Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 2
Johann Karl Wezel

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Zweites Kapitel.

Das erste nöthige Geschäfte war, Schwingers Briefe zu überliefern. Er wollte sich zu dem Ende mit seinen schönen schwarzen Sonntagsbeinkleidern, mit stattlich breiten genähten Manschetten und der ganzen übrigen Feierkleidung schmücken, die er ausgebreitet unterdessen auf den Tisch legte, um sich von dem ankommenden Friseur adonisiren zu lassen. Der kurze dicke Pudergeist nennte ihm eine Menge Frisirarten her und bat, darunter auszulesen, und frisirte und schwazte unaufhörlich, ohne ihm Zeit zur Wahl zu lassen. Heinrich war noch ganz bey den Bettelleuten mit seinen Gedanken und fragte auch bey dem Friseur an, ob man denn gar nichts thäte, um dem Elende der armen Leute abzuhelfen. Der Friseur hielt inne, 29 reckte ihm sein rechtes Ohr dicht vor den Mund hin und schrie »Was?« – Heinrich wiederholte seine Frage. – »O ja!« antwortete der Pursche und hieb mit weitausgeholtem Kamme keuchend in die Haare hinein – »O ja! man trägt sie izt einen Finger breit überm Ohre.«

Heinrich merkte, daß er ihn nicht verstanden hatte, und weil ers für unhöflich hielt, zum drittenmal zu fragen, ließ ers dabey bewenden. Die zahlreichen Familien hier zu Lande fielen ihm wieder ein, und er erkundigte sich bey dem Pudergotte, wie viel er Schwestern habe.

»Welche Sie befehlen, junger Herr!« schrie der Friseur. »Eine ofne, eine lange, eine kurze, eine dicke, eine dünne – ich mach' sie, wie Sie befehlen.« – Abermals misverstanden!

So sezten sie das Gespräch eine Zeitlang fort: immer that er das Gegentheil von dem, was Heinrich verlangte. Beym Abschiede wollte er kein Geld nehmen, weil er schon auf den künftigen Morgen wieder bestellt war: Heinrich fand die Höflichkeit etwas übertrieben und drang in 30 ihn, ein Geschenk anzunehmen, da er den Preis seiner Arbeit nicht bestimmen wollte: allein der taube Friseur machte einen Reverenz und wackelte fort, ohne auf seine Bitten zu hören.

»Dergleichen Höflichkeit hätt' ich mir beym ersten Eintritte ins Haus nicht vermuthet!« dachte Herrmann bey sich. »Die Leute sind doch wahrhaftig viel besser als bey mir zu Hause.« – Während daß er diese Betrachtungen fortsezte, legte er seinen Staat an, erblickte sich mit Freuden, schön wie einen Königssohn, im Spiegel, und die Reise gieng fort. Unterwegs freute er sich schon auf den liebreichen Empfang, womit ihn Schwingers Freunde beehren würden, sann auf Komplimente, ihre Höflichkeit zu erwiedern, und sah vor begeisternder Erwartung kein einziges von den schönen Häusern, die ihm der Lohnlackey zeigte. Er langte an: er glaubte nur Schwingern nennen zu dürfen, um mit ausgebreiteten Armen empfangen zu werden. Der Bediente, bey dem er sich meldete, kannte keinen Schwinger, erkundigte sich kalt nach seinem Verlangen, nahm ihm den Brief ab und trug 31 ihn zum Herrn. Schon rüstete sich Heinrich zu einem der auserlesensten Reverenze und harrte mit freudiger Ungeduld auf die Erscheinung seines Patrons. Der Bediente kam zurück: »Es ist gut,« sagte er; »Sie sollen morgen früh um acht Uhr wiederkommen.« – Der unerfahrne Pursche wußte sich das Phänomen nicht zu erklären: er empfahl sich voller Erstaunen und konnte auch seinem Lohnlackey nicht verhelen, daß die Leute, die ihn heute bey seiner Ankunft besuchten, viel höflicher gewesen wären. – »Ja, sehn Sie!« antwortete der Bediente, »der Herr ist vor kurzem in ein sehr hohes Amt gerückt: das ist ein vornehmer Mann!« –

Zu dem Besuche bey Schwingers zweiten Freunde kam er mit verminderter Erwartung und fand auch Ursache, zufrieden mit der Aufnahme zu seyn. Der Mann war in kein hohes Amt unterdessen gerückt, sondern noch Advokat und freute sich deswegen ungemein über Schwingers Andenken. Mit der gutmüthigsten Freude zog er das blausamtne Müzchen vom Kopfe, so oft Heinrich seinen Freund nannte und der 32 guten Meinung gedachte, die er von ihm habe: er bot alle mögliche Dienste an und ward recht unruhig, als er nach einigem Nachdenken fand, daß er sie ihm nicht auf der Stelle erzeigen könnte. – »Hm! hm!« brummte er vor sich hin, sann und rückte verdrießlich das Samtmüzchen im Kreise auf dem Kopfe herum: »braucht denn Niemand einen Schreiber? Gar Niemand? Hm! hm! fatal! recht fatal;« – Man sah ihm in allen Zügen des Gesichts den Schmerz an, daß er ihn mit einer bloßen Vertröstung von sich lassen mußte: er konnte das unmöglich ohne einen gewagten Versuch übers Herz bringen. Er lief zur Frau Gemahlin, führte sie herbey und ersuchte sie inständigst, dem jungen Menschen einen Platz im Hause zu verstatten: er streichelte ihr die Hände, liebkoste und bat sie wie ein Kind. Die Frau Gemahlin antwortete mit preziosem Tone: »Das weißt du ja selber, Papachen, daß wir keinen Platz haben: nein, das kann ich nicht, Papachen. Vielleicht in einigen Wochen oder Monaten! wenn dein Schreiber abgeht; aber ich kann nichts versprechen. 33 – Der Mann verdoppelte seine Bitten und flehte demüthigst, ihn wenigstens zum Abendessen dazubehalten. – »Nein, Papachen, das kann ich heute nicht, war abermals ihre Antwort: vielleicht ein andermal, wenn uns Gott Leben und Gesundheit giebt.« – Der Mann wußte vor Verlegenheit nicht, was er thun sollte; und da es ihm schlechterdings nicht möglich war, Jemanden, der ihn interessirte, ungegessen von sich zu lassen, so holte er ein Schächtelchen Magenmorschellen aus einem Schranke und verehrte, als seine Frau den Rücken wandte, seinem Gaste heimlich drey große Stücken davon, nahm höchst unruhigen Abschied und versprach seine thätigsten Dienste auf das feierlichste, mit vielem Händedrücken und Backenstreichen.

Weil es noch sehr zeitig am Tage war, entschloß er sich auf Zureden seines Begleiters, einen Spatziergang zu machen, um die Stadt zu sehn. Er wanderte muthig und froh über die Freundschaftsversichrungen des dienstfertigen Advokaten, der katholischen Kirche zu, bewunderte, in Erstaunen verloren, die majestätische Brücke 34 mit herauf- und hinabgehenden Menschen in mannichfaltiger Vermischung, mit herauf- und hinabfahrenden Karossen, Wagen, Karren, Trägern und Reitern erfüllt: er weidete sich unersättlich an dem herrlichen Schauspiele: in seinen Augen war es eine kleine Welt, die hier zwischen Himmel und Wasser schwebte. Er that einen Gang über sie hin und brach mit entzückter Selbstvergessenheit in laute Bewundrung aus, als auf beiden Seiten das schönste Theater in bezauberndem Reize vor ihm stand. Gärten und Pavillons, die ihm in der Luft zu hängen schienen, Häuser, ferne Paläste an beiden Ufern hin, und über den lang daherwallenden Strom hinaus am Ende der Aussicht einen schieflaufenden Bergrücken, mit bunten Häusern, einzelnen Bäumen und malerischen Einzäunungen überstreut und mit hohem dunkelgrünem Walde in mannichfaltigen Krümmungen bekrönt: er hatte nie des Anblicks genug. Nicht weniger verweilte er auf dem Rückwege bey der andern Seite der Aussicht und vermehrte die Anzahl der Neugierigen, die Geländer und Bogen 35 besezt hatten, um den Mast eines Schiffes mit langen Zurüstungen niedersenken zu sehn, das dem schießenden Strome entgegen durch die Wölbung der Brücke gezogen werden sollte: die Zuschauer äußerten mit der lebhaftesten Theilnehmung Besorgniß und Erwartung, Tadel und Bewundrung über die Maasregeln der Zimmerleute und Schiffer, die, wie Eichhörner, auf der Bedachung des Schifs herumsprangen, schrieen, schalten, zankten, anordneten, izt mit angestrengten Kräften dem fallenden Baume das Gegenwicht hielten, izt müßig, auf ihre Hebebäume gelehnt, dastanden und plaudernd und pfeifend in den wallenden Strom sahn. Beladne Kähne mit rothen flatternden Wimpeln schwammen fern daher auf der ausgespannten Fläche des Wassers: mit schnellerm Laufe fuhren Andre, vom Strome begünstigt, vor ihnen vorbey, grüßten mit lautem Zuruf die Kommenden, empfiengen und gaben mit treffendem Schifferwitze Grüsse von wartenden Mädchen, verliebten Weibern und eifersüchtigen Ehemännern; und eine Kanonade von helltönendem Gelächter war der 36 Abschied. Andre ruhten am Ufer: mit thätiger Emsigkeit stieg man in sie hinab und entlud sie ihrer Bürde: hier wurden verwundete Fahrzeuge zur unvermutheten Reise eilfertig ausgebessert: dort stand auf dem umgekehrten Bauche eines Andern ein Trupp Zimmerleute um den Herrn des Kahns in ernste Berathschlagung vertieft, wie man mit leichten Kosten dem zerlöcherten Patienten vollkommne dauerhafte Gesundheit verschaffen könne: bedenklich, wie ein Arzt bey einer gefährlichen Krisis, schüttelte der Zimmermeister über dem hofnungslosen Gebäude den Kopf, und betrübt graute der Patron sich den Kopf.

Tagelang hätte Heinrich bey einem für ihn ganz neuen Schauspiele verweilen mögen, wenn ihn nicht sein ungestümer Begleiter beständig zum Abmarsche ermahnte: nach langem Kampfe mit sich selbst riß er sich endlich los, doch mit dem festen Vorsatze, oft zurückzukehren.

Kaum näherte er sich der katholischen Kirche, als ihn von der Seite eine Knabenstimme anfiel. – »Mein junges schönes Herrchen,« tönte 37 ihm in das linke Ohr, »der liebe Gott hat sie gar zu schön gemacht, und er wird Sie noch schöner machen, wenn Sie einem armen Jungen auch etwas mittheilen.« – Der unerwartete Lobspruch riß seine Hand nach der Tasche hin: er gab dem Schmeichler ein Zweygroschenstück. Der Bube zeigte es triumphirend und hüpfend seinen Kameraden zwischen den emporgehaltnen Fingern; und kaum sahen sie es blinken, so schoß eine ganze Kuppel, wie wütend, auf den Wohlthäter los: gleich Hunden, die eine Beute erwischt haben, packten sie ihn fest, als wenn sie sich in seine ganze Person theilen wollten. Jeder bekam so viel als der Vorige, und nur einer, der die Schmeicheleyen der Andern mit einem »gnädiger Herr« überbot, erhielt doppelt so viel.

»Ihro hochwohlgeborne Gnaden« – rief eine alte zerlumpte Frau, die auf einem Steine bey der Kirche saß und sich langsam und zitternd zu ihm hinbewegte. So eine Höflichkeit war etwas werth: er bezahlte sie mit einem halben Gulden. Die Alte erschrack über die Größe des 38 Geschenks, wackelte ihm mit gefaltnen Händen nach und betete mit lauter Stimme zwo lange Strophen aus einem Kirchenliede, die der Lohnlackey aus mechanischer Andacht murmelnd nachsprach: dann fuhr sie ihm nach dem Rockzipfel und küßte ihn, eh ers wehren konnte.

»Wenn doch die Leute hier zu Lande nicht so entsezlich höflich wären!« dachte Heinrich, als er in die Tasche griff und seinen Geldvorrath merklich vermindert fühlte. Indem ers dachte, erschienen die Buben, die er schon einmal beschenkt hatte und um die Kirche herumgeschlichen waren, zum zweitenmale und stürmten mit Excellenzen und Gnaden so gewaltthätig auf ihn zu, daß er dem Angriffe nicht widerstehn konnte: Gutherzigkeit und Eitelkeit leerten seine ganze Tasche unter sie aus.

Den Abend brachte er nach seiner Rückkunft unter mancherley angenehmen Träumereyen hin, worunter sich, wie ein Gespenst, die traurige Vermuthung mischte, daß es ihm mit der Zeit und zwar sehr bald an Gelde fehlen könne: – »aber Schwingers vornehmer Freund, der in so 39 ein hohes Amt vor kurzem gerückt ist und mich morgen früh zu sich bestellt hat, wird mir schon« – tröstete er sich; und die Hofnung drückte ihm die Augen zu.

 


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