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Veronika

Immer wenn die Fastnacht kommt und da ist und endet, steigt es aus dem Gewesenen empor, das Kinderland in den großen Wäldern. Steigt klarer empor und deutlicher und wehmütiger als zu andren Zeiten, weil ein Zauberwort eingegraben ist in einen Ring, und der Ring schließt sich um dreißig Jahre meines Lebens, von der Kinderzeit bis zur Zeit des großen Krieges. Zur Fastenzeit stehen sie auf, meine guten Toten, die mir Unsterblichen: Tante Veronika mit den blauen, ekstatischen Augen, bei der ich alljährlich zur Fastnacht saß ... der Kater Immergrün ... die schwere Bibel auf ihren Knien ... was war es doch, was sie las, damals, als ich ein Kind war ... und ich nehme die Bibel von meinem Bücherbrett und suche ... der Prediger Salomo, im dritten Kapitel ... da ist sie, die Stelle, die nie vergessene ... und ich sehe, wie sie die Brille vor die leuchtenden Augen schiebt ...: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde ... geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, das gepflanzt ist ... würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen ... Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen ...«

Und während ich noch das schwere Buch in den Händen halte, so schwer, als lägen die vierzig Jahre in meinen Händen, die seitdem vergangen sind, stehen sie wieder auf, die schweren Worte, die sie in mein Kinderherz hineinsprach, die ich nicht verstand, aber deren Klang so groß und so feierlich war, vom Würgen und vom Heilen, vom Herzen und Fernesein vom Herzen.

Als ich ein Kind war, lebte ich in den großen Wäldern wie ein kleines Tier in seiner Höhle, und kein Fremder klopfte an unser Haus. Der Schnee spann mich ein, und die Träume spannen mich ein, und nur bei den großen Wunderfesten stürzte das Licht einer fremden Welt sich in mich hinein. Denn der Weihnachtsmann kam mit einer Glocke vom Himmel über die Wälder in unser Haus, und am Tag der Heiligen drei Könige kamen fremde Kinder aus dem Morgenland mit einem roten Stern, und am Fastnachtsabend fuhren wir zu Tante Veronika in die kleine Stadt. Wir fuhren drei Meilen weit durch lautlose Wälder. Man hatte mich in Tücher gewickelt und unter die Pelzdecke gesetzt, und nur meine Augen waren draußen und sahen die dunklen Fichten vorübergleiten, hinter denen der Abendhimmel wie eine Feuerwand brannte. Der Rücken des Kutschers war wie ein Gebirge über mir, und wenn ich leise fragte, ob die Wölfe auf unsrer Spur seien, hob er nur wortlos die Peitsche, daß die Glocken lauter und tapferer klangen, die an den Sielen der Pferde hingen.

So fuhren sie mich ins Märchen. Denn Tante Veronika war das Märchen. Meine Eltern setzten mich bei ihr ab und fuhren zum Maskenfest, dem einzigen Fest ihres Jahres. Tante Veronika aber schälte mich aus meinen Tüchern, setzte mich in ihren Sessel, schob die Brille auf ihre Nase und sah mich lange an. »Ein Dichter wirst du werden, Andreas«, sagte sie dann jedesmal bekümmert. »Einen bunten Rock werde ich dir nähen, daß du anders bist als deine Brüder und daß man dich erkennt, wenn sie dich nach Ägypten verkaufen ...«

So geheimnisvoll fing es an, und so war alles andre: Wunder, Geheimnis, Mysterium. Tante Veronika schneiderte für wohlhabende Leute, und auf allen Tischen lagen die bunten Reste der Maskenherrlichkeit. Und auf der Kommode lag die Zither mit den schimmernden Saiten, und der Kater Immergrün, unbeweglich und fremd, saß auf der Ofenbank und träumte mit grünen Augen vor sich hin. Ich wurde gefüttert, als sei ich eben aus Ägypten heimgekehrt, im Ofen brannte das Buchenholzfeuer, hinter den Fenstern rauschte der Übermut der Fastnacht, aber aus der Dämmerung der Ecken traten schon lautlos die Zaubergestalten, die Tante Veronika beschwor: Oberon und der Wolf aus den Wäldern, die Schöne mit den sieben Schleiern und der Nachtwächter, der die Haustreppe verzauberte, sodaß man nur mit einem Vaterunser über die Stufen kam. Und das Ferne wie das Nahe stand so dicht bei ihr, daß meine Seele erzitterte und in Grauen und Seligkeit verging. »Ist das alles wahr, Tante Veronika?« fragte ich atemlos. »Hast du das alles erlebt?« »Wahr?« erwiderte sie verblüfft. »Ist es nicht wahr, daß ich hier in meinem Sessel sitze? Siehst du, so saß vorgestern der Bürgermeister, den sie vor zwei Jahren begraben haben, an der Friedhofsmauer, als ich vorüberging. Es dämmerte schon, und der Schnee knirschte unter den Sohlen. Er sitzt und schreibt, graues Papier, sehr magere Hände. »Sie müssen Handschuhe anziehen, Herr Bürgermeister«, sage ich laut. »Es sind siebzehn Grad Frost ...« »Handschuhe?« sagte er. »Wirst noch ohne Handschuhe mit mir tanzen, Veronika.« Und dabei streckt er seine magere Hand nach mir aus. »Bezahlen Sie erst die Rechnung für den Domino«, sage ich, »den ich Ihnen vor drei Jahren gemacht habe ... Sie sind weggestorben darüber ...« Und da ist er weg, im Nu, und nur ein kleines Loch ist im Schnee, wie ein Mauseloch ... wahr, sagst du ... er saß vor mir wie Immergrün auf seiner Ofenbank ...«

So erzählte Tante Veronika. Eine berauschende und betäubende Überredungskraft ging von ihr aus, und nach einer Stunde besprachen wir, wie sie mich aus Ägypten holen würde, wenn meine Brüder mich verkauft haben würden. Es gab keinen Zweifel mehr für mich, daß sie die Unterhandlungen schon begonnen hatten. Und wir beschlossen, daß unser Erkennungswort »Hamulaima« sein sollte. Tante Veronika setzte es mühsam aus alten Zauberbüchern zusammen, schrieb es auf ein weißes Papier und hängte es mir in einem geflochtenen Täschchen um den Hals, denn sie nahm es mit ihren Märchen ernster als mit der Wirklichkeit.

Aber dann, wenn sie den Punsch in die Gläser goß und Pfannkuchen auf den Tisch trug, mußte sie von den Fastnachtsfesten ihrer Jugend erzählen. Sie strickte an einem langen, grauen Strumpf, der von Jahr zu Jahr länger wurde und von dem ich heimlich glaubte, daß er für den toten Bürgermeister bestimmt sei. Selbst ihre Stricknadeln hatten etwas Geheimnisvolles, und plötzlich konnte sie eine von ihnen aus der grauen Wolle ziehen, sie hochhalten, den Kopf lauschend zur Seite wenden und leise und ohne Angst sagen: »Hast du gehört? ... Der Mann in der Wand hat geklopft ... Er klopft immer um diese Zeit, aber ich habe ein Kreuz in den Vorhang gestickt und er kann nicht heraus ... ich glaube, es ist Nebukadnezar ...« Ich sah das Kreuz, eine halbe Spanne groß, mit roter Wolle gestickt, und Tante Veronika erschien mir wie Gott, der Tote auferwecken und den Teufel bändigen konnte.

»Ja, die Fastnacht ...«, sagte sie. »Da ist soviel unterwegs, siehst du, wovon sie heute nichts wissen. Deine Eltern, nun gut, da fahren sie nun drei Meilen im Schlitten und binden sich eine Maske vor und verkleiden sich als Jäger und Rotkäppchen, und tanzen und reden viel, und wickeln sich wieder in ihre Pelzdecke, und fahren nach Hause. Als ich jung war, vor vierzig Jahren, da gab es keine Schlitten und keine Pelzdecke für uns. Meine Schwester und ich, wir mußten die Wirtschaft beschicken, die Kühe melken, die Kälber tränken, bis zur Dämmerung. Und dann durften wir gehen. Die Kostüme kamen in einen Wäschekorb, Schuhe, Strümpfe, ein Taschentuch, und was wir brauchten. ›Habt ihr auch die Trompete?‹ fragte mein Vater. Ja, die Trompete hatten wir. Und dann gingen wir los. Zwei Meilen, kleiner Andreas, und der Schnee trieb, daß keine Spur hinter uns blieb. Wir sangen zweistimmig, und nach jedem Lied wechselten wir die Seiten, damit die Hände uns nicht erfroren. Bei langen Liedern ließen wir eine Strophe aus. ›Nun ruhen alle Wälder –‹, das war besonders schlimm. Ich glaube, es hat zwölf Strophen. Drei Stunden gingen wir, kleiner Andreas. Und dann tanzten wir die ganze Nacht. Ich war Zigeunerin, und alle jungen Förster ließen sich von mir wahrsagen. Und zurück ging es wieder zu Fuß. Und bevor die Sonne aufgegangen war, mußte schon Feuer im Herd sein, und wir sangen noch, während wir die Kühe molken, nur nicht: ›Nun ruhen alle Wälder‹. Das paßte nicht für den Kuhstall.«

»Und die Trompete?« fragte ich nach einer langen Weile. »Spieltest du in der Kapelle, Tante Veronika?«

Sie ließ die Nadeln ruhen und sah mich an. »Eine Kapelle? Ach, Andreas, in manchen Dingen bist du schon so früh verdorben. Eine Kapelle, sagt er! Wir hatten Musik, aber keine Kapelle. Eine Geige, eine Klarinette und einen Kontrabaß. Mehr werden sie im Himmelssaal auch nicht haben ... nein, die Trompete war für die Wölfe.« »Für ... Tante Veronika!« »Ja, für die Wölfe. Sie heulten damals in den Wäldern, denn die Winter waren streng, und wenn sie zu nahe kamen, setzten wir den Korb hin, und ich nahm die Trompete und blies. Es muß wohl schlimm geklungen haben, denn sie wagten sich nicht heran. Aber man mußte das Mundstück anwärmen, sonst bekam man die Lippen nicht wieder los ... du glaubst es nicht ... komm her ... siehst du es nun?« Und ich hielt sie in den Händen, ein erblindetes, verbeultes Instrument, aber der Zauberhauch verschollener Zeiten drang kühl aus dem dunklen Metall in meine Hände, und ich glaubte, dunkle Flecke zu erkennen, das Blut von Wölfen vielleicht, oder den Rost von Tränen, die im Wintersturm auf das tröstende Erz gefallen waren.

Und dann legte Tante Veronika die Zither auf den Tisch, und ihre zarten und zerstochenen Finger spielten die Gavotte ihrer Jugendzeit, und aus den zitternden, leise klirrenden Tönen stieg die Welt der Wunder vor meinen Augen auf. »Hamulaima ...«, flüsterten meine Lippen, und meine Hand legte sich verstohlen auf das gestrickte Täschchen unter meinem Rock, in dem das Zauberwort sich verbarg. Und dann sang Tante Veronika mit ihrer dünnen, gleichsam seidenen Stimme die Arie aus dem »Oberon«: »O Hüon, mein Gatte ...« Und das Feuer erstarb im Ofen, und der Frost schrie im Eise auf dem See. Und wenn ich schon auf der Ofenbank lag und der Raum mit tausend Gestalten sich erfüllte, schlug Tante Veronika die schwere Bibel auf und suchte den Prediger Salomo, das dritte Kapitel, und las die feierlichen Worte, die ich nicht verstand: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde: Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen ...« Und eine süße Traurigkeit floß aus den alten Versen über mich hin und bedeckte mich und lag wie ein dunkles Wasser über meinen sinkenden Augen.

Bis man mich wieder einhüllte, in schwere Tücher, und unter die Pelzdecke. legte, wo eine Steinkruke mit heißem Wasser stand. »Vergiß es nicht«, flüsterte Tante Veronika, »wenn sie dich verkauft haben ... nach Ägypten ... Hamulaima ...«

*

Ich vergaß es. Die Wellen des Lebens spülten über mich, und die Furche der Erinnerung erlosch wie eine Furche im Sand. Sie hatten mich nicht nach Ägypten verkauft, aber sie hatten mich in das Land des Todes verkauft, wo Gott Blut vom Himmel regnen ließ und wo seine Hand die Erstgeburt schlug wie die Letztgeburt. Denn zwanzig Jahre später lag ich zu Fastnacht am St. Pierre-Vaast-Wald. Es war kein Wald sondern das Gespenst eines Waldes, zerrissene Stümpfe, nackte Arme, blutige Wurzeln, und der Hauch der Verwesung ging von ihm aus wie »Rauch von einem feurigen Ofen«. Niemals in jenen Jahren hat mein Herz schwerer geschlagen als im Schatten dieses gewesenen Waldes.

Wir lagen in Bereitschaft, am Rande dieser Gespenstererde, in einem tiefen Stollen, auf dessen Decke der Tod schlug. Da war ein junger Maler, Bergengrün, den wir alle liebten und der mein Freund war. Denn niemand konnte lächeln wie Bergengrün. Es gab Zeiten, in denen der Tod uns zuschüttete mit Grauen wie einen leeren Brunnenschacht. Aber aus dem Grunde des Schachtes, aus Staub, aus Grauen, aus Todesangst blühte Bergengrüns Lächeln. »Bergengrün«, sagte der Kommandeur mit grauen Lippen, »Bergengrün, lächeln Sie!« Und er lächelte. Keine Maske, die gehorcht, sondern ein Kind, das die Augen aufschlägt, an den Wurzeln des Lebensbaumes.

Und am Abend kleideten wir Bergengrün um. Als Narren mit einem bunten Gewand. Narrenkappe und Reitpeitsche statt der Pritsche. Selbst ein paar Schellen hatten wir aufgetrieben und an seine Ärmel genäht. Und da, als ich sein Gesicht mit Kreide einrieb, stieß meine Hand – sein Waffenrock war geöffnet – an seine Erkennungsmarke. Eine schwarzweiße Schnur, ein blindes Metall mit eingeritzten Buchstaben. Und plötzlich, aufbrechend aus der Verschüttung der Zeit, brannte es vor meinen Augen auf: das Kinderland ... Tante Veronika ... das geflochtene Täschchen ... Joseph in Ägypten ... »Hamulaima«, sagte ich mit blassen Lippen. »Was ist, Andreas?« »Hamulaima ...«

Und dann saß ich auf der feuchten Pritsche und erzählte. Der Stollen versank, der Geisterwald versank, und wir kehrten zurück, Hand in Hand, immer kleiner werdend, aus dem Land des Todes in das Kinderland. »Steine zerstreuen und Steine sammeln ... herzen und ferne sein von Herzen ...« Kein Vers, den ich verloren hatte in zwanzig Jahren. Und er saß vor mir, das stille Gesicht von der Kreide bedeckt, und hörte zu. »Hamulaima ...«, sagte er dann, »was für ein Wort, Andreas ... in diesem Totenwald ...«

Es war sehr lustig am Abend. Der ganze Stollen war zu Gast, es gab Punsch, und der Kommandeur stand auf, um eine Rede zu halten. »Kameraden!« sagte er. Und als er es gesagt hatte, brach der Donner der Vernichtung über den Wald. Das Licht erlosch von einem schweren Treffer, und im Dunkeln stürzten wir die Treppen hinauf, noch bevor es »Alarm!« zu uns hinuntergeschrien hatte.

Eine Stunde später war es vorbei. Überfall, Handgranaten, Bajonette, Blut. Sie hatten Bergengrün in den Raum des Kommandeurs gebracht. Die Kreide lag noch immer auf seinem verfallenden Gesicht, das Koppel war über sein Narrengewand geschnallt, und die bunten Flicken über der Brust waren dunkel und feucht vom entweichenden Leben. Seine Augen gingen angstvoll über alle Gesichter, bis sie mich gefunden hatten. Ich kniete neben ihm, und seine graue Hand schob das bunte Kleid zur Seite und glitt mit einer drängenden Frage über das blinde Metall der Erkennungsmarke. Er bewegte die Lippen, aber es bedurfte seines Wortes nicht. »Hamulaima ...«, flüsterte ich. Seine Seele glitt schon hinweg, aber das Wort holte sie ein auf ihrem grauen Weg, und da wandte sie noch einmal das ewige Antlitz, und um die grauen Lippen blühte das letzte Lächeln seines kindlichen Lebens noch einmal auf, richtete sich ein in der erkaltenden Wohnung des weißen Gesichtes und blieb dort als ein stiller Glanz, lange nachdem die dunklen Türen lautlos zugefallen waren über der verlassenen Stätte.

Wieder sind die Jahre vergangen, zehn Jahre, zwanzig Jahre. Sie sind bei den Schatten, Tante Veronika und Bergengrün. Sie haben mich nicht nach Ägypten verkauft, und der Wald wird wieder grünen über dem versunkenen Lächeln in Bergengrüns Gesicht. Aber zu meiner Fastnacht steht dies alles auf, alljährlich, aus der Zerstreuung der Tage, und hebt sich auf über meinem Leben wie die Arme einer Waage, und in den beiden Schalen ruht das versunkene Zauberwort, am Beginn meiner Tage, als ich mit dem Leben stritt, und in jenem Walde, als ich mit dem Tode stritt. Und keine der Schalen sinkt, von Bitterkeit beschwert, oder vom Urteil, oder vom Schmerz. »Denn es steht geschrieben für alle Zeit, daß ein jegliches seine Zeit habe: klagen und tanzen, Herzen und ferne sein von Herzen. Denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende ...«


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