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Erste Deutung

Mein erstes und einziges Kinderbild ist gemacht worden, als ich elf Jahre alt und eben in die Stadt gekommen war. Es steht wie ein fremdes Kind neben einem Bild aus meinen jetzigen Tagen, getrennt durch den ungeheuren Abstand eines ganzen Lebens, und manchmal blicke ich lange darauf nieder, um zu erfahren, was ich einmal war und was ich nun geworden bin.

Und da es nicht zweifelhaft ist, daß mit unsrer Verpflanzung in die Stadt nicht nur unser Paradies versank, sondern daß wir mit ihm auch verloren, was man gemeinhin die Unschuld nennt, so muß ich an dieser Stelle das Bild des Kindes zu zeichnen versuchen, aus dem ich geworden bin, den reinen Spiegel des Seins, bevor die ersten Sprünge durch das unberührte Glas gehen. Nicht die Begebenheiten und Erlebnisse, sondern was hinter ihnen steht. Und so will ich das Zerstreute zu sammeln versuchen, damit wir erkennen, der Leser und ich, wie der nun beschaffen war, der ausziehen mußte, um das Fürchten zu lernen.

Wenn ich mich hier frage, wie mein Charakter beschaffen war, bevor die größere Welt an ihm zu formen begann, so glaube ich sagen zu können, daß ich ein gutes und reines Kind war und daß die ersten Flecken erst sichtbar wurden, als nicht mehr allein die Liebe mich geleitete, sondern die Behauptung in einer vielfältigen Welt an die Wurzeln rührte, die bis dahin im Unberührten hatten ruhen dürfen.

Ich habe erwähnt, daß wir in fast völliger Einsamkeit aufwuchsen, inmitten einer Bevölkerung, die nicht nur das Polnische als ihre Muttersprache brauchte, sondern die auch nach Lebensart, Beschäftigung und Herkommen den Beamten als Herrn betrachtete, so daß eine Art von Isolierung auch uns Kinder von aller näheren Berührung mit ihr trennte. Darin lag ein Schutz, aber auch eine Gefahr, weil wir bei der ersten Berührung mit der Welt dem Neuen sehr viel aufgeschlossner, aber auch sehr viel ausgesetzter waren als andere.

In unsrem kleinen Kreis aber lebten wir »in der Liebe«, und wenn es an kindlichem Streit auch nicht fehlte, so waren wir doch viel zu sehr aufeinander angewiesen, als daß Unfriede uns für längere Zeit hätte entfremden können. Und wenn es bei unsren Spielen, denen wir leidenschaftlich hingegeben waren, zu Meinungsverschiedenheiten und mitunter auch zu rascher Tat kam, so besaß ich doch damals schon ein frühes Gefühl für Recht und Unrecht, und noch heute erinnere ich mich, daß ich eines Tages meinen älteren Bruder mit einem Stock über die Hand schlug, daß die Stelle sofort als ein roter Striemen sichtbar wurde und daß ich einen brennenden Schmerz empfand, als mein Bruder mich, ohne die Tat zu vergelten, schweigend, erschreckt und schmerzerfüllt ansah.

Ich habe immer eine tiefe Liebe zu den Meinigen gefühlt und nicht zuletzt zu meinem Bruder, aber auch damit ist es mir so gegangen, daß das erste Jahr in der Stadt nicht etwa diese Liebe, sondern die bis dahin selbstverständliche und naive Art ihrer Äußerung zerstört hat. Vielleicht war es so, daß ich in der »Welt« zum erstenmal den Begriff der Scham überhaupt kennenlernte, der ja mit dem des Sündenfalls verbunden ist, und daß ich, als ein gleichsam unbedingtes Kind, mit der Scham vor dem Bösen auch die Scham vor dem Guten miterwerben mußte. Ja, wie ein verlorenes Paradies liegen die Zeiten in der Erinnerung, als ich noch am Abend in der Oberstube viele Stunden lang meine Seele mit der meines Bruders austauschen konnte, wie ich es mit meinen Eltern gewohnt war; als es kein Erlebnis, keine Schuld, keine Sehnsucht gab, die ich nicht mit offenen Händen ihnen darreichen konnte; als ich noch ohne Geheimnis lebte und die Türen meines Inneren immer offen standen. Und ein paar Jahre später war dies alles zugefallen und versperrt. Ich sollte etwas erzählen und konnte es nicht, etwas berichten und errötete, ein Gebet sprechen und schwieg. Eine Tür hatte sich geschlossen, und wiewohl ich auf eine schmerzliche Weise darunter litt, ließ sie sich nicht mehr öffnen, ja, je leidenschaftlicher ich versuchte, desto unbeweglicher blieb das Schloß, und zum erstenmal umfing mich eine hoffnungslose Einsamkeit, nicht nur die der Schmerzen, sondern viel mehr noch die der Freuden.

Ich sehe mich weiter um in meiner kindlichen Welt und finde, daß ein früher Ehrgeiz in meiner Seele brennt. Aber an den Wurzeln dieses Ehrgeizes nagt eine frühe Angst vor schneller und unbedingter Entscheidung. Mein Vater gibt mir zum erstenmal seine Doppelflinte in die Hand und rudert mich am Schilf unsres Sees entlang, damit ich meine erste Wildente schieße. Ich fiebere vor Leidenschaft und dem Wunsch, die erste Probe auf mein Heldentum herrlich zu bestehen. Es ist wohl die Mauserzeit für die Erpel, sie können nicht fliegen, und zehn Schritte vor dem Kahn schwimmt die Beute durch das Rohr, hinter jedem Halm sich deckend. Die Mündung meiner Flinte geht mit, es ist ein Ziel für einen Steinwurf, aber ich schieße nicht, weil ich doch vielleicht fehlen könnte. Mein Vater wird ärgerlich und befiehlt mir, zu schießen, aber die Hand gehorcht mir nicht. Schließlich nimmt mein Vater das Gewehr. Der Schuß fällt, und ich hebe die Ente aus dem Wasser. Vor brennenden Tränen kann ich nichts sehen, und mein Vater ist böse über meine Niederlage, meine Tränen, über sich selbst, über alles, und das Ganze endet in Verstimmung und Leid. Es gibt Kinder, die sich vor einem Gewitter nicht fürchten, und auch ich gehörte dazu, aber ihre Furchtlosigkeit wird durch die Mittel wieder aufgehoben, die sie anwenden müssen, damit sie furchtlos bleiben können. Man erzählt mir, daß alles Eisen den Blitz anziehe, und kaum steigt über dem südwestlichen Horizont die erste dunkle, lichtgesäumte Wetterwolke auf, so beginnt meine »Last des Frommen«: daß ich alle Äxte, Sägen, Hämmer und Zangen auf dem Hofplatz zusammenlese und in den entferntesten Schuppen trage; daß ich jeden Nagel von den äußeren Fensterbrettern aufhebe und daß ich infolgedessen nicht ruhen kann, ehe nicht die letzte Nähnadel vom Nähtisch meiner Mutter an einen »isolierten« Platz getragen worden ist.

Ich bedenke nicht, daß Scheune, Stall und Schuppen vor Gottes Zugriff nicht geschützt werden können, da ich ja sonst die Dreschmaschine, die Pflüge, die Eggen auf das Feld tragen, ja daß ich unser Gehöft abbrechen müßte, um alles Eisen aus Mauern und Balken zu entfernen. Ich bin beruhigt von meinem guten Willen und dem Schweiß meiner Stirn, und wenn die Blitze in unsre Wälder niederschlagen, wenn die Donner das Haus erzittern lassen und manchmal ein alter und toter Baum in der Runde wie eine Fackel aufbrennt, vom Blitz getroffen, so sitze ich in meiner Ofenecke, zwar bebend wie alle Kreatur und der Majestät Gottes gläubig untertan, aber doch ohne Furcht, weil ich das meinige getan habe, um Gottes Zorn zu versöhnen.

Und vielleicht tröstet es alle diejenigen, die in ihrer Kindheit und später den dunklen Mächten sich verfallen glaubten, wenn ich erzähle, daß ich viele Jahre als Kind keinen Entschluß fassen, ja mitunter keine Antwort geben konnte, ehe ich nicht leise und schnell bis »sechzehn« gezählt oder sechsmal den Namen Gottes unhörbar ausgesprochen hatte. Die Ärzte werden wissen, wie solche Zwangsvorstellungen zu benennen und wo sie einzuordnen sind. Ich habe damals viel Leid und Angst um diese Dinge getragen, weil ich von ihren Wurzeln nichts wußte, und der immer vergebliche Kampf gegen eine dunkle Macht, die ich als verderblich erkannte, hat lange Zeit an der gesunden Kraft meiner Kindheit gezehrt.

Auch meinen Eltern blieb nicht erspart, zum erstenmal eine Lüge an uns zu erleben und damit die herkömmliche Erschütterung ihres Weltgebäudes, zumal sie in unsrem Fall von dem Verbrechen des Diebstahl begleitet war, da wir dem Maurer, der in unsrer Scheune arbeitete, ein paar Äpfel gestohlen hatten. Diese doppelte Anlage zu späterem Verbrechertum trug uns eine besondere Tracht »Staatsprügel« ein, das heißt, mein Vater mußte in solchen Fällen aus seiner gewohnten Ruhe und Nachsicht heraustreten und das Gericht vollziehen, während bei allen leichteren Sünden die schnelle Hand meiner Mutter die gestörte Gerechtigkeit ohne großen Aufwand wiederherzustellen pflegte.

Weshalb wir gelogen und gestohlen haben, weiß ich nicht mehr. Sicherlich aber aus einem »zureichenden Grunde«. Doch weiß ich, daß weder die Staatsprügel noch das Entsetzen meiner Mutter uns vor der Fortsetzung dieses Weges in den Abgrund bewahrt haben, sondern die Tatsache, daß alle Kinderkrankheiten vergehen, und zwar um so schneller, je weniger Wesens man von ihnen macht. Und mehr als alle Ermahnungen hat mich vor dem »Bösen« das bewahrt, was ich ungewußt als Erbe mitbekommen habe, und ein Gedicht, in dem dargestellt wurde, wie Gott alles Verborgene sieht, so daß auch der gelegentliche Raub eingemachter Kirschen im Keller mir durch das Bewußtsein verbittert wurde, daß Gott ja auch durch die Kellerwände sehen könne und jede Kirsche nun in meinem Schuldbuch verzeichne.

Sehr früh hat in meiner Seele eine Grundanlage meines Wesens sich gezeigt: die Unfähigkeit, einem Unrecht schweigend zuzusehen, und das Unvermögen, sich vor Menschen zu beugen, wenn die Beugung nicht gleichzeitig die vor dem Recht oder der Größe sein konnte. Ich erinnere mich, daß wir ein paar Jahre später einen Oberförster hatten, der weit von der menschlichen Güte dessen entfernt war, den ich bei meinen ersten Zeichenversuchen erwähnt habe. Es war ja damals, in der Blüte des Kaisertums, die Zeit, in der die höheren Forstbeamten eigentlich nur von Wald umgebene Reserveoffiziere waren, und in der die »grüne Farbe« allgemein eine soldatische und schneidige Färbung bekam, die ihr nicht gut tat. Für diesen Oberförster nun waren wir Kinder nicht etwa Kinder des Waldes, zu denen freundlich zu sein ein schönes Nebenamt hätte sein können, sondern wir waren die Söhne mittlerer Beamter, bei denen man darauf zu achten hatte, daß sie auch die vorgeschriebene Achtung nicht vergaßen.

Eines Tages nun traf ich im Walde auf der Landstraße einen Wagen, in dem jemand in einem Reisepelz saß, und da er wie der Kutscher und die Pferde mir fremd waren, so ließ ich ihn als etwas Fremdes vorüberfahren. Ein paar Tage später aber beschwerte der Oberförster sich mit bitteren Worten bei meinem Vater, daß seine Söhne nicht für nötig hielten, ihn im Walde zu grüßen. War das Verbrechen schon groß, wenn es mit Absicht begangen worden wäre, so war die Not meines Vaters noch größer, der von meiner Unschuld überzeugt war und der doch in seiner Zeit gut genug zu Hause war, um zu wissen, daß das Ganze sehr unangenehme Folgen für ihn haben könnte. Er redete mir also zu, einen Entschuldigungsbrief an den gekränkten König der Wälder aufzusetzen, und so sehr ich mich sträubte, so gehorchte ich doch aus Liebe zu meinem Vater.

Aber als der Brief geschrieben war, in dem ich ja nichts anderes zugeben konnte, als daß ich versäumt hatte, das Bild unsres Landesherrn nicht durch alle Verhüllungen hindurch erkannt zu haben, überfiel mich eine so tiefe Scham, daß ich mich hier vor jemandem beugen sollte, den ich einer solchen Verehrung nicht für würdig hielt, daß ich den Brief zerriß und meinem Vater erklärte, ich könnte das wohl einmal schreiben, aber niemals zusehen, wie es abgeschickt würde. Mein Vater fügte sich, und so blieb das Ganze auf sich beruhen, ohne daß die Disziplin der Wälder und ihrer Beamten dadurch zerstört worden wäre.

War ich so schon als Kind auf eine unvollkommene Weise für den Kampf mit der Welt gerüstet, indem ich an einer entscheidenden Stelle die kluge Weichheit vermissen ließ, die sich Menschen und Verhältnissen nachgebend anpaßt, so war auf der anderen Seite meine Seele mit der naiven Gläubigkeit angefüllt, die aus der Kindheit aller »reinen Toren« hervorgeht und die außerdem auf eine unlösliche Weise mit einer Wirrnis von Träumen, Gespenstern, Fabelwesen und Idealgestalten verbunden war.

Zwar konnte ich vieles, was man in der Stadt nicht konnte: Steine schleudern, Kühe hüten, fischen, jagen, die Vögel an Stimme und Flug erkennen, Fährten lesen, Weidenflöten und Kuhhörner machen, mit Pferden umgehen, das Wetter voraussagen und vieles andere. Aber es war damit wie mit den Künsten eines Indianers, der in die Stadt kommt und mit allen Künsten hilflos vor der Gewalt der Steine steht. Ich war darauf vorbereitet, dem Lehrplan einer Schule zu folgen, das heißt, mein Verstand besaß Kenntnisse, die verlangt wurden, und die Übung, sich weitere anzueignen. Aber die Stadt war nicht die Schule allein, und die Schule war nicht der Lehrplan allein, und in alles andre ging ich wie das Wild in die Falle. Die mich behütet und geleitet hatten, blieben zurück. Was mich genährt und getröstet hatte, versank in der Ferne. Ich war unschuldig, aber die Unschuld war eine Gefahr. Ich besaß keine Waffen, kein Mißtrauen, keine Vorsicht. Ich war ein Kind, das man in eine Schlacht schickte, und ich hatte nun zu zeigen, ob es für die Welt ausreiche, in der »Furcht Gottes« erzogen zu sein.


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