Ernst Wichert
Für tot erklärt
Ernst Wichert

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VI.

Es gab wieder eine Hochzeit, und eine stattliche obendrein. Das kleine Fischerhaus war von unten bis oben mit grünen Birkenreisern geschmückt; um Tür- und Fenstergerüste zogen sich Tannengirlanden, in welche bunte Blumen und Bänder eingebunden waren; ein Gemisch von gehackten Tannen und gelben Blüten war von der Haustür bis zum Hof hinunter über den weißen Sand gestreut, und auf dem mit Laubwerk aufgeputzten Mast vor dem Hause wehte unter dem roten Wimpel eine große Fahne mit einem mächtigen schwarzen Adler, sobald von Zeit zu Zeit einmal ein Luftzug das Flaggentuch hob. Das geschah freilich, wie gesagt, nur von Zeit zu Zeit, denn es war ein stiller Sommertag, und der blaue Himmel wölbte sich so hoch und rein über der freundlichen Erde, als ob er nie vorher durch ein Wölkchen getrübt gewesen wäre und nie wieder getrübt werden könnte. Die Nehrung selbst schien hochzeitliche Toilette gemacht zu haben, so sauber hoben sich die weißen Sandberge im Sonnenschein von dem lichtblauen Hintergrunde ab, und das Haff lag so ruhig da, wie ein stiller Landsee; kaum daß die durchsichtig grünliche Fläche sich an den nahe dem Ufer vorragenden Steinen ein wenig hob und senkte, oder ein darüber fortstreichendes Lüftchen den Wasserspiegel kräuselte. Es war eine feierliche Ruhe in der ganzen Natur.

Am Haffstrande zeigte sich eine kleine Flottille von Fischerbooten, alle mit grünem Laubwerk und bunten Wimpeln geschmückt. Ein größeres namentlich war mit einem förmlichen Laubdach überdeckt und fast luxuriös beflaggt. Es stellte das Brautboot vor und lag recht in der Mitte, mit der Spitze ein wenig aufs Land gezogen, damit man trockenen Fußes hineingelangen könnte. Rechts zogen sich die Boote der Nehrunger Fischer hin, von denen kein einziges zurückbleiben wollte, links die der Hochzeitsgäste von drüben, soweit dieselben sich bei der Abholung beteiligten. Kein freundlicheres Bild ließ sich aussinnen.

In dem Fischerhause und vor demselben war ein buntes Leben und Treiben. Aus den geöffneten Fenstern der kleinen Stube tönte Musik, zwei Violinen, ein Baß, eine Klarinette und ganz besonders vernehmlich eine Trompete, die so oft wie möglich die ihr angewiesene Mittelstimme verließ und mit der Klarinette um die Wette hoch hinauf fistulierte. Die Musikanten saßen in einer Ecke auf einer trittartigen Erhöhung und hatten ein Fäßchen Bier in ihrer Mitte, dem namentlich der Trompeter oft mitten im Spiel herzhaft zusprach, um dann um so kräftiger wieder einzusetzen. In der Ecke gegenüber war nach litauischer Sitte die Brautlaube von grünen Birkenzweigen errichtet, und davor standen lange, mit weißem Linnen bedeckte Tische, beladen mit ganzen Schüsseln von Fladen und Topfkuchen, Bierkannen und Likörflaschen. Es war immer ein dichtes Gedränge rund umher, denn die Gäste, sämtlich in ihren besten Sonntagskleidern und mit den vergnügtesten Feiertagsgesichtern, ließen sich durchaus nicht nötigen. Sie wußten ja, daß es dem reichen Konrad Hilgruber eine rechte Freude war, wenn sie ihm schlagend den Beweis lieferten, wie gut es ihnen schmeckte, und womöglich gar keinen Rest in Schüsseln und Flaschen ließen. Hatten sie doch gehört, daß dies nur ein kleiner Morgenimbiß wäre, und daß drüben km Kruge noch ganz andere Vorräte aufgespeichert lägen und ihrer harrten.

In der Brautlaube saßen Konrad und Annika. Sie trug ein Kleid, nach deutscher Sitte gemacht, wie es sich für die künftige Krügerin ziemte, und eine Haube mit Blumen, die ihr ein recht fremdes Aussehen gab, aber von allen Anwesenden am meisten bewundert wurde. Der Bräutigam hatte allen Grund, kein Auge von ihr zu lassen, denn sie war wunderschön trotz der bleichen Gesichtsfarbe und zumeist niedergeschlagenen Augen. Er hielt ihre Hand gefaßt und sprach ihr von Zeit zu Zeit freundlich zu, und dann lächelte sie still und nickte ein wenig, ohne zu ihm aufzusehen, und streichelte mit der andern Hand das blonde Haar des kleinen Peter, der vor ihr stand und den Kopf hintenüber auf ihren Schoß gelegt hatte, eifrig bemüht, einem ungeheuren Stück Rosinenfladen möglichst schnell den Rest zu geben.

»Ich bin so froh, Annika,« sagte er herzlich, »daß nun endlich der Tag gekommen ist, der uns vereint. Dir danke ich mein Leben; aber das Leben wäre mir wenig wert gewesen, wenn du dich nicht zugleich entschlossen hättest, es mir lieb zu machen. Ach, ich war recht arm vorher, und nun möchte ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen!«

Sie drückte seine Hand und schwieg.

»Und du solltest auch froh sein, Annika,« fuhr er leiser flüsternd fort, »und den Leuten zeigen, daß du gern meine Braut bist und daß sie dir liebe Gäste sind. Ich weiß, daß du mir gut bist, aber ich wollte, daß jeder es sehen und seine Freude daran haben möchte.«

»Laß mir Zeit!« bat sie, indem sie den Kopf auf seine Schulter neigte. »Es wird sich finden, wenn wir erst drüben sind und alles vergessen sein wird, was hier –«

Ihre Stimme wurde unsicher; sie drückte das Tuch vor die feuchten Augen, schmiegte sich aber fester an ihn, um gleichsam durch ihre Zärtlichkeit den Eindruck zu mildern, den die Rückerinnerung an eine ihm unliebe Vergangenheit hervorgerufen haben mußte.

Er verstand sie. »Wenn du willst,« sagte er, »so brechen wir sofort auf; mir ist's recht.«

»Nein, nein!« antwortete sie schnell und wie erschreckt. »Nicht vor der bestimmten Zeit. Wer weiß, wann ich wieder einmal hier einspreche – und ich habe das Haus doch liebgehabt.« Dann sah sie ihn freundlich an, streichelte seine Backe und sagte recht mild und zutraulich: »Das mußt du mir nicht verdenken, Konrad; auch dein Haus soll mir lieb werden.«

Es kamen Hochzeitsgäste heran und hinderten die Fortsetzung des Gesprächs. Die Fischerfrauen der Nachbarschaft konnten nicht viel und nicht laut genug von dem Glück reden, das Annika machte. »Das passiert einem Nehrunger Kind selten,« meinte die Hanna Pippis, eine kleine, ziemlich beleibte Person mit verdächtig geröteter Nase, »daß es so zu Wohlstand kommt. Aber freilich bist du auch eigentlich kein rechtes Nehrunger Kind,« setzte sie hinzu, »und hast das Glück schon mitgebracht, denn den Peter Klars hätte auch manche von hier gern genommen.«

»Aber das muß wahr sein,« wandte sich Urte Gulbis an den Bräutigam, »Sie bekommen eine gute Frau, mit der Sie gewiß auskommen werden; sie ist mild wie ein Lamm und hat niemals einen Streit gehabt. Alles was recht ist!« Der Krüger reichte der auffallend langen und starkknochig gebauten Fischersfrau lachend die Hand und ließ sich dieselbe derb schütteln. Er wußte, daß sie in dem Ruf stand, ihren Mann zu prügeln, wenn er nicht nach ihrer Pfeife tanzen wollte, und würdigte ihr Lob also um so mehr. »Ich denke, Ihr seid für strenges Regiment, Urte«, scherzte er.

»Immer wie es sein muß, Herr Krüger,« antwortete sie ganz ernst zustimmend; »wenn der Mann liederlich ist, muß die Frau ihm die schlechten Gedanken austreiben. Na – das wird hoffentlich bei Ihnen nicht nötig sein!«

Die alte Lene war in ihrer Art ganz sentimental gestimmt, hatte fortwährend die weiße Schürze vor den Augen und greinte: »Ach, du mein Gottchen, wer hätte das gedacht, als hier so großer Gram war über den armen Peter Klars, und als nachher der alte Mann, sein Vater, hier in dieser Stube krank lag und ich bei ihm wachte, und die junge Frau gar nicht wußte, ob sie nun Witwe sei oder nicht – wer hätte das gedacht –! Und nun solche große Hochzeit mit Essen und Trinken vollauf und drüben ein stattliches Haus mit der schönen Wirtschaft, Scheunen und Stalle, Vieh und Pferde – da wird der kleine Peter alle Tage reiten können – ja wohl, mein Goldchen, das wirst du, und kannst dir aussuchen den Braunen oder den Schimmel; und wenn die alte Lene herüberkommt und zum Doktor will, dann wirst du sie nicht auf ihren alten Füßen laufen lassen, sondern anspannen lassen, wie ein großer Herr, für die alte Lene, die dich manches Mal auf dem Arm getragen hat. Nicht wahr, das wirst du, mein Goldfischchen?«

Dabei kauerte sie vor dem Kleinen nieder und küßte ihm die Hände und streichelte der Braut die Knie. »Nein! du wirst kein Seemann,« plauderte sie weiter, »du wirst kein Seemann, wie dein Vater, Peterchen. Das Wasser hat keine Balken – und mein Mann ist auch ertrunken, als einmal das Fischerboot umschlug. Aber mich hat hinterher keiner gefreit, und ich habe mir kümmerlich mein Brot verdienen müssen – ach Gott, ach Gott!«

Auch Hans Niels, der Graukopf, lebte noch, aber er war ganz blind geworden und tappte mit dem Stock umher. Die jungen Leute reichten ihm von Zeit zu Zeit ein Gläschen Kümmel und amüsierten sich über seine Redseligkeit. Da er nur mühsam einzelne Worte auffing, die ihm ins Ohr geschrien wurden, so wußte er nicht recht, was die ganze Festlichkeit zu bedeuten hatte, und reimte sich wieder in seinem schwachen Kopf eine ganz eigene Geschichte zusammen. Er erinnerte sich, daß Peter Klars zur See gegangen war und die Annika heiraten wollte, aber, daß er sie wirklich geheiratet hatte, war ihm in Vergessenheit gekommen, und da er nun etwas von Hochzeit hörte, meinte er nicht anders, als daß der Seemann, den man schon für tot gehalten hatte, zurückgekehrt sei und die Annika heimführe. Er hatte schon viel wunderliches Zeug darüber zu den Gästen gekost und wollte nun zum Brautpaar gebracht sein, um ihm den Segen zu geben. Er tappte am Tisch entlang bis zur Brautlaube, immer vor sich hinsprechend: »Wo ist die Annika? Ich kenne doch wohl die Annika – die hübsche Braut – wo ist denn die Annika und der Bräutigam, mein Junge – wo denn?«

Annika war froh, die alte Lene in ihren Herzensergüssen auf gute Art unterbrechen zu können, stand auf, reichte dem zitternden Greis die Hand und sagte ihm ins Ohr: »Hier, Hans Niels, setz' dich zu mir.«

Er lachte vergnügt. »Kann stehen, kann stehen,« schmunzelte er, immer mit dem Kopf nickend; »werde mich doch nicht in die Brautlaube setzen! Ja, vor fünfzig Jahren – vor fünfzig Jahren, da ging's schon – ha, ha, ha. Aber du hast einen guten Platz da – einen sehr guten Platz. Der Peter Klars ist ein braver Junge – hab' ihn ja über die Taufe gehalten vor fünfzig Jahren – oder ist's noch nicht so lange her? Kann sein, kann sein; aber brav ist er wie sein Vater, der Peter Klars, und sein Großvater, der hieß auch Peter Klars. Ja, was ich sagen wollte – du bist auch brav, Annika, und den braven Leuten geht's am Ende immer gut. Hast treu am Peter gehalten – obgleich alle Leute sagen, daß er auf der See ertrunken sei! Immer wie Gott will – wie Gott will; es ist auch nicht alles wahr, was die Leute sagen – immer wie Gott will. – Meine Dore hat dazumal auch auf mich warten müssen, lang, lang – fünfzig Jahre – oder nein, fünf Jahre, ganz recht, lange fünf Jahre; aber sie ist mir treu geblieben, bis sie starb; dafür kann kein Mensch, und nun find' ich sie gewiß einmal im Himmel. Wo ist der Peter Klars – deine Hand, mein Junge! Sagten schon alle, daß du ertrunken wärest – aber es ist nicht alles wahr, was die Leute sagen.«

Einer von den Nachbarn schrie ihm ins Ohr: »Das ist ja der Konrad Hilgruber, mit dem sie Hochzeit macht!« Der Alte nickte freundlich. »Hilgruber, ganz recht – das ist der Krüger drüben im Dorfe, ich kenn' ihn wohl, er hat eine schlimme Frau. Na, mag er sehen, wie er mit ihr zurecht kommt, er hat das Geld dazu. Sein Schnaps und Bier soll uns schmecken, Kinder. Juchhe!«

Er versuchte am Stock einen Hopser zu machen und wäre dabei bald rücklings übergefallen. Man lachte allerseits, nur die Annika lachte nicht, und der Bräutigam sah verlegen lächelnd zur Erde. Die Annika überließ der alten Lene den kleinen Peter und ging zur Tür hinaus und um das Haus herum, wo keiner von den Gästen sie störte, kniete in den Sand nieder und wehrte den Tränen nicht länger, die sie so lange gewaltsam hatte zurückpressen müssen. Sie meinte, es gar nicht überleben zu können, von dem Fischerhause zu scheiden, in dem sie einst so glücklich gewesen war. Es überkam sie der Gedanke, daß man auch den Toten treu sein müsse, wenn man sie recht geliebt habe, und wieder regte sich der alte Zweifel: ist er auch wirklich tot? Sie hätte gern nur noch einmal auf die hohe Düne steigen und aufs Meer schauen mögen, das sein Grab sein sollte. Aber sie konnte nicht hinaus, ohne von den Hochzeitsgästen gesehen zu werden, und sie überlegte auch, daß sie den guten Konrad nicht kränken dürfte, der doch nicht mit ihr fühlen könnte. Schon wurde es auch vor dem Hause laut; man lief nach dem Strande, um die Kähne flottzumachen, und erkundigte sich, wo die Braut geblieben sei. Sie durfte nicht länger verweilen, wenn sie nicht das ganze Fest stören wollte. Als sie sich erhob und einige schwankende Schritte machte, mußte sie sich an der Mauer halten; aber sie raffte gewaltsam alle Kraft zusammen, trocknete die Augen und trat mit heiterem Gesicht unter die Gäste. Nur Konrad wußte, daß sie geweint hatte, und wußte, warum.

Man fuhr ab. Die Musik auf einem besondern Boot voran, dann das Brautboot mit der grünen Laube gleich hintendrein, und nun das Gefolge ohne feste Ordnung, wie ein Keil, dessen breite Seite dem Lande zugekehrt war. Annika sah nicht mehr zurück. Sie lehnte sich an die Brust des Bräutigams, der sie umfaßt hatte, und flüsterte ihm zu: »Jetzt ist's überwunden – ganz gewiß.« – »Zeige meiner Mutter ein recht frohes Gesicht,« bat er, »sie macht sich sonst Gedanken.« –

Im Dorfe blieben nur einige Ausgedinger und alte Frauen bei den Kindern zurück, und Niklas Binsas, der dreizehnjährige Hütejunge, mußte wieder zu den Pferden auf die ziemlich entlegene Weide, die er nur auf eine Stunde hatte verlassen dürfen, um doch auch von der Hochzeit etwas abzubekommen. Er war Ortsarmer und schon vom siebenten Jahr ab drüben als Gänsejunge vermietet gewesen, seit vorigem Jahre aber nach seiner Einsegnung nach Hause genommen, um zu allerhand Diensten gebraucht zu werden. Als die kleine Flotte abfuhr, war er schon unterwegs über die hohe Düne nach der Wiese, die im Schutz einiger Birken und Weiden zwischen den Sandbergen lag. Er sah oft zurück nach den abfahrenden Kähnen und wäre gar zu gern auch des Krügers Gast gewesen. Aber er hatte nicht einmal einen Sonntagsrock und mußte sich solche Gedanken ganz und gar vergehen lassen.

Als er oben anlangte, hatte er die weite, spiegelglatte See vor sich. Ganz in der Ferne war ein Schiff sichtbar, das nur langsam von der Stelle rückte, obgleich die Masten bis hoch hinauf mit Segeln behängt waren. Es steuerte in der Richtung nach der Hafenstadt. Da Niklas sonst nichts zu tun hatte, warf er sich in den Sand und machte sich einen Zeitvertreib daraus, das Schiff zu beobachten, auf dem freilich selbst sein scharfes Auge einzelne Teile nur schwer zu unterscheiden vermochte.

Bei dieser Ausschau in die Ferne war ihm anfangs entgangen, daß sich noch ein anderes Fahrzeug auf dem Wasser zeigte. Es war ein Ruderboot, das sich in der Richtung vom Schiffe her nach dem Strande zu bewegte. Erst als es sich bis auf eine kleine halbe Stunde genähert hatte, fiel es ihm in die Augen, und fesselte nun seine ganze Aufmerksamkeit. War es in der Tat schon nichts Gewöhnliches, daß ein Schiff an dieser Stelle so nahe der Nehrung seinen Kurs auf die Seestadt hin nahm, so mußte noch mehr auffallen, daß hier ein Boot ausgesetzt wurde, selbst wenn das schöne Wetter eine Landung ganz ungefährlich machte. Bald erkannte Niklas deutlich zwei Ruderer, einen Mann am Steuer und einen vierten Mann vorn in der Spitze, der nicht beschäftigt war. Seine scharfsinnigsten Kombinationen reichten nicht aus, das Rätsel zu lösen.

Das Boot lief auf den Sand. Der vierte Mann ergriff einen Packen, der auf dem Boden unter der Ruderbank lag, verabschiedete sich von den übrigen und sprang hinaus. »Aha, ein Schmuggler!« dachte Niklas. Das Boot stieß sofort wieder ab, machte kehrt und stach in See. In einiger Entfernung vom Lande wurde ein Mast mit einem Segel aufgerichtet; doch konnten wegen des stillen Wetters die Ruder nicht ganz entbehrt werden.

Der Mann, der ans Land gesprungen war, gebärdete sich ganz unsinnig. Er warf sich auf die Erde nieder und drückte das Gesicht in den Sand, blieb eine Weile so liegen, richtete sich dann wieder auf, kniete nieder und hob die Arme wie ein Betender zum Himmel. »Das scheint ein Toller zu sein, den sie haben aussetzen müssen«, kalkulierte Niklas. Es wurde ihm etwas ängstlich zumute, als der Fremde seinen Packen aufnahm und sich auf den Weg landeinwärts machte. Er sah ihn über den Strand gehen und bald darauf auf der niedrigen Vordüne erscheinen, wo er sich nach rechts und links umschaute, offenbar, um sich zu orientieren. Dabei konnte ihm Niklas nicht unbemerkt bleiben, zumal derselbe aufgestanden war, um bequemer beobachten zu können. Der Fremde stieg sofort die Vordüne hinunter und schlug die Richtung nach der hohen Düne und nach der Stelle ein, wo der Hirt stand. Dem wird's schlecht gehen, dachte der Junge, er kommt gerade in den Triebsand, wenn er zwischen den Sandbergen hindurch will. Aber zu seiner großen Verwunderung vermied der Fremde die gefährliche, durch äußerliche Kennzeichen kaum unterscheidbare Grenze, machte dann einen kurzen Umweg am Sandberge hinauf und näherte sich darauf erst der hohen Düne. Niklas überlegte jetzt, ob es nicht das beste sei, davonzulaufen, aber die Neugierde überwand seine Furcht. Jetzt winkte ihm auch der Mann zu, und noch ehe er mit sich schlüssig werden konnte, stand derselbe schon an seiner Seite.

Er war nach seinen Kleidern ein Matrose; ein dichter, blonder Bart umzog das von der Sonne fast kupferrot verbrannte Gesicht, der in den Nacken gedrückte Hut ließ die ganze Stirn frei.

»Bist du aus dem Dorfe?« fragte er, den Jungen scharf fixierend, als ob er sich wunderte, einen Unbekannten anzutreffen.

»Ja, Herr, ich bin vom Dorfe«, antwortete Niklas schüchtern. »Seit dem vorigen Jahre haben die Fischer mich hergenommen, weil ich ihnen drüben nicht genug verdiene. Ich bin ein Ortsarmer.«

»So, so – darum«, murmelte der Matrose und schickte sich zum Gehen an. Nach einigen Schritten hielt er aber wieder, strich sich den Bart, rückte den Hut noch weiter von der Stirn zurück, so daß die blonden Haare sichtbar wurden, machte dann eine schnelle Wendung und kehrte zu Niklas zurück. »Wie geht's da unten?« fragte er, nach den Fischerhäusern zeigend. »Ich danke, gut!« erwiderte Niklas, jetzt schon vertraulicher geworden, da er merkte, daß ihm der Fremde nichts anhaben würde. »Wollt Ihr hinab?«

»Jawohl!« bestätigte der Matrose; »aber ich möchte mich vorher noch nach diesem und jenem erkundigen. Willst du mir Auskunft geben?«

Niklas meinte, daß er zu schlechter Zeit komme, da er nur wenige zu Hause treffen werde. »Sind die Fischer auf dem Haff?« fragte der Fremde.

Der Junge lachte. »Gewiß, aber nicht mit ihren Netzen. Wenn Ihr die Augen anstrengt, könnt Ihr dort noch die Boote auf dem Wasser bemerken.«

»Was gibt's denn?« forschte der andere.

»Hochzeit, Herr, große Hochzeit drüben im Kirchdorf, und unsere Fischer sind dazu eingeladen; die Braut ist von hier.«

Der Matrose schien sich wenig für diese Mitteilung zu interessieren. »So, so, Hochzeit –« brummte er, nachdenklich vor sich hinsehend; »wer weiß, wen man zu Hause trifft.«

»Zu wem wollt Ihr denn?« fragte Niklas.

Er erhielt keine Antwort darauf; der andere schien die Frage ganz überhört zu haben. Er wühlte mit dem Fuß im losen Sande und schien unschlüssig, was er zunächst beginnen solle. Nach einer Weile fragte er seinerseits: »Kennst du einen gewissen Peter Klars?«

»Meint Ihr den alten Peter Klars, Herr?«

»Jawohl, den alten. Ist er vielleicht auch bei der Hochzeit?«

»O nein, Herr!« erwiderte Niklas, verschmitzt lächelnd, »der geht nicht mehr auf Hochzeit – er ist tot.«

»Tot!« rief der Matrose mit dem Ausdruck des Entsetzens, daß dem Jungen wieder ganz bange wurde. »Also tot –!« wiederholte er nach einer Pause fast tonlos und bedeckte die Augen mit der Hand, welcher das Bündel entfallen war.

»Ihr habt wohl seinen Sohn gekannt,« fragte Niklas teilnehmend, »der auch Matrose war?«

»Ihn selbst – ihn selbst!« jammerte der Fremde. »Sein Sohn – was weißt du von seinem Sohn?«

»Nun – der ist schon vor mehreren Jahren ertrunken, Herr; es tut mir leid, Euch so schlechte Nachrichten geben zu müssen.«

»Ist er wirklich ertrunken?« »Jawohl, darüber ist gar kein Zweifel. Man hat ja sein Schiff versinken gesehen.«

»Das kann richtig sein. Aber muß er auch mit versunken sein?«

»Versteht sich! Sonst wär' er doch ans Land gekommen. Das Gericht sagt auch, daß er tot ist.«

»Das Gericht?«

»Jawohl! Er ist vom Gericht für tot erklärt, wie sie's nennen.«

Der Seemann riß die Augen weit auf und starrte ihn, bewegungslos wie ein Steinbild, einige Sekunden lang an. Dann fingen seine Lippen an zu zittern, und ein grinsendes Lachen verzerrte den Mund. »Also für tot erklärt – ?« stieß er mühsam heraus; »oho, das geht schnell! Für tot erklärt – ja, dann ist kein Zweifel weiter.« Die Rede ging in ein unheimliches Lachen über.

Niklas sah ihn verwundert an und wagte nicht, weitere Erklärungen zu geben. Erst als der Matrose ihn fragte: »Wer hat denn solche Eile gehabt, mein Junge?« zeigte er mit der Hand über das Haff und meinte recht pfiffig:

»Ich glaube wohl, der da drüben.«

»Wer?«

»Nun, der reiche Krüger, Herr?«

»Konrad Hilgruber?«

»Gewiß! Ihr kennt auch den?«

»Und aus welchem Grunde –?«

»Hm! Er ist ja der Bräutigam!«

»Konrad Hilgruber – der Bräutigam – – und die Braut – die Braut – ?«

»Nun, das ist ja eben die Annika Klars, des ertrunkenen Peter Klars' Witwe.«

Fragen und Antworten hatten einander gejagt. Mehr und mehr vorgebeugt und immer hastiger und wilder hatte der Fremde seine Erkundigungen eingezogen. Jetzt, als das letzte gesagt war, rollten seine Augen, schwollen die Stirnadern blau an; seine Knie schlotterten und knickten ein, die kräftige Gestalt brach zusammen, wie vom Hiebe einer Axt ins Genick getroffen, machte eine unfreiwillige Bewegung vorwärts und fiel schwer mit dem Gesicht auf den Sand. Das alles war ein Augenblick.


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