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Joneleit?«
»Herr Justizrat?«
»Joneleit, mein Gedächtnis soll der Teufel holen. Da war nach dem Kriege ein Mann hier, der sich als Zeuge anbot in einer Grenzsteinsache+... es wurde nichts daraus, aber ich brauche den Namen des Mannes, weil mir bei diesem Namen ein anderer einfallen wird, den ich noch nötiger brauche+... Erinnern Sie sich, Joneleit?«
» Jawohl, Herr Justizrat. Der Mann hieß Swillus, Jons Swillus, Fischer wirf+... Sache Adam gegen Szameit und Genossen+... zweitinstanzlich obgesiegt+... großer, hagerer Mann mit einer Narbe auf der Wange ...«
»Joneleit. – Sie sind unbezahlbar, ein Weltwunder sind Sie, Joneleit!« – »Herr Justizrat sind sehr gütig.«
Und Joneleit stand noch eine Sekunde wartend neben dem Schreibtisch, den breiten Rücken in der Bauernjoppe leicht gebeugt, die Akte Berger contra Berger unter dem linken Arm, und ging dann leise, als der Justizrat die Feder eintauchte, nach der Tür. An seinem Schreibtisch zog er ein Notizbuch in schwarzem Wachstuch aus einem verborgenen Fach, notierte in schwerer, aber sehr kleiner Handschrift: »Swillus, Uschwill (Adam ca. Szameit); 17. 4. 31«, verschloß das Buch, sah einen Augenblick aus dem Fenster, wo der Mast eines Fischerkahnes das ganze Viereck zerschnitt, seufzte leicht und öffnete die Akte.
Dies war Christoph Joneleit, das Weltwunder. Bürovorsteher in der Kanzlei des Justizrats, siebenunddreißig Jahre alt, nicht vorbestraft, verlobt mit Lina Anders, einziger Tochter des Bäckermeisters Gustav Anders und seiner Ehefrau Urte, geb. Gerullis. Täglich um zehn Minuten vor acht stieg er die vier Stufen zum Büro in die Höhe, säuberte sorgfältig seine Schuhe, ohne das »Salve« des Vorlegers zu berühren, zog die Schlüssel aus einem selbstgefertigten Lederfutteral, öffnete, trat ein, machte einen prüfenden Rundgang durch die Räume, hob den Kasten von der Schreibmaschine, zog die Joppe an, stellte Milchflasche und Frühstück zwischen die Doppelfenster, nahm den Terminkalender aus seinem Fach, erstarb für die Welt und begann sein graues Tagewerk.
Sein Großvater noch hatte auf einem Hof am Strom gesessen, ein wilder Mann, der niemals ein Segel im Haffsturm reffte und der eine Sammlung schwerer Elchschaufeln unter alten Netzen im Speicher bewahrte. Sein Vater schon hatte den Hof verspielt und in der kleinen Stadt sein abgebrochenes Leben als Fisch- und Heuhändler lärmend und prahlend zu Ende gejagt. Vor seinem Prahlen war seine Familie demütig, vor seiner Lautheit war sie still geworden: die Mutter, der verschollene Bruder, Christoph. Das wilde Blut der Moore und Ströme stand gleichsam ab in ihnen, trübte sich, gerann, und am Ende der Reihe stand aus dem Geschlecht der Bauern und Fischer und Herren ein grauer Enkel auf: Christoph Joneleit, nüchtern und fleißig.
Vergessen war das Wort seines alten Lehrers aus dem letzten Schuljahr: »Der Joneleit? Ein Stiller ist der Joneleit, aber einen verschütteten Vulkan trägt er in seiner Brust! « Vom Laufjungen auf dient der stille Joneleit sich empor. Zwanzig Stunden hat sein Tag, und jede Nacht hat ihre Kerzenstümpfe, an denen er sich durch seine Bücher frißt: die Rechtschreibung, die Stillehre, die Kurzschrift, die Buchführung, das Bürgerliche Gesetzbuch, das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung. Furchen graben sich in sein Gesicht, ein schwerer Schein tritt in den Hintergrund seiner blauen Augen. Die Mutter stirbt, der Bruder vergeht, die Schulden werden bezahlt. Kein Urlaub, kein Gasthaus, kein Mädchen. Akten am Tage, Akten in der Nacht. Joneleit, wo sind die Farbbänder? Joneleit, sollen wir Berufung einlegen?
Jedermann kennt ihn in der kleinen Stadt am Strom, jedermann achtet ihn. Aber Joneleit ist müde. Er ist zu schnell gelaufen, und nun hat er zu wenig Atem in der Brust, um ruhig zuzusehen, wie das Schilf der Ufer im großen Winde sich wiegt.
Um sieben schließt er das Büro und sitzt im Hinterzimmer des Bäckermeisters Anders auf dem Plüschsofa beim Abendbrot. Lina fragt ihn nach den Beleidigungsprozessen, und er antwortet. Lina ist gesund und froh und ohne Sorgen. Ihr Gesicht ist etwas zu rot, ihre Figur etwas zu stark, ihre Hände sind ein wenig feucht. Joneleit sieht das, aus dem Hintergrund gleichsam und mit einer leisen Traurigkeit. Aber er hat es immer gesehen und er weiß, daß sie gut für ihn sorgen wird.
Nach dem Essen gehen sie eine halbe Stunde den Strom hinunter, Arm in Arm. Im Sommer steht die Sonne mit lohendem Feuer über dem Nehrungskamm, im Winter steigt der Orion über das große Moor. Ja, mit Eiche für das Schlafzimmer ist er natürlich einverstanden, auch mit einer Couch. Er verbessert sie nicht, als sie Kutsch sagt. Und zu Weihnachten soll die Hochzeit sein, ja. Ob er sich auch wirklich freue, ganz schrecklich freue? Ja, natürlich freue er sich, er sei nur etwas müde ... ein schwerer Tag ... und seine Augen suchen die feine Linie des Leuchtturms auf dem Dünengipfel hinter dem Haff. Bald wird das geheimnisvolle Licht durch die Dunkelheit kreisen, eine Mühle, deren Flügel Feuer mahlen ...
Sie küssen einander, und dann geht er in sein Zimmer am Strom. Es ist ihm nicht gut, daß der Strom unter seinen Fenstern vorüberzieht. Das dunkle Wasser kommt aus einem fremden, ungeheuren Land. Flöße schwimmen auf ihm, schwermütige Lieder, Rinde nie gesehener Bäume. Ein fremder Atem steht im Schilf, fragt und antwortet, steht auf und schweigt. Und alles zieht vorüber wie der Ruf der Brachvögel, der klagend hintreibt nach Haff und Meer. Groß muß die Welt sein, und schön muß es sein, wenn die Sonne aufgeht über einem nie geschauten Strand.
Dann kann es geschehen, daß Joneleit plötzlich aufhört, an den Eventualdolus zu denken, und die Hand nach einem abgegriffenen Buche hebt. Es sind Gedichte, und es ist seltsam, wie sein schweres Bauerngesicht sich verändert, wenn der Widerhall der Verse auf ihm erscheint. Und danach kann er lange am geöffneten Fenster stehen, die Schläfe an das kühle Holz gelehnt. Die Sterne steigen aus dem Strom empor, und über den Wiesen steht der beleuchtete Nebel. Ein fremder Vogel ruft, und wenn die Stadt ganz still ist, hört er die Wirbel unter den Weidenzweigen haffwärts ziehen.
Viele Gedanken stehen dann auf hinter seiner Stirn, blicken ihn an und versinken. In der ersten Zeit der Verlobung hat er Lina aus dem Büchlein vorgelesen. »Sehr schön«, hat sie gesagt, »aber komisch, wie die Leute sprechen, nicht?« Da hat er es gelassen.Ein später Dampfer brüllt auf dem Haff, hinter der Wand spricht seine Wirtin im Traum, und Joneleit löscht die Lampe. Der Tag schließt sich lautlos zu, und im Haus der Träume steht es langsam wieder auf: Sicherheit und Angst, Stille und Unrast, Behagen und Verzweiflung.
Acht Tage vor den Gerichtsferien gewann »das Büro« den großen Schadenersatzprozeß Gailis und Genossen gegen die Staatsbahn. »Joneleit«, sagte der Justizrat am Abend, »setzen Sie sich mal ein bißchen her, nein, hier in den Sessel. So, Joneleit, Sie werden Urlaub nehmen, verstehen Sie? Vier Wochen Urlaub, und hier ist das Geld dazu. Nichts da! Keinen Einspruch! Wann haben Sie zuletzt Urlaub gehabt?«
»Ich habe keinen Urlaub gehabt, Herr Justizrat«, erwiderte Joneleit leise.
»Sehen Sie! Habe ich hören wollen. Sie werden verreisen, Joneleit. Auf die Nehrung zum Beispiel, oder nach Paris. Ganz egal. Ein Bauer verdirbt in diesem Loch. Und zwar ... wann wollen Sie heiraten? Weihnachten? Ja also, Joneleit ... ich bin ein alter Mann, verstehen Sie? Und ein bißchen kann man auf mich hören. Sie werden also allein fahren, Joneleit, hören Sie? Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, aber bevor er nicht allein ist, ist es gut, daß er noch einmal allein ist. Verstehen Sie? Für Sie ist es gut. Kein Wort sprechen vier Wochen lang ist eine Sache, Joneleit, die der Mensch einmal nötig hat. Sie gefallen mir nicht, Ihr Tatbestand gefällt mir nicht. In acht Tagen sind Sie unterwegs! Hand darauf! Schön ...«
Es war nicht zu leugnen, daß Lina empfindlich war und daß ihre Mutter eine richtige Szene machte, mit spitzen Augen, erhobener Stimme, roten Flecken auf den Wangen und starken Ausdrücken. Aber Joneleit blieb bei seinem Wort, und der Wille des Justizrats entschied. »So sind die feinen Herren«, bemerkte Frau Anders nicht ohne Schärfe, »Prozesse können sie führen; aber die Gebote haben sie vergessen ...! Abspannen, abdringen oder abwendig machen ...! Aber mir soll's gleich sein, wenn mein Schwiegersohn einen leichtfertigen Lebenswandel führt, auf anderer Leute Kosten ...«
Hier begann Lina zu weinen und warf ihre Arme nachdrücklich um Joneleits Hals, und erst als ihr Vater die Tür zum Laden aufriß und seiner Frau unmißverständlich anbefahl, »die Klappe zu halten«, gab es einen schweigenden Waffenstillstand.
Und dann fuhr Joneleit in seinen ersten Urlaub. Mit dem Nachmittagsdampfer, und eine Stunde vor der Abfahrt saß er noch im Büro. Fliegen surrten durch die offenen Türen von Raum zu Raum, und auf dem Hof wurde ein Teppich geklopft. Kein Brief war zu schreiben, keine Notiz zu machen, nicht einmal eine Akte zu heften. Aber es war schön, zu sitzen, die müßigen Hände zu falten und zu wissen, daß niemand kam. Und daß er vier Wochen lang kein Wort sprechen würde, daß er am Meere liegen und Verse lesen würde. Oder auch nicht Verse lesen, sondern die Hände unter den Kopf legen und den Möwen nachsehen. Und alles andere würde weit sein, ganz weit ...
Sie winkten mit Taschentüchern, und es war ihm nicht sehr recht. Es waren viele Menschen auf dem Dampfer, Badegäste von der Nehrung, mit farbigen Strickjacken und weißen Kleidern, und es schien ihm, als hätten sie über den roten Hut gelächelt, den Lina trug, oder über die kernigen Reisesegen des dicken Mannes: »Immer mit die Ruhe, Christoph!« oder: »Gut Gewissen geht nicht unter ...« Der Boden schwankte ein wenig unter seinen Füßen, Kinder starrten ihn an, und einen Augenblick lang dachte er voller Heimweh an seinen Schreibtisch. Aber dann trug er sein Gepäck nach vorn, setzte sich auf die Taurolle neben der Ankerwinde und hatte nun nichts vor sich als den Bug des Dampfers, die graugestrichene Reling und den sonnenerfüllten Raum, der sich immer weiter aufschloß im leisen Stampfen der Maschine.
Ein paar Stunden später, als Strom und Rohr lang zurückgeblieben waren, als die Sandgebirge der Nehrung blau und violett vor ein wildes Abendrot stiegen, kam eines der Ferienkinder zu seinen Eltern in die Kajüte gelaufen und sagte aufgeregt: »Mammi, da vorn sitzt ein Mann und weint!« Aber da der Kellner eben die Schnitzel brachte, sagte man, daß es wohl der Wind sei, von dem die Augen sehr tränen könnten, und auch das Mitleid des Kindes ertrank in der Zitronenlimonade, die es erhielt.
Doch als man schon die Häuser des Dorfes als kleine Flecken vor dem dunklen Blau der Nehrung erkennen konnte, verdunkelte sich mit erschreckender Schnelligkeit das Abendrot. Wolken schienen aus den Kämmen der Dünen aufzusteigen. Der Horizont floh zum Schiff zurück. Fremdes kam drohend entgegen. Weißliche Tücher trieben waagrecht im erloschenen Licht. Tau fiel auf Reling und Planken, auf erschreckte Stirnen, auf ängstlich vorgestreckte Hände. Das Stampfen der Maschine wurde plötzlich leiser, langsamer, gefährlicher. Aus dem Rohr neben dem Schornstein stieg heulend eine weiße Dampfwolke auf, und das Brüllen der Sirene schien als Echo auf der grauen Wand vor dem Bug wiederzukehren. »Wat das is?« schrie der Kapitän böse von der Brücke zu seinen Fahrgästen herunter. »Seenebel is das, und wenn er bleibt, sind wir morgen mittags da!«
Joneleit war aufgestanden und hatte die Hände auf die Reling gelegt. Tropfen schlugen sich auf seiner Stirn nieder, und die Flagge am Heck des Schiffes war nicht mehr zu sehen. Das Land war weg, das Wasser, der Tag. »Niemand wird mich finden«, dachte er. »Verschwinden wird das Schiff, wie Jons verschwand. Sie werden an meine Tür klopfen, aber Staub wird auf meiner Schwelle sein, sonst nichts.«
»Langsam!« rief der Kapitän in das Messingrohr. »Noch langsamer!« Auch seine Stimme war gleichsam ohne Boden unter den Füßen, grau und schemenhaft. Sie fuhren die Küste auf und nieder, und nur beim Wenden merkten sie, daß sie sich bewegten. Nichts war, woran man die Augen halten konnte. Die Lichter wurden gesetzt, aber ihre Farbe erstickte. Weiß und feucht legte das Tödliche sich über sie, und das einzig Lebendige war das Brüllen der Sirene, das ohne Antwort blieb.
Als es zu Ende war, glaubten sie, daß es Morgen sei, aber es waren nicht mehr als ein paar Stunden vergangen. Es ging so schnell, daß es Menschen unter ihnen gab, die aufschrien. Löcher rissen im Nebel auf wie Abgründe. Ein weißer Lichtstrahl fegte aus der Höhe über sie hin, und im selben Augenblick schoss das Feste der Erde aus den Tiefen überwältigend empor: der Klotz des Leuchtturms auf dem Dünenberg, die Lichter des Dorfes, ein Waldrand, der finster in den grünlichen Himmel schnitt.
Vor Joneleits Augen aber, so daß er die Hände ausstreckte, wuchs es aus dem Wasser empor: eine weiße Wand, vom Haffmond beglänzt, schweigend und tot, lotrecht aus dem schwarzen Wasser getürmt. Quer gegen den Hang lief eine Fußspur unter die Sterne, von einer grauenvollen Einsamkeit, als lösche sie aus im versteinten Nichts.
»Stopp!« brüllte der Kapitän. »Stopp! Rückwärts volle Fahrt!«
Und dann landeten sie am schlafenden Dorf.
Joneleit wohnt bei einem Fischer am Wald. Die gekrümmten Kiefern reichen über das Rohrdach, und in der Abenddämmerung kommt es vor, daß ein Reiher sich einschwingt im dunklen Geäst, so still sind Haus und Lind. Wenn die Sonne aus dem Haff emporflammt, hinter dem zitternden dunklen Streifen, der das Land verkündet und seine Heimatstadt, steigt Joneleit: schon über die Düne hinauf und durch die Birken der Palwe wieder zum Meer hinunter. Es riecht nach Bergkiefern und Thymian, Tau liegt in der Elchfährte, die schwer und breit über die Hänge zieht, und der Atem der Brandung kommt ruhig und groß seinem Schritt entgegen.
Und auch Joneleits Schritt ist ruhig geworden und groß. Das Land hebt den Menschen auf aus der Niederung und ordnet ihn ein in den großen Raum. Hinter der Vordüne donnert das Meer, und der weiße Strand springt auf, über dem die Möwe hängt. Wenn Joneleit aus dem Wasser steigt und im Sande liegt, weiß man nicht, ob es ein Treibholz von einem Schiffbruch ist oder ein Mensch. Joneleit weiß es selber nicht. Er weiß nur, wie einfach das Leben ist, Himmel und Meer und Sand, und ein einziger großer Ton, der aus der Ferne braust. Er denkt nicht mehr an den Eventualdolus, nicht an Gedichte und nicht an Lina Anders. Zuerst hat er versucht, an Lina zu denken, wenigstens sechzig Minuten am Tag. Aber ihr Bild verschwamm, ging zurück hinter den Nebel des ersten Abends, kehrte heim zur Fremde ihrer eigenen Welt, verlor Sprache und Form und lag nun im Dunkel eines verschütteten Schachtes. Und so mit seinem Büro, mit dem Gesicht des Justizrats, mit den Wänden seines Zimmers, seinem ganzen früheren Sein.
Zuerst hatte er sich geschämt, ja war erschrocken zurückgewichen vor seinem neuen Bild, das des Gewohnten vergaß, der Ordnung, der Pflicht. Aber die neue Erde kannte nicht Scham noch Schreck und zwang ihn in ein anderes Gesetz. Hier kam ein großes Bauernkind, das nicht Ferien gekannt hatte, nicht Traum, nicht Spiel. Und nun schüttete sie es über ihn aus: Sonne, Wellen und Sand, und er empfing es wie ein Kind.
Joneleit wandert die Dünen entlang, den Gratweg zwischen Haff und Meer. Die Leuchtfeuer springen auf am östlichen Lind, und er sieht die Elche zur Tränke haffwärts ziehen. Unter den Sternen kehrt er heim, ein einsamer Mensch, der zu Hause ist in der Einsamkeit. Viele Fremde sind im Dorf, aber er sieht sie nicht an. Sie kreuzen seinen Weg, am Meer, auf der Düne, am Haff. Aber sie sind sicher und hell und laut, und er tritt in die Kiefern, wenn er sie hört, denn von Menschen ist ihm noch kein Glück gekommen in seiner Welt.
Joneleit schrieb keine Briefe, und so schwieg auch das Leben jenseits des Haffs. Doch mittags und abends, wenn der Dampfer herüberkam, saß er auf der hohen Düne abseits des Dorfes und hielt ein altes Fernrohr seines Großvaters vor die Augen. Der Rand des Gesichtsfeldes zitterte leise in den Regenbogenfarben, und durch den kleinen Kreis des Objektivs schritt wie durch ein fernes Theaterrund alles, was den Dampfer verließ. Eine leise Angst war über seinem Herzen, und erst wenn alles vorbei war, sah er sich um und empfing die Erde um sich als ein Geschenk.
Aber am Ende der zweiten Woche, um die Sonntagszeit, leuchtete im Kreis des Fernrohres ein roter Hut auf über einem weißen Kleid und daneben eine altertümliche schwarze Mantille, deren Jetperlen in der Sonne blitzten. Und als unter Joneleits zitternden Händen die Figuren zu tanzen begannen, aus dem farbengesäumten Kreis herausfielen und doch immer wieder ihn erfüllten, als sie den Weg zur Dorfstrasse nahmen, stehenblieben, sich umsahen, fragten und endlich in der Tür des Amtsvorsteherhauses verschwanden, in dem das Kuramt untergebracht war, da tat Joneleit etwas Seltsames, das er mit Scham auf der Stirn und ohne Gedanken tat und unwiderstehlich tun mußte: er lief, ja er stürzte die weiße Düne hinunter, den Birken und Weiden und zerrissenen Hügeln vor dem Meer zu. Der Sand stäubte unter seinem jagenden Fuß, die Ebene stürzte ihm entgegen, und hinter ihm wuchs das weiße Gebirge, das alles verschloß, den Dampfer, die Menschen, die Farben, die Welt.
Ginster wuchs über der Sandhöhle, in der er sich verbarg. Grün fiel das Licht in sein enges Haus, und Eidechsen glitten über den Thymian, dessen Duft stärker aufzusteigen schien unter ihrer flüchtigen Spur. Seine linke Hand lag in den violetten Blüten, und als er auf sie niedersah, erblickte er den goldenen Reifen, der das Braun der Haut zerschnitt. »Ja, ... der Ring ...«, dachte er. »Was hilft es, daß ich laufe und der Ginster sich über mir schließt? Nun werden sie auf der Bank sitzen an meinem Haus und auf den Weg hinaussehen. Lina wird wohl traurig sein, und die Mutter, ja, die Mutter wird böse sein, und abends werden sie zurückfahren wie nach einem verlorenen Prozeß ... ein schlechter Mensch bin ich, ein Mensch in einem Ring, ein Gefangener, der auf allen Seiten mit der Stirn anstößt und böse wird. Hingehen werde ich, und alles wird gut sein ... für sie, nicht für mich ...«
Er richtete sich in den Knien auf und sah sich um. Eine weiße Wolke mit glühenden Rändern stand über der fahlen Dünenwand. Glut stieg aus den lockeren Wäldern, und hinter den Hügeln seufzte träge das Meer. Aber alles dieses war gut so, wie es war. Alles mußte so sein, jede Linie, jede Farbe, jeder Ton. Joneleit zeichnete in Gedanken den Kamm der Düne nach, der schmerzhaft weiß in den Himmel schnitt. »Wo sollte man abweichen?« dachte er weiter, »um es besser, schöner zu machen? Ach, was ist der Mensch für ein Gewürm!« Er sah seine Spur auf dem Dünenhang liegen wie Flecken auf einem sauberen Glas. »Ich will jetzt gehen«, dachte er, ließ sich zurücksinken und starrte zum Himmel auf. »Ich bin ein alter Mann«, hatte der Justizrat gesagt; »wenn ich sterbe«, denkt Joneleit. »soll hier mein Grab sein ... « Und langsam fallen ihm die Augen zu.
Er erwachte davon, daß eine Eidechse über seine gefalteten Hände lief. Die Sonne stand tief über dem Meer, und es roch nach Birkenwald und Moor. Sein Herz schlug ruhig, und als er aufstand, blickte er sich um wie in einem eigenen Haus. Er sah auf seine Uhr und stieg langsam die Düne wieder hinauf, in seiner alten Spur, deren Ränder Schatten warfen auf den weißen Sand. Das Fernrohr trug er ausgezogen in der Hand.
Sein Sitz aus der Mittagszeit war halb verweht, und er schob mit dem Fuß noch mehr Sand in die flache Mulde, ehe er sich setzte. Der Dampfer kam eben um den nördlichen Haken, und seine Rauchfahne lag als eine dünne Brücke über dem ganzen Haff. Auf der äußersten Bank des Landungsplatzes sah er das weiße Kleid mit dem roten Hut und die schwarze Mantille. Ein Mann stand davor und schwenkte einen Stock in der Hand.
Ganz ruhig blieb der farbgeränderte Kreis um die drei Gestalten, und er ging ruhig mit ihnen mit, über den Dampfersteig, an der Maschine vorbei, auf die Bank im Heck, ins Haff hinaus. »Noch zwei Wochen«, denkt Joneleit, »und Weihnachten wird ja die Hochzeit sein.« Er schiebt das Fernrohr zusammen, steigt den Steilhang bis zur halben Höhe hinunter, legt dort seine Kleider ab und zieht den Badeanzug an. Alles mit langsamen Bewegungen, ja mit Pausen, als seien seine Gedanken weit weg.
Und dann steigt er den Hang weiter hinab. Zuerst kann er sich noch halten an der fast senkrechten Wand, aber dann beginnt der Sand unter ihm in großen Flächen sich zu lösen. Er reißt seine Füße mit, seinen ganzen Körper, und aufrechtstehend stürzt er mit der Düne hinunter, an den Weidenbüschen vorbei, mit einem Schrei der Lust, seltsam wie dem eines großen Vogels, in das aufspritzende Wasser hinein. Als er auftaucht und den Körper streckt über den hellen Grund, lacht die Frau vor den Weidenbüschen auf, nach dem großen Schreck, der wie eine Lawine neben ihr niedergegangen ist. Joneleit erschrickt so, daß er Wasser in den Mund bekommt und sie noch lauter lachen muß. Und da er nicht weiß, was er tun soll, schwimmt er hastig hinaus. Dies ist nun wieder anders, nicht vorgesehen, und der verwirrte Tag, eben erst gelöst, schlingt sich von neuem zu einem dunklen Knoten. Er schwimmt, aber es wird ihm klar, daß er nicht hinüberschwimmen kann zu seiner Strommündung. Und oben liegen die Kleider auf dem nun bläulichen Sand. Auch fühlt er, daß das alles ein wenig lächerlich ist, wie er nun gleich einem Hasen hinausschießt vor einer kleinen Gefahr.
Sie sitzt noch immer da, in einem weißen Bademantel, die Hände um die Knie gefaltet. Der Raum vor den halb verschütteten Weiden ist so eng, daß ihre Füße schon im Wasser sind. Und bevor Joneleit Gestalt und Gesicht der Frau in sein Bewußtsein aufnehmen kann, muß er denken, daß im nächsten Jahr dies alles weg sein wird, die Weiden und der schmale Uferraum, begraben von der wandernden Düne für hundert oder zweihundert Jahre. Es wird kein Wiedersehen geben mit dieser Stelle. Und dieser Gedanke erfüllt ihn mit einer seltsamen Leichtigkeit. Er macht das ganze Bild gleichsam unwirklich, fast zu einem Traum, und wie in einem Traum verliert er die irdische Schwere seiner Bewegungen und Worte.
Er entschuldigt sich, im Wasser stehend, daß er sie erschreckt habe. Er kann nicht vermeiden, daß er ein wenig errötet und seine Worte sich langsam aneinander fügen, aber er erreicht doch, daß er ihr gerade in die Augen sehen kann. Alles ist schmal an ihr, das Gesicht, der Körper, die Füße, und dieses zunächst erscheint ihm als ein Wunder. Sie lächelt noch immer, aber ohne Spott, eher auf eine nachdenkliche Weise, und währenddes gehen ihre grauen Augen langsam suchend über sein Gesicht: die frühen Falten, die leise Starrheit, die aus seinem Alleinsein kommt, und auch über sein dunkles Haar, das ganz jungenhaft über seine alte Stirn fällt. Dann rückt sie ein wenig zur Seite, und es bleibt ihm nichts übrig, als sich neben sie zu setzen.
Ob er friere? Nein. Sie faltet wieder die Hände – ringlose Hände, sieht Joneleit – um die Knie und blickt über das Haff. Der Dampfer ist schon so weit, daß man keine Menschen mehr erkennt, nur ein schwarzes Viereck, über dem die Rauchfahne steht. Das jenseitige Land liegt wie eine dünne Spiegelung über dem Wasser. Ein Wald hängt in der Luft, und an unsichtbaren Türmen blitzt das erste Leuchtfeuer auf.
»Ich glaubte zuerst, es sei ein Dünensturz«, sagte sie vor sich hin. »Das kommt vor, und dann würde ich nicht mehr sein. Aber der Dampfer würde ruhig weiterfahren ... und alles würde sein wie sonst ... «
»Nicht alles«, erwiderte Joneleit.
Nach einer Weile erst wendet sie den Kopf und sieht ihn an, mitten in seine Augen hinein. »Weshalb leben Sie so?« fragte sie. »Weshalb verstecken Sie sich in den Kiefern, wenn Menschen kommen? Haben Sie Angst?«
Wieder errötet er, will ausweichen, kehrt aber dann zu ihren Augen zurück. »Ich war immer allein«, erwidert er. »Ich habe es wohl nicht leicht gehabt. Es ist schwer, mit Menschen zu sprechen, die alles wissen und immer lachen können.«
»Alles wissen?« wiederholte sie. »Erzählen Sie nun, damit ich wenigstens etwas weiß.«
Joneleit ist siebenunddreißig Jahre alt, aber niemals in seinem Leben hat er jemand etwas »erzählt«. Nicht einmal seiner Mutter. Er hat Schriftsätze gemacht, mehr nicht. Wie ein Baum im Moor ist er gewesen. Wem soll er etwas erzählen?
Aber gehorsam beginnt er unter diesen grauen Augen, von denen sich nicht sagen läßt, ob sie alt oder jung sind. Joneleit hat viel gehorchen müssen in seinem Leben, und er gehorcht auch hier. Noch niemals hat er eine solche Frau gesehen, schmal und ruhig, freundlich und stolz. Eine Herzogin könnte sie sein oder die Tochter des Justizministers. Und da ist doch einiges, was aus seinem Leben zu erzählen ist. Wie der Großvater den Elch auf Schlittschuhen jagte und die Mutter in den Psalmen las, laut und feierlich, wenn der Vater brüllend die Hafenlieder sang. Und wie Jons verschwand, und er selbst in den Nächten bei der Kerze saß. Viele Nächte, tausend wohl oder mehr. Bis zum Justizrat. Und daß dies der erste Urlaub seines Lebens sei.
Es ist gar nicht so schwer, zu erzählen. Zuerst ist es wie ein Stein, unter den man die Brechstange schiebt. Er weicht und wankt nicht Aber dann, nach der ersten zitternden Erschütterung, wird es leichter und leichter, und schließlich jagt und stürzt er den Hang hinab. Und schwer atmend bleibt Joneleit zurück und sieht ihm nach, wie es ihm entstürzt, das eigene Leben, das unbewegliche, und nun vor den fremden Augen liegt.
»Ich sah Sie einsteigen, vor vierzehn Tagen, ich war auf demselben Dampfer«, sagt die Frau und sieht auf seinen Ring.
Und nun muß er auch das erzählen und daß er an Weihnachten heiraten soll. Er weiß nicht, weshalb er »soll« sagt, aber nun ist es schon zu spät. Und ganz leise fügt er hinzu, wie er diesen Nachmittag verbracht hat.
»Sie müssen Jons getauft sein«, sagt sie statt einer Antwort nach einer Weile. »Nein, ich will nicht wissen, wie Sie wirklich heißen. Für mich sind Sie Jons. Das ist ein dunkler, schwerer Name, der das Schicksal spaltet, bis ... bis auf den Grund ... «
Er möchte ihr sagen, daß Jons verschollen ist, umgekommen in dem Strudel der Fremde. Daß das ein böses Vorzeichen sei. Aber er kann es nicht sagen. Auch wenn sie ihn »Kain« nennen wollte, würde es gut sein.
Sie gehen den Kamm der Wanderdüne entlang. Über dem Meer lodert ein wildes Abendrot. Im Osten flammen und erlöschen die Lichter vor den großen Strömen. Sie gehen wie auf einer Brücke.
Die Brücke hat kein Geländer, und zu beiden Seiten stürzt sie fahl ins Bodenlose. Aber vor ihnen scheint sie aufzusteigen unter die Sterne. »So also kann das Leben sein«, denkt Joneleit.
Er erfuhr ihren Namen nicht und nicht ihre Heimat. Er wußte nichts von ihr, als daß sie Bildhauerin war. Er mußte sie Claudia nennen, aber sicherlich hieß sie ganz anders, Laila oder Sakuntala oder wie ein fremder Stern. Er wußte nicht einmal, wo sie im Dorfe wohnte, wie alles Greifbare der Welt unter seinen Händen zu zerbröckeln begann. Er wußte, daß sie da war, wenn er morgens zum Meere kam, mit ihm schwamm, neben ihm lag. Daß sie nachmittags unter seine Kiefern kam, um an seiner Büste zu arbeiten. Daß sie abends in den Dünen saßen oder zu den Elchen gingen. Daß die Sonne schien, die Sterne glänzten. Und daß er wahrscheinlich sterben würde.
»Vieles könnte werden aus dieser Stirn«, sagte sie langsam, indes sie vorsichtig den feuchten Ton ansetzte. »Ein Held zum Beispiel, Scott oder Amundsen, vielleicht ... wenn das nicht wäre, diese Falte und dieser Umweg ... Schade! Oder ein Heiliger ... ja ... etwas trocken vielleicht ... würde zuerst eine Heiligenordnung mit dreißig Paragraphen verfassen ... aber dann könnte er doch vielleicht eingehen in das Große. Wissen sie, Jons, was das Große ist?«
Joneleit konnte nicht sagen, daß diese Tage nicht etwas Großes seien, sondern das Große. Und deshalb schüttelte er nur den Kopf.
Sie sah ihn nachdenklich an. »Wenn man Ihre Seele durchschnitte, Jons, und das Profil sähe aus wie ein Dünenkamm: sehen Sie, das wäre das Große. Dieses Land zum Beispiel, oder ein Baum. Und die Furchtlosigkeit ist groß, Jons. Und die Wahrhaftigkeit. Und die Einsamkeit. Und ... ja ... und die Freiheit. Vielleicht ist sie das Größte. Das nicht Wiederholenwollen, das heilige Nein, sagt Nietzsche. Sind Sie ein freier Mensch, Jons?«
Er wußte es nicht.
Er lebte im Fieber. Tage und Nächte. Er trachtete danach, ihre Hand im Gehen zu berühren, ihr Kleid zu streifen. Ja, er konnte ungesehen niederknien und die Spur ihres nackten Fußes im Sande küssen. Sie entzog ihm die kleinen Geschenke ihres Daseins nicht, aber in ihrer Güte war immer die Kühle und Fremdheit eines Baumes oder eines Tieres. »Sie sind wie Adam, Jons«, sagte sie einmal. »Und das ist so schön an Ihnen.«
Er grübelte lange an solchen Worten, hoffte, verzweifelte. Die tote Welt schoss ihm in ihrer Gestalt zusammen, in ihr allein. Sie war Gott, und nichts war neben ihr.
Er wußte nicht, daß sie sein Leben lenkte, daß sie es formte wie den Ton unter dem nassen Tuch. Erst in der letzten Woche begann er zu begreifen, ganz leise, wie ein Blinder, der mit den Händen um ein Gesicht tastet. Sie saßen am Meer. Der Abend war grau, und es roch nach Herbst. Sie hielt seine Hand, öffnete die Finger und glitt an ihrer Form entlang, wie sie zu tun liebte. Es geschah gleichsam ohne Zärtlichkeit, nur mit der Neugier des Bildners, der den toten Stoff prüft. »Sie sehen zu kurz, Jons«, sagte sie da. »Nur den Vordergrund, die Erscheinung. Sie sehen nicht hindurch, nicht den Sinn, nicht das Ewige. Auch der Mensch ist Erscheinung. Er spricht, er lacht, er liebt, aber hinter ihm, schweigend und regungslos, steht das Schicksal. Sie sind geblendet, aber dann, wenn die Blendung aufhört, dann werden Sie sehen.« Sie ließ seine Hand los und strich einmal über seine Wange. »Kleiner Jons«, sagte sie wehmütig, »weshalb sind die Frauen immer so viel klüger?«
Am nächsten Abend stiegen sie auf die toten Dünen, weitab vom Dorfe. In einer Windgrube des Kammes legten sie sich nieder und blickten nach dem dunklen Streifen, wo die Ströme mündeten. Leise trieb der Sand über den Kamm und rieselte zu ihren Füßen abwärts. Die Erde teilte sich in große Flächen: des Himmels, des Wassers, des Sandes. Und über dieser Größe standen die ersten Sterne auf.
»Hier sollst du glücklich sein, Jons«, sagte Claudia. Das war alles, was sie sagte. Sie lächelte wohl unter seinen Tränen, sie hob auch die Hand zu seiner Wange, aber ihr Mund blieb stumm. Und während der ganzen Nacht strich nur das Feuer des Leuchtturms lautlos über den Hang, unter dem sie lagen, warf einen bleichen Schein über ihre Gesichter, schlug einen fahlen Kreis über das Haff, erlosch und kehrte wieder.
Am nächsten Morgen reiste Claudia ab. Er erfuhr es erst aus dem Brief, den er mittags bekam. »Nun wirst du sehen, Jons«, schrieb sie, »was hinter mir stand: die Größe des Lebens. Bisher sahst du mich allein, ein Unfreier, der nur seine Herrin sieht. Nun wirst du das Große sehen. Ich lasse dir dein Bild. Sieh es an, immer wieder. Es ist nicht so, wie du bist, sondern so, wie du werden sollst, ein Held vielleicht, oder ein Heiliger ... Ich gehe, damit du es wirst, mein lieber Jons ...«
Er wollte warten bis zur Nacht. Es schien ihm leichter, wenn nur die Sterne zusahen, wie er ertrank. Er war weit gegangen, dicht am Haffufer, und kehrte nun um. Er wollte über die Düne steigen, wo ihr Lager gewesen war, und dann hinaustreiben ins Meer, auf dem Rücken, damit er das Land bis zuletzt noch sähe. Als er aufzusteigen begann, trat plötzlich die Büste vor sein Gesicht. Er hatte in der Frühe das Tuch von ihr gerissen und sie zum ersten Male gesehen. Da war ein heiliger Mensch. Klarheit der Stirn, Frieden des Mundes, Empfängnis der Augen. Das war nicht Joneleit, sondern die Verklärung seiner Form. Er blieb stehen und legte die Hände vor die Augen. Sie würden ihn finden, ausgespült vom Sturm. Er würde nicht aussehen wie Claudias Werk.
Und plötzlich versteht er alles. Die Erscheinung und den Sinn. Das Leiden und wozu er leidet. Die »Ordnung« der Welt. Er wirft sich nieder, wo er steht, und drückt die Stirn in den Sand. Geheiligt ist diese Erde. Geheiligt ist alle Erde, die ein Mensch erfüllt hat mit seinem Befehl. »Nun wirst du sehen, Jons ...« Ja, er sieht. Er richtet sich auf, und die Welt tritt lautlos in sein Gesicht: Claudia, die Düne, das Haff. Der Sand stäubt über ihn hinweg, der weiße Arm des Lichtes fegt über ihn hin, versinkt, kehrt wieder, erlischt.
Er wendet sich um und blickt den Hang hinauf. Da steht ein Tier, über der Windgrube unter dem Kamm. Schwarz gegen den grünweißen Vorhang des Himmels. Ein Elch, der zur Tränke zieht. Er hat den Kopf zurückgelegt und blickt über das Haff. Vor tausend Jahren wird er so gestanden haben und vor hunderttausend. Viele Elche hat Joneleit gesehen, als Kind und nun in diesen Wochen. Aber keiner war wie dieser: die Große der Welt.
Und nun schreitet er hinab, ein Windtal hinunter, und in der Dämmerung bleibt nur die schwere Fährte hinter ihm, ein schwarzes Band, das die Düne zerteilt.
Joneleit hat nicht geheiratet. Er sitzt vor seinem Schreibtisch, und wenn jemand etwas braucht oder wissen will, ist er der einzige, zu dem man kommt. Er ist pünktlich und fleißig wie früher, still und hilfsbereit, unbestechlich und bescheiden. In jedem Sommer fährt er auf die Nehrung, und wenn er wiederkommt, steht er lange vor seiner Büste und sieht sie an. Wo der Strom zwischen Rohrwänden in das Haff mündet, hat er eine kleine Wiese gekauft mit zwei alten Weidenbäumen, und zwischen diesen Bäumen hat er eine Bank aufgeschlagen. Dort sitzt er zur Abendzeit, wenn die Akten ihm Zeit lassen, die Hände um die Knie gefaltet, und sieht hinüber, wo der blaue Streif der Nehrung das Wasser begrenzt. Wenn die Sonne dahinter versinkt, hebt sich wie ein Strich der Leuchtturm in das Abendrot.
Dann geht er heim, mit erhobener Stirn. Es ist die Stirn eines kleinen Mannes, der ein kleines Tagewerk vor sich hat, aber auf ihrer Blässe scheint ein Nachglanz der Gesichte zu liegen, die er gehabt hat, gleich dem Nachglanz auf den Bildern der Heiligen, die von einer Erscheinung wiederkehren zu ihrer irdischen Not.