon um das Sofa.)
Algernon: Ja, aber warum nennt deine Tante dich ihren Onkel? »Von der kleinen Cecily mit herzlichem Gruß Ihrem lieben Onkel Jack.« Dagegen läßt sich nichts sagen, das gebe ich zu, daß eine Tante eine kleine Tante ist. Aber warum eine Tante, wie groß oder klein sie auch sein mag, ihren eigenen Neffen ihren Onkel nennen sollte, das kann ich nicht einsehen. Außerdem ist dein Name gar nicht Jack; er ist Ernst.
Jack: Er ist nicht Ernst, er ist Jack.
Algernon: Du hast mir immer gesagt, er sei Ernst. Ich habe dich jedermann als Ernst vorgestellt. Du siehst aus, als wäre dein Name Ernst. Du bist der am ernstesten aussehende Mensch, der mir je begegnet ist. Es ist absurd, wenn du sagst, du hießest nicht Ernst. Es steht auf deinen Karten. Da ist eine. ( Nimmt sie von einer Schale.) »Mr. Ernst Worthing, B. 4, the Albany.« Ich will das als Beweis behalten, daß du Ernst heißt, wenn du je versuchen solltest, es gegen mich oder Gwendolen oder sonst jemand zu leugnen. ( Steckt die Karte in die Tasche.)
Jack: Nun, in der Stadt heiße ich Ernst, auf dem Lande Jack, und die Zigarettendose wurde mir auf dem Lande geschenkt.
Algernon: Ja, aber das erklärt immer noch nicht, warum deine kleine Tante Cecily, die in Tunbridge Wells wohnt, dich ihren lieben Onkel nennt. Komm, alter Junge, du rücktest besser gleich mit der ganzen Geschichte heraus.
Jack: Mein lieber Algy, du redest gerade, als wärest du ein Zahnarzt. Es ist sehr vulgär, wie ein Zahnarzt zu reden, wenn man kein Zahnarzt ist. Das macht einen falschen Eindruck.
Algernon: Nun, gerade das tun Zahnärzte immer. Also, vorwärts! Erzähle mir die ganze Geschichte. Ich kann dir sagen, daß ich dich immer in Verdacht gehabt habe, du seist ein geheimer Bunburyist; und jetzt weiß ich es sicher.
Jack: Bunburyist? Was in aller Welt meinst du mit Bunburyist?
Algernon: Ich will dir die Bedeutung dieses unvergleichlichen Wortes verraten, sobald du so freundlich bist, mir zu sagen, warum du Ernst in der Stadt und auf dem Lande Jack heißest.
Jack: Gut. Aber gib mir erst meine Zigarettendose.
Algernon: Da ist sie. ( Gibt ihm die Zigarettendose.) Nun gib deine Erklärung und, bitte, mache sie nicht unwahrscheinlich. ( Setzt sich aufs Sofa.)
Jack: Mein lieber Junge, meine Erklärung ist durchaus nicht unwahrscheinlich. Sie ist sogar ganz gewöhnlich. Der alte Mr. Thomas Cardew, der mich adoptierte, als ich ein kleiner Junge war, machte mich in seinem Testament zum Vormund seiner Enkelin, Miß Cecily Cardew. Cecily, die mich aus Gründen der Achtung, die du vermutlich nicht zu würdigen verstehst, als Onkel anredet, wohnt auf meinem Landsitz unter der Aufsicht ihrer vortrefflichen Gouvernante Miß Prism.
Algernon: Wo liegt der Landsitz, nebenbei?
Jack: Das geht dich nichts an, lieber Junge. Du wirst nicht eingeladen werden. ... Ich kann dir aber offen sagen, daß er nicht in Shropshire liegt.
Algernon: Das vermute ich, mein lieber Junge. Ich habe Shropshire zweimal ganz durchgebunburyiert. Nun weiter. Warum bist du Ernst in der Stadt und Jack auf dem Lande?
Jack: Mein lieber Algy, ich weiß nicht recht, ob du meine wahren Gründe verstehen wirst? Du bist schwerlich ernst genug. Wenn man die Stellung eines Vormundes einnimmt, muß man über alles mit moralischem Tonfall reden. Das ist eine Pflicht, und da ein moralischer Tonfall weder viel zur Gesundheit noch zum Glück beiträgt, so habe ich, um ab und zu nach London fahren zu können, vorgegeben, ich hätte einen jüngeren Bruder, namens Ernst, der in dem Albany wohne und die tollsten Streiche mache. Das, mein lieber Algy, ist die ganze Wahrheit, klar und einfach.
Algernon: Die Wahrheit ist selten klar und niemals einfach. Unser modernes Leben wäre sehr langweilig, wenn es anders wäre, und die moderne Literatur wäre ganz unmöglich.
Jack: Das wäre gar nicht so schlimm.
Algernon: Literarische Kritik ist nicht deine Stärke, mein lieber Junge. Versuch es nicht damit. Das solltest du Leuten überlassen, die nie auf der Universität waren. Sie tun es gut genug in den Zeitungen. Was du wirklich bist, will ich dir sagen. Du bist ein Bunburyist. Ich hatte ganz recht, als ich sagte, du seist ein Bunburyist. Du bist einer der fortgeschrittensten Bunburyisten, die ich kenne.
Jack: Was in aller Welt heißt das?
Algernon: Du hast einen sehr nützlichen jüngeren Bruder namens Ernst erfunden, um, sooft du wolltest, nach London kommen zu können. Ich habe einen unschätzbaren ewigen Invaliden namens Bunbury erfunden, um, sooft ich Lust habe, aufs Land gehen zu können. Bunbury ist ganz unschätzbar. Wenn zum Beispiel Bunburys ungewöhnlich schlechte Gesundheit nicht wäre, so könnte ich heute abend mit dir bei Willis speisen, denn ich bin seit mehr als einer Woche bei Tante Auguste verpflichtet.
Jack: Ich habe dich nicht eingeladen, irgendwo heut abend mit mir zu speisen.
Algernon: Ich weiß. Du bist furchtbar nachlässig mit dem Versenden von Einladungen. Das ist sehr töricht von dir. Nichts langweilt die Leute so sehr, wie wenn sie keine Einladung bekommen.
Jack: Du tätest viel besser daran, bei deiner Tante Auguste zu essen.
Algernon: Ich denke nicht daran, etwas Ähnliches zu tun. Erstens habe ich Montag bei ihr gegessen, und wenn man einmal die Woche bei seinen Verwandten ißt, so ist das ganz genug. Zweitens werde ich, sooft ich dort esse, als Familienmitglied behandelt und bekomme entweder keine Dame oder gleich zwei. Drittens weiß ich ganz genau, wen sie mir heute abend geben will. Sie will mich zu Mary Farquhar setzen, die immer über den Tisch weg mit ihrem eigenen Mann kokettiert. Das ist nicht sehr amüsant. Es ist nicht einmal anständig ... und solche Dinge nehmen rapid zu. Es ist ein Skandal, wie viele Frauen in London mit ihren eigenen Männern kokettieren. Das macht einen so schlechten Eindruck. Es heißt einfach, öffentlich seine reine Wäsche waschen. Und schließlich, da ich nun einmal weiß, daß du ein Bunburyist bist, will ich natürlich mit dir übers Bunburyieren reden. Ich will dir die Regeln sagen.
Jack: Ich bin kein Bunburyist. Wenn Gwendolen mich nimmt, will ich meinen Bruder töten. Ja, ich glaube, ich werde ihn auf jeden Fall töten. Cecily interessiert sich ein wenig zu sehr für ihn. Es ist eine wahre Qual. Daher will ich Ernst los werden. Und ich rate dir sehr, mit Mr. ..., mit deinem Freund, dem Invaliden, der den verrückten Namen hat, das gleiche zu tun.
Algernon: Nichts kann mich veranlassen, mich von Bunbury zu trennen, und wenn du je heiratest, was mir sehr problematisch erscheint, so wirst du froh sein, Bunbury zu kennen. Ein Mann, der heiratet, ohne Bunbury zu kennen, hat eine langweilige Zeit vor sich.
Jack: Das ist Unsinn. Wenn ich ein reizendes Mädchen wie Gwendolen heirate – und sie ist das einzige Mädchen von allen, die mir im Leben begegnet sind, das ich heiraten möchte – dann werde ich sicher nie danach verlangen, Bunbury kennenzulernen.
Algernon: Dann wird deine Frau danach verlangen. Du scheinst nicht zu wissen, daß in der Ehe drei Gesellschaft und zwei keine sind.
Jack ( sentenziös): Das, mein lieber junger Freund, ist die Theorie, die das verderbte französische Drama seit den letzten fünfzig Jahren verbreitet.
Algernon: Jawohl, und die das glückliche englische Haus in der halben Zeit bewiesen hat.
Jack: Um Gottes willen, versuche nicht, zynisch zu werden. Es ist nicht so leicht, zynisch zu sein.
Algernon: Mein lieber Junge, es ist heutzutage nicht leicht, irgend etwas zu sein. Die Konkurrenz ist so schauerlich groß. ( Man hört eine elektrische Klingel läuten.) Ah, das muß Tante Auguste sein. Nur Verwandte oder Gläubiger schellen so wagnerisch. Wenn ich sie jetzt auf zehn Minuten aus dem Wege räume, so daß du Gelegenheit hast, Gwendolen deinen Antrag zu machen, kann ich dann heut' abend mit dir bei Willis speisen?
Jack: Ich denke ja, wenn du willst.
Algernon: Ja, aber es muß dein Ernst sein. Ich hasse die Leute, die es mit dem Essen nicht Ernst nehmen. Es ist so oberflächlich.
( Lane tritt ein.)
Lane: Lady Bracknell, Miß Fairfax.
( Algernon geht ihnen entgegen. Lady Bracknell, Miß Fairfax treten ein.)
Lady Bracknell: Guten Tag, lieber Algernon, ich hoffe, du benimmst dich gut.
Algernon: Ich befinde mich sehr gut, Tante Auguste.
Lady Bracknell: Das ist nicht ganz dasselbe. Die beiden Dinge gehen sogar selten zusammen.
( Sieht Jack und verneigt sich gegen ihn mit eisiger Kälte.)
Algernon ( zu Gwendolen): Himmel, bist du elegant!
Gwendolen: Ich bin immer elegant, nicht wahr, Mr. Worthing?
Jack: Sie sind immer vollkommen. Miß Fairfax.
Gwendolen: Oh, das hoffe ich nicht. Das ließe keinen Raum für Entwicklung, und ich habe die Absicht, mich in vielen Richtungen zu entwickeln.
( Gwendolen und Jack setzen sich zusammen in einen Winkel.)
Lady Bracknell: Es tut mir leid, daß wir ein wenig zu spät kommen, Algernon, aber ich mußte die gute Lady Harbury besuchen. Ich war seit dem Tode ihres Mannes nicht mehr bei ihr gewesen. Ich habe nie eine Frau so verändert gesehen; sie sieht um zwanzig Jahre jünger aus. Und jetzt nehme ich eine Tasse Tee und eins von den netten Gurkenbrötchen, die du mir versprochen hast.
Algernon: Gewiß, Tante Auguste. ( Geht zum Teetisch.)
Lady Bracknell: Willst du nicht hierher kommen, Gwendolen?
Gwendolen: Danke, Mama, ich sitze ganz bequem hier.
Algernon ( nimmt entsetzt den leeren Teller auf): Um Gottes willen! Lane! Sind keine Gurkenbrötchen da? Ich habe sie eigens bestellt.
Lane ( ernst): Es gab keine Gurken heute morgen, gnädiger Herr. Ich bin zweimal hingegangen.
Algernon: Keine Gurken?
Lane: Nein, gnädiger Herr. Nicht für bares Geld.
Algernon: Es ist gut, Lane, ich danke Ihnen.
Lane: Ich danke Ihnen, gnädiger Herr.
( Lane geht.)
Algernon: Ich bin ganz bestürzt, Tante Auguste, daß es keine Gurken gab, nicht einmal für bares Geld.
Lady Bracknell: Es tut wirklich nichts, Algernon. Ich habe etwas bei Lady Harbury genossen, die nur noch zu ihrem Vergnügen zu leben scheint.
Algernon: Ich höre, ihr Haar ist vor Gram ganz goldig geworden.
Lady Bracknell: Es hat sicher seine Farbe gewechselt. Aus welchem Grunde, kann ich natürlich nicht sagen. ( Algernon kommt herüber und reicht Tee.) Danke schön. Ich habe ein wahres Fest für dich heut abend, Algernon. Ich will dir Mary Farquhar zu Tisch geben. Sie ist eine reizende Frau und so aufmerksam gegen ihren Mann. Es ist ein Vergnügen, sie zu beobachten.
Algernon: Ich fürchte, Tante Auguste, ich muß auf das Vergnügen verzichten, heute abend bei dir zu speisen.
Lady Bracknell ( stirnrunzelnd): Ich hoffe nicht, Algernon. Das würde meine Tischordnung ganz umwerfen. Dein Onkel müßte oben essen. Zum Glück ist er daran gewöhnt.
Algernon: Es ist furchtbar langweilig und – das brauche ich kaum zu sagen – für mich eine rechte Enttäuschung, aber ich habe gerade eben ein Telegramm bekommen, daß mein armer Freund Bunbury wieder sehr krank ist. ( Wechselt Blicke mit Jack.) Man scheint zu glauben, ich sollte eigentlich bei ihm sein.
Lady Bracknell: Es ist seltsam, dieser Mr. Bunbury scheint unter einer merkwürdig schlechten Gesundheit zu leiden.
Algernon: Ja; der arme Bunbury ist ein schrecklicher Invalide.
Lady Bracknell: Nun, ich muß doch sagen, Algernon, ich dächte, es wäre die höchste Zeit, daß sich Mr. Bunbury darüber schlüssig würde, ob er leben oder sterben will. Dieses Hin und Her in der Sache ist einfach absurd. Ich billige auch gar nicht die moderne Sympathie für Invaliden. Ich halte sie für krankhaft. Krankheit irgendwelcher Art ist schwerlich etwas, was man bei anderen ermutigen sollte. Gesundheit ist die erste Pflicht im Leben. Das sage ich immer deinem armen Onkel, aber es scheint, er kümmert sich nicht viel darum. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du Mr. Bunbury von mir aus bitten wolltest, er möchte so freundlich sein, Samstag keinen Rückfall zu bekommen; denn ich verlasse mich darauf, daß du meine Musik für mich arrangierst. Es ist mein letzter Empfang, und man braucht etwas, um die Unterhaltung in Gang zu bringen; besonders am Ende der Saison, wenn tatsächlich jedermann gesagt hat, was er zu sagen hatte; und das war in den meisten Fällen vermutlich nicht viel.
Algernon: Ich will mit Bunbury reden, Tante Auguste, wenn er noch bei Bewußtsein ist, und ich glaube, ich kann versprechen, daß er bis Samstag besser sein wird. Natürlich – die Musik ist eine schwierige Frage. Du weißt, spielt man gute Musik, so hören die Leute nicht zu, und spielt man schlechte Musik, so reden die Leute nicht. Aber ich will das Programm mit dir durchsehen, das ich entworfen habe, wenn du so freundlich sein willst, einen Augenblick in das nächste Zimmer zu kommen.
Lady Bracknell: Danke dir, Algernon. Es ist sehr freundlich von dir, daß du daran gedacht hast. ( Steht auf und folgt Algernon.) Ich bin sicher, das Programm wird sehr hübsch sein, nach einigen Streichungen natürlich. Französische Lieder kann ich nicht gut zulassen. Die Leute meinen immer, sie seien unpassend, und sind entweder entrüstet, und das ist vulgär, oder sie lachen, und das ist noch schlimmer. Aber Deutsch klingt wie eine durchaus achtbare Sprache, und ich glaube auch, sie ist es. Gwendolen, du wirst mit mir kommen.
Gwendolen: Gewiß, Mama.
( Lady Bracknell und Algernon gehen ins Musikzimmer. Gwendolen bleibt.)
Jack: Schöner Tag gewesen, Miß Fairfax.
Gwendolen: Bitte, reden Sie nicht mit mir übers Wetter. Wenn die Leute mit mir vom Wetter reden, so bin ich immer ganz sicher, daß sie etwas anderes meinen. Das macht mich nervös.
Jack: Ich meine etwas anderes.
Gwendolen: Ich dachte es mir. Ich habe immer recht.
Jack: Und ich möchte gern die zeitweise Abwesenheit der Lady Bracknell ausnutzen ...
Gwendolen: Das würde ich Ihnen wirklich raten. Mama hat eine Art, plötzlich in ein Zimmer zurückzukommen, daß ich oft mit ihr darüber habe reden müssen!
Jack ( nervös): Miß Fairfax, seitdem ich Sie kennengelernt habe, habe ich Sie mehr als irgendein Mädchen bewundert ... das ich kennengelernt habe ... seit ich Sie kennenlernte ...
Gwendolen: Ja, das weiß ich recht gut. Und ich habe oft gewünscht, daß Sie vor den Leuten etwas demonstrativer gewesen wären. Für mich haben Sie immer einen unwiderstehlichen Zauber gehabt. Schon ehe ich Sie kennenlernte, war ich nicht gleichgültig gegen Sie. ( Jack sieht sie starr an.) Wir leben, wie Sie hoffentlich wissen, Mr. Worthing, in einer Zeit der Ideale. Das wird beständig in den teureren Monatsschriften erwähnt und in der Provinz schon von den Kanzeln gepredigt, so höre ich; und mein Ideal ist immer gewesen, jemand zu lieben, der Ernst heißt. In dem Namen liegt etwas, was unbedingtes Vertrauen einflößt. Den Augenblick, als Algernon mir zum ersten Male sagte, er habe einen Freund, namens Ernst, wußte ich, daß es mein Schicksal war, Sie zu lieben.
Jack: Sie lieben mich wirklich, Gwendolen?
Gwendolen: Leidenschaftlich!
Jack: Liebste! Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich machen.
Gwendolen: Mein Ernst!
Jack: Aber Sie wollen doch nicht sagen, wenn ich nicht Ernst hieße, könnten Sie mich nicht lieben?
Gwendolen: Aber Sie heißen Ernst?
Jack: Gewiß. Aber wenn ich nun anders hieße? Wollen Sie sagen, daß Sie mich dann nicht lieben könnten?
Gwendolen ( ausweichend): Ah, das ist offenbar eine metaphysische Spekulation und hat, wie alle metaphysischen Spekulationen, sehr wenig mit den wirklichen Tatsachen des wirklichen Lebens zu tun, wie wir sie kennen.
Jack: Mir persönlich, Liebling, um ganz offen zu reden, mir liegt nicht viel an dem Namen Ernst ... Ich glaube, der Name paßt gar nicht zu mir.
Gwendolen: Er paßt ausgezeichnet zu Ihnen. Es ist ein göttlicher Name. Er hat eine eigne Musik. Er ruft Schwingungen wach.
Jack: Nun, wahrhaftig, Gwendolen, ich muß doch sagen, es gibt eine Menge anderer Namen, die viel hübscher sind. Mir scheint Jack zum Beispiel ein reizender Name.
Gwendolen: Jack? ... Nein, der Name hat wenig Musik, wenn er überhaupt welche hat. Er klingt nicht. Er ruft gar keine Schwingungen wach ... Ich habe mehrere Jacks gekannt, und alle, ohne Ausnahme, waren ungewöhnlich häßlich. Außerdem ist bekanntlich Jack eine Verstümmelung von John. Und mir tut jede Frau leid, die einen John heiratet. Sie würde wahrscheinlich nie den bezaubernden Genuß auch nur einer einzigen Minute der Einsamkeit kennenlernen. Der einzige Name, bei dem man sicher geht, ist Ernst.
Jack: Gwendolen, ich muß mich sofort taufen lassen – ich meine, wir müssen sofort heiraten. Es ist keine Zeit zu verlieren.
Gwendolen: Heiraten, Mr. Worthing?
Jack: Nun ... gewiß. Sie wissen, ich liebe Sie, und Sie ließen mich glauben, Miß Fairfax, ich sei Ihnen nicht ganz gleichgültig.
Gwendolen: Ich bete Sie an. Aber Sie haben mir noch keinen Antrag gemacht. Von Heirat ist nicht die Rede gewesen. Die Frage ist noch nicht einmal berührt worden.
Jack: Nun ... darf ich Ihnen jetzt meinen Antrag machen?
Gwendolen: Ich glaube, es wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit. Und um Ihnen jede mögliche Enttäuschung zu ersparen, Mr. Worthing, will ich Ihnen im voraus sagen, daß ich entschlossen bin, Sie anzunehmen.
Jack: Gwendolen!
Gwendolen: Ja, Mr. Worthing; was haben Sie mir also zu sagen?
Jack: Sie wissen, was ich Ihnen zu sagen habe.
Gwendolen: Ja, aber Sie sagen es nicht.
Jack: Gwendolen, willst du mich heiraten? ( Kniet vor ihr.)
Gwendolen: Natürlich will ich, Liebster. Wie lange du dazu gebraucht hast! Ich fürchte, du hast wenig Übung in Anträgen.
Jack: Liebste, ich habe niemand in der Welt außer dir geliebt.
Gwendolen: Ja, aber die Männer machen oft zur Übung Anträge. Wenigstens mein Bruder Gerald tut es. Alle meine Freundinnen behaupten es. Was für wundervoll blaue Augen du hast, Ernst! Sie sind ganz, ganz blau. Ich hoffe, du wirst mich immer so ansehen, besonders, wenn andere Leute dabei sind.
( Lady Bracknell tritt ein.)
Lady Bracknell: Mr. Worthing! Stehen Sie auf, mein Herr, aus dieser halbliegenden Stellung. Sie ist höchst unschicklich.
Gwendolen: Mama! ( Er versucht aufzustehen, sie hält ihn zurück.) Ich muß dich bitten, dich zurückzuziehen. Außerdem ist Mr. Worthing noch nicht ganz fertig.
Lady Bracknell: Fertig – womit, wenn ich fragen darf?
Gwendolen: Ich bin mit Mr. Worthing verlobt, Mama.
( Sie stehen zusammen auf.)
Lady Bracknell: Verzeihung, du bist mit niemand verlobt. Wenn du mit jemand verlobt bist, werde ich oder dein Vater, wenn es ihm seine Gesundheit erlaubt, dich benachrichtigen. Eine Verlobung sollte ein junges Mädchen wie eine Überraschung treffen, wie eine angenehme oder unangenehme, je nachdem der Fall liegt. Sie ist schwerlich etwas, was man ihr allein überlassen könnte ... Und jetzt habe ich Ihnen einige Fragen zu stellen, Mr. Worthing. Während ich dieses Verhör vornehme, Gwendolen, wirst du unten im Wagen auf mich warten.
Gwendolen ( vorwurfsvoll): Mama!
Lady Bracknell: Im Wagen, Gwendolen!
( Gwendolen geht an die Tür. Sie und Jack werfen einander hinter Lady Bracknells Rücken Küsse zu. Lady Bracknell sieht sich unsicher um, als begriffe sie nicht, was für ein Geräusch das war. Schließlich dreht sie sich um.)
Lady Bracknell: Gwendolen, im Wagen!
Gwendolen: Ja, Mama. ( Geht und sieht sich nach Jack um.)
Lady Bracknell ( setzt sich): Sie dürfen Platz nehmen, Mr. Worthing. ( Sucht in der Tasche nach Bleistift und Notizbuch.)
Jack: Danke vielmals, Lady Bracknell, ich stehe lieber.
Lady Bracknell ( Bleistift und Notizbuch in der Hand): Ich muß gestehen, daß Sie nicht auf meiner Liste der heiratsfähigen jungen Leute stehen, obgleich meine Liste dieselbe ist, die die gute Herzogin von Bolton hat. Wir arbeiten nämlich zusammen. Aber ich bin bereit, Ihren Namen einzutragen, wenn Ihre Antworten so sind, wie eine besorgte Mutter sie verlangt. – Rauchen Sie?
Jack: Nun, ja, ich muß zugeben, ich rauche.
Lady Bracknell: Das freut mich. Ein Mann sollte immer irgendwelche Beschäftigung haben. Es gibt sowieso schon viel zu viel müßige Männer. Wie alt sind Sie?
Lady Bracknell: Ein vorzügliches Alter, um zu heiraten. – Ich bin stets der Meinung gewesen, ein Mann, der zu heiraten wünscht, sollte entweder alles oder nichts wissen. Was wissen Sie?
Jack ( nach einigem Zögern): Ich weiß nichts, Lady Bracknell.
Lady Bracknell: Freut mich, zu hören. Ich billige nichts, was der natürlichen Unwissenheit Abbruch tut. Die Unwissenheit ist wie eine zarte exotische Blume. Man berühre sie, und der Flaum ist fort. Die ganze Theorie der modernen Erziehung ist absolut ungesund. Zum Glück bringt, wenigstens in England, die Erziehung absolut kein Resultat hervor. Wäre es anders, so wäre sie eine ernste Gefahr für die oberen Klassen, und sie würde vermutlich zu Gewalttaten auf dem Grosvenor-Square führen ... Welches ist Ihr Einkommen?
Jack: Zwischen hundertvierzig- und hundertsechzigtausend im Jahr.
Lady Bracknell ( notiert): In Land oder Papieren?
Jack: Hauptsächlich in Papieren.
Lady Bracknell: Das ist zufriedenstellend. Teils wegen der Pflichten, die während des Lebens von einem erwartet werden und teils wegen der Pflichten, die man nach dem Tode erfüllen soll, bringt Land heute weder Vergnügen noch Nutzen. Es gibt einem eine Stellung und hindert einen, sie zu erhalten. Das ist alles, was man über Land sagen kann.
Jack: Ich habe natürlich einen Landsitz mit etwas Land dabei, etwa fünfzehnhundert Acker, glaube ich; aber mein Einkommen ist unabhängig davon. Soweit ich herausbekommen kann, sind die Wilddiebe die einzigen Leute, die etwas herausschlagen.
Lady Bracknell: Ein Landhaus! Wie viele Schlafzimmer? Nun, das kann später aufgeklärt werden. Sie haben hoffentlich ein Haus in der Stadt? Einem Mädchen von einfachem, unverdorbenem Charakter, wie Gwendolen, kann man schwerlich zumuten, auf dem Lande zu wohnen.
Jack: Ich habe zwar ein Haus auf dem Belgrave-Square, aber es ist auf ein Jahr an Lady Bloxham vermietet. Natürlich kann ich es wiederhaben, sobald ich will, nach sechs Monaten Kündigung.
Lady Bracknell: Lady Bloxham? Ich kenne sie nicht.
Jack: Oh, sie geht sehr wenig aus. Sie ist sehr alt.
Lady Bracknell: Ah, heutzutage ist das keine Garantie für Ehrbarkeit. Welche Nummer auf dem Belgrave-Square?
Jack: 149.
Lady Bracknell ( schüttelt den Kopf): Die unmoderne Seite. Ich dachte mir schon, daß etwas dahinter steckt. Aber das ließe sich leicht ändern.
Jack: Meinen Sie die Mode oder die Seite?
Lady Bracknell ( streng): Beides, denke ich. Welches ist Ihre Politik?
Jack: Nun, ich fürchte, ich habe keine Ansichten. Ich bin ein liberaler Unionist.
Lady Bracknell: Oh, die zählen als Tories. Sie dinieren bei uns. Oder kommen wenigstens abends. Jetzt zu den geringeren Dingen. Leben Ihre Eltern?
Jack: Ich habe beide Eltern verloren.
Lady Bracknell: Beide? ... Das sieht wie Nachlässigkeit aus. Wer war Ihr Vater? Er war offenbar ein Mann von einigem Wohlstand. War er in dem, was die radikalen Zeitungen den Purpur des Handels nennen, geboren, oder entstammte er den Reihen der Aristokratie?
Jack: Ich fürchte, ich weiß es nicht genau. Ich habe nämlich meine Eltern verloren, wie ich schon sagte, Lady Bracknell. Vielleicht wäre es genauer, zu sagen, daß meine Eltern mich verloren zu haben scheinen ... Ich weiß tatsächlich nicht, wer ich von Geburt bin. Ich wurde ... nun, ich wurde gefunden.
Lady Bracknell: Gefunden?
Jack: Der verstorbene Doktor Thomas Cardew, ein alter Herr von sehr wohltätigem und freundlichem Charakter, hat mich gefunden und gab mir den Namen Worthing, weil er gerade ein Billett erster Klasse nach Worthing in der Tasche hatte. Worthing ist ein Ort in Sussex. Es ist Seebad.
Lady Bracknell: Wo hat der wohltätige alte Herr mit dem Billett erster Klasse nach diesem Seebad Sie gefunden?
Jack ( ernst): In einer Reisetasche.
Lady Bracknell: Einer Reisetasche?
Jack ( sehr ernst): Ja, Lady Bracknell. In einer Reisetasche – einer ziemlich großen schwarzledernen Reisetasche mit zwei Griffen – kurz, einer gewöhnlichen Reisetasche.
Lady Bracknell: Und wo hat dieser Mr. James oder Thomas Cardew diese gewöhnliche Reisetasche gefunden?
Jack: Im Gepäckraum des Viktoriabahnhofs. Sie wurde ihm aus Versehen an Stelle seiner eigenen gegeben.
Lady Bracknell: Im Gepäckraum des Viktoriabahnhofs?
Jack: Ja; auf der Brightonlinie.
Lady Bracknell: Die Linie ist unwesentlich. Mr. Worthing, ich muß gestehen, daß mich das, was Sie mir soeben erzählt haben, ein wenig bestürzt. In einer Reisetasche geboren oder mindestens aufgezogen zu werden, ob sie Griffe hatte oder nicht, das scheint mir auf eine Verachtung des gewöhnlichen Familienstandes zu deuten, die an die schlimmsten Ausschreitungen der französischen Revolution erinnert. Und ich denke, Sie wissen, wozu jene unglückliche Bewegung geführt hat. Was den besonderen Raum angeht, in dem die Reisetasche gefunden wurde, den Gepäckraum eines Bahnhofs, so könnte er dazu dienen, eine soziale Indiskretion zu verbergen – er ist wohl schon früher zu dem Zwecke benutzt worden –, aber man kann ihn kaum als eine sichere Basis für eine anerkannte Stellung in der guten Gesellschaft ansehen.
Jack: Darf ich Sie dann fragen, was Sie mir zu tun raten würden? Ich brauche kaum zu sagen, daß ich alles in der Welt tun würde, um Gwendolens Glück zu sichern.
Lady Bracknell: Ich würde Ihnen sehr raten, Mr. Worthing, daß Sie den Versuch machten, so bald wie möglich einige Verwandte herbeizuschaffen, wenigstens auf jeden Fall je einen Verwandten jedes Geschlechts, ehe die Saison vorüber ist.
Jack: Nun, ich sehe nicht recht, wie ich das anfangen sollte. Ich kann die Reisetasche jeden Augenblick herbeischaffen. Sie steht bei mir zu Hause im Ankleidezimmer. Ich meine wirklich, das müßte Ihnen genügen, Lady Bracknell.
Lady Bracknell: Mir, mein Herr! Was hat das mit mir zu tun? Sie können kaum annehmen, daß es mir und Lord Bracknell einfallen sollte, unserer einzigen Tochter – einem sorgfältig erzogenen Mädchen – zu erlauben, daß sie in einen Gepäckraum heiratet und sich mit einem Gepäckstück verbindet? Guten Abend, Mr. Worthing.
( Lady Bracknell fegt in majestätischer Entrüstung hinaus.)
Jack: Guten Abend! ( Algernon beginnt im anderen Zimmer den Hochzeitsmarsch zu spielen. Jack sieht wütend drein und geht an die Tür.) Um Gottes willen, Algy, spiele nicht diese entsetzliche Melodie! Wie blödsinnig du bist!
Algernon: Ging denn nicht alles gut, alter Junge? Du willst doch nicht sagen, Gwendolen hätte dich abgewiesen? Sie tut es zwar sehr gern. Sie weist die Leute immer ab. Ich denke, es ist sehr unfreundlich von ihr.
Jack: Oh, mit Gwendolen ist alles in bester Ordnung. Soweit es auf sie ankommt, sind wir verlobt. Aber ihre Mutter ist unausstehlich. Hab' noch nie eine solche Gorgone gesehen ... Ich weiß nicht genau, wie eine Gorgone eigentlich aussieht, aber Lady Bracknell ist sicherlich eine. Jedenfalls ist sie ein Ungeheuer, ohne mythisch zu sein, und das ist sehr unpassend ... Verzeihung, Algy, ich sollte wohl von deiner Tante vor dir nicht so reden ...
Algernon: Mein lieber Junge, ich freue mich, wenn ich höre, daß man auf meine Verwandten schimpft. Das ist das einzige, was mich mit ihnen überhaupt noch versöhnt. Verwandte sind nur eine Gesellschaft von Leuten, die nicht im geringsten ahnen, wie man leben muß, noch den Takt besitzen, im rechten Augenblick zu sterben.
Jack: Oh, das ist Unsinn.
Algernon: Es ist kein Unsinn.
Jack: Nun, ich will nicht darüber streiten. Du willst immer über die Dinge streiten.
Algernon: Eben dazu sind die Dinge ursprünglich geschaffen.
Jack: Wenn ich das glaubte, auf mein Wort, ich schösse mir eine Kugel vor den Kopf ... ( Pause.) Du glaubst doch nicht, daß Aussicht ist, Gwendolen könnte in den nächsten hundertundfünfzig Jahren ihrer Mutter ähnlich werden, nicht wahr, Algy?
Algernon: Alle Frauen werden wie ihre Mütter, das ist ihre Tragödie. Kein Mann wird wie seine Mutter, das ist seine Tragödie.
Jack: Ist das richtig?
Algernon: Es ist vortrefflich ausgedrückt! und gerade so wahr, wie jede Bemerkung im zivilisierten Leben sein sollte.
Jack: Ich habe die Klugheit herzlich satt. Jedermann ist klug heutzutage. Man kann nicht mehr ausgehen, ohne kluge Leute zu treffen. Es ist eine öffentliche Plage geworden. Ich wollte zu Gott, wir hätten noch ein paar Narren übrig behalten.
Algernon: Wir haben sie übrig behalten!
Jack: Ich möchte ihnen gern einmal begegnen. Worüber reden sie?
Algernon: Die Narren? Oh, über die Klugen natürlich!
Jack: Welche Narren?
Algernon: Nebenbei, hast du Gwendolen die Wahrheit gesagt? Daß du in der Stadt Ernst und auf dem Lande Jack bist?
Jack ( sehr patronisierend): Mein lieber Junge! Die Wahrheit ist nicht gerade das, was man einem hübschen, reizenden, verwöhnten Mädchen sagt. Was für merkwürdige Vorstellungen du über die Art hast, mit Frauen umzugehen!
Algernon: Die einzige Art, mit einer Frau umzugehen, ist die, daß man ihr den Hof macht, wenn sie hübsch ist, und einer anderen, wenn sie häßlich ist.
Jack: Oh, das ist Unsinn.
Algernon: Und dein Bruder, der verworfene Ernst?
Jack: Oh, noch vor dem Ende der Woche werde ich ihn los sein. Ich werde sagen, er sei in Paris am Schlage gestorben. Viele Leute sterben ganz plötzlich am Schlage, nicht wahr?
Algernon: Ja, aber er ist erblich, mein lieber Junge. So etwas geht in Familien um. Du sagtest besser, an einer ernsten Erkältung.
Jack: Du bist sicher, daß eine ernste Erkältung nicht erblich ist, oder so etwas Ähnliches?
Algernon: Natürlich nicht!
Jack: Gut also. Mein armer Bruder Ernst wurde ganz plötzlich von einer ernsten Erkältung weggerafft. Das befreit mich von ihm.
Algernon: Aber ich meinte, du sagtest ... Miß Cardew interessiere sich ein wenig zu sehr für deinen armen Bruder Ernst. Wird sie den Verlust nicht schwer empfinden?
Jack: Oh, das tut nichts; Cecily ist kein albernes, romantisches Mädchen, Gott sei Dank. Sie hat famosen Appetit, macht lange Spaziergänge und kümmert sich gar nicht um ihren Unterricht.
Algernon: Ich möchte Cecily schon einmal sehen.
Jack: Ich werde dafür sorgen, daß das nie geschieht. Sie ist ungewöhnlich hübsch und erst eben achtzehn.
Algernon: Hast du Gwendolen erzählt, daß du ein ungewöhnlich hübsches Mündel von achtzehn Jahren hast?
Jack: Oh, so etwas schreit man den Leuten nicht entgegen. Cecily und Gwendolen werden sicher vorzügliche Freundinnen werden. Ich wette alles, was du willst, daß sie sich nach einer halben Stunde Schwestern nennen.
Algernon: Das tun Frauen immer erst dann, wenn sie sich vorher allerlei andere Namen gegeben haben. Nun, aber, mein lieber Junge, wenn wir noch einen guten Tisch bei Willis haben wollen, dann müssen wir wirklich gehen und uns anziehen. Weißt du, daß es fast sieben ist?
Jack ( reizbar): Oh, es ist immer fast sieben.
Algernon: Aber ich habe Hunger.
Jack: Ich habe dich nie ohne Hunger gesehen.
Algernon: Was sollen wir nachher tun? Ins Theater gehen?
Jack: O nein! ich mag nichts hören.
Algernon: Oder laß uns in den Klub gehen.
Jack: O nein! Ich hasse das Reden.
Algernon: Vielleicht könnten wir um zehn ins Empire ziehen?
Jack: O nein! ich mag nichts ansehen; das ist so albern.
Algernon: Was wollen wir dann tun?
Jack: Nichts.
Algernon: Es ist so furchtbar schwer, nichts zu tun. Aber mir soll es einerlei sein, wenn nichts anderes zu finden ist.
( Lane tritt ein.)
Lane: Miß Fairfax.
( Gwendolen tritt ein. Lane geht.)
Algernon: Gwendolen, auf mein Wort!
Gwendolen: Algy, bitte, dreh' dich um. Ich habe Mr. Worthing etwas Besonderes zu sagen.
Algernon: Wahrhaftig, Gwendolen, ich glaube, ich kann das nicht erlauben.
Gwendolen: Algy, du nimmst immer eine ganz unmoralische Pose gegenüber dem Leben an. Dazu bist du nicht alt genug.
( Algernon geht an den Kamin.)
Jack: Liebste!
Gwendolen: Ernst, wir werden uns vielleicht nie heiraten können. Nach dem Ausdruck auf Mamas Gesicht zu urteilen, fürchte ich es. Heutzutage nehmen so wenig Eltern Rücksicht auf das, was ihre Kinder ihnen sagen. Die altmodische Achtung vor der Jugend stirbt rasch aus. Allen Einfluß, den ich je auf Mama hatte, habe ich mit drei Jahren verloren. Aber wenn sie uns auch hindern kann, Mann und Frau zu werden, und ich einen anderen heiraten muß, so kann sie doch nichts tun, was meine Liebe zu dir ändern könnte.
Jack: Liebe Gwendolen!
Gwendolen: Die Geschichte deiner romantischen Herkunft, die mir Mama mit unangenehmen Kommentaren erzählt hat, hat natürlich die tieferen Fibern meines Wesens erregt. Dein Vorname hat einen unwiderstehlichen Zauber. Die Einfachheit deines Charakters macht dich mir wundervoll unfaßbar. Deine Stadtadresse auf dem Albany habe ich. Welches ist deine Landadresse?
Jack: Woolton, Hertfordshire, Herrenhaus.
( Algernon, der aufmerksam gelauscht hat, lächelt und schreibt die Adresse auf seine Manschette. Dann nimmt er ein Kursbuch zur Hand.)
Gwendolen: Der Postdienst ist gut, hoffe ich. Es könnte nötig werden, etwas Verzweifeltes zu tun. Das würde natürlich ernste Überlegung erfordern. Ich will dir täglich Mitteilung machen.
Jack: Liebste!
Gwendolen: Wie lange bleibst du in der Stadt?
Jack: Bis Montag.
Gwendolen: Gut! Algy, du darfst dich wieder umdrehen.
Algernon: Danke, ich habe es schon getan.
Gwendolen: Du darfst auch schellen.
( Algernon schellt.)
Jack: Ich darf dich doch an den Wagen bringen, Liebling?
Gwendolen: Gewiß.
Jack ( zu Lane, der eben eintritt): Ich werde Miß Fairfax hinunterführen.
Lane: Ja, gnädiger Herr.
( Jack und Gwendolen gehen.)
( Lane reicht Algernon Briefe auf einem Teebrett. Man errät, daß es Rechnungen sind, da Algernon nur die Kuverts ansieht und sie dann zerreißt.)
Algernon: Ein Glas Sherry, Lane.
Lane: Ja, gnädiger Herr.
Algernon: Morgen gehe ich bunburyieren, Lane.
Lane: Ja, gnädiger Herr.
Algernon: Ich werde wahrscheinlich nicht vor Montag zurückkommen. Sie können meine Gesellschaftsanzüge, meine Smokingjacke und alle Bunburyanzüge zurechtlegen ...
Lane: Ja, gnädiger Herr. ( Reicht den Sherry.)
Algernon: Ich hoffe, morgen wird ein schöner Tag sein, Lane.
Lane: Das ist es nie, gnädiger Herr.
Algernon: Sie sind ein Pessimist, Lane.
Lane: Ich tue mein Bestes, um Sie zufriedenzustellen, gnädiger Herr.
( Jack tritt ein. Lane geht.)
Jack: Das ist ein verständiges, kluges Mädchen. Das einzige Mädchen, an dem mir jemals etwas gelegen hat. ( Algernon lacht unbändig.) Worüber in aller Welt freust du dich?
Algernon: Oh, ich bin ein wenig um Bunbury besorgt. Weiter nichts.
Jack: Wenn du dich nicht in acht nimmst, wird dich dein Freund Bunbury eines Tages ernstlich in die Klemme bringen.
Algernon: Ich liebe Klemmen. Sie sind das einzige, was nie ernst ist.
Jack: Oh, das ist Unsinn, Algy. Du redest nie etwas anderes als Unsinn.
Algernon: Das tut niemand.
( Jack sieht ihn entrüstet an und geht. Algernon zündet eine Zigarette an, liest seine Manschette und lächelt.)