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Daß der alte deutsche Handwerkerstand immer mehr im Schwinden, kann als eine Tatsache gelten, über die unter Gelehrten und Ungelehrten kein Streit obwaltet. Er verliert sich in den allgemeinen Arbeiterstand und büßt den Fabrikanten gegenüber seine Selbständigkeit ein, die ihrerseits nicht einmal in die Lehre gegangen sein dürfen, sondern »ihr Kapital arbeiten lassen« und »wie Kaufleute« verdienen wollen. Leute, die sich den Kopf darüber zerbrechen, was aus der Welt werden solle, sind sehr verschiedener Meinung über diese Umgestaltung der Gesellschaft. Die einen klagen, sie sei sehr bedauerlich und bedrohe den konservativsten Teil des städtischen Mittelstandes zum großen Schaden der Gemeinden und des Staates mit gänzlicher Auflösung; die andern finden es durchaus zu loben, daß der allgemeine Fortschritt endlich auch mit diesen, nur noch geschichtlich berechtigten, aber jetzt veralteten Formationen aufräume; die Allerklügsten sagen: Ob gut, ob übel, es ist natürlich, daß es so kommt, und man muß den Dingen ihren Lauf lassen.
Zu diesen Allerklügsten, rate ich wohlmeinend, wollen auch wir gehören – wenigstens solange wir uns mit dieser sehr einfachen Geschichte beschäftigen, die es mit einem ganz alten Handwerkerhause zu tun hat, und mit einem ganz altmodischen Manne, der da hineinpaßt. Dergleichen Bau- und Gesellschaftsreste aus längst entschwundenen Tagen ragen manchmal recht wunderlich fremd und doch gemütlich anheimelnd aus ihrer Umgebung vor und in die modernste Gegenwart hinein. So ein altes Haus und so ein alter Mensch sind selten bequem, aber einmal ansehen mag man sie sich doch gern.
Wie ich die Bekanntschaft jener beiden machte, ist ein so prosaischer Vorgang, daß ich Bedenken tragen müßte, ihn mitzuteilen, wenn ich nicht die Verpflichtung fühlte, durchweg der Wahrheit die Ehre zu geben. Und so sei denn gesagt, daß ich einmal einem befreundeten Arzte in Ermangelung anderer Leiden klagte, wie sehr mich die Stiefel drückten, und daß er mir darauf eine gelehrte Vorlesung über die schädlichen Folgen unpassenden Schuhwerks für den ganzen menschlichen Organismus hielt und mit der Bemerkung schloß, es gäbe nach seinen Erfahrungen nur einen einzigen Schuhmacher in der Stadt, zu dessen Kunst man volles Vertrauen haben könne, und er heiße Lange, wohne in der kleinen Schustergasse Nr. 11 und habe keinen offenen Laden, aber ein sehr respektables Geschäft. »Der Mann wird Sie auch sonst interessieren,« setzte er schmunzelnd hinzu, »und ich wundere mich eigentlich, daß Sie ihn nicht schon selbst entdeckt haben; er ist in seiner Art ein Original. Was er macht, ist vortrefflich, aber man muß mitunter lange daraus warten, wenn er überhaupt von einem neuen Kunden Bestellungen annimmt. Das beste wird sein, ich führe Sie bei ihm ein, dann tut er vielleicht ein übriges. Kommen Sie gleich mit – Ihre Akten laufen nicht fort.«
Er hatte mich neugierig gemacht, und ich nahm gern neben ihm im Doktorwagen Platz, um mich nach der kleinen Schustergasse fahren zu lassen, die in dem engsten Teil der engen Altstadt liegt und in der Zeit, als in den Städten jede Berufsklasse sich auch örtlich zu sondern und zusammenzusetzen liebte, die Mitglieder der ehrsamen Schusterzunft vereinigt hatte. Wir hielten mitten in der Gasse vor einem jener schmalen und tiefen Bürger- und Handwerkerhäuser, die nur zwei Fenster Fronte, dafür aber vier Stockwerke übereinander haben und mit einem hohen Spitzgiebel schließen, den man mit dem Auge nur ermessen kann, wenn man den Kopf tief in den Nacken zurücklegt. Aus den massiven Holzrinnen zu beiden Seiten des Daches wuchsen Drachen von Blech mit weitaufgesperrten Rachen über die Straße hinaus, und auf dem Gesims von Holzschnitzerei über der Haustür hatten drei Figuren Platz, von denen die mittelste und höchste einen Handwerksmeister in mittelalterlicher Tracht mit Federhut und Schwertgehänge vorstellte. Das hohe und schmale Fenster daneben zeigte noch kleine, in der Mitte schneckenartig ausgebauchte Scheiben in Bleieinfassung. Das entschieden merkwürdigste an diesem unteren Geschoß war aber unzweifelhaft das runde Schild zwischen Tür und Fenster: in der Mitte war ein Schuh abgebildet, wie man ihn zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu tragen pflegte, und darunter stand, offenbar in sehr alten Schriftzügen, »zünftiger Schuhmachermeister«, während der obere Teil vielfach mit Ölfarbe übermalt zu sein schien und auf der obersten Decke jetzt den Namen »Gotthilf Lange« trug. Die ganze Geschichte des Hauses war von diesem kleinen Schilde abzulesen; die Bewohner wechselten; jeder löschte den Namen seines Vorgängers aus und setzte den Seinigen an die Stelle, aber der »zünftige Schuhmachermeister« blieb immer derselbe und wohnte auch jetzt noch dort, allen neueren Gewerbegesetzen zum Trotz, die von der Zunft nichts mehr wissen wollten und nicht einmal mehr von der Meisterschaft sonderlich viel hielten.
Der Doktor setzte einen messingenen, spiegelblanken Klöppel in Bewegung – ein Glockenzug fehlte – worauf eine Magd öffnete. Sie trug die kleine weiße Mütze, »Hülle« genannt, auf dem Kopfe, die wir noch in unserer Kinderzeit als Dienstbotentracht gekannt haben. Wir traten in einen großen, übermäßig hohen, mit Fliesen ausgelegten Flur und über einige Stufen durch eine Glastüre in das einzige schmale, aber tiefe Zimmer parterre, das sein Licht durch ein großes Fenster mit vier Flügeln vom Hof her erhielt, und aus dem der scharfe, anfangs den Atem beengende Geruch von gegerbtem Leder uns entgegendrang.
An dem Tisch, um den in Stapeln Rinds- und Roßhäute, Kalbs- und Ziegenfelle, Saffianrollen und Sohlenstücke lagen, stand, uns den Rücken zukehrend, ein breitschulteriger Mann in Hemdärmeln und Schurzfell, eifrig damit beschäftigt, ein Leder zu untersuchen. Erst als der Doktor ihm ein munteres »Guten Tag« und »wie geht's, Alter?« zurief, wandte sich das runzelige und graubärtige Gesicht mit den hellen blauen Augen halb zu uns zurück. Das schwarze Sammetkäppchen wurde über der kahlen Stirn ein wenig gelüftet, und eine sonore Stimme antwortete: »Ihre Stiefel kommen morgen vom Leisten, Herr Doktor; früher war's beim besten Willen nicht möglich.«
»Sicher wieder ein Kunstwerk,« schmeichelte mein Führer; »man ist das schon so gewohnt vom Meister Lange. – Ich sage Ihnen, lieber Freund,« wandte er sich zu mir, »ein Stiefel bequem wie ein Schlafschuh, und dabei doch knapp, ohne Falten, wie aufgegossen.«
»Nun, nun, Herr Doktor,« lächelte das alte Gesicht halb wohlgefällig, halb abwehrend; »loben Sie nicht über Maß! Leder bleibt Leder, und was für die Dauer passen soll, muß zu Anfang nicht zu kommode sein. Es geht überall im Leben nicht anders.«
Der Doktor setzte die Posaune nicht so leicht ab. »Aber der Mann hat auch Material«, rief er, mit dem Stock auf die Stapel rechts und links schlagend. »Meister Lange kennt die Quellen. Sie sollen einmal sein Lager sehen. Das zeigt er Ihnen ein andermal; aber Ihre Sammlung von Leisten, Meister – hoch interessant! übrigens auch historisch merkwürdig. Denken Sie sich, es sind darunter noch Hölzer aus dem sechzehnten Jahrhundert – und für was für Füße!«
»In so einem alten Handwerkerhause sammelt sich dergleichen auf,« antwortete der Alte ruhig, »und für einen Schuhmacher hat's wohl Bedeutung aber für die Herren –«
»Das ist unsere Sache«, fiel ihm der Doktor ins Wort. »Mein Freund hier schwärmt für Antiquitäten, und auch ich habe zu allem echt Menschlichen gern Beziehung. Was kann aber menschlicher sein als der Wunsch, zu soviel anderem Druck, den wir schon zu tragen haben, nicht auch noch von seinem Stiefel gedrückt zu werden? Übrigens dient das alte Zeug nur zum Vergleich der eigenen Verbesserungen unseres wackeren Meisters.«
»Machen Sie nicht viel Rühmens davon«, bat der bescheidene Mann. »Ich denke mir immer, wenn jemand sein ganzes Leben bei einem so einfachen Handwerk zubringt, so wär's eine Schande, brächt' er es nicht darin zu was Rechten. Meisterschaft will freilich auch im kleinen erworben sein.« Damit zog er einen Bund Schlüssel aus dem Riemen seines Schurzfells und öffnete die Türen der mächtigen Schränke. »Da haben Sie alle Kunden dieses Schusterhauses von Anbeginn – fehlt kein Hühnerauge noch Überbein«, sagte er mit derbem Humor.
Zum Ziel kam ich an jenem Tage noch nicht. Alles was der Doktor für mich erlangen konnte, war, daß der Alte meinen Namen mit Kreide auf die innere Wand einer Tür einschrieb, die auch sonst schon als Tafel gedient hatte. Er verspreche nichts, was er nicht halten könne, meinte er. Mein Begleiter ging noch hinauf, »zur alten Mama«, und ich wurde von der Magd mit einem zeremoniellen Knix ausgelassen.
Bei meinem nächsten Besuch fand ich den Meister in der Werkstube im zweiten Stock, wo seine drei Gesellen mit einigen Lehrburschen munter arbeiteten. Der Altgeselle war ein Mecklenburger; der zweite hatte viel in Holland für Java gearbeitet, »wo noch viele Millionen Menschen barfuß gehen«; den dritten, Franz Diestel, der bei ihm selbst ausgelernt hatte, wollte er nächstens in die Fremde schicken, womit der junge Mensch gar nicht einverstanden war. »So sind die jungen Gesellen nun,« meinte der Alte kopfschüttelnd, »vom Wandern wollen sie nichts mehr wissen. Auslernen und womöglich gleich heiraten – die Fabriken geben ja Arbeit. Sie bezahlen aber auch danach, und das Elend ist hinterher groß, wenn die Familie wächst. Nichts da! Beim Wandern lernt man ein Stück Welt kennen und auf sich selbst stehen. Und man erweitert sich dabei auch innerlich und hat später für das ganze Leben einen Schatz, von dem man zehrt, wenn man festsitzt. Was weiß nicht unser Holländer zu erzählen!« Ich stimmte zu und meinte, der Handwerker müsse auch seine Studentenzeit haben. Das gefiel ihm, und er zeigte mir nun unaufgefordert seine stattlichen Ledervorräte in den verschlossenen Kammern desselben Stockwerks.
»Über uns sind die Schlafstuben für die Gesellen und Lehrlinge«, erklärte er, als wir uns wieder zum Hinabgehen anschickten. »Ich halt's noch so nach der alten Art und wie's in diesem Hause allezeit Sitte gewesen ist. Wer bei mir in Arbeit tritt, muß bei mir auch Wohnung und Kost nehmen, wie ein Glied der Familie. Da merke ich denn gleich, wer mein Mann ist. Paßt's einem nicht unter des Meisters Aufsicht zu stehen und sich nach dessen Weisungen zu richten, wenn er's doch gut mit seinem Gesellen meint und ihn zu einem ordentlichen Menschen erziehen und vor allerhand Anfechtungen in schlechten Schlafstellen und Kneipen bewahren will – meinetwegen! Ich kann's nicht ändern. Aber ein Verhältnis zu so einem hab' nicht, und mein Haus mag er meiden. Zwischen Meister und Gesellen, denk' ich, muß etwas mehr sein als ein Vertrag: so viel Stunden arbeitest du für mich und so viel bekommst du dafür! Dabei fällt das Handwerk auseinander, denn es steht in seinem tiefsten Grunde auf Vertrauen und gegenseitiger Zutulichkeit. Die Dreiteilung in Meister, Gesell und Lehrling hat kein Mensch gemacht; die ist von selbst geworden, und wird immer bestehen, solange einer etwas lernen und üben muß, um es zu können. Daß man alte Zwangssatzungen aufhebt, mag seinen guten Grund haben, aber nun sollte jeder, der das Handwerk liebt, erst recht darauf achten, daß es aus freien Stücken das alte Band festhalte, das es zugleich in die Familie einschließt. Es ist traurig, wenn der Meister ein Herr und der Geselle ein Arbeiter wird, statt daß sie doch Genossen an demselben Werktisch sein sollen.«
Wir waren wieder unten in seiner Stube angelangt, und ich setzte mich zu ihm, um noch mehr von ihm zu hören. »Wenn Sie das nächste Mal ansprechen,« sagte er beim Abschiede, »will ich Ihnen auch Maß nehmen.« Ich merkte, daß er zu mir Vertrauen faßte.
Als ich nun erst die Ehre hatte, sein Kunde zu sein, und meinen Leisten in seinem Schrank stehen wußte, fand er sich allmählich auch in meine öfteren Besuche, die keinen geschäftlichen Grund hatten. An Sonntagen litt er aber nicht, daß ich in der Wohnstube blieb, sondern führte mich eine Treppe hinauf in sein »Putzzimmer«, wo ich stets auf dem Sofa Platz nehmen mußte. Die Möbel sahen wie neu aus und mußten doch nach ihrer Rokokofasson sehr alt sein; wahrscheinlich wurde dieser Raum nur selten betreten. Über dem Sofa hing ein großes Ölbild in schwarzem Rahmen, einen Geistlichen im Ornate darstellend, die Bibel mit eingelegtem Zeigefinger in der Hand und, was nicht unbemerkt bleiben konnte, das Eiserne Kreuz auf der Brust. Ein kleines Kruzifix von Elfenbein und Ebenholz und Leonardo da Vincis Abendmahl mochten derselben Erbschaft angehören, die, wer weiß auf welche sonderbare Weise, in das Schustergäßchen gekommen war. Älter schienen einige andere Reliquien zu sein: zwei Silhouetten in Barockrahmen, ein kleines Pastellbild, eine Korkschnitzerei, das Modell eines zierlichen Damenschuhes unter einer Glasglocke, diverse Taschenuhren mit Ketten und Behängen, sämtlich auf kleinen Tuchunterlagen an der Wand aufgehängt. Ich vermied es, neugierig zu fragen, woher alle diese Herrlichkeiten stammten.
Endlich wurde ich auch gelegentlich einmal in das Hinterzimmer des ersten Stockes eingelassen. Ich fand darin ein altes Mütterchen, das ich öfter beim Vorbeigehen hatte husten hören, am Spinnrocken. Der altmodische Lehnstuhl, das große Himmelbett mit geblümten Gardinen, der schwarzgrüne Kachelofen auf Holzfüßen, der große Tisch mit zwei Klappen, die Messingschale mit weißem Sand paßten trefflich zueinander und zu dem Mütterchen in weißer Tüllhaube am Spinnrocken. »Das ist meine Frau,« stellte Meister Lange vor, »und das ist der Herr, Mamachen, dem unser Haus so ausnehmend gefällt, daß er schon bis unters Dach gestiegen ist. So findet doch jedes Ding seinen Liebhaber, wenn's nur warten kann.« Die alte Frau nickte freundlich, bot mir einen Stuhl mit schwarzem Pferdehaarbezug an und sagte, immer nickend: »Ja ja, es ist auch ein gutes Haus, und hat noch jeder darin Brot gehabt, mein Vater und mein Großvater und so weiter hinauf. Zeige einmal dem Herrn die Skripturen aus der Lade, Gotthilfchen! Sie sind ganz merkwürdig zu sehen. Da ist noch ein Bürgerbrief von Anno 1527 mit schönen Bildnissen, und das Schreiben vom Rat hundert Jahre später, worin bestätigt ist, daß in diesem Hause die Schuhe für die Prinzessin von Polen gemacht sind, welche sie auf ihrer Hochzeit getragen hat, wovon das Modell noch in der Putzstube steht. Zeige doch, Gotthilfchen, zeige doch!«
Er suchte die Pergamente und vergilbten Papiere hervor, und sie wußte über jedes Bescheid. »Das soll man mir im Sarge unter den Kopf legen,« plauderte sie weiter, »so wird's am besten aufgehoben sein. Hat alles seine Zeit, Gotthilfchen, und dies da ist alt genug geworden in Ehren. Wer weiß, ob nicht der letzte Schuster in diesem Hause wohnt, und einem andern hat's keine Bedeutung. Ich hab' immer gesagt: Gotthilfchen, laß unsern Sohn das Handwerk lernen! Das Haus ist eine gute Nährstelle; aber er hat durchaus studieren müssen, und gottlob! wir haben's ja dazu gehabt, und es wird ihm nicht fehlen, er mag anfangen, was er will. Aber das Haus wird er verkaufen und die alten Bürger- und Meisterbriefe nicht achten. Gib sie mir mit ins Grab, Gotthilfchen!«
»Wir leben ja noch«, meinte er und streichelte über die Stuhllehne hinüber ihr Gesicht. »Wenn der Franz Diestel von der Wanderschaft zurückkommen wird, wollen wir ihn uns einmal ansehen. Er ist ja doch wie Kind im Hause, Mamachen, und dir ans Herz gewachsen, mehr wie dein eigener Sohn.«
»Du sprichst nicht gut, Gotthilfchen«, verwies sie ihn. »Was soll der Herr denken? Meinen Stolz hab' ich auch, daß der Johannes ein Studierter geworden ist und zu hohen Ämtern gelangen kann, aber für uns ist er doch eigentlich verloren, seitdem er in die Pension gebracht wurde, und in dieses Haus gehört er nicht mehr hinein. Studierte Herren und Handwerksleute passen in derselben Familie nicht gut zueinander, du weißt's am besten, Gotthilfchen, und darum rate ich immer: rufe ihn nicht her, damit wir ihn nicht genieren! Wie lieb wir ihn gehabt haben, wird er ja doch merken, wenn wir gestorben sind.«
In diesen Worten schien etwas zu stecken, das den Meister sehr unangenehm berührte. Seine lichtblauen Augen verfinsterten sich plötzlich. Die Brauen darüber zogen sich zusammen. Auf der Stirn zuckte es, und die Nasenspitze wurde ganz weiß. Er zog seinen grauen Bart zwei-, dreimal durch die Hand und ließ dieselbe dann zu einer Faust geballt auf die Lehne niederfallen. »Wenn mir so etwas durch mein eigen Fleisch und Blut geschähe –!« murmelte er verbissen. Dann schien er ebenso schnell wieder auf andere Gedanken zu kommen, rückte das Käppchen aus der heißen Stirn und sagte mit etwas gezwungener Freundlichkeit: »Man muß die Bäume wachsen lassen; daß wir sie pflanzen, ist unser Werk – das Gedeihen kommt von oben.«
»Amen!« schloß die alte Frau und faltete die Hände.
Daß Lange einen Sohn hatte, erfuhr ich erst jetzt. Er war damals bereits Gerichtsassessor in B. und arbeitete im Ministerium, eine erwünschte Anstellung als Richter abwartend. Lange versicherte, er hätte schon längst irgendwo im Hinterlande unter Dach sein können, aber er selbst habe immer geraten, sich nicht jung begraben zu lassen. Seine Meinung sei überhaupt, Johannes solle nicht bei der mageren Justiz bleiben; es gäbe für tüchtige Leute bei anderen Behörden schnellere Beförderung und der Sohn eines Schusters habe mehr Grund als ein anderer, zu zeigen, daß aus ihm etwas werden könne. Damit war er denn offenbar wieder auf den Punkt gekommen, dessen Berührung schmerzte, und die alte Frau redete nun sanft darüber weg und meinte, man müsse nicht stacheln und seiner eigenen Einsicht trauen. Es war überhaupt das freundlichste Verhältnis unter den Eheleuten. Durch alles, was die alte Frau sprach, ging ein Ton von Zärtlichkeit und Zutunlichkeit, und er selbst behandelte sie mit fast kindlicher Rücksichtnahme.
Daß der Meister gelegentlich auch ein ganz anderes Gesicht aufsetzen könne als das gewöhnliche, sollte ich zu meiner Überraschung ein andermal erfahren. – Bald nach mir trat nämlich der Briefträger ein und brachte Briefe. Meister Lange musterte die Adressen und nickte befriedigt. Zuletzt gab ihm der Beamte aber auch ein Blatt in die Hand, was ihn sofort sichtlich stutzig machte. Es war kein eigentlicher Brief, sondern nur ein einfach gefalteter schmaler Bogen Papier, den eine kleine Oblate mit eingepreßten Buchstaben mehr zusammenzuhalten als zu verschließen beabsichtigte, nach Art der Geschäftsanzeigen oder Einladungen. Auffallend war nur die schwarze Farbe der Oblate und der schwarze Rand des Blattes. Der Meister stand mir so nahe, daß ich ohne Mühe die Aufschrift lesen konnte; sie lautete: »An den Schuhwarenfabrikanten Herrn Gotthilf Lange Wohlgeboren«, und trug den Poststempel B. Ob ihm nun diese Titulatur nicht gefiel, oder was ihm sonst durch den Sinn gehen mochte, so viel ist gewiß, daß sich sein Gesichtsausdruck merklich veränderte. Unschlüssig bewegten sich die Finger mehrmals nach der Stelle hin, wo die Oblate haftete, um immer wieder zurückzuzucken. Endlich stellte er, ohne das Siegel zu erbrechen, durch einen Druck auf die Kanten einen Zylinder her, in den er hineinsehen konnte. Ein flüchtiger Blick genügte, ihn über den Inhalt der Anzeige zu vergewissern. Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Mit einer heftigen Wendung reichte er dem Briefträger das Blatt und sagte barsch: »Wird nicht angenommen!«
Ich erschrak und wußte selbst nicht worüber. Offenbar hatte Lange eine Todesanzeige erhalten, die ihn nahe angehen mußte, und die Zurückweisung trug daher den Charakter der gröbsten Rücksichtslosigkeit. Der Briefträger mochte eine ähnliche Empfindung haben. »Das ist doch aber unzweifelhaft an Sie, Herr Lange«, äußerte er zögernd.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Alte, sich abkehrend. »Ich bin kein Fabrikant, bin's nie gewesen.«
In jedem andern Falle hätte ich diesen Grund der Abweisung bei einem Manne, der so viel Gewicht darauf legte, nur einfacher Handwerker zu sein, erklärlich gefunden; hier war er jedenfalls nur vorgeschoben. Das gab auch der Beamte zu verstehen. Lange blieb fest. »Gewissen Leuten wird's schwer,« knurrte er, »an den Schuster Lange zu schreiben, und von denen will ich mich am wenigsten Fabrikant schimpfen lassen. Sie wissen, was ich bin, und sie nennen mich nicht meinetwegen, sondern ihretwegen mit einem Titel, der ihnen besser klingt. Das sollen sie bleiben lassen!«
»Mich geht's nichts an«, meinte der Briefträger achselzuckend. »Aber an Sie ist nun einmal das Poststück, und wenn Sie's nicht haben wollen, reist es mit der Aufschrift zurück: ›Adressat verweigert die Annahme.‹ Wollen Sie das?«
Meister Lange nickte mit dem Kopfe, der mir heute viel eckiger vorkam als sonst, und winkte zugleich mit der Hand, daß die Sache abgetan sei. Der Postbeamte entfernte sich.
»Man meldet Ihnen den Tod eines Bekannten?« fragte ich nach einer Weile, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen.
»Meines Bruders«, antwortete er noch in derselben verbitterten Stimmung.
»Ihres Bruders?« rief ich überrascht und sehr unangenehm berührt.
»Freilich! Wir haben Vater und Mutter gemeinsam gehabt – sonst nicht gerade viel mehr auf der Welt. Seit vierzig Jahren kennen wir einander nicht. Nun weiß ich doch wenigstens, daß er gestorben ist und eine Witwe hinterläßt.«
Er lachte recht eisig, daß mich's fröstelte. Ich erkannte ihn kaum noch wieder, wie er das große Zuschneidemesser zur Hand nahm und das Stück Leder zerfetzte, das zufällig auf dem Tische lag. Es schien mir nicht angemessen, durch Fragen etwas aus ihm herauszuholen. Augenscheinlich handelte es sich um ein schweres Familienzerwürfnis, das ihm großen Kummer bereitet hatte. Ich stand auf und nahm meinen Hut; er bemerkte es nicht einmal.
»Also tot – mein Bruder tot«, murmelte er vor sich hin, einen Lederfetzen abreißend und in eine Ecke schleudernd. »Sterben müssen wir doch alle einmal. Als ob das etwas so Besonderes wäre, daß darüber nach so langen Jahren noch ein Brief geschrieben werden mußte! Freilich nicht geschrieben, nur gedruckt und die Aufschrift von irgendwem. Abgetan!«
Wieder flog ein Lederfetzen quer über die Stube. Ich legte meine Hand auf die seinige und sagte: »Adieu!«
Er sah mich überrascht an, als wäre ich jetzt erst gekommen, nickte mechanisch und ließ mich gehen, ohne mich zu begleiten.
»Wie leicht man sich in Menschen täuschen kann!« brummte ich mir vor, als ich langsam durch die kleine Schustergasse schritt. »Die rohe Natur bricht also doch durch. Sieht man einen zehn und zwanzigmal und er bleibt sich immer gleich, so meint man ihn ganz sicher zu haben, und es ist doch ein Irrtum. Man hat ihn eben nur zehn und zwanzigmal von derselben Seite gesehen.«
Einige Tage später fand ich in einer auswärtigen Zeitung, die mir zufällig in die Hand kam, den Tod eines Geheimen Regierungsrats Erhard Lange in B. angezeigt. Sollte der –? Ich mußte unwillkürlich an meinen Meister Lange und die letzte unangenehme Begegnung mit ihm denken. Aber Geheimer Regierungsrat –? Das hätte freilich vieles erklären können.
Ich sollte nicht lange darüber ungewiß bleiben. Eine Woche später erhielt ich einen gar nicht übelgeschriebenen Brief, in dem der Meister etwas wehmütig um Entschuldigung wegen seines auffallenden Benehmens bat.
»Wenn Sie aber verstehen wollen,« hieß es dann weiter, »weshalb ich in jenem schweren Augenblicke alle vernünftige Besinnung verlor, so müssen Sie freilich vieles wissen, was vorhergegangen ist; denn im menschlichen Leben folgt immer eins aus dem andern, und wer nicht auf den Anfang zurückgeht, findet lauter Rätsel. Darum möchte ich Sie nun um die gütige Erlaubnis bitten, Ihnen aus meinem Leben erzählen zu dürfen. Es mag an sich kaum des Erzählens wert sein; aber es hängt doch etwas an mir, wovon sonst Leute meines Schlages nichts zu wissen pflegen, und wenn ich's recht bedenke, so steckt darin allein der Grund von allem, was Ihnen an mir gefällt und mißfällt.« Er schloß mit der Bitte, ihm am nächsten Sonntag »nicht wieder vorbeizugehen«.
Natürlich ließ ich ihn nicht vergeblich warten.
»Hier sind wir ganz ungestört,« sagte er, als er mich auf dem Sofa seines Putzzimmers sitzen hatte, »und auch aus anderen Gründen ist's hier am besten zu dem, was ich vorhabe. Dieses Zimmer fand ich schon ungefähr so vor, wie Sie's jetzt noch sehen – nur die Bilder hab' ich eingebracht.«
Er zeigte mit der Hand auf das Ölbild über dem Sofa hin. »Der dort war mein Vater«, erklärte er.
»Ihr Vater?«
Er sah eine geraume Weile auf das Bild hin, als ob er auch mir Zeit lassen wollte, eine bisher nur oberflächliche Bekanntschaft zu vertiefen; sein eckiges Gesicht nahm mehr und mehr einen zärtlichen Ausdruck an. »Mein Vater!« wiederholte er, eine Träne aus dem Augenwinkel fortwischend. »O, er war ein Ehrenmann,« fügte er hinzu, »ein Mann aus einem Stück, wie es deren jetzt nicht mehr viele auf der Welt gibt, und das Eiserne Kreuz, das Sie auf seiner Brust sehen, hatte er sich im Befreiungskriege erworben, in den er als Kandidat zog. Kein Würdigerer konnte es tragen. Über alles ging ihm die Pflicht, und er ist zwar arm gestorben, aber gesegnet von Tausenden, denen er ein geistiger Vater geworden war.«
Er nickte dem Bilde freundlich zu, und dann sah er zur Erde und sammelte still seine Gedanken. »Vielleicht keinem hat er so weh getan, als mir,« fuhr er fort, »aber auch das geschah in bester Meinung, und wenn ich's zu einer Zeit nicht einsehen wollte, so war daran die menschliche Schwäche schuld, die ja so oft im Leiden ungerecht macht. Auch ich segne sein Andenken.«
»Ich stamme also aus guter Familie,« begann er wieder nach einer Pause in verändertem Ton; »daß aus mir nichts als ein Schuster geworden ist, kann wohl auffallen. Wie die Leute nun einmal über dergleichen denken, werden sie sagen: Der Gotthilf Lange hat wahrscheinlich in der Jugend nicht viel Gutes getan, daß man ihn ausgestoßen hat; er hat ein Handwerk lernen müssen, weil er sonst zu nichts taugte. So war's aber nicht, sondern es hatte andere Gründe, daß ich so zu kurz kam. Ich war nämlich das achte Kind, und noch nicht einmal das jüngste.
Mein Vater hatte, als er aus dem Kriege zurückgekommen war, so schnell als möglich seine Studien vollendet und eine Pfarrstelle auf dem Lande angenommen, um seine Braut bald heimführen zu können. Die Stelle war wenig einträglich, aber sie wurde ihm der Menschen wegen lieb, die seiner bedurften. Er traute die Paare, taufte die Kinder, geleitete die Alten zum Grabe, war in jedem Hause Freund und Ratgeber, Schiedsrichter bei allen Streitigkeiten, Fürsprecher in jeder Not. Man bot ihm wiederholt eine bessere Pfründe an; aber er antwortete immer, ein Geistlicher solle nicht aus selbstsüchtigen Gründen wechseln, als sei das Amt nur seinetwegen da und das Einkommen die Hauptsache. Zuletzt gewöhnte man sich eben daran, ihn für abgefunden zu betrachten. Weltklug hatte mein Vater nicht gehandelt, das ist gewiß. Er hatte nicht daran gedacht, daß seine Bedürfnisse ganz natürlich mit der Zeit wachsen müßten und daß ihm dann alle seine guten Werke nicht helfen würden, die Not des Lebens zu überwinden. Aber das war ja doch wieder sein Achtungswertestes, daß er an so etwas nicht dachte, sondern seinen Weg geradeaus ging auf ein Ziel hin, das über dem gemeinen Irdischen stand. Wenn er sagte: Gott wird helfen, so rührte er zugleich doppelt tätig die eigenen Hände. Die Familie vermehrte sich schnell. Vier Söhne und drei Töchter wurden vor mir geboren, und mir folgte noch ein Bruder und ein Schwesterchen. Wir alle wollten genährt und gekleidet, vor allem aber auch erzogen sein. Er unterrichtete mit Eifer die Knaben selbst, nahm dann zu seiner Unterstützung einen tüchtigen Hauslehrer zu sich, brachte die älteren Söhne nach der Gymnasialstadt in Pension und darbte sich das Brot vom Munde ab, um sie zu fördern. Ich glaube, sie haben sich niemals sonderlich den Kopf darüber zerbrochen, welche Opfer der Gute ihnen brachte.
Als ich heranwuchs, waren die Mittel des Haushaltes schon so geschwächt, daß der Lehrer entlassen werden mußte. Den drei Mädchen wurde eine Gouvernante gehalten. Sie unterrichtete auch mich, solange es ging. Dann nahm sich mein Vater freilich auch meiner an, aber er war schon müde von seinem langjährigen Präzeptoramt, und die täglichen Sorgen schwächten noch mehr seine Kraft. Ich lernte fleißig, aber unregelmäßig, trieb mich viel im Wald und Feld umher, trug die abgelegten Kleider meiner Brüder gänzlich auf und ging wohl auch im Sommer barfuß, wie die andern Dorfkinder. Dabei blieb ich aber doch des Herrn Pfarrers Sohn in meinen eigenen Gedanken und nach der Schätzung aller übrigen. Nur wenn meine Brüder zu Ferien heim kamen, schämte ich mich, daß sie so viel mehr wußten und so viel besser gekleidet waren als ich, und ich wagte nicht, meinen ältesten Bruder beim Vater zu verklagen, wenn er mich einen Bauerlümmel nannte, wozu er sehr geneigt war. Schon in meinem vierzehnten Jahre ging ich zum Konfirmandenunterricht. Nach der Einsegnung nahm mich mein Vater auf sein Zimmer und eröffnete mir, daß er ein ernstes Wort mit mir zu sprechen habe. Ich vergesse diese Stunde nicht.
Er stellte mich vor sich hin und legte seine Hand auf meine Schulter.
›Gotthilf!‹ sagte mein guter Vater, ›ich habe alle meine Kinder gleich lieb, und ich wünschte, ich könnte ihnen das auch durch gleiche Zuwendungen aus meinem Vermögen beweisen. Aber ich bin mit zeitlichen Gütern wenig gesegnet und meine Kraft ist erschöpft. Deine Brüder können ohne meine Unterstützung nicht bestehen; hoffentlich kommen sie durch dieselbe so weit, daß sie einmal der Mutter und den Schwestern beistehen können, wenn ich unter dem grünen Rasen liege. Erhard hat, wie du weißt, die Rechte studiert und arbeitet als Referendar unentgeltlich. Hugo ist Philologe und erwirbt zurzeit nur wenig durch Unterrichten. Franz ist beim Militär ein getreten und braucht erhebliche Zuschüsse, um sich zum Offizierexamen vorzubereiten. Nur Emil, der die Landwirtschaft erlernt, hat durch besondere Begünstigung eine Stelle erhalten, die ihn notdürftig nährt. Dir, mein Sohn, kann ich keine weitere Schulbildung zukommen lassen; du wirst sie aber auch nicht brauchen, denn ich habe dich für ein Handwerk bestimmt.‹
Ich hatte dergleichen Eröffnungen nicht erwartet, aber sie überraschten mich gleichwohl wenig. Daß meine Eltern mit großen Sorgen kämpften, sah ich ja täglich. Aus den Büchern machte ich mir nicht viel. Ein Handwerk freilich – daran hatte ich bisher nicht gedacht. Ich dachte auch jetzt nicht darüber nach, was ich davon zu erwarten habe, und antwortete, daß ich meinem lieben Vater gern die Entscheidung über mich anvertraue.
Mein Vater strich mir die Haare von der Stirn und küßte mich freundlich. ›Wir können nicht alle studierte Leute sein,‹ fuhr er fort; ›die menschliche Gesellschaft ist vielgestaltig und braucht in allen Berufszweigen tüchtige Kräfte, um ihre höchste Aufgabe zu erfüllen. Nicht ob jemand Beamter, Soldat, Lehrer, Kaufmann, Landwirt, Handwerker oder Tagelöhner ist, sondern ob er ein rechtschaffener, gewissenhafter, pflichttreuer Mensch ist – ob er an seinem Platze steht und nach seinem besten Wissen und Können sein Scherflein dazu beiträgt, uns das Gottesreich auf Erden näher zu bringen, darauf kommt es an. Wir Menschen sollen alle Brüder sein, hoch und gering, arm und reich, Gelehrt und Ungelehrt. Darum ist es gut, wenn in den Familien selbst zunächst unter leiblichen Brüdern jeder Unterschied des Standes aufgehoben wird. Handwerk, sagt man, hat einen goldenen Boden, und es will wirklich etwas bedeuten, ganz selbständig und unabhängig zu sein und in jedem Lande, in jeder Umgebung von Menschen sich nützlich machen und sein Brot verdienen zu können. Wähle dir also das Handwerk, das du erlernen willst, und es wird mein Bemühen sein, dich einem braven Meister zuzuführen.‹
Damit entließ er mich, und ich hatte nun Zeit, mich in der Welt nach dem Platze umzuschauen, auf den ich gestellt sein wollte. Meine Welt war damals aber sehr klein; sie reichte wenig über das Dorf hinaus, in dem ich geboren war, und wo ich freilich alle Leute gut kannte. Ich überlegte hin und her und konnte doch mit mir nicht ins reine kommen; an das Wichtigste bei der Wahl eines Berufes dachte ich gewiß zuletzt, oder gar nicht. Ich fragte auch meine Mutter um Rat, aber sie weinte nur und sagte: ›Ich kann nicht entgegen sein. Gott mag es zum besten wenden!‹ Ich verstand nicht, was sie kümmerte, und ich tröstete sie damit, daß ich ein guter Mensch werden und allezeit meines Vaters Beispiel vor Augen haben wolle, den alle liebten und ehrten.
Nun war ich ganz auf mich gestellt. Ich sah mich also im Dorfe um, was es da für Handwerker gebe. Der Vornehmste war der Müller; dann kamen der Bäcker, der Schmied und endlich der Schneider, die mir indessen alle keine sonderliche Ehrfurcht abnötigten. Aber der Schuster Fröse – vor dessen Knieriemen hatte die Dorfjugend Respekt. Er war des Schullehrers Bruder und in seiner Weise selbst ein Gelehrter, denn er hatte auf der Wanderschaft viel gesehen und erfahren und wußte den Bauern allemal guten Rat zu geben. Er war auch Kirchenvorsteher und Einsammler von Abgaben, ging Sonntags immer mit einem großen Rohrstock und sang in der Kirche so laut und sicher, als ob die Orgel nur zum Vergnügen des Organisten gespielt würde. Der war mein Mann.
Wenn ich ganz aufrichtig sein soll, so waren es aber hauptsächlich zwei andere Gründe, die meine kindischen Gedanken ihm ganz besonders geneigt machten. Ich mußte, wie ich schon erzählt habe, mitunter barfuß gehen, und wenn ich mich dessen auch nicht gerade schämte, so hatte ich doch allemal das peinliche Gefühl, ein recht armer Junge zu sein. Nach meiner Schätzung fehlte mir nie etwas, außer mitunter ein Paar Stiefel. Und nun schien es mir recht tröstlich, daß ich als Schuhmacher daran nie Not leiden würde. Aber es kam auch noch etwas anderes dazu. Meister Fröse hatte an seinem Fenster, um das sich im Sommer wilder Wein rankte, ein großes grünes Bauer angebracht, in dem sich ein Star befand, der prächtig pfeifen und auch einige Worte sprechen konnte. In anderen kleineren Bauern hielt er Kanarienvögel und Zeisige, und wenn man vorüberging, klang es so lustig, wie die Vögel pfiffen und sangen und der Meister dazu hämmerte und klopfte. Er war immer munter und guter Dinge, ließ den Star sprechen, wenn ich ans Fenster trat, und trällerte die allerschönsten Lieder, von denen sonst kein Mensch im Dorfe etwas wußte. Dem muß es gut gehen, dachte ich, daß er noch genug für alle die kleinen Tiere hat und immer so lustig fingen kann. Mein Entschluß war gefaßt. Er schien meinem Vater nicht sonderlich zu gefallen, aber er widersprach nicht. Schon am nächsten Tage nahm ich von meiner Mutter beweglichen Abschied und fuhr mit ihm nach der großen Stadt. Ich kam zu einem Meister, der nicht Vogelbauer am Fenster hängen, aber in der Werkstätte viele Gesellen sitzen hatte. Mein Vater ermahnte mich zu Fleiß und Gottesfurcht, und daß ich immer meinem Stande Ehre machen möchte. – Und so bin ich ein Schuhmacher geworden, lieber Herr.
Ich erzähle nicht im einzelnen, wie es mir in der Lehre erging. Meister und Gesellen waren im ganzen freundlich gegen mich; sie honorierten ›des Pfarrers Sohn‹. Sehr bald kam ich aber dahinter, daß ich an Bildung allen weit voraus war. Nicht daß ich gerade sehr viel mehr gewußt hätte als sie, aber ich sah doch alle Dinge anders an und fand wenig Gefallen an dem, was sie ergötzte, und suchte mir dafür in allen Freistunden wieder eine Beschäftigung, die sie verlachten. Manchmal überkam es mich wie Furcht, daß ich mein ganzes Leben lang in diesem Kreise von Menschen zubringen sollte, die ich nicht verstand und die mich nicht verstanden; dann träumte ich mich in das Pfarrhaus zurück und in meines Vaters Studierstube, und seine Büchergestelle kamen mir nun so ehrwürdig vor, und die Federn auf seinem Schreibzeuge winkten so geheimnisvoll mit den weißen Fahnen – – da so ganz allein im Lehnstuhl sitzen können und denken und schreiben und lesen –!
Solche Anfechtungen gingen vorüber. Ich lernte geduldig meine drei Jahre aus, wurde feierlich als Gesell freigesprochen und arbeitete bei meinem Lehrherrn noch längere Zeit gegen Lohn. Es war mein Stolz, daß ich meinem Vater nicht zur Plage gewesen war. Ich schickte ihm ein Paar Pantoffeln von meiner eigenen Arbeit und erhielt dafür eine Einladung nach Hause. Wie ein echter Handwerksbursch reiste ich zu Fuß, das Ränzel auf dem Rücken, band ein rotes Taschentuch an meinen Stock, als ich ins Heimatsdorf einrückte, und sprach im Vorbeigehen beim Meister Fröse an, als ob ich fechten wolle. Bald war die Dorfjugend um mich her und geleitete mich mit Gesang bis zum Pfarrhofe.
Mein Vater empfing mich an der Tür mit sehr ernstem Gesicht. Ich hätte wohl mehr Rücksicht auf ihn nehmen können, warf er mir vor. Die Mutter wunderte sich, daß ich so groß und stark geworden. ›Er sieht gar nicht aus wie ein Schuhmacher,‹ sagte sie wie zu meinem Lobe, ›nur die Hände verraten ihn.‹ Das fand ich nun auch und versteckte seitdem gern meine Hände, besonders vor Fremden. Meine Schwestern begegneten mir nicht so herzlich und zutraulich, als ich's nach unserem früheren guten Verhältnis erwarten durfte. Es kam mir so vor, als ob sie sich immer bemühten zu zeigen – namentlich in Gegenwart des Vaters – daß sie in mir einen Bruder sähen. Ich fühlte, daß ich im Vaterhause fremd geworden war und nicht recht heimisch werden konnte. Es mochte auch an mir selbst liegen. Immer kam es mir auf die Lippen, ›Herr Vater‹ und ›Frau Mutter‹ zu sagen, und in den ersten Tagen konnte ich nicht ins Zimmer treten, ohne anzuklopfen. Was ich aus der Handwerkerstube erzählte, nach meiner Meinung ganz ernste und interessante Dinge, belustigte oder langweilte meine Umgebung; die Lieder, die ich gelernt hatte, sollte ich nicht singen, weil die Dienstboten lachten. Ich merkte, daß etwas mit mir vorgegangen sein müßte, worüber ich wohl Grund hätte traurig zu sein, ich wußte nur noch immer nicht recht, was.
Zum Unglück kam auch mein zweiter Bruder zum Besuch. Er war Rektor an einer Stadtschule geworden, hatte die Tochter des Bürgermeisters geheiratet und stellte seine junge Frau nun den Eltern vor. Daß er mich fand, war ihm keine angenehme Überraschung. Er hatte mich schon als Gymnasiast immer etwas hochmütig über die Achsel angesehen; nun las ich es ihm vom Gesicht ab, wie schwer er es überwand, als mein Vater mich seiner Frau als einen Schwager vorstellte und sogleich hinzufügte, daß ich ein braver Schuhmacher sei. ›Du hast mir ja von diesem Bruder nie gesprochen‹, wandte sie sich übereilt zu ihrem Mann. Es war mir ein Stich durchs Herz. ›Wirklich?‹ fragte er mit einem etwas verlegenen Seitenblick auf den Vater, und sie wurde blutrot. ›Wenn man so viele Geschwister hat‹ – entschuldigte er. Ich fühlte, daß mir das Wasser in die Augen kam, kehrte mich ab und ging hinaus.
Es gab nun öfters Gesellschaft im Pfarrhause zu Ehren des jungen Paars, und ebenso kamen Einladungen auf benachbarte Güter, zum Domänenrat oder zum Oberförster. Man konnte mich im Vaterhause nicht gut übergehen, aber es gab jedesmal eine peinliche Minute, wenn ich mit den Gästen in unvermeidliche Berührung kam und Fragen und Antworten über mich hin und her gingen. Mancher finstere Blick wurde mir zugeworfen, der mich verscheuchen sollte und verscheuchte.
Nur mein Vater hielt immer treu zu mir, und das danke ich ihm im Grabe. Sein Pflichtgefühl ließ die Zurücksetzung eines seiner Kinder nicht zu, und die Strenge, mit der er alle seine Grundsätze verfocht, nötigte ihn auch, offen für den auf mich angewendeten einzutreten. Freilich konnte er dadurch nicht hindern, daß man mich heimlich beiseite schob, wenn Besuche erwidert werden sollten; dann war gewöhnlich kein Platz im Wagen, oder es mußte jemand zur Beaufsichtigung einer ländlichen Arbeit zu Hause bleiben, oder es gab ein Tanzvergnügen, bei dem ich mich doch nur entsetzlich langweilen würde, und was man sonst vorzubringen hatte. Ich wußte es damals nicht, aber jetzt weiß ich's, weshalb mein Vater eines Tages, als sich wieder jeder Platz schon besetzt fand, selbst vom Wagen sprang und mich hinaufnötigte. Nun rückten sofort die übrigen zusammen; aber er ging ins Haus und gab dem Kutscher einen Wink abzufahren. Man war sehr still und verstimmt während der Fahrt. Es kam noch schlimmer.
Bald darauf wurden im Pfarrhause einige Gutsbesitzerfamilien erwartet. Meine Schwester Charlotte kam diesmal selbst in mein Dachstübchen hinauf, wo ich in meiner Gutmütigkeit eine kleine Werkstätte zum Hausgebrauch eingerichtet hatte, um mir's anzukündigen. ›Ich denke, du machst dir aus dergleichen Gesellschaften gar nichts, Gotthilf?‹ holte sie mich aus; ›du siehst immer so gelangweilt aus.‹ Das mußte ich freilich bestätigen, aber ich setzte doch hinzu: ›Ihr kümmert euch auch so wenig um mich: es sieht fast aus, als ob ich euch im Wege wäre.‹ Sie schlug die Augen nieder und lächelte verlegen. ›Weißt du, Gotthilf,‹ sagte sie nach einer Weile, ›du könntest mir einmal eine rechte Liebe erweisen.‹ – ›Gern!‹ versicherte ich ganz arglos, ›wie das?‹ – ›Geh' heute abend aus,‹ antwortete sie, ›oder komm nicht herunter! Aber du mußt einen triftigen Grund dafür erdenken, sonst nimmt's der Vater übel.‹ – Ich mochte sie wohl sehr verblüfft angesehen haben, denn sie erläuterte sogleich selbst: ›In Dietrichsfelde ist der Bruder der Frau zum Besuch, ein Herr von Tannstein, früher Kavallerieoffizier und jetzt Landwirt; er bemüht sich sehr auffallend um mich – und es könnte sich wohl mit der Zeit etwas ereignen, wenn – – ich bitte dich, Gotthilf, bleibe heute fort!‹ – Ich verstand sie jetzt. ›Schämst du dich meiner?‹ rief ich ihr mit zitternder Stimme zu. – ›Ach, schämen,‹ rief sie aus, ›du bist ja mein Bruder, aber wenn er hört, daß du Schuhmacher – – du darfst mir das nicht übelnehmen, aber bedenke doch: ein Herr von Adel und früherer Offizier – und es wäre doch ein großes Glück für uns alle – meinst du nicht auch?‹ – Ich nickte zustimmend, ohne selbst zu wissen, daß ich's tat. ›Mir ist heut' nicht wohl,‹ würgte ich mühsam heraus, ›sage das nur unten!‹ Sie dankte mir für meine Nachgiebigkeit und verließ mich offenbar sehr beruhigt.
Ich aber blieb zurück in traurigster Stimmung. Ich lachte laut auf, und gleich darauf stürzten mir die Tränen aus den Augen. Gallenbitter drängte sich's mir von der Brust herauf und legte sich's auf meine Zunge. Ich konnte meiner Schwester nicht einmal zürnen – sie hatte ja ganz recht und sorgte nur sehr menschlich erst für sich. Aber meinem guten Vater warf ich vor, daß er mich weniger geliebt hätte als meine Brüder, daß er unväterlich an mir gehandelt. Meines Bleibens in seinem Hause durfte nicht länger sein.
Als es dunkelte, schnürte ich mein Ränzel, nahm meinen Wanderstock und ging ohne Abschied durch eine Seitenpforte hinaus, auf die niemand achtete. Meine Schwester spielte im großen Zimmer Klavier und sang ein schwärmerisches Lied dazu. Herr von Tannstein hörte wahrscheinlich zu – es hing ein Paletot mit rotem Kragen und blanken Knöpfen im Hausflur. Ich stürmte fort durch das Dorf zur Chaussee, und dann weiter, Meilen und Meilen die ganze Nacht durch. Am dritten Tage schrieb ich an meinen Vater einen Brief. Ihm die volle Wahrheit zu sagen, konnte ich mich nun doch nicht überwinden; sie hätte ihn zu schwer gekränkt. Ich wäre schon zu lange als Gast in seinem Hause geblieben, schrieb ich, und möge den Meinigen nicht länger zur Last fallen. Ein junger Handwerker gehöre auf die Wanderschaft, und es sei längst mein Entschluß gewesen, in die Fremde zu gehen. Daß ich ihm und der Mutter nicht Lebewohl gesagt, möge er verzeihen und nach meinen Gründen nicht fragen. Wenn mir's in der weiten Welt gut gehe, werde ich von mir Nachricht geben.
Und so sprach ich denn bei meinem Meister nur an, um mich von ihm zu verabschieden, wie sich's nach Handwerksgebrauch und Gewohnheit geziemte, und wanderte in die weite Welt hinaus. Ich sah viele Städte und lernte mancherlei Menschen kennen, fand überall Arbeit, blieb aber nirgends länger, als bis ich mir den nötigen Wandergroschen zur Weiterreise verdient hatte. Alles, was sich im Handwerkerstande regte und bewegte, beobachtete ich genau und wußte bald gut Bescheid. Wo ich Zeitungen und Bücher erlangen konnte, las ich sie eifrig, und da ich dann immer viel Neues wußte und über mancherlei Dinge, die meinen Arbeitsgenossen zu hoch lagen, ein Urteil abgeben konnte, war ich meist wohl gelitten. So vergingen zwei Jahre, ich wußte selbst nicht wie.
Eines Morgen früh zog ich, das Ränzel auf dem Rücken und den Wanderstab in der Hand, in eine am schönen Rhein gelegene Stadt ein. Der erste, der mir begegnete, war ein Offizier, der mit seiner Mannschaft zum Scheibenschießen ausrückte. Ich erkannte aus den ersten Blick meinen Bruder Franz, und die Überraschung machte, daß ich stehen blieb und laut seinen Namen rief. Er sah sich nach mir um, musterte mich etwas verwundert, kehrte sich dann aber sofort wieder zu seiner Truppe zurück und marschierte weiter. Will er dich nicht kennen? dachte ich – oder hast du dich wirklich so ganz verändert? Kann schon sein; ich war noch ein halbes Kind, als wir uns zuletzt sahen. Nachdenklich ging ich zur Herberge und nahm dort vorläufig Quartier. Gegen Abend kam ein Soldat und brachte einen Brief an mich. Mein Bruder schrieb mir, ich möchte ihn besuchen, er wohne da und da und werde auf mich warten. Erkannt hatte er mich also doch – wahrscheinlich hinderte ihn der Dienst, mich auf der Straße zu begrüßen.
Franz war mir von meinen Brüdern immer der liebste gewesen. Mehrere Jahre älter, als ich, hatte er doch mit mir noch längere Zeit zusammen im elterlichen Hause verlebt und sich immer als meinen Freund und Beschützer erwiesen. Er war eine heitere, gerade Natur, zu dummen Streichen aufgelegt, unvorsichtig, manchmal etwas leichtsinnig, aber immer gutmütig und freigebig. Er hatte, wie ich wußte, dem Vater die meiste Sorge gemacht, und es freute mich nun, daß er's doch glücklich bis zum Offizier gebracht hatte. Er empfing mich aufs freundlichste, küßte mich rechts und links und teilte mit mir sein Abendbrot, zu dem auch eine Flasche Wein gehörte. Er ließ sich viel von meinen Fahrten und Erlebnissen erzählen und lachte munter, wenn ich berichtete, wie ich mich da und dort durchgeschlagen hätte. Wir kamen natürlich auch auf die Heimat zu sprechen, und da meinte er: ›An uns beiden hat der Vater eigentlich nicht recht gehandelt, Gotthilf; an dir nicht, weil er dich Schuster, an mir nicht, weil er mich Offizier werden ließ.‹ Das überraschte mich; ich meinte, er hätte ja wohl allen Grund, mit seinem Schicksale zufrieden zu sein. Er lachte und goß ein Glas Wein herunter. ›Es ist ein glänzendes Elend, Kind,‹ sagte er, ›glaube mir. Ja, wenn man Vermögen hat oder reichlichen Zuschuß vom Hause –! Aber so ganz auf sich angewiesen – man verbraucht mindestens das Doppelte von dem, was man hat, um nur anständig zu leben, und hat dann natürlich schon als Leutnant Schulden wie ein Major. So wird denn immer ein Loch im Beutel zugeflickt, und nebenbei ein größeres aufgerissen; und klagt einmal so eine Bestie von Blutsauger auf einen verfallenen Ehrenschein, so ist's mit aller Herrlichkeit zu Ende. Da ist's nicht leicht, seinen guten Humor zu behalten, und ohne den wäre doch gar nicht zu leben. Dabei ewige Rücksichten auf den Rock, den man trägt!‹ – ›Wie das?‹ fragte ich, da er mich bei diesen letzten Worten so eigen von der Seite betrachtete. – ›,Wie das?‹ wiederholte er lustig. ›Was meinst du zum Beispiel, Gotthilf, wie sich's machte, wenn ein Kamerad dem Burschen draußen nicht glaubte, daß ich heute abend nicht zu Hause sei, und bei mir einträte und dich auf meinem Sofa sitzen sähe – hm? Und wenn ich dich dann vorstellte: Mein Bruder, der Schuhmachergesell Gotthilf Lange, auf der Wanderschaft angesprochen – hm?‹ Ich wurde bleich wie die Wand und stand auf. Franz zog mich auf das Sofa zurück. ›Überleg's vernünftig!‹sagte er ernster, ›ich kann nicht, wie ich will – mein Stand zehrt an mir. Du bist mein Bruder und wahrhaftig! ich habe dich lieb, lieber als den Regierungsassessor, der ein ehrgeiziger und engherziger Bureaumensch geworden ist, und als den Rektor, der keinen für Gottes Geschöpf ansieht, mit dem er nicht Lateinisch sprechen kann – aber was hilft das? Über gewisse Dummheiten kann ich nicht fort; einen Bruder, der Schuhmachergesell ist, darf ich nicht haben, und wenn ich ihn doch einmal habe, darf ich nichts von ihm wissen. Deshalb tu mir den Gefallen und kenne mich auf der Straße nicht, besuche mich auch nicht, außer wenn ich dich rufen lasse, und wenn du uns beiden am besten dienen willst –‹ Er stockte; ich aber schloß den Satz: ›so geh' möglichst bald deiner Wege!‹ Franz sah mich treuherzig an und nickte. ›So ist's,‹ bestätigte er, ›dumm genug, aber ich kann's nichts ändern. Wenn du Geld brauchst, ich will mit dir teilen, was ich habe; ob ich bis zum zehnten oder fünfzehnten reiche, ist sehr gleichgültig. Nimm, so viel du brauchst, meinetwegen auch das Ganze.‹ Er griff in die Tasche und warf eine Geldbörse auf den Tisch. Ich schob sie eilig zurück. ›Es fehlt mir nicht daran,‹ versicherte ich, schroff ablehnend. Es war eine Lüge, aber wenn ich am nächsten Tage meinen Rock hätte verkaufen müssen, von meinem Bruder würde ich keinen Pfennig angenommen haben.
Der Wein schmeckte mir nicht mehr. Ich sagte, daß ich sehr müde sei, reichte Franz die Hand und ging. Ich wußte, daß wir uns nicht wieder sehen würden. Wir haben uns nicht wieder gesehen.
Ich nahm in der nächsten Stadt Arbeit und wanderte dann weiter über die deutsche Grenze nach Belgien und sogar nach Frankreich hinein. Was ein Schuhmacher in der Fremde lernen konnte, das lernte ich. Dabei dachte ich nun unaufhörlich darauf, wie ich mir weiter helfen könnte über das gewöhnliche Ziel eines kleinen Handwerkers hinaus. Es kränkte mich, daß ich der Familie anhängen sollte wie eine verkrüppelte Frucht, die man am liebsten abschüttelte. Mir schwebte damals immer eine Fabrik vor mit breitem Schaufenster und großem Laden; ich dirigierte das ganze Geschäft von einem Kontor aus, führte die Bücher, korrespondierte, beschäftigte auswärts meine Arbeiter und hielt meine Kommis und Ladenmädchen; ich nannte mich einen Fabrikanten und Kaufmann, bezog eine stattliche Wohnung und konnte meinen Brüdern schreiben, daß ich mit ihnen nicht tauschen möchte. Man hat Zeit, sich dergleichen auszumalen, wenn man auf dem Schusterschemel sitzt und einen Nagel nach dem andern in die Sohle klopft. Es fehlte ja nur noch das Anlagekapital, nichts weiter.
Aus Paris, wo ich mich über ein Jahr aufhielt und wirklich einen Teil meines Verdienstes beiseite legen konnte, schrieb ich nach Hause. Ich sehnte mich schon lange, wieder einmal eine Nachricht von dort zu erhalten. Sie blieb auch nicht aus, versetzte mich aber in die größte Betrübnis. Mein guter Vater war gestorben und meine Mutter mit den unversorgten Töchtern in großer Bedrängnis zurückgeblieben. Meine Schwester schrieb, der Vater habe schon seit Jahren gekränkelt, etwa von da ab, wo ich ohne Abschied fortgegangen sei, worüber er sich am andern Tage sehr erschreckt gehabt habe. Sie hätten ihn seitdem nur noch selten froh gesehen; seine Sorgen und Bekümmernisse seien zu groß gewesen. Ich packte sogleich die Hälfte meiner Ersparnisse ein und schickte sie der Mutter. In Jahr und Tag würde ich zu Hause eintreffen, schrieb ich dazu, und sehen, ob ich den Meinigen nützlich sein könnte.
Es zog mich nun wirklich nach Hause zu meiner armen Mutter, zu meiner Schwester, vor allem zu meines Vaters Grab. Und so beschloß ich, langsam, aber auf dem geradesten Wege zurückzuwandern Ich könnte ja, meinte ich, hinterher wieder in die Welt hinaus.
Es sollte mir noch etwas begegnen, worauf ich nicht gefaßt war. Ich möchte am liebsten rasch darüber hinwegeilen, lieber Herr; aber es ist Ihnen doch vielleicht die Hauptsache, und in der Tat, man muß es wissen, wenn man verstehen will, warum ich so und so handelte. Schon weit nach Deutschland hineingelangt, erkrankte ich an einem Fieber und konnte nur mit der allergrößten Anstrengung meinen Marsch noch einige Tage fortsetzen. Meine Geldmittel gingen bald aus, und arbeiten konnte ich nicht. Ich befand mich bald in der traurigsten Lage und sah mein Elend vor Augen, wenn nicht schnell geholfen wurde. Endlich erreichte ich, nur noch am Stocke mühsam fortschleichend, eine große Stadt, sank auf der Straße zusammen und wurde von mitleidigen Menschen in das Krankenhaus geschafft.
Hier vernahm man mich sorgfältig zu Protokoll. Ich mußte angeben, wo ich zu Hause sei, die Namen meines Vaters, meiner Mutter, meiner Geschwister nennen. Man schien sich über meine Angaben nicht wenig zu wundern.
›Wie kommen Sie zu dieser Verwandtschaft?‹ fragte der Oberarzt, ›oder wenn sie richtig ist, wie kommen Sie zu diesem Wanderbuch?‹ – Ich verstand ihn nicht. – ›Sie sind also eines Pfarrers Sohn?‹ fragte er im Tone eines Inquirenten. – Ich bejahte es nochmals. – ›Und längere Zeit in Frankreich gewesen?‹ – Ich wies auf die Bescheinigung im Wanderbuche hin. – ›Als Schumachergesell?‹ – Er fixierte mich scharf. – ›Darf ich einmal Ihr Ränzel untersuchen?‹ – Er wartete nicht meine Erlaubnis ab, sondern löste die Riemen und faßte hinein. Mir fiel ein, daß ich eine Anzahl französischer Broschüren über allerhand soziale Fragen, wie sie unter den dortigen Arbeitern umzulaufen pflegten, und auch verbotene Lieder, die man in den Werkstätten sang, gesammelt und als Merkwürdigkeiten aus der Fremde mit über die Grenze genommen hatte. Dergleichen war zu jener politisch so traurigen Zeit in Deutschland streng verpönt, und ich mochte wohl ein sehr erschrecktes Gesicht gemacht haben, als diese Blätter zum Vorschein kamen. – ›Ah, was ist denn das?‹ rief der Arzt. ›Dachte ich's doch gleich! Ja, es kommt jetzt mancher in der unschuldigen Handwerkerbluse über die Grenze, der geheime Absichten hat. Gestehen Sie nur lieber gleich, von welcher Universität Sie relegiert sind, damit es nicht unnützes Geschreibe gibt!‹ – Ich blieb, wennschon etwas verschüchtert, bei meinen Angaben. – ›Und Sie haben wirklich einen Bruder, der Erhard Lange heißt und Regierungsassessor ist?‹ fragte er geärgert. ›Wo wohnt er denn?‹ – Das wußte ich nicht zu sagen. – ›Aha!‹ rief er. ›Faule Fische, Bester! Wenn ich Ihnen nun sage, daß er hier wohnt –!‹
›Hier?‹ zitterte ich aufs äußerste erschreckt.
›Hier in dieser Stadt,‹ bestätigte er, ›und daß er zurzeit den abwesenden Polizeidirektor vertritt und daß er in einer halben Stunde an Ihrem Bette stehen kann – wie dann?‹
Diese Nachricht verwirrte mich gänzlich. ›Der Name Lange ist weit verbreitet,‹ stotterte ich, ›und es wäre wohl auch möglich, daß zufällig derselbe Vorname –‹
›Zufällig, zufällig!‹ grinste er. ›Sie verzichten also gewiß darauf, dem Herrn vorgestellt zu werden?‹
– Ich nahm allen meinen Mut zusammen und sagte, daß ich die Wahrheit gesprochen habe und daß sich's ja zeigen werde, ob wir Brüder seien. Er entfernte sich nun mit den französischen Drucksachen.
Nach mehreren Stunden – es war inzwischen Abend geworden, trat der Oberarzt wieder an mein Bett. ›Ich habe den Herrn Assessor Lange gefragt, ob er einen Bruder habe, der Schuhmachergeselle ist,‹ sagte er; ›er hat es sofort aufs entschiedenste in Abrede gestellt. Ich zeigte ihm darauf Ihr Wanderbuch, und er erklärte, daß ihm ein Gotthilf Lange ganz unbekannt sei. Der Gang hierher war danach unnötig. Sie sollen ihm wegen der sehr verdächtigen politischen Broschüren vorgeführt werden, sobald Sie wieder gesund sind. Das Weitere wird sich finden.‹ Ich war so schwach, daß ich kaum seine Worte verstand und noch weniger darüber nachdenken konnte. Es mußte danach wohl ein Fremder sein, von dem er sprach.
Meine kräftige Natur half sich bei guter Pflege, an der man's nicht fehlen ließ, bald. Es schien mir, daß man mich sorgfältig bewachte. Eines Tages wurde ich für so weit genesen erklärt, daß ich ins Polizeigefängnis abgeführt werden könnte. Die dringendsten Versicherungen meiner Unschuld halfen nichts. Einer der jüngeren Assistenzärzte, ein freisinniger Mann, hatte mir einmal leise zugeraunt, daß der Oberarzt schnelle Staatskarriere machen wolle und sich durch dergleichen Polizeidienste zu empfehlen hoffe. Auch der Vertreter des Polizeidirektors sei ein sehr ehrgeiziger und auf politische Prozesse versessener Mann; es werde mir schlecht gehen, wenn ich mich nicht geschickt verteidige. Traurige Zeiten damals!
Ich verlangte, dem Herrn Assessor Lange sogleich vorgestellt zu werden. Man brachte mich in sein Zimmer und ließ mich allein. Die Broschüren lagen auf dem Schreibtische. Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür gegenüber und – mein Bruder Erhard trat ein.
Er hatte mich also schnöde verleugnet. Der Bruder hatte seinen Bruder verleugnet! Und weshalb? Um nicht bekennen zu müssen, daß der arme Handwerksbursch mit ihm Vater und Mutter teile. Franz war wenigstens ehrlich gewesen; er bewies mir, daß er von Herzen mein Bruder sei, und dann sagte er mir, daß er's vor der Welt nicht zeigen könne; es schmerzte ihn selbst, der Sklave eines jämmerlichen Vorurteils seines Standes sein zu müssen, und dieses Vorurteil, darüber blieb mir ja kein Zweifel, war wirklich vorhanden. Aber Erhard! was zwang ihn zu solcher Entwürdigung aller heiligsten Familienbande? Nichts als der elendeste Ehrgeiz, sich einem Menschen gegenüber, den er im Innersten verachten mußte, keine Blöße zu geben. Und darum ließ er den Kranken im Spital, statt ihn in sein Haus aufzunehmen; darum litt er, daß sein Bruder ins Gefängnis geführt wurde, während ein Wort ihn von jedem Verdacht befreien konnte – –! Mein Herr, noch jetzt, wenn ich daran denke, wallt mein Blut auf, zuckt mir jeder Nerv. Ich kann's nicht überwinden, selbst dem Toten kann ich's nicht verzeihen.
Wie so oft Menschen, die ihr schlechtes Gewissen verstecken wollen, fand auch er es für gut, den Angreifer zu spielen. ›So weit ist es also mit dir gekommen,‹ rief er mir entgegen, ›wie ein Vagabund ziehst du durch das Land; mit den Feinden der Gesellschaft hast du im Auslande geheime Verbindungen angeknüpft; das Gift, das sie bereiten, trägst du schamlos deinen Landsleuten zu! Und du entblödest dich nicht einmal, deine Familie zu nennen, uns in Gefahr zu bringen!‹ – Das war zuviel. ›Bube,‹ fiel ich ihm ins Wort, ›denkst du dich so zu rechtfertigen? Vor wem? Doch nicht vor dir, doch nicht vor mir? Vergiß nicht, daß unser Vater hinüber ist, und daß sein Geist dich Lügen straft vor dem Throne des Höchsten. Sprich einfach: Was willst du von mir?‹ – Er horchte unruhig nach der Tür. Man konnte vielleicht außen verstehen, was gesprochen wurde. ›Diese französischen Broschüren‹, sagte er mit leiserer Stimme, ›könnten dich in den schlimmsten Prozeß verwickeln. Ich will sie verbrennen und die Sache totmachen; aber ich erwarte dann auch von dir, daß du noch diese Stunde die Stadt verläßt.‹ – Der Trotz regte sich in mir. ›Ich werde nicht gehen,‹ rief ich, ›bis ich gereinigt dastehe. Man wird ja Mittel haben, die Richtigkeit aller meiner Angaben zu erforschen; es wird sich ja feststellen lassen, daß du mein Bruder bist!‹ – Er wurde aschgrau im Gesicht, und seine Haltung verlor alle vorige Straffheit. ›Gotthilf,‹ sagte er plötzlich mit fast kläglicher Bitte, ›das wirst du nicht tun – bedenke meine amtliche Stellung, meine Aussichten, meine gesellschaftlichen Beziehungen –‹ Ich kehrte ihm den Rücken zu und verließ ohne ein Wort der Erwiderung das Zimmer. Eine Viertelstunde später wurde mir durch einen Polizeibeamten mein Wanderbuch zurückgestellt und angekündigt, daß ich entlassen sei.
Einige Wochen darauf kam ich hierher und in dieses Haus.
Der Meister Porsch war vor einem halben Jahre gestorben. Die Witwe setzte nun zwar das Geschäft fort, das ihre einzige Nahrungsquelle war, aber einige fremde und unzuverlässige Gesellen hatten bereits so arg gewirtschaftet, daß sie in Schulden gekommen war und darauf denken mußte, das alte Haus zu verkaufen. In der Herberge, wo ich einkehrte, erfuhr ich davon, und man erzählte lachend von der altväterischen Einrichtung dieses Hauses und von der ehrsamen Witwe, bei der es niemand lange aushalten möge, weil sie ein ganz altmodisches Regiment zu führen liebe und so tugendsam sei, daß sie nicht einmal am blauen Montag einen freien Scherz erlaube. Das machte mich neugierig; ich klopfte bei ihr an und bat um Arbeit.
Ich fand eine Frau, der die schwarzen Trauerkleider von einfachem Schnitt sehr gut ließen. Sie konnte an zehn Jahre älter sein als ich, und war doch noch jung zu nennen. Ob sie mir damals auch hübsch erschien, weiß ich nicht. Ich glaube, sie hielt sich zu strenge gegen den jungen fremdanziehenden Gesellen, als daß ich's hätte sogleich merken können. Sie war sehr bekümmert und sagte mir offen, daß ihr Geschäft schlecht gehe und die alten Kunden schon ausblieben, da sie schlechte Ware erhielten. Schon nach acht Tagen wußte sie, daß sie an mir einen geschickten Arbeiter und einen gewissenhaften Menschen gewonnen hatte, dem sie Vertrauen schenken konnte. Es war ihr lieb zu hören, daß ich eines Pfarrers Sohn sei, und sie meinte, so etwas hätte sie mir gleich angesehen, da ich nicht wäre wie die andern. Sie weihte mich nun näher in ihre Verhältnisse ein, und wir berieten gemeinsam, wie zu helfen sei. Es gelang ihr, auf das Haus ein Darlehn aufzunehmen; ich machte damit für sie gute Ledereinkäufe. Meine Arbeit gefiel, und bald hatten wir so viel zu tun, daß noch ein zweiter Geselle und ein Lehrbursche Beschäftigung fanden.
Meine Kameraden in der Herberge hatten im ganzen nichts Unwahres berichtet, und doch erschien mir alles in anderem Lichte. Mir gefiel das alte Handwerkerhaus, an dem die Jahrhunderte vorübergegangen waren, ohne daran viel zu ändern. Es sah nicht so schmuck aus wie jetzt; überall waren die Spuren des Verfalls nur zu deutlich sichtbar. Aber es war auch nichts hineinrenoviert, was nicht dazu paßte, und es lockte mich um so mehr, mir auszudenken, wie man es wieder wohnlich machen könnte, ohne doch an der überkommenen Einrichtung etwas zu stören. Das Handwerk selbst gewann mir hier aber auch eine andere Bedeutung. Es wurde gleichsam wieder seßhaft, ging nicht zur Miete, wuchs mit dem Bürgerhause zusammen und beruhte auf etwas mehr, als auf der Arbeit von zwei Händen, die mit dem oder dem Handwerkszeug umzugehen gelernt halten. Wenn ich in die Tür eintrat, mußte ich immer zu der Figur des alten Werkmeisters aufsehen, der so bürgerlich stolz und selbstbewußt das Haus hütete, und die kernigen Sprüche, die in der Gesellenstube gegenüber den Arbeitstischen auf die Wand geschrieben waren, schienen mir mehr Weisheit zu enthalten, als große Bücher. Sie gehörten gerade an die Stelle hin und hatten gerade Bedeutung für den, der dort saß und arbeitete. Die Menschen, die das Haus gebaut und eingerichtet hatten, hielten etwas auf sich. Nur ein schmaler Raum in der Stadt gehörte ihnen; den füllten sie aber auch ganz aus, den nannten sie mit Stolz ihr Eigentum, den gründeten sie dem Handwerk, das ihnen Ehre und Ansehen in der Gemeinde gab. Ich hatte keinen Teil daran und fühlte mich hier doch etwas.
Die Meisterin hatte nur die Bildung eines Mädchens aus dem kleinen Handwerkerstande genossen, aber sie wollte auch gar nichts vorstellen, als eine brave Schusterfrau. Und doch war sie mehr; es lebte in ihr so etwas von der Würdigkeit des alten Handwerkerstandes fort, wie sie mir sonst nirgends so bewußt geworden war. Das Haus hatte ihren Eltern und Großeltern gehört, und sie war darin aufgewachsen, wie vor ein paar hundert Jahren eine Erbtochter aufgewachsen sein konnte. Sie wußte wenig von der Welt, zeigte aber einen klugen Verstand bei allem, was in ihren Wirkungskreis fiel, und hütete sich, darüber hinaus urteilen zu wollen. Sie hatte ihre eigenen festgewurzelten Begriffe von Wohlanständigkeit und wußte in jedem Augenblicke ganz genau, was ihr und was anderen zukam. Es lag so in ihrem ganzen Wesen, daß man sich gegen sie nichts glaubte herausnehmen zu dürfen, und doch ging sie mit jedem in ihrer gemessenen Art ganz frei um, als ob eine andere Form gar nicht möglich und jedes Vorkommnis schon vorher bedacht wäre. Sie arbeitete an den Werktagen mit der Magd um die Wette, aber sie blieb doch immer die Frau Meisterin, und wenn sie Sonntags aus der Kirche kam und sich in dem weißgescheuerten Putzzimmer auf das alte Sofa setzte, von dem jedes Stäubchen sorgsam fortgebürstet war, und ein Kapitel in der Hausbibel las oder aus der Erbtasse mit breitem Goldrande ihren Kaffee schlürfte, wußte doch jeder, daß sie sich als eine Bürgersfrau fühlte und als solche respektiert werden wollte. Wer über sie hinter ihrem Rücken zu lachen Lust hatte, fand dazu leicht Gelegenheit, ihr aber ein kränkendes Wort ins Gesicht zu sagen, hätte auch der liederlichste Mensch nicht den Mut gehabt.
Ich hatte anfangs beabsichtigt, nur kurze Zeit, längstens einen Monat, dort zu arbeiten und dann mit meinen Ersparnissen die Heimat aufzusuchen; aber es wurden vier oder fünf Monate daraus, und dann kam mir das Fortgehen schwer genug an. Die Meisterin bekannte, daß das Geschäft so gut gehe, wie seit einem Jahre nicht, und daß sie mir diesen günstigen Umschwung zu danken habe. Sie setzte mich mit vollem Vertrauen über alles und folgte im kleinsten meinem Rate; unser Verhältnis wurde so freundschaftlich, wie es zwischen der Meisterin und ihrem Gesellen werden konnte, wenn beide ihre Stellung nicht vergessen. Und das geschah nicht; wie ich zu ihr sprach und wie sie zu mir sprach, konnte darüber gar kein Zweifel sein. Wir hatten Gefallen aneinander, aber es schien stillschweigend abgemachte Sache, daß wir uns, auch wenn wir ganz unbeobachtet waren, nur bis auf einen bestimmten Punkt nahe treten dürften. Ich respektierte die Meisterin und auch die alleinstehende junge Witwe, deren guten Ruf zu hüten die Pflicht der Hausgenossen war, aber ich gestehe auch, daß ich damals noch an dem Hochmute litt, keine Neigung aufkommen lassen zu dürfen, die mich gänzlich an meinen Berufsstand fesseln mußte, und sie hinwieder kam nicht von dem Gedanken los, daß ich zwar ihr gegenüber ein Geselle, aber doch eines Pfarrers Sohn sei und vornehme Verwandte habe, und daß mir noch irgendwo und wie ein großes Los zufallen werde, an dem sie doch nur freundschaftlich teilnehmen könne. Diese Rücksichten, die uns schienen trennen zu müssen, trugen doch gerade mit dazu bei, uns zusammenzuhalten; wir merkten gar nicht, daß bei meinem längeren Aufenthalte eine Gefahr sei, und hätten uns gegeneinander vielleicht nie ausgesprochen, wenn ich nicht endlich doch gegangen wäre.
Ich hatte ja meine Mutter, meine Schwestern – meines Vaters Grab besuchen wollen, und mein Heimatsdorf lag gar nicht mehr fern. Ich mußte mich der Lieblosigkeit anklagen, daß ich so lange zögerte. Und so stand's denn eines Morgens bei mir fest, daß am Sonntag Abschied genommen werden müßte. Ich sagte es bescheiden, aber bestimmt der Meisterin bei Tisch und nannte meine Gründe, die wohl gut genug waren. Sie wurde ganz bleich vor Schreck und antwortete nur verwirrt, daß sie mich ja nicht halten könne und meinem Glück nicht im Wege sein wolle. Als ich sie abends wiedersah, hatte sie verweinte Augen, und es schnitt mir ins Herz, daß ich ihr Kummer machen müßte, aber es war einmal beschlossen, und ich schwieg. So auch die andern Tage bis Sonntag. Als sie aus der Kirche kam, gab sie mir den verdienten Lohn und einen Taler darüber und sagte mir, daß ich nun entlassen sei; wenn ich sie aber nachmittags noch zu Kaffee besuchen wolle, werde es ihr lieb sein. Es war das erstemal, daß ich in der Putzstube am Sofatisch ihr gegenüber saß und aus einer der großen Tassen mit Goldrand trank und von dem Rosinenkuchen aß, den sie gebacken hatte. Ich glaube auch, so war noch kein abziehender Geselle honoriert worden, solange das Haus stand. Sie erzählte von ihrem Großvater, der Ältermann gewesen war, und von der polnischen Prinzessin, der jener kleine Schuh gepaßt hätte, und wie früher doch ganz andere Zeiten gewesen sein müßten und ganz andere Menschen. Zuletzt gab sie mir eine silberne Medaille zum Andenken, die einer ihrer Vorfahren einmal aus Amsterdam mitgebracht hatte, und ich schüttelte ihr gerührt die Hand zum Abschiede und sagte ihr, daß ich mein Lebtage nicht vergessen werde, wie wohl es mir in ihrem Hause geworden.
Als ich auf die Straße trat, war mir's, als ob die Figur über der Tür mit der Hand drohte und die Drachen oben die langen Hälse vorstreckten. Ich drückte den Hut über die nassen Augen und eilte fort.
Meine Mutter fand ich in dem kleinen Pfarrwitwenhause. Drei von ihren Töchtern hatte sie bei sich, die vierte war auf einem Gute als Wirtschafterin eingetreten; geheiratet hatte keine. Es war ein trauriges Wiedersehen, viel trauriger, als ich mir's gedacht hatte, und als wir zusammen an des Vaters Grabe standen, auf dem nur ein schlechtes Kreuz errichtet war, und meine Mutter mit bitterem Vorwurf sagte: ›Die Toten sind bald vergessen!‹ da mußte ich laut aufschluchzen und mich selbst anklagen, daß ich so spät erst an die Heimkehr gedacht hatte.
Meiner armen Mutter ging es schlecht. Sie hatte zwar freie Wohnung und einen Morgen Gartenland, aber sonst nur das, was ihr die Wohltätigkeit des neuen Pfarrers oder der Bauern zuwenden wollte. Die Schwestern machten Handarbeit für Fremde und verdienten wenig. Oft wußten sie am Abend nicht, wie sie den nächsten Tag beleben sollten. ›Warum hast du dich aber nicht an deine Söhne gewendet?‹ fragte ich die alte vergrämte Frau. ›An meine Söhne –!‹ seufzte sie; ›habe ich denn Söhne? Sie brauchen so viel für sich – für die Mutter bleibt nichts übrig.‹
Ich wollte es nicht glauben, aber sie wies mir Briefe vor. Der Landwirt hatte sich jahrelang als Inspektor gequält, dann eine kleine Pachtung übernommen und dieselbe wegen Mangels an Mitteln wieder aufgeben müssen, um von neuem in Dienst zu treten. Der Offizier vertröstete auf die Zeit, wenn er Hauptmann erster Klasse sein würde. Des Rektors Familie hatte sich sehr schnell vermehrt, und seine Frau kränkelte fortwährend. Der Regierungsassessor war mit einer Dame von Adel verheiratet, deren Vermögen noch nicht flüssig, mußte großen Aufwand machen, um auf schnelle Beförderung rechnen zu dürfen, und erklärte, sich vorläufig und wahrscheinlich noch für längere Zeit hinaus keine neue Last auflegen zu können. Mein jüngerer Bruder endlich befand sich auf einem Lehrerseminar; von ihm war nichts zu erwarten. Die Schwestern begleiteten diese Briefe mit Bemerkungen, die für die Beteiligten nicht schmeichelhaft waren; ich ersah daraus, wie man einander in dem Pfarrwitwenhause mehr und mehr erbittert hatte, und meine eigenen Erfahrungen waren so traurig, daß ich schon genug Milde zu üben glaubte, wenn ich sie verschwieg, um nicht noch mehr zu reizen. ›So ist am wenigsten von den Kindern zu erwarten,‹ sagte meine Mutter, ›für die wir am meisten getan, für die wir gesorgt und gedarbt haben. Sie haben kein Herz für die Familie. Du, mein Sohn, wärst vielleicht nicht wie sie geworden; ich erkenne es daraus, daß du deinen Vater noch im Grabe ehrst, obgleich er dich gegen deine Brüder zurückgesetzt hat. Alle meine Bitten und Tränen halfen nichts; er blieb dabei, daß du ein Handwerk lernen müßtest. Nun weiß ich, daß ich an dir keine Stütze haben kann.‹ – ›Und doch, Mutter!‹ rief ich, ebenso von Mitleid bewegt, als von dem Ehrgeiz gestachelt, meine ungebrochene Kraft zu beweisen – ›doch kann vielleicht der arme Handwerker helfen. Was ich durch meine Arbeit verdiene, ist nicht viel, aber ich will es gern mit euch teilen. Gebt mir einen kleinen Raum am Fenster, und ich schlage bei euch meinen Tisch auf. Was ich erspart habe, reicht zur ersten Einrichtung aus, und wenn nichts mehr, so sollen wir wenigstens das Sattessen haben. Kein Wort weiter! Es bleibt dabei!‹ – Meine Mutier umarmte mich gerührt; meine Schwestern dankten voll Freude; schon am nächsten Tage beschaffte ich das nötige für die neue Werkstätte.
Es war vielleicht recht unklug, daß ich mich in einem Dorfe niederließ, das für einen zweiten Schuhmacher kaum ein wirkliches Bedürfnis hatte, aber ich fühlte doch die stolzeste Befriedigung, durch meiner Hände Arbeit die Not der armen Frauen erleichtern zu können, und ließ es an rastlosem Fleiß nicht fehlen. Bald fanden sich auch Kunden aus der Umgegend, die sonst ihren feineren Bedarf aus der Stadt entnommen hatten, und der Verdienst besserte sich. Aber er blieb noch immer schwach genug, und es kamen stille Tage, an denen ich den Mut sinken ließ und mit heimlichen Tränen das Brot aß, das mir mit Seufzen zugeschnitten war.
So war etwa ein halbes Jahr vergangen, als eines Tages ein Brief an mich anlangte, der den Poststempel dieser Stadt trug. Die Schrift war von ungeübter Hand, aber gut leserlich, und ich kannte sie aus den Wochenrechnungen, die ich in diesem Hause zu revidieren gehabt hatte. Die Meisterin schrieb mir, daß das Geschäft nach meinem Abzüge wieder schnell rückwärts gegangen sei; ein ungetreuer Geselle habe sie bei den Ledereinkäufen aufs schändlichste betrogen, ein anderer von den Kunden Geld einkassiert, ohne es an sie abzuführen. Jetzt erst erkenne sie so recht, was sie an mir gehabt und verloren habe. Nun könne sie mir zwar nicht zumuten, wieder als Geselle bei ihr einzutreten, aber sie biete mir das Haus zum Kauf an. Wegen des Kaufgeldes solle ich unbesorgt sein, das könne stehen bleiben, solange es mir gefalle; sie sei ihrer Zinsen sicher, und sie wisse auch, daß ich das alte Geschäft bald zu Ehren bringen und genug verdienen werde, um sie nach einigen Jahren auch wegen des Kapitals befriedigen zu können. Sie werde dann zwar kümmerlich, aber in ihrer Verlassenheit doch ohne große Sorgen leben, und daß sie das alte Haus in guten Händen wisse, sei ihr doch auch eine Beruhigung. Sie bat schließlich, die Frau Mutter und die Fräulein Schwestern zu grüßen und ihre Kühnheit zu entschuldigen; sie wisse aber nicht mehr aus noch ein, und ich sei der einzige auf der Welt, zu dem sie noch Vertrauen habe.
Der Brief versetzte mich in die größte Aufregung. Ein anderer hätte vielleicht ohne Besinnen zugegriffen, besonders in meiner jetzigen Lage, denn es war nicht zweifelhaft, daß ein Meister und Bürger in der großen Stadt für seine Angehörigen mehr tun konnte als ein armer Dorfschuster. Aber ich hatte so meine eigenen Bedenken und konnte mit denen nicht sogleich fertig werden. Die Frau Meisterin, die mir ihr Haus anbot, war eine junge hübsche Witwe, an die ich im stillen viel mehr hatte denken müssen, als ich's selbst wahr haben wollte. Und sie konnte wohl auch bemerkt haben, daß ich ihr herzlich zugetan sei. Wer wollte ferner dafür garantieren, daß ihr Herz nicht auch ein wenig beteiligt sei? Wenn ich's wohl bedachte, es konnte gar nicht anders sein. Und nun das Haus fast wie ein Geschenk von ihr annehmen und sie aus dem alten Besitze ziehen lassen, der mit ihrer Familie so eng verwachsen war, und gar nichts zu merken, das ging mir ganz gegen den Strich. Und andererseits wieder – ich war noch jung und die ganze Welt stand mir offen; ich konnte allenfalls nach Amerika auswandern und dort mein Glück versuchen. Wenn ich mich aber jetzt band, war's zu Ende mit allen Träumen.
Die Meinigen redeten zu; sie wußten ja nicht, um was es sich bei mir handelte, und ich scheute mich, es ihnen zu sagen. So ging ich denn an das Grab meines Vaters und trug ihm meine Sache vor. Es antwortete keine Stimme daraus; aber in mir wurde es doch merklich klar und hell, und ich meinte nun deutlich meinen Weg zu sehen. ›Was einer ist, das soll er ganz sein,‹ hatte mein Vater so oft gesagt; ›aller Unfriede des Gemüts stammt aus unserer Halbheit, daß wir nicht mit dem Herzen bei unserm Tun sind, sondern als eine Last tragen, was uns doch das rechte Gleichgewicht im Leben geben könnte, wenn wir es würdigen lernten.‹ Daran mußte ich nun viel denken, und es kam mir so vor, als ob ich selbst von der Halbheit nicht los könne und deshalb meinen Frieden nicht finde. Ich rechnete noch immer aus dies und das, was doch außer meiner Macht lag, und war lässig in dem, was ich zu bewältigen vermochte. Ein Handwerker war ich geworden und wollte ich nun auch sein; aber mein Herz war noch nicht bei dem Handwerke, und so blieb ich ein halber Mensch, den seine Last drückte.
Das mußte anders werden, ganz anders. Der alte Handwerksmeister über der Tür setzte sich mir in den Sinn, wie er so stattlich dastand und mit Stolz zu sagen schien: ›Das bin ich!‹ Sein Haus war klein und eng; aber er hatte doch ein Haus, und es war gerade groß genug für seine Bedürfnisse, gerade groß genug für die Frau Meisterin, die seine einfache Wirtschaft führte, und für die Gesellen und Lehrlinge, die darin Arbeit fanden und zum Rechten angehalten wurden. Er kam zu Wohlstand und galt etwas bei seinesgleichen; die Zunft wählte ihn zum Ältermann und der Rat zum Armenvorsteher, und er faß zuletzt auf der Schöffenbank und sprach den Bürgern Recht, nicht nach seiner Gelehrsamkeit, sondern nach seinem Gewissen.
Ich sah auch, wie er hinausgetragen wurde in einem schwarzen Rittersarge mit reichlichem Beschlage; sechs Jungmeister trugen ihn, und sechs Altmeister gingen voran, mit schwarzen Florschärpen an den Hüten und Zitronen in den Händen; der Herr Stadtrichter folgte mit der Witwe in einer Kutsche und dann das ganze löbliche Gewerk, immer zwei und zwei in langer Reihe; und die auf der Straße standen und zuschauten, flüsterten einander zu: ›Er war ein braver Mann; Gott schenke der Stadt viele dergleichen! Und war doch nur ein schlichter Handwerker – ein Schuster.‹ Nun, wenn auch gar vieles in der Welt anders geworden ist, sein Haus steht noch und das Handwerk ist geblieben. Warum sollte nicht auch in unserer Zeit der rechte Mann zu beidem sich finden können? Zu dem rechten Manne gehört aber auch die rechte Frau, und die ist schon gefunden. Ja, so soll's sein!
Ich schrieb meiner Frau Meisterin einen Brief zurück, und der gefiel ihr wohl. Was sie antwortete, war von einem Schreiber zierlich aufgesetzt und auf ein Papier mit zwei flammenden Herzen geschrieben; aber darunter hatte sie mit eigener Hand beigefügt: ›Ich danke Gott demütiglich, daß er mir diese Freude schickt, da ich schon verzagte; ich will ihn immer vor Augen haben, daß ich Ihnen alles recht mache, lieber Gotthilf; wenn Sie mich aber nur halb so lieb haben, wie ich Sie, so wird es mit seinem Beistande schon gehen. Zu Sonntag bestellte ich das erste Aufgebot, und über drei Wochen kann die Hochzeit sein – einen Leibrock und schwarzen Hut hab' ich noch von meinem Manne, daran fehlt es nicht. Kommen Sie bald! Ich kann's nicht so schreiben, wie ich's meine; aber sagen werd ich's können. Ich lache jetzt immer wie närrisch. Wir haben auch noch so viel miteinander zu reden, weil das Leder neuerlich aufgeschlagen ist. Also kommen Sie bald!‹
Das ist der einzige Liebesbrief, lieber Herr, den ich je in meinem Leben erhalten habe; darum kann ich ihn nach so vielen Jahren auch noch auswendig. Es hat aber auch noch einen andern Grund, daß ich ihn mir so gut merkte. Ich mußte doch nun meiner Mutter und meinen Schwestern etwas von der Sache sagen, und ich fing es sehr ungeschickt an, indem ich ihnen den erhaltenen Brief zeigte. Sie fanden die zwei flammenden Herzen, die geschrobenen Redensarten des Schreibers und die Nachschrift der Frau Meisterin selbst so komisch, daß sie in lautes Lachen ausbrachen und durchaus nicht glauben wollten, daß mir die Partie ernst sein könne. Darüber wurde ich sehr aufgebracht und entriß ihnen das Blatt. Nun hielt meine Mutter sich verpflichtet, in würdigerem Tone abzumahnen.
›Da hat dir wieder dein gutes Herz einen Streich gespielt, Gotthilf,‹ sagte sie, ›und es ist sehr ehrenwert, daß du die Frau in Schutz nimmst; aber du würdest es bald schwer bereuen, wenn du wirklich eine so ungleiche Verbindung eingehen wolltest; du bist zwar ein Schuhmacher von Profession, aber des Pfarrers Sohn bleibst du deshalb doch, und die ersten fünfzehn Jahre, die du in deinem Vaterhause unter gebildeten Menschen zugebracht hast, kannst du nicht mehr vergessen. Glaube mir, die Meisterin ist keine Frau für dich.‹
Diese Vorstellungen konnten nicht mehr Eindruck auf mich machen; ich war schon zu fest in meinem Entschlusse; sie wurden aber auch abgeschwächt durch die Sticheleien meiner Schwestern, die mich am leichtesten durch Spott meinten heilen zu können. Zuletzt, am Abend vor meiner Abreise, gab es einen sehr heftigen Auftritt zwischen uns, und ich schied mit der Gewißheit, daß auch diese letzten Familienbande für immer zerrissen seien.
Mein Wille aber war fest, alle Halbheit abzutun und nach freier Wahl das ganz zu werden, was mir nun einmal vorbestimmt war. Ich heiratete meine Frau Meisterin und habe meine Wahl nicht bereut. Das alte Haus überkam ich mit allem, was darin, als Heiratsgut, und unser gemeinsamer Fleiß hat es erhalten und wieder schmuck hergestellt. Meine Mutter unterstützte ich, solange sie lebte, und sie hinterließ mir zum Dank dafür dieses Bild meines Vaters und jene Familienbibel, in der wir an jedem Sonntagmorgen lesen. Meinen Schwestern habe ich Stiftsstellen gekauft – gesehen habe ich sie nicht wieder. Von meinen Brüdern hat sich keiner um mich gekümmert, und sie waren auch für mich tot. Die andern sind mir gleichgültig geworden in den vielen Jahren: aber gegen den ältesten habe ich allezeit etwas empfunden wie Haß und habe mir's nicht abwehren können, wie ich auch ankämpfte. Und so wissen Sie nun, wie ich der Schuster Lange geworden bin, den Sie kennen, und weshalb ich die Anzeige von meines Bruders Tode so erzürnt zurückwies. Nie, nie kann ich es ihm vergessen, daß er seinen Bruder verleugnet hat – auch im Grabe nicht!
Das ist meine Lebensgeschichte.« –
Der alte Herr hatte sich gegen den Schluß hin sehr aufgeregt, unter seinem Samtkäppchen vor perlten die Schweißtropfen über die Stirn, und der Blick, mit dem er zu dem Bilde seines Vaters aufsah, hatte etwas Flammendes, Verzehrendes. Er war doch noch nicht zu Ruhe gekommen, der gute Meister; er hatte sein Schicksal noch nicht überwunden, wie er doch meinte, und ich hatte in diesem Augenblick das sichere Gefühl, daß ich an diese Wunde nicht rühren dürfte, jetzt gewiß nicht. Ich reichte ihm also nur die Hand und sagte ihm Dank mit so viel Herzlichkeit, als ich in wenigen einfachen Worten äußern konnte. Das war ganz nach seinem Sinn. Er stand auf und bat mich, noch zur alten Mama hinüberzukommen, die gewiß schon lange mit dem Kaffee auf uns warte.
So war's auch. Und die großen Tassen mit den Goldrändern, die neben der Kanne standen, hatten mir jetzt noch eine besondere Bedeutung; es waren sicher noch dieselben, aus denen die Frau Meisterin mit dem jungen Gesellen an jenem traurigen Sonntage getrunken hatte, als beiden der Abschied so schwer wurde.
Die alte Mama hatte eine große Brille auf der Nase und ein Blatt in der Hand, dessen Inhalt sie studierte. »Ich habe einen Brief bekommen,« sagte sie, nachdem sie mir freundlich zugenickt hatte, »und rate einmal von wem, Gotthilfchen? Von unserem Sohn.«
»So –! was will denn der wieder?« fragte er barsch und die Freude glänzte doch dabei von seinem Gesicht.
»I – um Geld ist's nicht, Gotthilfchen,« antwortete sie lächelnd, »so viel hab' ich wohl selbst herausgebracht. Er schreibt aber so schnell, daß immer die Buchstaben ineinander gehen, und so wird mir das Lesen schwer. Ich sehe aber, daß er hierherkommen will.«
Meister Lange nahm ihr etwas hastig den Brief aus der Hand und trat damit ans Fenster. »Wahrhaftig!« sagte er nach einer Weile, »er will herkommen und beim hiesigen Gericht arbeiten, um sich zu einer Anstellung in der Provinz besser vorzubereiten. Als ob es für ihn so eilt! Hm – hm! dahinter steckt etwas.«
»Er muß ja am besten wissen, was für ihn taugt«, meinte ich; der Alte aber schüttelte den Kopf, wendete das Blatt und las es von neuem. »Und daß er deshalb an die Mutter schreibt –« murmelte er halblaut. »Noch jedesmal, wenn er an die Mutter geschrieben hat, gab's hinterher irgend etwas Dummes zu vertuschen. So war's schon auf dem Gymnasium und auf der Universität.«
»Nu, nu, Gotthilfchen,« beruhigte sie, »wozu ist denn so eine alte Mutter gut, wenn der Vater ein bißchen strenge ist, oder wenigstens strenge tut. Und es kann ja auch einmal anders sein. Was wird es jetzt wohl noch zu vertuschen geben? Er will herkommen, und es ist ja doch möglich, daß er sich nach uns bangt und daß ihm da zuerst die Mutter einfällt – es ist ja doch möglich, Gotthilfchen.«
»Dann wär's ja auch an einem Besuch genug,« knurrte der Meister, »aber hier in Arbeit treten und dann in die Provinz – wozu hat er das nötig?«
»Was können Sie aber dagegen haben?« fragte ich.
»Er soll hoch hinaus,« fuhr er heftig auf, »über alle seine Onkels hinweg, und auch über den geheimen Regierungsrat! Das ist er seinem Vater schuldig. – Sie wissen ja, weshalb!« setzte er tiefer hinzu. Die alte Mama seufzte.
Freilich wußte ich, weshalb. Aber ich machte da doch wieder eine sehr merkwürdige Erfahrung. Derselbe Mann, der mit so tiefem Kummer seine ganze Familie verloren hatte, weil er durch die Umstände auf eine tiefere Gesellschaftsstufe gestellt wurde, und der dann, eines Philosophen würdig, seine Ehre darein setzte, zu beweisen, daß Menschenwert allein nach sich selbst zu messen sei, derselbe Mann entfremdete den einzigen Sohn seiner Familie, um ihn äußerlich möglichst hoch gestellt zu sehen und so über diejenigen zu triumphieren, die er doch nicht achtete, verleugnete den Grundgedanken seines Lebens im eigenen Kinde. Und das alles, ohne sich dieser Inkonsequenz auch nur im entferntesten bewußt zu werden. Es scheint nun einmal in der Menschennatur das Bedürfnis zu liegen, von dem eigenen Gesetz abzuspringen und ein fremdes zu adoptieren. Daher der stete Wechsel der Erziehungsmethode von Generation zu Generation, daher auch das fortwährende Heben und Senken in den sich immer erneuernden Bestandteilen der Gesellschaft – schließlich allerdings die einzige Garantie gegen Verknöcherung und Versumpfung.
Bald darauf stellte sich mir der Assessor Lange vor. Er hatte sich wirklich an dieses Gericht zu seiner praktischen Ausbildung schicken lassen und sprach die Absicht aus, hier zu bleiben, bis er in eine Richterstelle einrücken könne.
»Was sagt denn Ihr Vater dazu?« fragte ich, so gut ich es auch wußte.
»Ach, mein Himmel,« antwortete er lächelnd, »der möchte mich am liebsten gleich zum Ministerialrat machen; aber mein Ehrgeiz ist schwer zu spornen. Ich habe mich da oben lange genug umgetrieben, um zu wissen, daß ich überall gegen diejenigen zu kurz kommen werde, die gute Konnexionen mitbringen. Warum also mich außer Atem setzen, um doch am Ziel die Leute mir vorangehen zu sehen, die gemächlich in ihrer Väter Karossen fahren. Kennen Sie das Chamissosche Gedicht von dem Pechvogel? ›Doch mein Vater war ein Schneider, und das ist genug gesagt.‹ Ich möchte es an mir nicht probieren.«
»Ihr Vater ist sehr wohlhabend,« meinte ich, »und Geld hat überall einen guten Klang.«
»Er ist freilich recht wohlhabend für einen Handwerker,« entgegnete er, »und wenn er mich nicht deshalb enterbt, weil ich durchaus nicht Karriere machen will, so werde ich einmal als Richter nicht ängstlich auf eine Gehaltsverbesserung zu warten nötig haben und wirklich unabhängig in der Welt dastehen. Ist das nicht alles Dankes wert? Vorläufig wünsche ich aber meinen guten Eltern Methusalems Alter, und da ich nachgerade doch auch in die Jahre komme, in denen man nicht mehr gern aus seines Vaters Tasche lebt und seinen eigenen Weg gehen will, so glaube ich ganz vernünftig zu handeln, wenn ich eine Anstellung suche. Wohin der Ehrgeiz ohne bequeme Grundlage einen gescheiten Menschen führen kann, das habe ich an meinem Onkel Regierungsrat gesehen –«
»Sie haben ihn kennen gelernt?« fiel ich ein.
»Sprechen sie meinem Vater nicht davon,« bat er, »er hatte mir's aufs allerstrengste verboten, das Haus seines Bruders zu betreten. Aber ich bin unfolgsam gewesen – aus gewissen Gründen, die nicht hieher gehören. Mein Onkel war so schlimm nicht, als ihn sich mein Vater in seinem ganz gerechten Zorn malt. Er hat an ihm unbrüderlich gehandelt, das ist gewißlich wahr, aber entschuldigen läßt er sich wohl, wenigstens von unserem Standpunkt aus. Mein Onkel war brennend ehrgeizig; er hatte, als mein Vater ihm begegnete, soeben in eine adelige Familie hineingeheiratet, die ihn nur sehr ungern und nach heftigem Widerstreben ausgenommen hatte; er verwaltete damals ein Polizeiamt. Und nun kam ihm ein armer, abgerissener Schuhmachergeselle in den Weg, der in seinem Ränzel verbotene französische Schriften einschleppte und sich seinen Bruder nannte. Vielleicht hätten wir an seiner Stelle liebevoller gehandelt – vielleicht auch nicht. Mein Vater hat dafür natürlich kein Einsehen, und ich als sein Sohn muß mich hüten, ihm zu widersprechen, aber Sie haben ja so viel Einfluß auf ihn, wie ich von der Mutter weiß; könnten Sie nicht gelegentlich ein versöhnliches Wörtchen einfließen lassen?«
Ich versprach es gern, erfreut, beim Sohne soviel Billigkeit zu finden.
»Wenn mein Vater gewußt hätte, welches Leben sein ehrgeiziger Bruder führte, er hätte darin vielleicht eine Ausgleichung gesehen«, fuhr er fort. »Seine erste Ehe war sehr unglücklich. Seine Frau, durch ihre Verwandten fortwährend zurückgesetzt, scheint die bürgerliche Heirat bereut zu haben. Onkel Erhard stürzte sich in Schulden, um ein ansehnliches Haus zu machen; er ließ sich zu den unwürdigsten Diensten brauchen, um schnell zu avancieren. Es nützte ihm wenig. Die Kinder wurden von der Mutter ganz nach aristokratischen Grundsätzen erzogen, die sie selbst so unliebenswürdig in diesem ungleichen Verhältnis machten, und dem eigenen Vater möglichst entfremdet. Es konnte ein Glück für ihn scheinen, daß sie unerwartet früh verstarb. Das geschah vor etwas mehr als zwanzig Jahren, und mein Onkel, der längst Geheimer Regierungsrat geworden war und im Ministerium arbeitete, hätte sich nun wohl häuslich einschränken, ein Arrangement mit seinen Gläubigern treffen und etwas vom Leben genießen können. Aber nun begegnete ihm, der bisher so vorsichtig jeden Schritt berechnet hatte, ein ganz eigener Unfall. Er verliebte sich mit einer Leidenschaftlichkeit, die sich nur aus dem unbewußten Drange des Gemüts, für die sich so lange selbst aufgelegten Entbehrungen eine Entschädigung zu finden, erklären läßt, in die Gouvernante seiner Töchter, ein blutarmes und nicht einmal durch Schönheit ausgezeichnetes Mädchen, das Kind eines Subalternbeamten in der Provinz, die Enkelin eines Handwerkers. Seine Neigung wurde erwidert, das Verlöbnis aber geheimgehalten, bis den Verwandten der ersten Frau zugleich mit demselben auch der Hochzeitstag bekannt gemacht werden konnte. Sie waren empört über dieses, wie es ihnen schien, hinterlistige Verfahren, noch mehr darüber, daß mein Onkel alle ihrem Stande schuldigen Rücksichten bei seiner Wahl verletzt hätte, entblödeten sich nicht, das Verhältnis als ein unsittliches und unwürdiges überall zu verschreien, und ruhten nicht eher, bis die Kinder der ersten Frau, denen inzwischen ein beträchtliches Vermögen zugefallen war, der Stiefmutter entzogen und in eine von ihnen beaufsichtigte Pension gebracht wurden. Nicht genug daran, sie hetzten auch so lange in der Gesellschaft und bei den hohen Vorgesetzten des Onkels, bis er sich wegen der eingegangenen Verbindung von allen aristokratischen Kreisen ausgeschlossen und in Ungnade gefallen sah. Eine Zeitlang entschädigte ihn die Zärtlichkeit und aufopfernde Treue der jungen Frau für alle diese Unbill, aber er war leider nicht der Philosoph, sich auch für die Dauer mit Gelassenheit in sein Schicksal finden zu können. Der Ehrgeiz ließ ihn nicht ruhen, und alle die Zurücksetzungen, die er erfahren mußte, verbitterten ihn nicht nur gegen diejenigen, die ihn kränkten und verfolgten, sondern bald auch gegen die ganz unschuldige Ursache dieser Angriffe. Er gab sich nun selbst einen ganz unverzeihlichen Fehler schuld und hielt sein ganzes Leben für verfehlt, weil er immer gegen seine bessere Natur nachgiebig gewesen war. Dazu kam, daß seine Gläubiger jetzt rücksichtslos andrängten und ihn nötigten, seine Wirtschaft gänzlich zu zerstören, um nur nicht in ein Gehaltsabzugsverfahren willigen zu dürfen, das den letzten Rest von Ansehen vernichtet haben würde. Alle haushälterische Sparsamkeit der armen Frau konnte der mehr und mehr einreißenden Unordnung nicht steuern, und ihre inständigste Bitte, sich den Verhältnissen anzupassen, blieb unbeachtet; ja, ihre Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, die er kleinbürgerliche Beschränktheit nannte, waren gerade die Eigenschaften, die ihm zu fortwährendem Tadel Anlaß gaben. Von fünf Kindern dieser Ehe erhielten sich nur zwei, ein Mädchen und ein Knabe, am Leben, von dem Vater, der noch immer durch seine Kinder erster Ehe den verlorenen Anschluß an die vornehme Verwandtschaft wiederzugewinnen hoffte, wenig geliebt und auf die Erziehung durch die Mutter angewiesen, von den Stiefgeschwistern gemieden oder als Eindringlinge in die Familie gehaßt. Sie können sich vorstellen, daß jetzt, nach des Onkels Tode, jede Verbindung aufgehört hat. Jene haben sich beeilt, der Erbschaft nach ihrem Vater zu entsagen, obgleich ihre glänzende Lage es ihnen ohne große Beschwerde erlaubt hätte, ihm durch Tilgung seiner Verbindlichkeiten ein reines Andenken zu bewahren. Meine Tante hat den ganzen Nachlaß den Gläubigern überlassen und sich aus eine kleine Witwenpension beschränken müssen, die sie selbst kaum zu ernähren imstande ist. Die beiden Kinder, jetzt siebzehn und fünfzehn Jahre alt, stehen ganz hilflos da.«
»Sie sind gut unterrichtet«, konnte ich mich nicht enthalten zu äußern. »Sicher haben Sie die so bemitleidenswerte Familie nach Kräften unterstützt; um so mehr wundert es mich aber, daß Sie nicht länger dort –«
»Was konnte ich für sie tun?« fiel er mir lebhaft ins Wort. »Ich war ja selbst von der Unterstützung meines Vaters abhängig, und bei seiner bekannten feindseligen Stimmung mußte ich fürchten, alles zu verderben, wenn ich brieflich eine Aufklärung versuchte. Aber ich gestehe, daß meine Untersiedelung hierher mit diesen Dingen Zusammenhang hat und daß ich nicht zum wenigsten deshalb ein festes amtliches Einkommen erstrebe, um der vortrefflichen Frau und ihren Kindern nach Wunsch und Bedürfnis Beistand leisten zu können.«
»Das Mädchen ist siebzehn Jahr alt?« fragte ich möglichst leichthin.
Der junge Kollege suchte mit einem schnellen Blick auf meinem Gesichte etwas, daß dieser harmlosen Frage eine besondere Bedeutung geben könnte, errötete ein wenig und sagte wegsehend: »Allerdings, das Mädchen – der Knabe ist fünfzehn und in der Schulbildung etwas zurück, übrigens sonst ein aufgeweckter Junge, von dem unter günstigeren Umständen das Beste zu erwarten wäre. Was kann nun aus ihm werden?« Er sprach so noch eine Weile über den Vetter fort, ohne der Cousine zu erwähnen. War das ganz zufällig?
»Wenn übrigens die Tante meinem gutgemeinten Rate folgt,« schloß er, »so kommt sie hierher. Sie hat Verwandte in der Stadt, die zwar ebenfalls unbemittelt sind, aber ihr doch eine Art von Halt gewähren. Dazu ist es hier billiger und für die Kinder läßt sich leichter sorgen, wo man den Vater nicht in Erinnerung hat. Wenn Ihnen vom dortigen Gericht die Akten zugehen sollten, haben Sie die Güte, nicht zu genau zu prüfen, ob sich die Sache vielleicht auch ablehnen ließe. Sie tun ein gutes Werk, wenn Sie die Vormundschaft leiten.«
Ich merkte wohl, daß der brave junge Mann sich der armen Familie bereits aufs treueste angenommen hatte, und versicherte ihn gern meines Beistandes. Was er nur als eine Möglichkeit hingestellt hatte, war sicher schon fest verabredet, und so vergingen denn nur wenige Wochen, bis wirklich die Witwe mit den Kindern anlangte und fast zu gleicher Zeit auch die Vormundschaftsakten aus B. ein gesendet wurden. Die Angaben des Assessors in betreff der Vermögensverhältnisse ergaben sich durchweg als richtig: es war der Witwe nichts geblieben, als ein großer Titel zu einer ganz geringfügigen Pension.
Ich lud sie zu einem Termin vor, um mit ihr Rücksprache zu nehmen, und lernte eine Dame kennen, der ich das tiefste Mitleid nicht versagen konnte. Der Assessor hatte recht; sie war wohl auch in ihrer blühendsten Jugend nicht schön gewesen, aber ihr ganzes Wesen mutete auf den ersten Blick an, und die schlichte und doch vornehme Art, wie sie sich ausdrückte, erweckte Vertrauen. Von ihrem Gesicht war das Leiden abzulesen, mit dem sie sich so viele Jahre lang getragen hatte; es war ganz nervöse Anspannung, wie so oft bei Menschen, die eine sehr schreckhafte Katastrophe in gewisser Aussicht haben, unausgesetzt darauf warten, vor jedem Geräusch erzittern und sich dabei noch verpflichtet fühlen, ihre Erregtheit zu verstecken; an den Schläfen zeigte sich die Haut wie transparent, so daß die feinsten blauen Äderchen sichtbar wurden, und die Lippen waren beinahe ganz farblos geworden.
Ihre Kinder hatte sie mitgebracht. Die Tochter war größer als die Mutter, stattlicher in ihrer Erscheinung, feiner in ihrem Auftreten, wahrscheinlich dem Vater ähnlicher als der Knabe, der körperlich zurückgeblieben und gedrückt erschien. Frische Farben ließen sich auch bei ihr vermissen, aber ihr Auge war lebhaft und ihre Haltung zuversichtlich. Die reiche Fülle des schönsten blonden Haares mußte ausfallen, ein Schmuck, der jeden künstlichen entbehrlich machte.
»Meine Lage ist sehr schwierig«, sagte die Geheime Rätin, nachdem sie mich im allgemeinen orientiert hatte. »Ich möchte gern arbeiten, aber es wird mir schwerer als andern, Arbeit zu erhalten. Wenn ich mich nenne, hält man mich für eine große Dame, mit der man sich geniert in einen Verkehr dieser Art zu treten, und so werde ich überall höflich abgewiesen. Man gibt mir auch wohl zu verstehen, daß der Verdienst zu gering sein würde, um davon drei Menschen unterhalten zu können, und daß ich weiter käme, wenn ich die Wohltätigkeit der reichen Leute in Anspruch nehmen wollte, die immer ein gewisses Interesse dabei haben, Personen ihres Standes nicht ganz sinken zu lassen; ich kann mich aber nicht entschließen, Bettelbriefe zu schreiben, solange ich rüstig bin, und will lieber darben als –«
»Rege dich nicht auf, Mutter,« bat das Mädchen, dem diese Erörterung sehr peinlich zu sein schien; »es wird uns besser gehen, als du glaubst, wenn du mir nur erlauben willst, Handarbeit zu übernehmen; mit einem jungen Dinge, wie ich bin, macht man weniger Umstände, und du kannst ja hinterher zu Hause helfen.«
Die Witwe seufzte bekümmert. »Ich verstehe mich sehr ungern dazu«, antwortete sie, mehr zu mir, als zu ihrer Tochter gewendet. »Könnte es nach meinen Wünschen gehen, so müßte Ottilie in ein Seminar, um sich zur Lehrerin vorzubilden; leider ist bei ihrer bisherigen Erziehung wenig darauf Bedacht genommen, sie zu einem selbständigen Erwerbe vorzubereiten, und es würde mindestens ein Jahr dauern, bis sie das vorgeschriebene Examen bestehen könnte. Was bis dahin?«
»Man muß nicht verzagen«, tröstete das Mädchen. »Du meinst nur immer, wenn der Himmel voll Wolken hängt, es werde nie wieder schönes Wetter werden, und die liebe Sonne richtet's doch ein, wie sie will.«
»Wenn du meine Erfahrungen hättest –!« wandte die Mutter mit leisem Vorwurf ein. »Aber ich will dich nicht schelten; es ist das schöne Vorrecht der Jugend, hoffen und vertrauen zu dürfen.«
»Und haben wir nicht einen Freund?« fragte Ottilie mit leuchtenden Augen und gleich darauf errötend und scheu zur Erde blickend, als ob sie in der Lebhaftigkeit des Zuspruchs etwas verraten hätte, das geheim bleiben sollte. »Er ist ja doch mein Cousin«, setzte sie schüchtern entschuldigend hinzu, als die Geheime Rätin nicht sogleich antwortete.
»Mein Neffe, der Assessor Lange ist gemeint«, wandte sich letztere nun an mich. »Freilich ein Freund, dem wir uns aber hüten müssen Ungelegenheiten zu bereiten.«
»Haben sie denn nicht seinen Vater, den sehr ehrenwerten Meister Lange ausgesucht?« fragte ich ausforschend.
»Freilich,« bestätigte sie, »aber er hat mir durch seine Magd sagen lassen, daß er nicht zu Hause sei – ich muß es aufgeben, ihn versöhnlicher gegen die Familie seines Bruders zu stimmen.«
»Der Querkopf!« rief ich unwillkürlich. »Wen gedenken Sie zum Vormund Ihrer Kinder in Vorschlag zu bringen?«
»Ich wollte eben meinen Schwager bitten, dieses Amt zu übernehmen,« antwortete sie, »aber jetzt weiß ich niemand –«
»Bleiben Sie dabei!« riet ich, »trotz alledem.«
»Wie? nachdem er mir deutlich genug die Tür gewiesen hat?«
»Trotz alledem.«
»Er wird das Amt ablehnen – eine neue Demütigung für mich.«
»Lassen wir's darauf ankommen! Es muß durchaus etwas zu einem vernünftigen Ausgleich geschehen.«
»Aber dieses Mittel –?«
»Wir fassen ihn da beim Ehrenpunkte – darf ich schreiben?«
»In Gottes Namen,« sagte sie; »ich werde den Kelch bis zur Neige leeren.«
Sie unterzeichnete darauf das Protokoll mit zitternder Hand und entfernte sich mit der rührenden Bitte, ihr ferneren Beistand nicht zu versagen.
Ich weiß nicht, wie mir der Rat so schnell auf die Lippen gekommen war, den widerhaarigen Meister zum Vormund zu berufen, und worauf ich eigentlich rechnete, wenn ich daran so beharrlich festhielt. Als ich allein war, fiel es mir aufs Gewissen, daß ich einen bestimmenden Einfluß auf Verhältnisse versucht hatte, die ich in keiner Weise beherrschte. Aber das Protokoll war nun einmal geschrieben, und die Sache mußte ihren Gang haben. Mehr noch: ich war auch verpflichtet, mich persönlich dafür zu bemühen, daß sie nicht schief ging. Ich besuchte also den störrischen Freund nachmittags zu der Zeit, wo er, wie ich wußte, mit der alten Mama Kaffee zu trinken pflegte.
Er begrüßte mich nicht ganz mit der gewohnten Offenheit und Herzlichkeit, obgleich er es an freundlichen Worten nicht fehlen ließ. Es war, als ob er merkte, daß ich diesmal mit Absichten komme oder daß ich mit ihm nicht zufrieden sei. Ich hielt es für das Beste, geradeaus aufs Ziel zu gehen.
»Als Sie mir neulich Ihre Familiengeschichte anvertrauten, lieber Meister,« sagte ich, »glaubte ich nicht in die Lage zu kommen, an der Fortsetzung mitarbeiten zu müssen. Nun ist's aber doch so.«
Er schlürfte aus der Untertasse, in die er den heißen Kaffee zum Kühlen gegossen hatte, in langen Zügen und enthob sich so der Notwendigkeit zu antworten.
»Wissen Sie denn, daß Ihre Schwägerin, die Geheime Regierungsrätin, hier ist?« fragte ich weiter, ohne ihm Ruhe zu gönnen.
»Und wissen Sie denn,« fuhr er auf, »daß sie es gewagt hat, mein Haus zu betreten – sie, die Frau meines Bruders – nach dem, was zwischen uns –« Er setzte die Tasse heftig ab, daß der Kaffee überschüttete.
»Ruhig, Gotthilfchen, ruhig!« beschwichtigte die Alte. »Unser Haus steht ja jedem offen – mag da kommen, wer will!«
»Und es sollte Ihnen doch erfreulich sein,« meinte ich, »daß Ihre Schwägerin –«
»Ich habe keine Schwägerin,« rief er aufgebracht, »ich habe keinen Bruder! Glaubt die vornehme Dame mir eine Ehre zu erweisen, wenn sie gnädigst über meine altbürgerliche Schwelle tritt? Sie irrt! Ihre Herablassung ist eine Beleidigung für mich, und in meinem Hause wenigstens soll mich niemand beleidigen.«
»Laß doch nur deinen Kaffee nicht kalt werden, Gotthilfchen!« bat die alte Mama. »Du hast ihr ja schon deine Meinung zu wissen getan, und sie kommt dir gewiß nicht wieder.«
»Da sehe ich doch,« sagte ich gelassen, »daß ich über manche Dinge viel besser unterrichtet bin als Sie. Und wenn nun Ihre Schwägerin eine sehr würdige und unglückliche Frau wäre« – er schüttelte abweisend den Kopf – »wenn sie gekommen wäre, um Sie, den reichen Mann, in der Not um eine Unterstützung zu bitten – wie?«
Er zuckte die Achseln. »Eine so vornehme Dame –? schwerlich!«
Ich erzählte umständlich, was ich von seinem Sohne erfahren hatte, ohne meine Quelle zu nennen, und er wurde doch nachdenklich gestimmt. Es war ihm sogar etwas Neues, zu erfahren, daß sein Bruder zum zweiten Male geheiratet hätte, und daß aus dieser zweiten Ehe Kinder hinterblieben seien.
»Gibt's also doch eine Vergeltung?« rief er, als ich mit einer Schilderung des Notstandes schloß, in dem die Familie sich befand. »Gibt's eine Vergeltung? Ja, mein Vater hat recht gehabt: es ist niemand glücklich, der nicht seinen Frieden mit sich selbst machen kann – niemand, wie er sich auch vor der Welt ausstaffiere. Was ist er anders geworden als ein vornehmer Lump, der sich mit Füßen treten ließ, um nur auf der Treppenstufe geduldet zu werden, auf die er sich hinaufgewedelt hatte? Und kaum schließt er die Augen, so fällt das ganze Kartenhaus seiner Herrlichkeit zusammen. Betrogene Gläubiger fluchen hinter ihm her. Die eigenen Kinder verleugnen ihn – saubere Früchtchen von so einem Stamme! Nicht alle – einige läßt er auch mit ihrer Mutter im bittersten Elend zurück, damit sein Maß voll werde, und sie können nicht einmal betteln gehen, ohne sein Andenken zu beschimpfen. So steht's also – so? Ja, es gibt eine Vergeltung!«
Er war aufgestanden und ging in der Stube auf und ab, immer mit den Armen fechtend und bald hier, bald dort einen Stuhl oder andern Gegenstand anstoßend.
Sie werden dem Unglück Ihr Mitleid nicht versagen können«, äußerte ich. »Sie können helfen und Sie müssen helfen, wenn Sie ein Christ sind.«
Er sah mich erstaunt an.
»Ich?« sagte er höhnisch, »ich? Bin ich dazu gut genug? Ist nun der armselige Schuster wirklich auf der Welt? Hoho! Weiß die Frau Geheimrätin nicht, daß sich besudelt, wer Pech anfaßt? Und Pech gehört nun einmal zur Schusterei.«
»Das sind unvernünftige Reden, lieber Meister«, bedeutete ich ihn. »Sie wissen freilich nicht, wie sehr unrecht Sie Ihrer Schwägerin tun, denn Sie kennen sie nicht.«
»Erzählten Sie nicht, daß ihr Großvater ein armer Tischler gewesen ist?« fragte die alte Mama, ängstlich teilnehmend.
Ich bejahte es.
»Und daß sie in der Schule etwas Tüchtiges gelernt hat, was für ein Handwerkerskind seine Schwierigkeiten hat, und Lehrerin in einem angesehenen Hause geworden ist? Sehen Sie, das will doch etwas sagen. Und hat's dann gar zur Geheimen Rätin gebracht – eines armen Tischlers Enkelin. Passiert selten einmal – sehr selten. Ei, ei –! sehr selten!« Sie sprach das zu mir, aber es schien doch auf ihren Gotthilf gemünzt zu sein und blieb auch nicht ohne Wirkung.
»Hat auch recht was von der seltenen Ehre gehabt«, brummte er. »Du hörst ja. Ihres Großvaters Altgeselle hätte sie vielleicht glücklicher gemacht.«
Sie goß aus der Kanne heißen Kaffee in seine noch halb gefüllte Tasse.
»Das ist etwas anderes, Gotthilfchen.« sagte sie kopfschüttelnd. »Und wer weiß auch –? Hat eine erst Bildung gelernt und sich bei feinen Leuten umgetan, die braucht auch einen Mann, dem sie nicht über den Kopf sieht. Für das Unglück kann freilich niemand – wenn's wirklich Unglück ist und nicht Verschuldung.«
Ich drückte ihr die Hand.
»Die alte Mama spricht gut«, bemerkte ich. »Aber der Meister Lange ist, wie ich sehe, ein hartherziger Mann, der gar nicht verdient, eines christlichen Pfarrers Sohn zu sein. Er kann nicht vergessen und nicht vergeben.«
Der Alte schnaufte ein paar Male zu. »Pah – pah – pah! Vergessen und vergeben – ja, dazu ist man gut genug – nach einem langen Leben voll Kränkungen. Aber es soll mir nicht darauf ankommen, auch einmal an der unrechten Stelle eine Wohltat zu üben – Gott sei Dank! Wir haben's dazu. Wenn die Frau also Geld braucht – sagen Sie nur, wieviel? Aber in runder Summe, alles in allem, damit's abgetan ist. Sie nehmen ja so viel Anteil an den Leuten; vielleicht haben Sie die Güte, es ihnen zu geben. Daß es von uns kommt, brauchen Sie wohl nicht zu sagen. Die Herren Regierungsräte haben das zusammengelegt oder so etwas – Sie werden sich schon eine Ausrede finden. Also wieviel?«
»Es handelt sich nicht darum«, lehnte ich ab, innerlich auch schon über dieses Anerbieten erfreut. »So dürftig die Umstände Ihrer Schwägerin sind, sie würde sich gewiß zuletzt an Sie mit der Bitte um eine Geldunterstützung gewandt haben. Und nun gar so – sich eine milde Gabe zuwerfen lassen –! Da kennen Sie eben Ihre Schwägerin nicht. Nein, sie hatte besseres Vertrauen zu Ihnen, lieber Meister; sie wünscht, daß Sie der Vormund ihrer Kinder werden sollen.«
»Was? der Vormund ihrer Kinder – ich?« rief er aufs äußerste überrascht. »Daraus wird nichts!«
»Daraus wird etwas«, sagte ich ruhig. »Die Vorladung ist unterwegs und wird Ihnen in den nächsten Tagen zugehen.«
»Ich nehme diese Berufung nicht an,« opponierte er weiter; »ich nehme sie auf keinen Fall an. Ich habe das Recht, eine Vormundschaft abzulehnen, die ich nicht pflichtmäßig führen kann. Es ist wider mein Gewissen – wider mein Gefühl! Und ich will doch sehen, ob das Gericht einen Bürger, der sonst jedes Ehrenamt bereitwillig übernommen hat, durch Geldstrafen zwingen darf –«
»Wer spricht denn von Zwang, lieber Meister?« begütigte ich. »Es ist ja bekannt, daß Sie sich aus so und so viel Talern nicht viel machen. Nein, niemand will Sie zwingen. Sie werden volle Freiheit haben, die Vormundschaft über Ihres Bruders Kinder anzunehmen oder abzulehnen, aber Sie werden sich darüber vor Gericht zu Protokoll zu erklären haben, und ich weiß, daß Sie dort nicht ablehnen werden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich Ihre Ehrenhaftigkeit kenne. Sie werden nicht wollen, daß da in den Akten stehe: der Meister Gotthilf Lange weigert sich, der Vormund von seines Bruders Kindern zu sein, weil er mit seinem Bruder in Feindschaft gelebt hat und ihm das über das Grab hinaus nicht vergessen kann.«
Er blieb stehen und sah mich eine Weile starr an. »Das wird nicht geschrieben werden«, sagte er dann mit etwas unsicherer Stimme.
»Das wird geschrieben werden,« antwortete ich fest, »ich habe darüber nicht den mindesten Zweifel, denn der Termin steht vor mir selbst an.«
»Vor Ihnen?« Ihm wurde heiß und er schob das Sammetkäppchen von der Stirn fort.
»Vor mir.«
»Aber warum tun Sie mir das?« fragte er wieder nach einer Pause in plötzlich ganz weichem Ton. »Sie kennen ja doch meine Lebensgeschichte –«
»Eben weil ich sie kenne«, versicherte ich. »Sie wissen, daß niemand glücklich wird, der nicht zum Frieden mit sich selbst kommt; und in Ihrem Herzen gibt es an einer bösen Stelle noch Kampf und Streit. Sie haben gemeint, mit sich fertig geworden zu sein, und es war ein Irrtum. Das Leid, das Ihnen angetan worden, ist noch nicht überwunden, und Sie möchten sich gar einbilden, daß Ihnen am wohlsten wäre, wenn man es ruhig fortwühlen ließe. Aber Ihr Freund weiß es besser, und er müßte ein schlechter Freund sein, wenn er Ihnen nicht volle Gesundheit und ein frohes Alter wünschte. Und darum –«
»Er wird sich's überlegen«, fiel die alte Mama sanft ein, indem sie sich eine Träne aus dem Auge wischte. »Nicht wahr, Gotthilfchen, du wirst dir's überlegen? Ein frohes Alter – das ist etwas Schönes, und es ist doch wahr: ganz froh sein kann man nicht, wenn man auf der Welt noch irgendeinen weiß, auf den man einen Groll hat. Lassen Sie ihn nur – er wird sich's überlegen.«
Der Meister sagte kein Wort dazu; sein Gesicht sah noch immer finster aus, und er drückte mir nicht die Hand, die ich ihm zum Abschied reichte.
Aber ich behielt doch recht. Zum bestimmten Terminstage erschien er im Sonntagsrock auf dem Gericht, trat in sehr feierlicher Haltung hinter meinen Stuhl und legte mit einem unterdrückten Seufzer seine Vorladung auf den Tisch. »So Gott will!« sagte er ernst. Es wurde unter uns über die Sache nicht weiter gesprochen, sondern als selbstverständlich angenommen, daß kein Hindernis obwalte. Und so schrieb ich das Protokoll, hielt ihm die Pflichten eines Vormundes vor und verpflichtete ihn durch Handschlag, wie das Gesetz es will, und er ließ alles ruhig geschehen, ja, man würde ihm nicht einmal irgend welche Erregtheit angemerkt haben, wenn er nicht zur Unterschrift die Feder zu tief ins Tintenfaß getaucht und einen großen Klecks aufs Papier gemacht hätte.
»Punktum!« sagte ich lachend.
»Ist's nun gut?« fragte er, nachdem er die Brille ins Futteral gesteckt und in der Rocktasche verwahrt hatte. Das konnte heißen sollen, ob er abgefertigt sei; aber ich nahm's anders.
»Je nach dem,« meinte ich; »ein treuer Vormund wird doch zum wenigsten seine Mündel kennen lernen müssen.«
»Darum eben!« sagte er, drehte seinen Hut zwischen den Händen, schielte seitwärts nach den Referendarien, die an demselben Tisch arbeiteten, und hüstelte verlegen. »Wenn ich mit Ihnen ein Wörtchen im stillen – – Ich stand auf und nahm ihn in die Ecke. »Ich möchte zu der Frau Geheimen – zu meiner Frau Schwägerin wohl hingehen,« äußerte er sich zögernd, »zumal sie doch schon zuerst bei mir gewesen ist; aber das wird anfangs sehr peinlich für uns beide sein, da wir einander doch nicht kennen, und so mancherlei vorgewesen ist. Da habe ich denn gedacht, wenn Sie die Güte haben wollten –«
»Mitzukommen und Sie einzuführen?« half ich ein. »Sehr gern, lieber Meister, sehr gern. Und sogleich, wenn Sie wollen. Warten Sie dort zehn Minuten! Ich erledige nur noch die dringendsten Geschäfte, und wir gehen zusammen.«
Das schien ihn nicht wenig zu erleichtern. Auf der Straße verhielt er sich zwar noch ziemlich schweigsam, aber was er sprach, klang doch heiterer und zuversichtlicher. Nur als wir in das Haus kamen, in dessen dritter Etage die Geheime Rätin wohnen sollte, blieb er eine Weile, auf den Stock gestützt, stehen und grübelte in sich hinein. »Ich hätt's doch nicht gedacht«, knurrte er leise. Dann aber schüttelte er sich, als ob er alle Bedenken von den Schultern werfen wollte, und schritt entschlossen die Treppen aufwärts.
Eine Überraschung ganz eigener Art konnte ihm nicht erspart werden. Als ich anklopfte, entstand innen ein Geräusch, als ob ein Stuhl hastig fortgeschoben würde, und als wir auf das schüchterne »Herein« einer weiblichen Stimme eintraten, stand – der Assessor vor uns. Vater und Sohn betrachteten einander verwundert, und der Alte hatte wahrscheinlich in diesem Augenblick überhaupt keinen andern Gedanken, als daß es höchst verwunderlich sei, seinen Sohn an diesem Orte zu treffen.
»Du hier?« fragte er endlich, noch ganz benommen.
»Bei meiner Tante«, antwortete der Assessor, indem er sich der Dame im Trauerkleide zuwandte, die aufgestanden war und mich mit einem forschenden Blick ansah.
»Bei deiner Tante,« wiederholte der Meister mit halber Stimme, »so –!«
Auf einem Stuhl am Fenster saß Ottilie. Sie hatte ein Knäul in den Händen, das zu der Baumwolle gehörte, die lose auf einem zweiten, mehr in die Stube hineingeschobenen Stuhl lag, den wahrscheinlich der Assessor verlassen hatte. Halb erschreckt, halb neugierig blickte sie, ohne sich zu regen, den Eintretenden entgegen, und eine dunkle Röte überlief ihre Wangen, als sie begriff, um was es sich handelte. Sie nahm nun schnell das Gebinde Baumwolle auf und warf es in einen Arbeitskorb.
Ich machte der peinlichen und doch für den bloßen Zuschauer sehr komischen Szene ein Ende, indem ich den würdigen Meister Lange der Geheimen Rätin vorstellte und hinzufügte, daß derselbe die Güte gehabt habe, sich soeben als Vormund ihrer Kinder verpflichten zu lassen. Das bekümmerte Gesicht der armen Witwe verklärte sich. »O! wie dankbar bin ich Ihnen!« rief sie vortretend und seine Hand ergreifend. »Ich hatte so wenig Hoffnung – so wenig! Und ich würde auch gar nicht gewagt haben, wenn nicht der Herr Richter selbst –« sie drückte nun auch mir die Hand und wandte sich gleich wieder zu dem Alten – »ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von Herzen.«
Lange schien durch dieses freundliche Entgegenkommen innerlichst erwärmt zu werden; er hatte sich die »Geheime Rätin« sicher ganz anders vorgestellt, und es kam über ihn selbst eine Bewegung, die sich sehr sonderbar in einem wohlbehaglichen Lächeln auf dem eben noch starren Gesicht äußerte. »Wenn's Ihnen nur ein einfacher Handwerker recht machen kann«, sagte er, sich nach seinem Sohne umsehend, dessen Gegenwart ihn offenbar genierte.
»O, wie sprechen Sie doch, lieber Herr Schwager!« verwies die Witwe sanft. »Weiß ich denn nicht längst von Ihrem lieben Sohne, mit wem ich's zu tun habe? Und sollte es Ihnen nicht bekannt geworden sein, in wie traurigen Umständen mein Mann seine Familie hat verlassen müssen? Ich wünschte, mein Sohn könnte ein so achtbarer und nützlicher Bürger werden, wie Sie es sind, und ich bitte Sie, ihn zu allem Guten anzuleiten, damit er einmal ein braver Mensch wird und sein Brot in Ehren verdient. Er ist noch in der Schule; aber dort meine Tochter – Ottilie! danke deinem lieben Onkel, daß er dein Vormund sein will.«
»Was ist da zu danken? Was ist da zu danken?« wehrte der alte Herr ab. Aber das Mädchen war schon auf ihn zugegangen, hatte ihm Hut und Stock abgenommen und gab ihm einen hellklingenden Kuß.
»Ich wußte es ja schon«, sagte sie, indem sie ihm nun auch einen Stuhl hinsetzte und ihn am Arme niederzog.
»Sie wußten es?« fragte er überrascht und zugleich wieder durch die Aufmerksamkeiten abgeleitet, die ihm die stattliche und hübsche junge Dame bewies; »aber ich bitte Sie, Fräulein, bemühen Sie sich doch nicht!«
»Fräulein!« lachte sie auf. »Nein, das ist nicht hübsch, Onkelchen, daß ein so naher Verwandter so fremd tut. Gesehen haben wir uns zwar im Leben noch nicht, aber dafür kann doch keiner, und Onkel und Nichte bleiben wir doch immer. Oder soll ich den Herrn Vormund ganz feierlich ›Sie‹ titulieren?«
Der Meister schüttelte schmunzelnd den Kopf, sah bald mich, bald die Rätin an, als ob er fragen sollte: »Was meint ihr dazu?« hustete, wie einer, der etwas in die unrechte Kehle bekommen hat, und murmelte dazwischen: »Es gewöhnt sich doch nicht so leicht. Aber wenn wir öfter zusammen sein werden – und es macht sich auf gute Art – und die Frau Mama hat nichts dagegen –« Sein Blick schweifte über den Assessor hin, der vergebens ein schelmisches Lächeln zu unterdrücken suchte, und nun fing der Alte sich über sich selbst zu ärgern an und richtete sich höher auf. »Freilich, Onkel und Nichte,« sagte er, »und alles andere ist sehr gleichgültig, und mein Sohn ist denn doch auch, was mein Bruder gewesen ist, und kann, so Gott will, auch noch höher hinauf, und wenn der Onkel auch nur ein Schuhmacher ist, so braucht sich doch niemand seiner zu schämen – und so ist's gut!« Er zog das Taschentuch hervor und trocknete die Stirn.
»Und ich darf also ›Du‹ sagen, Onkelchen?« fragte das Mädchen, ohne sich durch seine wunderlichen Exklamationen verwirren zu lassen. »Natürlich! Ich weiß ja, daß du ein seelenguter Mann bist. Soll ich sagen, von wem ich das erfahren habe?«
Er ließ sich's gefallen, daß sie sich auf seine Schulter stützte und ihm die Hand streichelte. »Dummes Zeug!« murmelte er in den Bart.
»Soll ich's sagen? – Von der Tante!«
»Von –?« Er drehte rasch den Kopf zurück.
»Von der Tante – von deiner Frau nämlich, die muß es doch am besten wissen. Ach! das ist ein vortreffliches altes Mütterchen.«
»Sie waren – du warst bei meiner Frau?« fragte er ganz verblüfft. »Und sie hat mir nichts davon erzählt?«
»Weil ich sie gebeten habe, es zu verschweigen, bis ich es selbst erzählen könnte. Ich mußte doch meiner Tante einen pflichtschuldigen Besuch machen nicht wahr? Und weil ich doch nicht wußte, wie ich aufgenommen werden würde, nannte ich mich lieber der alten Magd gar nicht und sagte nur ein armes Mädchen komme, um sich nach Näharbeit zu erkundigen. Und so kam ich hinauf in die Stube, und als ich erst dort war, fand sich das andere leicht. Wir haben ein bißchen zusammen geweint und ein bißchen zusammen gelacht, und sie hat mich endlich mit gutem Troste entlassen, daß der Onkel gar nicht so schlimm sei und sich schon halb und halb entschlossen habe, unser Vormund zu werden. Siehst du, so weiß ich's!«
Meister Lange zupfte seinen grauen Bart und wiegte nachdenklich den Kopf. »Darum redete sie auch so halsstarrig zu,« sagte er vor sich hin, »ei, ei – die alte Mama –!« Dann stand er auf und meinte, es sei genug für heute, man müsse auch etwas auf den andern Tag lassen, und die Frau Schwägerin wüßte ja, wo er zu finden sei wenn der Vormund einhelfen solle. Offenbar wollte er gegen die Festung, in der sich der alte Groll verschanzt hatte, nicht zu heftig anrennen lassen, weil er die Mauern schwach werden fühlte. Es sollte nicht so schnell gehen mit der Freundschaft. »Bleibst du noch?« fragte er seinen Sohn; aber es klang, als ob er eigentlich sagte: »Du kommst doch mit?«
Der Assessor verstand ihn sehr gut und empfahl sich gleichfalls. Aber auf der Straße trennte er sich sehr bald von uns unter irgend einem Vorwande. Ich konnte mir denken, daß er jetzt ein Gespräch mit seinem Vater unter vier Augen zu vermeiden wünschte.
Wir beide gingen noch eine Strecke schweigend fort. Erst als unsere Wege sich trennten, sagte der Meister: »Was halten Sie nun davon?«
»Wovon?« fragte ich, wirklich nicht erratend, wohin seine stillen Gedanken sich gewandt haben mochten.
»Ach – daß mein Sohn da –«
»Ihr Sohn? Was weiter?«
»Hm – ich glaube, die Bekanntschaft ist gar nicht hier erst angeknüpft.«
»Kann wohl sein.«
»Aber gegen mein ausdrückliches Verbot –«
»Er ist ja kein Kind mehr.«
»Hm – aber er hat noch einen Vater am Leben, und in gewissen Fällen –«
»In gewissen Fällen, lieber Meister,« sagte ich, indem ich ihn beim Knopfe faßte und ein wenig zu mir heranzog, »in gewissen Fällen ist's allemal gut, wenn die Väter nicht weiser sein wollen als die Kinder. Es gibt Dinge, über die man sich nicht den Kopf zerbrechen muß. Der Fromme hat einen Spruch: ›Der Mensch denkt, und Gott lenkt‹ – mag sein, daß wir dem alten Herrn da oben zu viel zumuten, aber daß der Mensch ›denkt‹, ist wohl gewiß, und daß die Weltregierung nach unserem Denken herzlich wenig fragt, nicht minder. Es hat auch seine guten Gründe, lieber Meister.«
Er folgte meinen Worten mit so gespannter Aufmerksamkeit, als ob irgend ein wichtiges Geheimnis enthüllt werden sollte, und er sah mich noch immer erwartungsvoll an, als ich schon schwieg. Dann ließ er langsam den Kopf auf und ab nicken, murmelte ein leises »Hm – Hm,« zog ehrerbietig den Hut und ging.
Von dem, was noch zu berichten ist, bin ich nicht durchweg Augenzeuge gewesen, wie bei dem vorigen, aber es ist gleichwohl gut verbürgt. Keine Eiche fällt auf einen Hieb, und Meister Lange gehörte zu diesen knorrigen Gewächsen, die meine Heimat noch erzeugt. Nachdem einmal Bahn gebrochen war, half kein Sträuben weiter. Der Verkehr der beiden Familien wurde, wenn auch nicht von Tag zu Tag, so doch von Woche zu Woche intimer. Man muß es der alten Mama zur Ehre nachsagen, daß sie reichlich das ihrige dazu beitrug, eine aufrichtige Versöhnung zustande zu bringen. Erst jetzt lernte ich diese merkwürdige Frau recht schätzen, die in dem Stübchen hinten auf ihrem Lehnstuhle am Spinnrade so sicher saß und ihre kleine Welt beherrschte, daß alles, was sich ihr näherte, ungezwungen in ihren Bann kam und sich ihrer Weise anbequemen mußte. In ihrer Schlichtheit lag zugleich eine ganz eigene Vornehmheit, die jedem seine Ehre gab, um ihrer Ehre gewiß zu bleiben, und daraus erwuchs eine solche Sicherheit des Benehmens, daß man sich in ihrer Gegenwart immer behaglich fühlte, auch wenn man über ihre altmodische Art lächeln mußte. So fand sich denn auch bald zwischen ihr und der Geheimen Rätin ein Verhältnis, das keinen Teil beengte und bei aller Verschiedenheit des Bildungsgrades und der Lebensstellung dadurch, daß immer nur das Gleichartige und Gemeinsame berührt wurde, selbst der Vertraulichkeit nicht entbehrte. Ottilie wurde ihr erklärter Liebling. Das muntere und kluge Mädchen lauschte ihr alle ihre kleinen Eigenheiten ab und ließ es sich nicht nehmen, sie bei ihren Besuchen in der Wirtschaft zu unterstützen. Wenn dann einmal ihre Mutter ansprach, so hatte die alte Frau immer von dem lieben Kinde zu erzählen, und die Rätin unterließ dann ihrerseits nicht, zu dem trefflichen Sohne Glück zu wünschen, der ein rechter Stolz der Familie sei. Dann leuchteten ihr die Augen und sie sagte: »Er hat's von seinem Großvater, aber von meinem Gotthilfchen ist auch etwas dabei.«
Meister Lange nahm seine vormundschaftlichen Pflichten sehr ernst; es war ihm lieb, daß sie jederzeit den besten Vorwand zu den mancherlei Wohltaten abgaben, die eigentlich auf Rechnung der verwandtschaftlichen Rücksichten und seines guten Herzens kamen. Er gab nicht verschwenderisch, aber immer an der rechten Stelle und auf die beste Art, oft durch seine Frau. Sein Hauptaugenmerk war mit der Rätin darauf gerichtet, daß »aus den Kindern etwas würde«; er sorgte deshalb auch dafür, daß Ottilie nun wirklich ein Seminar besuchte und sich zum Gouvernantenexamen vorbereitete. »Ob ein armes Mädchen aus gutem Stande einen Mann findet,« meinte er, »ist ja doch zweifelhaft, und wer auf eigenen Füßen stehen kann, steht am sichersten.« Gewisse Gedanken und Vorstellungen ließ er sich noch immer ungern nahe kommen.
Übrigens legte die Rätin auch ihrerseits die Hände nicht in den Schoß. »Ich bin Ihnen für jede Wohltat dankbar,« sagte sie zu Lange, »die Sie mir und den Kindern zufließen lassen, wenn Sie aber der gute Wirt sind, für den ich Sie halte, so vertrauen Sie mir lieber leihweise ein kleines Kapital an, mit dem ich eine Pension für Mädchen begründen kann; ich will es nebst den Zinsen ehrlich abtragen.« Das gefiel ihm, und die Angelegenheit wurde sofort eifrig betrieben.
Das Lob, eine sehr verständige Frau zu sein, erwarb sich seine Schwägerin aber im vollsten Maße, als sie nach der Einsegnung ihres Knaben, die der Herr Vormund übrigens ganz aus eigener Tasche besorgte, dessen guten Rat einholte, was nun weiter mit ihm anzufangen sei. »Er hat nicht den besten Kopf zum Studieren,« meinte sie, »und wenn es auch daran nicht fehlte, so werde ich doch bei allem Fleiß nicht die Mittel gewinnen, ihn noch viele Jahre zu unterhalten. Schließlich ist es nicht einmal ein Glück, wenn er sich mühsam durchquält, um eine dürftige Anstellung zu erreichen. Mag er werden, was sein Urgroßvater gewesen ist, ein Handwerker, und mag es ihm dabei so gut gelingen wie seinem Onkel, an dem er das trefflichste Muster hat! Was meinen Sie, lieber Herr Schwager, wenn Sie ihn selbst in die Lehre nähmen? Ich würde dann wegen seiner Zukunft ganz beruhigt sein.« Das war für Meister Lange eine Genugtuung, die das letzte Körnchen Eis zum Schmelzen brachte: der Sohn seines Bruders, der den armen Handwerksgesellen verleugnet hatte, sein Lehrling –! das hatte er sich nicht träumen lassen. Die Sache schien ihm so wichtig, daß er mich besuchte, nur um mir Mitteilung davon zu machen, und aus jedem seiner Worte sprach die Befriedigung über diese unerwartete Wendung der Geschicke.
Aber ganz gegen seine Gewohnheit war er nach wenigen Tagen schon wieder da, und diesmal sehr niedergeschlagen und kleinlaut. Die alte Mama hatte Bedenken gehabt, und er hinterher auch. »Es ist doch eigentlich eine Niederträchtigkeit,« drückte er sich in seiner verärgerten Stimmung etwas hart aus, »daß man immer zuerst an sich und seine kleinen Vorteile denkt. Da freut es mich, daß der Sohn eines Regierungsrats Schuster werden soll, und ich vergesse ganz darüber, daß ich selbst davon zu leiden gehabt habe, daß eines Pfarrers Sohn Schuster wurde. Und jeder hat doch nicht einen Querkopf wie ich, der allenfalls auch eine Mauer niederwirft. Wenn's dem Jungen nun aber einmal schlecht bekommen sollte, und er würde mir Vorwürfe machen – seinem leiblichen Onkel und verordneten Vormund – daß ich nichts an ihn gewandt hätte, ob ich's doch konnte, ich würde mich, glaube ich, im Sarge umdrehen und mich mit dem Gesicht nach unten legen – vor Scham. Denn wenn es auch schade ist um das alte Schusterhaus, das mein Sohn doch nicht brauchen kann, und wenn sich's auch ganz gut denken ließe, daß ich den Jungen zu einem tüchtigen Meister ausbildete und daß er dann mein Gehilfe bliebe, solange ich lebte, und nach meinem Tode das Geschäft übernähme, und wenn es dann auch nicht einmal nötig wäre, den Namen Lange vom Schild draußen fortzupinseln – es geht doch nicht an, ich kann's nicht verantworten. Mag meine Schwägerin auf etwas anderes denken!«
Ich konnte mich nur über diese auch jetzt probehaltige Gewissenhaftigkeit freuen und seine Vorsicht loben, aber das alte Handwerkerhaus lag mir doch selbst schon zu sehr am Herzen, als daß ich nicht nach einem Beruhigungsmittel hätte suchen sollen. »Studieren wird ihr Neffe sicher nicht,« kalkulierte ich laut; »er lernt schwer und ist in allen Fächern zurück. Aber damit ist freilich noch nicht gesagt, daß er gerade Schuhmacher werden muß, wenn schon ich nicht einsehe, warum er nicht ebensogut Schuhmacher werden soll, wie etwas anderes, besonders wenn er schon mit so glänzenden Aussichten in die Lehre tritt. Aber jeder hat seinen Geschmack, und Zwang tut niemals gut. Ich will Ihnen etwas raten: nehmen Sie den Knaben in Ihr Haus; lassen Sie ihn vorläufig noch in die Schule gehen, damit er sein Wissen vervollständigt, unterrichten Sie ihn nebenher auch in Ihrem Handwerk, und mag er sich dann nach einem Jahre selbst entscheiden. Will er dann auslernen – gut! Aber dabei dürfen Sie es nicht bewenden lassen; er muß dann auch noch zu einem Kaufmann in die Lehre, damit er später einen Schritt vorwärts kann. Jede Zeit hat ihre Erwerbsweise und die unsere drängt auf den Betrieb im großen; dazu aber gehören kaufmännische Kenntnisse. Ich denke mir, es wird dem alten Hause kein Abbruch an seinem Ruhm geschehen, wenn ein Fabrikant sein Geschäftslokal darin hat. Eine Frau Meisterin, wie Sie einmal, findet ja doch niemand wieder darin.«
Eine dicke Träne rollte ihm in den grauen Bart. »Nein – niemand wieder« – sagte er »und mit den zünftigen Meistern ist's auch Matthäi am letzten. Sie haben recht und so soll es geschehen.« Er preßte meine Hand, als ob er sie gar nicht loslassen könnte. Ich versprach ihm, ihn zu begleiten, um der alten Frau die Sache plausibel zu machen. »Mir traut sie in diesem Punkte nicht recht«, gestand er.
Die alte Mama aber hatte, als wir bei ihr anlangten, den Kopf von ganz anderen Dingen voll und hörte kaum auf unsere Reden. »Ich bin's zufrieden, Gotthilfchen,« sagte sie, »wie dir's gut scheint – so oder so; wenn du nur auch mit dem andern –« Sie stockte und zupfte an ihrer Schürze und zog sie über die Knie hin noch breiter aus, als sie schon an sich war. »Was in aller Welt hast du denn?« rief der Meister, ärgerlich über ihre Gleichgültigkeit. »Letzte Nacht hat dich's doch gar nicht schlafen lassen und jetzt –«
»Es ist ja gut,« meinte sie hüstelnd, »daß sich's so einrichten läßt, und morgen werde ich mich vielleicht darüber in aller Ruhe freuen können, aber heute, Gotthilfchen –«
»Was ist denn seit einer Stunde vorgegangen?« »Es ist ein Brief angekommen, Gotthilfchen, mit einem großen Siegel, und er ist auch schon aufgemacht –« sie holte unter ihrer Schürze ein Papier vor und reichte es ihm – »der da!«
»Was wird's denn sein?« sagte er, den Bogen öffnend. »Mein Sohn ist Kreisrichter geworden,« wandte er sich gleich darauf an mich. »Daran ist ja doch nichts Besonderes!« Sein ganzes Gesicht war aber heller Sonnenschein.
»Ja, aber nun er eine Stelle und ein selbstständiges Einkommen hat,« schmunzelte die alte Mama, »will er auch gleich heiraten.«
»Was?« Das Blatt fiel auf den Tisch.
»Heiraten will er, Gotthilfchen, und seine Frau mitnehmen. In der kleinen Stadt ist's sonst gar zu langweilig, meint er.«
»Aber dazu muß er dann doch zuerst eine Braut haben, sollt' ich denken.«
»Gewiß – und die hat er auch schon.«
»Er hat –?«
»Eine Braut, Gotthilfchen, und sie ist ein sehr hübsches und gebildetes Mädchen, die ihn wohl glücklich machen kann –«
»Was? Du kennst sie gar schon?«
»– nur ein bißchen arm. Ja, mein Gott, dafür hat er ja sein Einkommen, und er sagt, daß er von uns gar nichts haben wolle und auf sich selbst stehen könne, jetzt und künftig, aber daß ihm da niemand widersprechen solle, der ihn lieb habe – auch der Vater nicht.«
Der Meister wurde feuerrot. »Wer ist's denn aber?« rief er, »das wird der Vater doch wohl wissen können?«
Sie nahm seine Hand und streichelte sie. »Tu' doch nicht so, Gotthilfchen,« schmeichelte sie, »als ob du nichts gemerkt hättest! Siehst du, mir hat keiner etwas gesagt und ich habe doch alles gewußt. Aber wenn du ein Weilchen warten willst – er ging seine Braut abholen. Und da geht eben die Tür, wenn ich recht höre, und wahrhaftig! – da sind sie.«
Der Assessor trat mit Ottilie ins Zimmer. »Vater,« sagte er, »wenn du sie nicht anerkennst, hast du keinen Sohn mehr!« Ottilie aber warf sich an seine Brust und rief: »Ich kann ja doch nichts dafür, daß er mir gut ist.«
Meister Lange kämpfte noch mit sich, aber nur einen Augenblick. Dann schloß er die beiden Verlobten in seine Arme und küßte sie herzlich. »Ich werde bald sterben,« schluchzte er, »ich habe gar keine Galle mehr.«
Zur Hochzeit bin ich auch eingeladen gewesen und habe zwischen dem Meister Lange und der Frau Geheimrätin gesessen. Gegenüber saß der Doktor, der mich einmal in das Haus eingeführt hatte, zwischen der alten Mama und einer Schwester des Meisters, die aus dem Stift herübergekommen war, um das wichtige Familienfest mitzufeiern. Obenan hatten Bräutigam und Braut ihren Platz und unten der Altgeselle den seinigen neben dem Bruder der Braut. Das hatte Meister Lange sich nicht nehmen lassen. Der kleine Schuh der Prinzessin von Polen stand mitten auf dem Tisch unter vielen Blumen; der aber über dem Sofa, der alte Herr Pfarrer im schwarzen Talar, mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust, sah heute so froh aus, als ob er sagen wollte: Der Starke zwingt's!
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