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Als Herausgeber melde ich an diesem günstigen Einschnitt an, daß ich in den Heften Patrick Meiers auf Lücken stoße. Sie sind durch die Ankunft Kenides' hervorgerufen. Wie ein herniedergefahrener Blitz verändert Kenides nicht nur die Hütte Marco Aurelios, sondern auch die Bauern von Riosucio. Die Wende durch Kenides schlägt sich bis ins Tagebuch Patrick Meiers nieder, was ich nicht nur inhaltlich meine; einige Aufzeichnungen werden ungenau.
Was er seit der Ankunft Kenides' berichtet, ist zwar umfangreich, und das Drama läßt sich mehr als nur erahnen. Ich vermochte aber den lückenlosen Zusammenhang nicht zu erfassen.
Lange zögerte sich mir eine Reise in die Provinzstadt hinaus, aber als es dazukam, hatte ich Glück. Ich sprach auf dem Büro des Landwirtschaftsministeriums vor. Patrick hat die Namen der beiden Agronomen, von denen bald zu handeln ist, nicht verändert. Seine Hefte weisen nämlich durchkorrigierte Namensänderungen auf, und er könnte selbst in den Erstaufzeichnungen Pseudonyme verwendet haben.
In der Provinzstadt vermittelte mir der Agronom Winston eine Begegnung mit seinem Riosucio-Kollegen Romel, der nicht mehr bei der Regierung arbeitet. Beiläufig erwähnte Winston, daß der damals zuständige lokale Richter mit ihm, Winston, verschwägert sei und in der Provinzstadt ein Advokaturbüro führe. Winston eröffnete mir eine Überraschung. Ich wäre nicht darauf gestoßen, daß der am Indiofluß verunglückte mono alto sich vor dem lokalen Gericht verantwortete. Der Schwager werde mir bestimmt über die Vorfälle in Riosucio berichten, wenn mich die Angelegenheit interessiere. Und sie interessierte mich.
Der gewesene juez promiscuo municipal, der Richter im bei Patrick Meier genannten Dorf an der Straße, hatte den Fall mit dem ausländischen mono in bester Erinnerung. Er hatte es nicht nötig, auf die weitschweifigen Gerichtsprotokolle, die an einer Archivwand im extrem feuchten Klima des Dorfes an der Straße vergrauten und verpilzten, zurückzugreifen. Er war ohne sie in der Lage, bis in die entferntesten Vereinzelungen den Ablauf jener Ereignisse, die ihn als Richter beschäftigt hatten, so lebhaft zu schildern, als wäre er selber Augenzeuge und Mithörer in der Hütte Marco Aurelios gewesen.
Aber zurück nach Riosucio, als Kenides am Abend von draußen eintraf. Patrick Meier schreibt detailliert und vorderhand genau, so daß ich seine Aufzeichnungen zu Worte kommen lasse.
Kenides
Patrick Meier zeichnete auf: Kenides ist Kenedy. Kenides ist die Dialektform. So sprachen die Bauern den Namen des USA-Präsidenten John F. Kennedy nach, der mit dem Peace Corps, dem Friedenskorps, sein Good-will-Programm mit Lateinamerika bekräftigte. Bis nach Riosucio gelangte einmal ein gringo des cuerpo de paz, wie es in Kolumbien hieß. Als Agronom. Er machte mit den Bauern Soyabohnenversuche. Damals war Kenedy im Primarschulalter. Kenedy muß während der schillernden Amtszeit des US-Präsidenten Kennedy geboren sein, oder kurz nach dessen die Welt erschütternden Ermordung in Dallas.
Kenedy steigt wortlos in die Veranda herein. Er überblickt hastig den offenen Raum. Er wirkt abwesend konzentriert und verschwindet im Innern der Hütte. Kenedy spricht gedämpft. Don Marco Aurelio schreit: «Du hast deinen Bruder umgebracht!» Dreimal. Du hast deinen Bruder umgebracht. Die Frauen heulen. Die Kinder wimmern. «Over!» höre ich, «mataron a Over! sie haben Over getötet!» Und wieder Don Marco Aurelio: «Kenides, desgraciado, Unglückseliger, du hast deinen Bruder umgebracht!»
Doña Isabel nähert sich mir. «Señor Patricio, mijito, mein Sohn, sie haben Over umgebracht. Wir leben in den Zeiten des Kain. Dios mío, mein Gott, welches Elend! Kenides, pobre, Armer! Over, mijito! Patricio, bringen sich bei euch die Brüder auch gegenseitig um?»
Aber Kenedy hat Over nicht umgebracht. Die Guerillafront hatte sich von der Offensive auf die große Stadt zurückgezogen. Die Bevölkerung verschlief die schicksalhafte Stunde, und die proletarischen Massen wagten den dialektischen Sprung in die revolutionäre Freiheit nicht. Die unkoordinierten Guerillaverbände verzogen sich unter Verlusten in die angestammten Operationsgebiete, in die Zentralkordilleren zurück, in das Gebirge, das das Land von Süden nach Norden durchzieht, die bewohnten Landschaften in zwei Teile durchschneidet und die geschützte Annäherung bis an die Ballungszentren erlaubt.
Nach dem Rückzug beschränkte sich die Guerillabewegung auf Störaktionen, während die höhere Führung die Waffenstillstandsbedingungen aushandelte. Das Detachement Kenedys hatte den Auftrag, an der Straße einen militärischen Nachschub zu vernichten und sich ins Gebirge abzusetzen. Die Straßenminen brachten alle Soldaten um. Die Guerilleros entwendeten den Gefallenen brauchbare Waffen und nützliche Effekten.
Kenedy erkannte den toten Over. Betroffen meldete er es dem comandante. Beide versicherten sich der Identität. Over trug eine zivile behördliche Bescheinigung auf sich.
Der comandante kannte die Geschichte Overs. «Over ist unser Mann!» befahl er, «wir begraben ihn selber.» Das Detachement durfte sich ein hastiges Kriegsbegräbnis leisten. Die Nacht und die Gebirgswälder sicherten das Entkommen. Zudem verzeichneten sie keine eigenen Verluste.
Kenedy hat den Tod Overs nicht verursacht. Kenedy schoß mit der carabina. Over wies keinen Kugeleinschuß auf. Over starb an den Explosionssplittern.
Kenedy erhielt Urlaub. Er reiste zu Fuß an eine entfernte Gebirgsstraße und benützte die öffentlichen Verkehrsmittel. Mit dem zivilen Dokument und dem Ausweis, daß er den Militärdienst geleistet hat und sogar Reservist ist, passierte er die Straßenkontrollen. Auf lokaler Ebene greift die Polizei nicht ein, selbst wenn sie ihn im Dorf als Guerillero identifizieren. Die Polizisten provozieren nicht leichtsinnig die verhaßten Überfälle auf Polizeistationen, die als Vergeltungsschläge lange praktiziert wurden.
Doña Isabel und Rosalba legen weinend das schwarze Tuch auf den Boden der Veranda, zünden vier Kerzen an und stellen sie an den Ecken des Tuches auf. Das schwarze Tuch symbolisiert die Aufbahrung Overs, der nie mehr heimkehrt. Über den Hütteneingang hängt Don Marco Aurelio zwei Trauerflore. Rosalba schneidet aus der Bauernzeitung die Initialen heraus.
Over und Kenedy trennten sich bei der fliegenden Militärkontrolle vor der Provinzstadt. Genauer gesagt, sie wurden getrennt. Kenedy war auch damals von seinem comandante beurlaubt. Die Waffenstillstandsverhandlungen mit der Regierung gestatteten, den Guerilleros schichtweise Erholung zu gewähren. In Riosucio überzeugte Kenedy seinen Bruder Over, sich der Guerilla anzuschließen, und als Kenedy zu den revolutionären Waffen zurückkehrte, reiste auch Over mit. Aber nicht nur die Subversiven rekrutierten, daß die Balken bogen, auch die Armee griff auf die Rekrutierungsreserven. Die fliegende Personenkontrolle behielt von den Buspassagieren drei Jugendliche im Dienstpflichtalter zurück. Over wurde eingezogen.
Seit dieser Zeit war ein halbes Jahr verflossen. Über die Schwester Noemi in der großen Industriestadt hielten die nur institutionell verfeindeten Waffenträger losen Kontakt aufrecht. Kenedy über Drittpersonen. Over besuchte Noemi, denn sein Bataillon operierte von der großen Stadt aus.
Die durchnäßte und mit feuchten Erdspritzern besprengte Frau, die von draußen kommt und gegen die Kabelbrücke über den Riosucio absteigt, richtet sich unter dem Bindekorb auf, stemmt das Tragband mit den Händen von der Stirn bis auf die Brust herunter und ruft: «Wer ist der Tote?» Sie meldet das pésame nach, das Beileid, und er möge in Gottes Frieden ruhen, und die Frau vergewissert sich, der Leichnam sei nicht hier, und bestätigt, daß ein toter Soldat kaum bis nach Riosucio zurückgebracht werden könne. Sie trägt die Nachricht unter die Nachbarn. Riosucio verwandelt sich in eine Trauergemeinde.
Der Nachmittagsregen steigert sich in prügelndes Gießen. Unter der Hütte schlachtet Don Marco Aurelio im trockenen, aber kein aufrechtes Hantieren erlaubenden Arbeitsplatz das Schwein. Die eingewanderten Bauern hatten die Arbeitsbequemlichkeit einer hochgepfahlten Hütte von den Indios nicht übernommen. Sacrificar el puerco, nennt es Don Marco Aurelio, das Schwein opfern, und legt ungefragt zwei Jahrtausende Kultgeschichte vor, denn das Alltagswort für das Tierschlachten hat sich aus der römischen Antike des Mittelmeerraumes in der spanischen Sprache erhalten: alle Schlachttiere wurden der Gottheit geopfert und fanden erst nach der kultischen Handlung und nach vollbrachter symbolischer Gabe an den Götzen den Weg ins Bratfeuer, an den Herd und schließlich in die bedürftigen Mägen. Der Gedanke an das Rituelle des heutigen Schlachtens drängt sich auf, denn die Nacht der Totenfeier rückt heran.
Als es am späten Nachmittag kurz aufhellt, füllt sich der Hüttenplatz während der Rotwildsonne mit der Trauergemeinde. Die Rotwildsonne ist das flüchtige rote Verglühen des Abends. Heute beschleunigen die Wolken den Beginn der Trauernacht und verkürzen den milden Abendschein. Der Regen wechselt zwischen dem eintönigen Rauschen und dem schlagenden Prasseln und zwingt die tropfende Trauergemeinde in die geschützte, enge Veranda.
Trauer ohne Toten. Frauen schaffen Platz. Sie verschwinden im Innern der Hütte und beteiligen sich an der Betriebsamkeit. Die Klage um den Toten macht dem nervösen Hantieren und Organisieren einer Großküche Platz. Die Frauen sind bis über die Ohren hinaus in die Geschäftigkeit versunken.
Don Marco Aurelio erzählt den Bauern von Overs Tod. Kenedy ergänzt ihn.
«Es mußte so geschehen», sagen die Bauern. «Wenn Gott es will, hilft kein Mittel dagegen. Es ist wie beim mono», weist jemand auf mich. «Gott wollte nicht, daß er ertrinkt, und deswegen ist er nicht im Riosucio umgekommen.»
Zu den Hüttendüften von Küchenrauch, Bratschwein, nassen Kleidern und regenfeuchtem Stroh mischt sich der Anisschnaps. Die Flasche zirkuliert diskret, eigentlich verstohlen, bis auch Don Marco Aurelio und Kenedy das Plastikbecherchen mit einem einzigen Zug leeren und das heimliche Trinken enttabuisieren.
Einer der Bauern wickelt die mitgebrachte Plastikhülle auf. Er legt ein großformatiges Heft frei. Auf dem grünen Umschlagkarton steht: Totenfeier in ländlichen Gemeinschaften. Das Heft ist in Schreibmaschinenschrift geschrieben und im Offsetverfahren gedruckt.
Mehr als der Anisschnaps zirkuliert der tinto, der schwarze Kaffee aus dem Innern der Hütte. Aus der Menge der ins Freie gereichten tintos zu schließen, haben viele Besucher unter dem schmalen Vordach der Hütte einen leidlich geschützten Platz gesucht, doch wohl zu nahe am triefenden Dachrand, denn der Raum unter der Hütte füllt sich erst mit gedämpften und dann immer muntereren Stimmen.
Der Bauer mit dem Totenfeierinländlichengemeinschaftenheft bittet um Ruhe, die bald hergestellt wird, weil die von den Müttern herbeigetragenen Kleinsten in deren wiegenden Armen schlafen.
Frauen stimmen ein Lied an, andere Frauen singen mit, auch der Bauer mit dem Totenfeierheft. Gegen Schluß des vielstrophigen Gesanges singen die Männer mit, auch Don Marco Aurelio und Kenedy, die sich als einladende Gastgeber auf der Veranda aufhalten, während sich die weiblichen Familienangehörigen der Zubereitung und der Bewirtung widmen. Der Bauer mit dem Totenfeierheft leitet traditionelle Gebete ein, und eine Zeitlang führt eine großmütterliche Bäuerin den ruhigen Rosenkranz. Die Männergesellschaft unter der Hütte macht beim Rosenkranzrhythmus im gleichen Takt mit und begleitet den Gesang auf der Verandaebene mit dem Schweigen aus dem Untergrund.
Der Bauer des Totenfeierheftes bittet Don Marco Aurelio um die biblia latinoamericana. Don Marco Aurelio läßt das Buch von der tintos schleppenden Rosalba aus dem Innenraum holen. Der grüne Leineneinband ist abgegriffen. Spuren zeugen von der stolzen goldenen Aufschrift in der gestanzten Vertiefung. Beim Öffnen fällt der vordere Buchdeckel auf den Boden. Die ersten Einleitungsblätter sind Kinderhänden zum Opfer gefallen. Der Bibeltext beginnt mit der in großen Buchstaben gestalteten grafischen Seite: Genesis, Schöpfung. Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Den Text rahmen an ägyptische Darstellungen erinnernde Figuren von Tieren, Pflanzen und Menschen. Das erste Wort der Bibel erscheint mit seinen sechs hebräischen Buchstaben in der Originalsprache eingewoben. Ein jüdischer Nachbarbub erklärte mir in den Schuljahren die Schriftzeichen. br› šit, was mit den nötigen Vokalen versehen als bereschiitt tönt. Im Kurs mit dem padre fragten die Bauern, warum es so seltsame Schriftzeichen gibt, und der padre erklärte, das hebräische Wort drücke den Respekt darüber aus, daß das erste Buch Moses bei den jüdischen Gläubigen immer bereschit geheißen hat, so wie das Buch bei uns Genesis heißt.
«Mein jüngster Sohn heißt Genesis. Diesen Namen führt sonst niemand.» Aber der Vater eines Genesis läßt sich nicht durch esoterische Bibelgespräche ablenken und wendet sich an die Harrenden: «Als uns der padre zur Begegnungswoche versammelte, hat er allen verantwortlichen Leitern aufgetragen, während den Totenwachen aus der Bibel zu lesen. Wir wollen auch den Alkoholkonsum unter Kontrolle halten. In der Totenwache betrinken wir uns nicht. Die Toten beleben die Gemeinde am stärksten. Wenn wir an Sonntagen zusammenkommen, trifft sich ein dünnes Häufchen. Und wenn wir für den toten Over beten, hören wir auch einen Schrifttext, der sich nicht an den Toten, aber an uns wendet.»
Eine junge Frau liest aus den Texten um Jesus. Nachher sagt sie: «Cristo zog sich in die Einsamkeit zurück. Das bedeutet, daß die Bauern in den abgelegenen Bergtälern wichtig sind. Viele Leute laufen dem Cristo nach, weit weg von den Dörfern und Städten. Das bedeutet, daß er für die Armen da ist. Denn einem Reichen kommt es nicht in den Sinn, ihm nachzulaufen. Er würde einen Gewinn verpassen. Cristo macht die Kranken gesund. Eine Menge von Armen um den Cristo zusammen ist stark, weil Cristo gesund macht. Cristo macht uns Bauern in Riosucio bestimmt einen Vorwurf, weil wir zu wenig zusammenstehen. Jeder Arme, der heute noch meint, er komme allein voran, ist lahm und krank und blind und keinen Strohhalm wert. Ein einziger Armer ist nichts wert, er ist ein Kranker. Viele Arme zusammen sind aber stark und gesund.»
Der Vater eines Genesis schaltet sich ein: «Niemand muß zu früh sterben. Man sagt, Gott habe Overs Tod so bestimmt. Ich glaube es nicht. Over starb, weil die Zustände den Armen nicht gestatten zu leben. Ein früher Tod ist unmenschlich, und Gott will nichts Unmenschliches. Cristo ernährt die Menge in der Wüste, weil er sich gegen den Tod der Armen stemmt. Wenn wir zusammenstehen, stemmen auch wir uns gegen den Tod.»
«Nicht wahr, ihr haltet wie früher den Gedankenaustausch, wenn die Bibel gelesen wird», bittet Kenedy den Bauern mit dem Totenfeierheft um das Wort. «Als ich lesen hörte, dachte ich mir etwas anderes. Ein schädliches Wunder, dachte ich. Cristo macht die Kranken gesund und verpflegt ein bedeutendes Heerlager. Fünftausend hombres, so viele Männer sind die Hälfte der revolutionären Armee. Unser comandante sagt, mit dem wundertätigen Cristo und den Heiligen habe die Kirche das Volk falsch erzogen. Jetzt denken die Leute nicht daran, das Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Die Volksmassen sind fatalistisch geworden und in die Klauen der Ausnützer gefallen. Darum ist die Religion schädlich, sie ist Opium für die Volksmassen.
Aber es ist ungeheuerlich zu denken, daß Cristo den Volksmassen schlecht will. Es muß eher so sein, daß die Mächtigen den Cristo für ihre Interessen manipulieren. Unser comandante hat gesagt, wenn die Volksmassen den Cristo verstanden hätten, wäre Marx nicht hochgekommen. Aber den Cristo haben sie wie ein Haustier gezähmt, und jetzt taugt er nichts mehr.»
Und Kenedy zieht den lapidaren Schluß: «Wenn ihr doch verstehen würdet, daß der Cristo euch gehört, den Bauern und den Arbeitenden, und nicht den Ausbeutern der Massen.» Und später in der Nacht gibt mir Kenedy zu verstehen, der manipulierte Cristo sei ein schwieriges revolutionäres Problem. Der direkte Cristo wäre schon recht.
Einige Bauernfrauen erscheinen schwarzgekleidet. Nicht alle greifen in den Küchenbetrieb ein, um an diesem bevorzugten Frauenort den Gedankenaustausch zu pflegen. Auf der Veranda nimmt eine schwarzgekleidete Vierzigerin das Szepter in die Hand, und es stehen ihr Anweisungen an Rosalba und selbst an Doña Isabel, die Großmutter, zu. Sie stellt den Bauern mit dem Totenfeierheft zur Rede: «Ein Betrunkener!» und dieser Vater eines Genesis schreitet bedächtig ein und setzt durch, daß die Flasche Anisschnaps sichergestellt wird.
Sie fordert: «In Riosucio darf es keinen Betrunkenen, keine Schlägerei, keine Verletzten und keine Toten mehr geben. Wenn ihr betrunken seid, dann gleicht ihr den vernunftlosen Tieren und wißt nicht, was ihr tut. Ihr sagt, mit einem Betrunkenen müsse man Nachsicht haben, aber ihr bringt die Nachsicht nie auf und schlagt zurück.»
Der Kreis um den Anisschnaps pflichtet dem Bauern mit dem Totenfeierheft, mehr aber noch der schwarzgekleideten Vierzigerin bei, die in Riosucio eine Person mit so viel respektheischender Autorität ist, daß ihr Entscheid als endgültig angenommen wird, auch wenn gewachsene oder degenerierte Trinkgewohnheiten zornig und entschieden weggefegt werden, zornig nicht die Wegfegerin, sondern die einsichtigen, aber beileibe nicht willigen Genießer.
«Patricio, der tinto.» Rosalba verzieht sich aus der Geschäftigkeit und setzt sich neben mein Rekonvaleszenzlager.
Rosalba erzählt: «Over hat aus dem Militärquartier geschrieben. Er schrieb, der Oberst lade die Mütter zur Beförderung der Soldaten ein. Der Brief blieb im Dorf an der Straße liegen. Don Marco Aurelio und Doña Sara mußten sich nicht mehr überlegen, ob sie hingehen wollten. Sie laden die Mütter ein, den Soldatensöhnen an einer feierlichen Zeremonie das Gewehr zu überreichen. Doña Sara hat gesagt, das würde sie nie tun. Nicht wahr, Patricio, wenn die Frau nun anfängt, in der Öffentlichkeit am Leben teilzunehmen, dann steht ihr nicht alles zu wie dem Mann. Wenn die Soldaten töten und sich töten lassen, muß es die Frau nicht nachmachen, nicht einmal gutheißen. Die Frau soll sich um das Leben kümmern. Bei den Frauenversammlungen in Riosucio sagte Omaira, daß die Frau um eine richtige Freiheit kämpfen soll. Aber die Eltern verstehen das nicht. Doña Sara ist auch von der Gruppe, aber sie kann es Don Marco Aurelio nicht erklären, wie wir es meinen. Doña Sara sagt, es wäre gut, wenn die Männer auch an die Versammlungen der Frauen kämen, dann würden sie begreifen, was wir wollen.
Omaira hat es ihrem Mann erklärt. Sie ist eine intelligente Frau. Der Mann Omairas versteht sie, und er ist rückhaltlos einverstanden. Gut! er sagt, sie könne nicht mehr an allen Versammlungen teilnehmen, weil sie zum Haus schauen müsse. Omaira will aber die Gruppe weiterhin leiten, und ihr Mann gibt die Erlaubnis. Patricio, sind die Frauen in deinem Land sehr frei?»
Die schwarzgekleidete Vierzigerin tritt heran: «Rosalba, das Essen!»
« Sí, señora, jawohl.» Rosalbas Mund rundet sich trotzig, die Augen meiden die arbeitfordernde Gestalt, die Hände greifen zur Kaffeetasse, die ich kaum halbleergetrunken habe. Rosalba erhebt sich und schreitet über den elastischen Tschontaboden zu den nachtlangen Beschäftigungen.
Die schwarzgekleidete Vierzigerin spricht mich an: «Sie sind also Patricio.» Sie stellt sich vor: «Sara», und der unverständliche Familienname ist nicht der Ehename, samt dem dazugehörigen « a sus órdenes!» Die rundlich aussehende Frau mit dem eng anliegenden dunklen Haar ist die Hausfrau im Haus Don Marco Aurelios.
Meiner mich vorstellenden Antwort füge ich den Dank für die erfahrene Gastfreundschaft bei, den sie ohne Selbstgefälligkeit entgegennimmt. Was ich bei Don Marco Aurelio nicht zustande brachte, das spreche ich Doña Sara aus: «Mein Beileid.»
Doña Sara lächelt: «Over war ein guter Sohn. Ich verstehe nicht!» Die Maske bricht auf. Doña Sara weint. «Gott allein weiß, warum die Söhne sterben.»
Over war ein guter Sohn. Over hat Doña Sara aus dem Militärquartier geschrieben, wenn er mit den Waffen fertig sei, werde er arbeiten und der Mutter ein Radiotonbandgerät kaufen. Over wollte einmal ein Radiotonbandgerät anschaffen. Der Sohn des Nachbarn verkaufte ein Kalb, und das Geld reichte für ein Gerät. Aber Don Marco Aurelio gestattete es Over nicht, und Over überwarf sich mit Don Marco Aurelio. Over hatte seinen Kopf. Don Marco Aurelio hält den Kälberhandel für unrentabel.
Als Over mit Kenedy zur revolutionären Bauernarmee zog, versprach er der Mutter: «Nach dem Sieg der Revolution werden die Revolutionssoldaten Land bekommen, und ich werde euch zu mir nehmen, damit ihr aus Riosucio herauskommt.» Don Marco Aurelio antwortete ihm damals: «Ihr seid verrückt, wenn ihr glaubt, gegen die Regierung aufzukommen.»
Doña Sara hat jung geheiratet. Es war mit vierzehn Jahren üblich. «Ich hatte nie ein Stück Freiheit. Die Jungen haben es heute besser. Einige. Bei den Eltern arbeitete ich hart, und obwohl man eine junge Person war, hielten sie einen wie ein Kind. Als ich mit der Mutter auf den Markt fuhr, sah ich Marco Aurelio.» Eine Erinnerung, vielleicht nicht nur Erinnerung, an die Verliebtheit verändert Züge und Figur Doña Saras in ein erleichtertes Lächeln, das für den Augenblick die Trauer um Over, und mehr noch, die Lebenslast und die Lebensenge übersteigt und unter sich zurückläßt.
Doña Sara heiratete weit von zu Hause weg. Sie begegnete den Ihren nur wenige Male im Jahr. Jener Marktort, wo Sara ihren Marco Aurelio gesehen hatte und in dessen Nähe sich die für ein Fortkommen ausreichende Anzahl Hektaren Land der Familie Marco Aurelios befanden, jener Marktort lag Stunden von den Schwiegereltern Marco Aurelios entfernt. «Die Ehe eines jungen Mädchens, wie ich es war, ist keine Befreiung. Bei Marco Aurelio wartete viel Arbeit. Und dazu kam die erste Schwangerschaft.»
Doña Isabel, die Schwiegermutter der eingeheirateten Sara, führte ein strenges Regime, und eines schönen Tages verzweifelte Sara. Die Eltern hatten sich gegen die Heirat Saras mit Marco Aurelio gestemmt, und sie schlachtete den Umstand aus. Sara lief ihrem Marco Aurelio davon. Sara lief nach Hause. Aber Sara hatte falsch gedacht. «Wenn man verheiratet ist, bleibt man beim Mann», hieß es. Marco Aurelio holte seine Sara bei den Eltern ab. Sie reisten an den Eheort zurück. «Ich wußte nicht, was die Ehe für Verpflichtungen bringt. Als ich Exenover gebar, war ich lange krank. Marco Aurelio sorgte sich, und mit dem Kind wurden wir eine gute Ehe. Er hat seine Eigenheiten, aber er ist eine gute Person.»
Schichtweise wird das gekochte Schwein von Rosalba und von helfenden Nachbarsfrauen der Trauergemeinde serviert. Das Essen ist Abschlußgeschehen des sozialen Anlasses. «Indio satt, Indio weg», verabschiedet sich der erste Heimkehrer, der eine Schrumpfbewegung auslöst. Um Mitternacht. Doch wann ist es in der wolkenbehangenen, bedingungslos finsteren Bergurwaldnacht diese oder jene Zeit? Das uhrlose Zeitgefühl läßt Mitternacht werden, als sich auf der Veranda der Schlaf bei den hockenden Bauern einnistet und es unter der niedriggepfählten Hütte still wird.
Ein Bauer legt neben mir die ruana, die dicke wollene Decke aus und wickelt sich ein. «Totenwachen dauern die ganze Nacht», behauptet er, «doch in dieser Totenwache fehlt der cadáver, der Leichnam, und die Leute laufen weg.»
Auf der Veranda schlafen viele Leute, aber beim Morgengrauen hat sich die Trauergemeinde spurlos aufgelöst.
«Ein Trost, daß wir Over begraben wissen», beginnt Doña Isabel den Tag. «Es ist schrecklich, wenn jemand im Fluß ertrinkt und verloren geht. Ein señor aus Riosucio ist von draußen nicht mehr zurückgekehrt. Die Leute sagen, er sei in der Stadt begraben. Jemand hat ihn in der Leichenhalle erkannt, wo sie die unbekannten Toten ausstellen. Als sie sich aber einfanden, war der cadáver nicht mehr dort. Sie werfen sie in die Massengräber. Es ist traurig, wenn man kein menschliches Begräbnis bekommt, wenn man nicht weiß, wo der cadáver begraben liegt. Der señor ist in den Nächten als leidende Seele durch sein Haus geschwebt. Sie riefen den Indio. Der Zauber des Indio tat keine Wirkung, und sie mußten beim padre drei Messen lesen lassen. Wenn der Tote nicht menschlich begraben wird, hat er keine Ruhe, bis man ihm hilft.»
Nach der Totenwache für den schon begrabenen Over fällt die Schule aus. Auch die anstehenden Arbeiten bleiben liegen. Eine Zeitlang hebt ein unmotiviertes Ein und Aus an. Was insbesondere ausfällt, das ist die der Totenwache anschließende Beerdigung.
Neu ist die tiefe Oboenstimme Doña Saras, die vom Wochenbett in die Ganzjahresarbeit wechselt.
«In Riosucio sterben junge Leute,» erzählt Rosalba.
Die Tochter des Nachbarn war krank, aber konnte sich nicht erkranken. Die Kreatur blieb drinnen stecken. Die Hebamme Omaira befahl Krankentransport. Die Männer glaubten ihr nicht und sagten, die Frau werde noch am gleichen Tag sterben. Omaira beschwor den Vater der jungen Frau, und als sich die Frau am andern Tag geschwächt in den Wehen wand, beschlossen die Männer, sie am wiederum folgenden Tag hinauszutragen. Omaira betreute die Kranke auf dem Weg, aber nur bis ins Urwalddorf. Als sie die Tragbare für den zweiten Reisetag richteten, starb die Erkrankende, und sie brachten den cadáver nach Riosucio zurück.
Pablo starb mit zwanzig. Pablo und die Brüder rodeten Urwald. Am Abend schmerzte Pablo das Knie. Das Knie schwoll jeden Tag grausiger an, vom Knie bis zum Körper und vom Knie bis zum Fuß. Don Celestino behandelte Pablo. Omaira wußte nicht Rat. Vielleicht in die Provinzstadt, ins Spital. Aber was eine richtige Behandlung kostet, das kann ein Bauer von Riosucio nicht bezahlen. Und Pablo wollte nicht hinausgetragen werden. Nicht nur das Knie, das Bein schmerzte unsäglich. Die Angehörigen versprachen eine Wallfahrt und pilgerten zur Grenzstadt ins Muttergottesheiligtum. Pablo hielt fünf Monate aus. In den Nächten hörten sie ihn bis zur Hütte Don Marco Aurelios.
Rosalba: «Patricio, warum muß jemand so leiden? Ich glaube nicht, daß Gott es so will, aber die Leute sagen es.»
Das junge Paar Omaira und Rigoberto sucht die Hütte Don Marco Aurelios am frühen Morgen auf. Omaira sorgt sich um Doña Sara und vergewissert sich auch meines guten Fortschrittes. Omaira beschließt: «Patricio, Sie gehören auf die Füße.»
Ich stütze mich auf ein Holzbrett als Gehstock. Der elastische Boden der Veranda eignet sich nicht für schmerzhafte Gehübungen.
Rigoberto bringt das Totenfeierheft mit. Ihn trifft bei der abendlichen Totengedenkzusammenkunft der Turnus als Animator.
Doña Isabel bringt den Gedanken auf, den Friedhof aufzusuchen. «In Riosucio begraben wir die Toten am frühen Vormittag. Am Mittag regnet es», erzählt Yon Fredi.
Omaira zieht zum cementerio mit, Rigoberto nicht. Bei meiner kurzen Stehübung zeigt er sein Landstück. Es liegt steiler als die Anbauflächen der übrigen Bauern und schiebt sich als neue Rodung in den Bergurwald hinauf. Im oberen Teil stehen Baumstrünke, und dazwischen liegen gefällte Bäume. Das Kleinholz ist ausgebrannt, und der Baumstrunkabschnitt ist schwarz, schwarz der Boden, schwarz die Strünke, schwarz die herumliegenden gefällten Bäume mit den groben, nicht abgebrannten Ästen. Auch die tiefer im Abhang liegende bepflanzte Erde ist vom Abbrennen schwarz. Hölzern aussehende Pflanzenstengel mit dunklem grünem Blatt, das aus der Stengelspitze heraussprießt, wachsen auf der erstmals von Menschenhand kultivierten, fruchtbaren Erde. « Yuca, Maniok», nennt es der junge Ehemann Omairas, «wenn die yuca reif ist, werden wir in unserem Haus wohnen.»
Ihr Haus steht am unteren Ende des Maniokteiles, wo die Maisanpflanzung beginnt. Rigoberto, der neugebackene Ehemann Omairas, baute das Haus erst, als die inzwischen bepflanzten Hänge abgeholzt waren. Das Haus steht auf einer kleinen vorstehenden Ebene im Hang. Die Familie des damals heiratswilligen Sohnes schob das Indiovorbild der trockengepfahlten Hütte auf die Seite und griff auf mitgebrachte Traditionen im Hausbau zurück. Sie bauten ebenerdig. Den Grundriß steckten sie mit raumhohen und wanddicken Rundhölzern ab, nicht nur an den Ecken des zu bauenden Hauses, sondern sie stellten auch zwei auf die laufende Wand verteilte Hölzer, und zwar die Hölzer der Hausfront auf das Maß der Türöffnung zusammengezogen. An den Rundhölzern bauten sie auf der Innenseite sowie außen eine gitterartige Wand aus leichtem Querholz, mit wenigem, aber genügend senkrechtem Material verbunden. Caña brava, Wildrohr, heißt das schlanke und sich nicht verjüngende Holz, dessen Anpflanzung man mit Zuckerrohrkulturen verwechselt. Die dünnen diagonalen Verstrebungen liefert die Tschontapalme. Verknüpfungsmaterial ist Liane, ein mit Tarzan berühmt gewordener Schlingpflanzenparasit der hohen Bäume. Die eigentliche Wand, deren Dicke die ausgesteckten Rundhölzer markieren, bauten sie aus der angefeuchteten roten Erde, mit der sie den hohlen Raum zwischen dem doppelten Wandgeflecht, dem inneren und äußeren ausfüllten, oder auszufüllen im Begriffe sind. Die ockerrote Erde glänzt erst in halber Wandhöhe auf die Veranda Don Marco Aurelios herüber, und die aufgehäufte und vom Dauerregen feuchte Erde bestätigt den Willen, mit den Wänden höher zu kommen. Die Erde trocknet fast nicht.
«Wir modernisieren das Haus von Anfang an», plant Rigoberto, «und ich zimmere für die Küche ein Gestell. Das ist sauberer, als wenn die Frau die Geräte bloß an die Wand hängt, die von der füllenden Erde immer staubig bleibt. Ich werde auch einen Tisch und die Stühle schreinern. Im Dorf an der Straße wurde ein Schreinerkurs gegeben, und ich habe teilgenommen. Ein Bruder der Mission gab den Kurs, und ich wurde zum Fortsetzungskurs zugelassen. Ich habe einigen Bauern den Tisch geschreinert. Sie sagten, wenn ein Besuch von draußen kommt, sei ein Tisch nötig. Die Frauen von der Frauengruppe sagen, man müsse am Tisch essen, und vor allem die Kinder hätten dies zu lernen. Die Erwachsenen werden sich kaum daran gewöhnen. Die Idee der Frauengruppe ist gut, denn ich bekomme von den Bauern, die den Tisch nicht besitzen, einen Auftrag. Ich besitze einen selbstgefertigten Hobel. Ich schreinere sehr gerne. Es ist eine schöne Arbeit. Meine Frau ist Leiterin der Frauengruppe und wünscht sich zwei Tische im Haus. Aber es müssen zwei kleine Tische sein. Unser Haus ist nicht so geräumig wie das Haus Don Marco Aurelios. Hier auf der Veranda fehlt der Tisch. Für dich, mono. Wenn der padre kommt, holt Don Marco Aurelio den Tisch auf die Veranda heraus.»
Die Friedhofgesellschaft hat sich aufgelöst. Nach und nach trifft die Familie Don Marco Aurelios wieder bei der Wohnhütte ein.
Doña Sara wollte beim Bach umkehren. Eine Kranke darf vierzig Tage lang nicht über das Wasser. Doña Sara bekreuzigte sich. Sie bekreuzigte sich dreimal bis zum cementerio, und dreimal bis nach Hause, denn es sind drei Wassergräben. Beim Kreuz des cementerios legten sie Blumen für Over nieder.
Im cementerio liegen in einem einzigen Grab zwölf cadáveres. Es geschah in der Zeit, als die Bauern in Riosucio wenig voneinander wußten und sich nicht umeinander kümmerten. Eine schwangere Frau weckte eines Morgens um vier Uhr alle elf Kinder, das älteste Mädchen so alt wie damals Omaira, und reichte ihnen hastig den tinto. Den tinto gab sie mit Rattengift, und sie trank den tinto auch selbst. Ein Vergifteter schreit und tanzt. Zehn Minuten lang. Dann ist es vorbei. Als alle schrien und tanzten, erwachte der Vater. Als alle tot in der Hütte und im Hof lagen, rief er die Nachbarn, und als alle im Massengrab beerdigt waren, zog der Vater von Riosucio weg.
Der Weg zum cementerio fällt zweimal bis an den Riosucio ab. Auf dem Rückweg steigen Yon Fredi und Miguel ins trübe Wasser und tasten die Löcher unter den Ufersteinen nach Fischen ab. Nur Miguel winkt ein wenig Glück. Sie versuchen es auch in der Mündung des breiten Baches, der in den Riosucio fließt. Die Fische spielen in der klaren, grünlich getönten Vertiefung im nahezu stehenden Wasser. Die Jungen steigen ins nasse Jagdabenteuer. Die Fische blitzen unter die Felsplatten hinein. Miguel greift nach einer Beute, und Yon Fredi brüstet sich nach dem ersten Mißlingen mit dem schwereren Fang. Die Jagdlust erhebt sich vom Wasser in die Luft. Miguel schwingt die Steinschleuder gegen die Vögel. Der Lehrer hat den Schülern das Jagdspiel mit den Steinen verboten, und Miguel schießt die Vögel nicht ab, sondern scheucht nur laut krächzende Schwärme aus den Bäumen in die Luft. In der Wegbiegung mit der krummen Baumwurzel verweilen Rosalba und der Lehrer. Sie sollen sich wegscheren, weist Rosalba die Brüder an, sie werde nach Hause kommen, und Miguel meldet der Mutter: «Die Verliebten stehen bei der krummen Baumwurzel und kommen nach.»
Da Rosalba nicht vom cementerio heimgekehrt ist und der Lehrer bei der Trauerversammlung überhaupt nicht auftauchte, verlangen Doña Sara und Don Marco Aurelio eine Erklärung über die Verliebten.
«Der Lehrer und Rosalba», lacht Yon Fredi unflätig. Miguel nickt und strahlt.
Doña Isabel, Doña Sara und Don Marco Aurelio, die Elterntrinität, sind sich einig: «Kenides, du ziehst nicht mehr zur Guerilla zurück. Du kommst nicht lebendig heraus. Nie hat der Krieg etwas Gutes gebracht. In Riosucio geht es uns allen gut. Du kannst Wald schlagen und eine eigene Liegenschaft aufbauen. Wir helfen dir.»
Aber Kenedy will die Revolution gewinnen.
«Uns Jungen geht es in Riosucio nicht gut. Alle rennen weg, und nur die Burschen kehren heim, weil wir in Riosucio keine Schulerziehung erhalten, die draußen taugt. Was wir in der Urwaldschule lernten, das dient nicht zum Leben. Es ist lächerlich, was ihr für Lehrkräfte bekommt. Die Revolution wird die Lehrer zwingen, auch in den Urwäldern zu unterrichten. Unterdessen versuchen es die Jungen von Riosucio in den Städten. Exenover verkauft an einer schlechtgehenden Straßenecke Karamel und Zigaretten, und die Kinder essen sich nicht satt. Von María Eugenia wissen wir nicht einmal, ob sie überlebt hat. Noemi verschaffte sich Arbeit, aber sie findet für die Kinder keine Zeit. Yon Fredi begleitet mich zur Guerilla, sobald ich ins campamento zurückkehre.»
Doña Isabel fährt drein: «Kenides, du läßt Yon Fredi bei uns. Den peladito», sie meint offenbar sein Kindergesicht, «bringst du mir nicht um.»
Kenedy belehrt das bestürzte Elterntrio: «Ihr versteht nicht, die Geschichte zu analysieren. Die proletarischen Massen stehen auf und richten die Diktatur des Volkes ein. Wenn wir nicht jetzt Revolution machen, dann frißt es auch uns Jungen auf, wie es euch vernichtet hat. Überall kreuzen arrogante Don Sempros auf, die uns vertreiben, so wie uns Don Sempro vom Familienbesitz nach Riosucio verstoßen hat. Zuletzt findet ihr keinen Urwald mehr, um in untermenschlicher Einsamkeit den unmenschlichen Frieden zu genießen.»
Don Marco Aurelio: «Kenides, so viele Sempros hat es gar nicht.»
«Es braucht nicht viele. Ein einziger Don Sempro genügt. Der Diktator von Nikaragua besaß allen Boden im Land. Das Volk erfaßte die historische Stunde und besiegte ihn im revolutionären Kampf. Jetzt gehören die Ländereien des gestürzten Diktators den Bauern.»
Aber Don Marco Aurelio und die Bauern von Riosucio sind keine revolutionsfähigen Bauern. Sie besitzen den Boden, den sie bebauen, als Eigentum.
«Die Zwischenhändler nützen euch aus. Sie drücken auf die Preise und stecken die saftigen Gewinne ein. Ihr arbeitet, und sie bereichern sich.»
Nach Kenedy ist die historische Unterdrückung in anderen Teilen des Landes weiter vorangeschritten: «In der Armee ließen sie uns auf die Bauern schießen. Wir umzingelten das Dorf. Die Bauern seien Kommunisten, schwer bewaffnete, und sie würden uns angreifen. Es war verboten, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Aber wir sprachen mit den Bauern des Nachbardorfes.»
Der Händler jenes fernen Dorfes war ein zugezogener Fremder. Er gewann die Sympathie der Bauern. Er verkaufte auf Kredit. Die Bauern schuldeten so viel, daß die Ernte gegenüber den Schulden einen Pappenstiel bedeutete und der Händler den Boden aufkaufte. Der verschuldete Boden war entwertet, und die bodenlosen Bauern blieben Schuldner. Der Händler kaufte ein Haus in der Stadt, legte Baumwollfelder an und beschäftigte die Bauern während den Erntezeiten als Landarbeiter. Sie seien nicht verpflichtet, im Dorf zu wohnen, erklärte der Händler, der er blieb, denn er verkaufte den Landarbeitern weiterhin auf Kredit, als sie klagten, die zum Spritzen der Baumwollpflanzungen eingesetzten Flugzeuge bestäubten auch die Häuser.
Sie wollten nicht Landarbeiter sein, sondern Bauern bleiben, und pflanzten Parzellen mit Kochbananen an. Der Händler legte sich Bewaffnete zu und zerstörte die Bananenpflanzungen. Zwei Bauern und eine junge Frau kamen ums Leben. Der Händler forderte die Armee an. Die bewaffneten Männer des Händlers äscherten in der Nacht das Dorf ein. Sollten sich die Bauern zur Wehr setzen, müßten die Soldaten eingreifen. Aber die Bauern flohen aus der roten Nacht in die mondlose Dunkelheit. Die Soldaten suchten am Morgen die Brandstätte nach versteckten Kommunisten ab.
«Mein Vater», wendet sich Kenedy an Don Marco Aurelio, «der Händler könnte Don Sempro heißen. Unser comandante sagt, diese seien die Profiteure des kapitalistischen Systems und die Feinde des Proletariates. Und es ist doch wahr. Sie ertragen uns nicht als gleichwertige Leute. Die Revolution wird die herrschenden Strukturen zerstören und für das Volk Gerechtigkeit schaffen.»
«Kenides, ihr seid schwach. Ihr setzt euch nicht durch, und es ist lächerlich, wenn ihr euch das vornehmt.»
«Mein Vater, die revolutionären Verbände erstarken, weil sich die Bauernjugend für die Revolution begeistert.»
«Ihr verblutet umsonst. Und wenn ihr mir beide tot seid, werden eure comandantes solch unerfahrenen pelados wie Yon Fredi zusetzen. Es ist eine himmelschreiende Schlechtigkeit, die unerfahrene Jugend auf einen Weg zu verführen, der sie umbringt.»
«Wenn sich die Jungen wegen Schweinen umbringen, wenn sich die Bauern betrinken und abstechen, dann kann man sein Leben auch für die Zukunft des Volkes aufs Spiel setzen. Wenn wir im Kampfe fallen, hat der Tod seinen historischen Sinn.»
«Euer Kampf dauert schon dreißig Jahre. Es hat sich nichts verändert. Ihr kämpft und verblutet umsonst.»
In die nächtlichen Zusammenkünfte bringen die Bauernfrauen Lebensmittel mit. Aber auch der Aufwand meiner Gastgeberfamilie steigert sich. Miguel schleift Zuckerrohr herbei, eine gleich schwere Ladung wie Don Marco Aurelio selbst. Die langen Blätter rauschen schrill. Die Zuckerrohrarbeiter werfen die schlanken Rohre neben den hölzernen Radbock. Rosalba ist durch das schrille Rauschen der schleppenden Rohrblätter benachrichtigt. Sie trägt den Holzeimer aus der Hütte und stellt ihn unter den Radbock. Don Marco Aurelio zieht mit Miguel ins Zuckerrohrfeld zurück. Yon Fredi preßt das erste Rohr aus. Rosalba steckt den armdicken Stengel, der seine guten drei Meter lang ist, zwischen die horizontalen Preßwalzen. Die untere Holzwalze ist die Antriebswalze. Die Achse ist verlängert, und am Ende steht senkrecht zur Achse das Holzrad. Ein Rad aus dicken Holzspeichen, die den Radkranz nach draußen durchbrechen und die Handgriffe zum Herunterziehen bilden, wie das Steuerrad eines Schiffes. Yon Fredi zieht das Antriebsrad gegen sich herunter, und die Preßwalzen fressen das eingesteckte Zuckerrohr langsam, sehr langsam in sich hinein. Ein dünner Strahl Zuckerrohrwasser fließt in den Holzeimer. Yon Fredi kämpft um jede Radbewegung und läßt den Radbock nach dem zweiten Rohr stehen.
«Den trapiche nennen wir Leutetöter. Die Presse erschöpft einen. Bei dieser stechenden Sonne!»
Auf den Abend fällt die zweite der neun Totengedenknächte für Over. Don Marco Aurelio schlachtet kein Schwein, und die wenigen Besucher, die eintreffen, erhalten eine Suppe aus selbst produziertem Maniok und Mais, und aus Kartoffeln, die aber im Urwalddorf des Lehrers eingekauft worden sind.
Die Veranda füllt sich nicht. Rigoberto ersetzt nicht den Vater eines Genesis, der früh eintrifft, sondern ist der für heute nacht Beauftragte. Rigoberto öffnet die biblia latinoamericana weit vorn, fast am zerrissenen Anfang, und blättert steif ein paar Seiten nach hinten. Exodo. Das zweite Buch in der Bibel.
«Wenn ich einen Sohn hätte, müßte er Exodo heißen.»
«Und wenn es ein Mädchen wäre?»
Rigoberto bedenkt es. «Exoda. Es wäre ein außergewöhnlicher Name. Der padre hat uns gesagt, Exodo sei ein wichtiges Buch in der Bibel.»
Als es zum Lesen des Textes kommt, beginnt Rigoberto mit einem langen Abschnitt. Rigoberto liest nicht allein. Er wechselt mit dem Vater eines Genesis, mit dem Lehrer und mit Omaira ab.
Der einzige Bauer mit einem schneeweißen Hemd bittet um das Wort: «Wenn die respektierten Nachbarn ein wichtiges Wort gestatten, dann möchte ich eine Erklärung geben, die auf einem genauen Studium der Bibel beruht. Es ist nicht wahr, daß die vorgetragene Stelle zum Wichtigsten gehört, das in der biblia steht. Wir haben nämlich kein einziges Wort vom Geist gehört, und wir wissen nicht, was der Geist will. Die Israeliten haben sich nicht bekehrt, als sie von Ägypten auszogen. Sie haben sich von Jehova abgewandt und den ídolos gehuldigt, den Bildern, die sie verführten. So sagt die biblia, wenn wir an der gehörten Stelle weiterlesen. Sie machten sich Bilder, und deshalb sind alle Bilder Jehova ein Greuel, und ihr müßt eure ídolos auch entfernen und euch bekehren. Sonst wird Jehova euch bestrafen. Wenn ihr euch nicht allesamt zum einzigen und wahren Jesus Christus bekehrt, werdet ihr sterben. Wie Over. Ihr habt Angst vor jenen, die mit Waffen nach Riosucio kommen, und fürchtet nicht die Strafe Jehovas.»
«Don Ausalón», greift Don Marco Aurelio ein, «wir sind católicos, und für uns ist das eine wahre Religion.»
«Don Ausalón», ereifert sich der Vater eines Genesis, «ihr setzt euch hin und sucht die Wahrheit in der biblia. Uns hat der padre erklärt, die Wahrheit steckt nicht zuerst in der biblia. Wichtiger als die biblia ist die Wirklichkeit, und die biblia hilft uns in der Wirklichkeit weiter.»
«Eure Wirklichkeit, das ist die verderbte Welt.»
Fünf und sechs Leute tun sich mit dem Vater eines Genesis und mit Don Marco Aurelio zusammen. «Der Cristo will die liberación, die Befreiung.»
Die Gruppe vertritt, daß die Bauern heute von vielem versklavt sind, daß also wie im Exodo die Bauern erneut zusammenzustehen haben.
«Der Mensch kann nie etwas Gutes tun», und das bringt nicht Don Absalom vor, sondern Doña Magdalena, eine Nummer sorgfältiger, aber ebenso schlicht wie die anderen Frauen gekleidet, mit einem ernsthaften Gesicht, die Frau Don Absaloms. «Der Mensch handelt immer schlecht, und deshalb kann nur der Glaube an Jehova retten.»
«Seien wir nicht pessimistisch, sondern riskieren wir die Anstrengung. Je mehr wir zusammenstehen, um so mehr hilft uns der Cristo.»
«Don Ausalón», sagt Kenedy, «was du und Doña Magdalena vorschlagen, ist imperialistische gringo-Politik. Sie sind dafür besorgt, daß wir die Hände zum Himmel halten und uns nicht um unsere Angelegenheiten kümmern. Für die gringos sind wir der Hinterhof des Hauses, und wir sollten uns wie in fremdem Haus still verhalten.»
Auch der zweite Trauertag tritt gedämpft an.
Kenedy fragt: «Patricio, was treibt dich nach Riosucio? Befindet sich dein Land weit von Rußland? Wer bezahlt die Reise?» Sein comandante sei in Rußland gewesen, zur Ausbildung. Ein langer Flug. Über La Habanna, er lacht, zum camarada Fidel Castro nach Kuba, und von dort fliege man nach Rußland. In Rußland sei es kalt.
Kenedy bohrt: «Nach Riosucio kommt man nur als Interessenvertreter. Für die Bauern hat sich noch niemand interessiert.»
Meine humanitären Absichten überzeugen nicht, daß ich über einen vom Untergang bedrohten Indiostamm schreiben möchte, um aufzuzeigen, wie die Zusammenhänge geopolitisch, also weltweit zu verstehen wären.
«Wenn die Leute den Bericht lesen, werden sie etwas tun? Unser campamento besuchten Zeitungsleute. Der comandante sagte, man benötige ausländische Unterstützung. Die Zeitungsschreiber versprachen, im Ausland Propaganda zu machen. Nichts! Es meldeten sich bloß mehr Journalisten, weil sie mit der Berichterstattung unter Kriegsgefahr gut verdienen. Bare Lüge, die Gefahr, wenn der comandante einlädt. Selbst die Regierung läßt sie unbehelligt, weil sie zu Informationen kommt und vor der Weltöffentlichkeit als freiheitlich und demokratisch dasteht. Plomo, no pluma! Blei, nicht Bücher! Feuer, nicht Feder! Wenn dir ernst ist, Patricio, greif zum Gewehr!»
«Die Waffe ist kein Weg zu Fortschritt und Veränderung. Wir sind in der Geschichte der Menschheit auf einer Stufe angelangt, wo Krieg nicht mehr Platz hat. Es ergibt keinen Sinn, daß junge Menschen als Soldaten verkleidet einander umbringen. Der bewaffnete Kampf ist ein Fehlverhalten der frühen Menschheit.»
«Mein comandante sagt, jeder Mensch baut sich ideologische Gedankenfestungen auf, wenn es darum geht, nichts zu tun. Patricio, mach dir nichts vor und kämpfe mit uns.»
Yon Fredi und Miguel bringen die Nachricht: «Inge ist gestorben. Knut schickte uns weg. Aber wir haben geholfen, neben der ramada das Grab zu öffnen. Er will Inge immer bei sich haben, damit sie die Flöte hört. Er legte sie selber hinein. Er deckte sie mit dem weißen Gewand zu und zog es bis zum Scheitel hoch. Er ist neben dem offenen Grab niedergesessen und hat Flöte geblasen.»
Der Tigre
Yon Fredis tigre, und das versichert auch Rosalba, hat einem Bauern die Kuh erschlagen. Sie lag zerfetzt auf der Weide. Der tigre schleicht den Fluß herauf. Er jagt vier Stunden von Riosucio entfernt. Die Leute sagen, er ist ein cholo, also ein Tscholo. Was ist ein Tscholo tigre? Nein, Tscholo ist kein tigre. Tscholos, das sind die Indios in der heißen Küstenebene unten. Sie sind canaleteros, Stehruderer, sie bewegen sich mit ihren Kanus in den Sumpfgewässern des Küstenurwaldes. Yon Fredi war nie unten. Es ist sehr weit.
Don Juan Arcadio kaufte nach dem Bürgerkrieg, in dessen sozialen Folgen die Familie Don Marco Aurelios den angestammten Boden an Don Sempro verlor, den Schwarzen das wenige Land am Flußufer ab. Er sei Oberst einer Guerillagruppe gewesen, und er zog in den Urwald. Bei Don Juan Arcadio verliert sich das Gebirge in die letzten Ausläufer. Er rodete reichlich Regenurwald und weidet dreihundert Stück Vieh. Don Juan Arcadio versteht sich schlecht mit den Schwarzen. Er stellte Tscholos ein, Indios, um die Weiden zu säubern. Er bezahlte den Lohn nicht und schickte die Indios weg. Die Tscholos rächten sich. Der tigre ist ein Indio. Er hat Don Juan Arcadio fünfzig Kühe erschlagen. Jede Nacht eine Kuh. Zwei Monate lang. Die Angestellten schossen den tigre nicht ab. Die Kugeln trafen daneben. Der Tscholo lenkt die Kugeln ab. Als Don Juan Arcadio selbst auf die Jagd zog, zeigte sich der tigre eine Woche lang nicht. Dann aber hörte ihn Don Juan Arcadio mitten in der Nacht. Von der Veranda herab sah er den tigre in der hellen Mondnacht, nahe beim Haus. Als Don Juan Arcadio mit der carabina schoß, richtete sich der tigre wie ein Indio auf und lachte mit dröhnender Tscholostimme. Don Juan Arcadio schoß hundert Kugeln. Aber der tigre kreiste wild und richtete sich nach jeder Kugel mit fürchterlichem Hohngelächter auf. Nun schleicht der tigre den Fluß herauf und geißelt die Bauern.
«Die Ordnungstruppe führte den Vater Marco Aurelio als Gefangenen mit», erzählt Kenedy. «Die regierungsfeindlichen Bewaffneten hatten in unserem Haus die Bauern versammelt, und damit ist er zum Feind der Regierung geworden. Mein Vater argumentierte gegenüber dem teniente, dem Offizier, jeder unbewaffnete Bewohner müsse sich nach den vorgehaltenen Waffen richten, und niemand besitze das Recht, davon die Gesinnung abzuleiten oder die Loyalität in Frage zu stellen.»
Aber die Ordnungstruppe erforschte nicht bloß die Meinung der Bauern, sondern führte ihnen die Folgen vor, wenn sie sich bei den Bewaffneten anbiedern.
Durchkämmen, nannte sich die Maßnahme der Ordnungstruppe. Aber die Bewaffneten hatten sich unauffindbar verzogen, und nur die Bauern blieben an den rauschenden Flußläufen sitzen, auch die Bauern von Riosucio.
Auf dem Marsch vom ekuadorianischen Dorf nach Riosucio half ich einem Gastgeber Don Marco Aurelios im trapiche, in der Zuckerrohrsiederei. Ich rührte die Kupferpfanne und schob den schweren Holzlöffel hin und zurück. Das Holzfeuer trieb die Dämpfe hoch, nicht nur des braunen flüssigen Zuckers, sondern auch die eigenen Schweißdämpfe, aber der Zuckergeruch herrschte vor. Es roch penetrant süß. Alles in der Kochhütte klebte. Im Arbeitsablauf nach mir füllte der Bauer die ziegelsteingroßen Formen mit der schnell sich eindickenden Zuckerflüssigkeit. Der Arbeitsgang vor mir spielte sich im nachmittäglichen Dauerregen ab. Die Jugendlichen und die größeren Kinder trieben das Maultier und stopften das Zuckerrohr in die Preßwalzen hinein. Das Maultier drehte im ewigen Umgang den Hebelbaum und bewegte die Preßwalzen. Die jugendlichen Knechte steckten die Rohre zwischen die sich drehenden, gefräßigen Preßwalzen, welche die Zuckerflüssigkeit aus dem Rohr drückten. Von der Presse floß der Saft in einem Holzkanal zum Behälter, aus dem meine Kupferpfanne von Zeit zu Zeit nachgefüllt wurde. Das ausgepreßte Zuckerrohr heißt bagazo, und das schnell trocknende Material wartet auf die Verheizung unter der Kupferpfanne.
Die Lage der Bauern kommt mir wie das Zuckerrohr im trapiche vor. Die beiden bewaffneten Kräfte, die legalen und die revolutionären, bewegen sich wie die Preßwalzen aufeinander zu und voneinander weg, und berühren sich nie. Die Bauern sind das Zuckerrohr, das zwischen den feindlichen Waffen zu bagazo ausgequetscht und verheizt wird.
Durchkämmen, den Bergurwald durchkämmen, hieß es, als die Bewaffneten, der rekrutierte Kenedy und ein weiterer Bursche sich verzogen hatten. Kenedys Bewaffnete treten mit besseren Argumenten vor die Bauern. Mit der imperialistisch-kapitalistischen Regierung geht es nicht mehr weiter. «Mein Vater Marco Aurelio kehrte erst nach vielen Wochen in den Bergurwald zurück. Doña Sara und ihr Ältester Exenober suchten ihn in der Provinzstadt. Ein Soldat gab den Hinweis, daß die Gefangenen in die große Stadt gebracht werden. Auch dort fanden sie ihn nicht.»
Eines Tages erschien Don Marco Aurelio bei der Tochter Noemi. Er wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Aus der Familie des Hauptmannonkels, jenes aus dem alten Perúkrieg, lebte in der großen Stadt ein kommandierender Offizier. Wie es zu dessen Aufmerksamkeit und Einmischung in den Fall Don Marco Aurelios kam, wußte letzterer nicht. Auf jeden Fall wollte der Offizier keine Verwandtengeschichten, auch nicht die entferntesten. Kenedy sagt zynisch, es komme ihm rätselhaft vor, warum der kommandierende Vetter den Vater nicht spurlos aus der Welt geschafft habe. Das machen sie nämlich, wenn sie mit einem Gefangenen in Verlegenheit geraten. Der kommandierende Offizier entschuldigte sich bei Don Marco Aurelio, es tue ihm leid, daß der Zwischenfall so gräßlich herausgekommen sei. Was die Leute beim Verhör getan haben, das ist in der ehrerheischenden Institution nicht gestattet. Die Leute müssen beim Verhör die Nerven verloren haben. Sie werden bestraft. Der Arzt verhieß Don Marco Aurelio, daß das trübe Auge noch besser werde. Die Nierenschmerzen ließen mit der alltäglichen Bewegung merklich nach.
Kenedy: «Mein Vater unterschrieb eine Erklärung, er sei von der Institution nach einer Schlägerei unter den Gefangenen gesundgepflegt und entlassen worden.»
Omaira zögerte mit der Heirat. Omaira fürchtete um ihre Selbständigkeit. Erfahrungen darüber, wie eine Frau die zeitraubenden Arbeiten im Haus und rund herum bewältigen und sich daneben als Animatorin der Frauengruppe und im nachbarschaftlichen Gesundheitsdienst betätigt, Erfahrungen darüber lagen nicht vor. Omaira war auf sich selbst verwiesen, einen neuen Weg zu suchen, indem sie sich entweder gar nicht verheiratete, oder aber unter Bedingungen, die zwar nicht Eheklauseln genannt werden können, sich aber nicht weniger einschneidend auswirken. Die Zeit vor der Ehe wurde zu einer streitbaren Zeit. Omaira befand sich in der Lage des stärkeren und mit Vorteilen ausgestatteten Partners. Omaira war Rigobertos Glücksfall. In Riosucio fehlte das junge weibliche Element. Sie war deswegen in Riosucio geblieben, weil die Tätigkeit unter den Bauern sie in eine soziale Position aufrückte, die ihr in der Stadt, wo die Mädchen aus Riosucio hinzogen, nicht zukäme. Rigoberto begriff dies nie richtig, drohte dagegen Omaira immer seltener und bald einmal gar nicht mehr, er werde sich eine andere Frau suchen, eine Frau, die um den Mann froh sei und die dem Mann gehorche. Eine solche andere Frau existierte in Riosucio nicht, und Rigoberto durfte nicht daran denken, von draußen eine Frau hereinzubringen. Er nahm Abstriche an den Vorstellungen und Forderungen vor. Rigoberto versprach sich eine letzte Rettung durch den Eheabschluß, den übrigens Omaira durchsetzte. Rigoberto hätte es genügt, sich bloß zusammenzutun. Omaira verwies ihn aber darauf, daß sich ein Christ vor der Kirche verehelicht, und als Mitglied der Animatorengruppe habe dies für Rigoberto selbstverständlich zu sein. Die beiderseitigen Eltern atmeten auf, als sich der Eheabschluß in der von alters her gewohnten Form nicht verschleppte.
Die Pläne stellten hohe Anforderungen an den Pioniergeist Omairas und an die Kompromißfähigkeit Rigobertos, und die harten Nüsse wurden vorehelich geknackt. Die Anpassung Rigobertos war aber längst nicht so grundsätzlich gedacht, sondern auf Zusehen hin. Die Tatsache der Ehe versetzte Rigoberto in einen gewaltigen, jedenfalls mit der vorehelichen Zeit in keiner Weise vergleichbaren Vorsprung. Auch Omaira hat mit dieser neuen Lage gerechnet, und im Grunde genommen stehen die beiden jungen Bauersleute am Anfang ihres nirgends vorgezeichneten Weges einer Partnerschaft, an die nur die Frau neue Vorstellungen heranträgt.
«Das Wasser ist kein Problem», schwatzt Yon Fredi. «Seit dem Erdschlipf tragen es die Frauen wieder vom Loch herauf.»
Der Erdschlipf zerschnitt den Wasserkanal. Der Kanal stammt aus den Zeiten Tulios, als er die Bauern alfabetisierte und Kultur nach Riosucio einschleuste. Wasser ins Haus! hämmerte der Slogan den Bauern ein.
Im sumpfigen Landstreifen zwischen der vorderen und hinteren Weide entrann das Wasser. Der Erdwall, der die talseitige Kanalwand bildete, wurde durchlässig. Don Marco Aurelio legte trocken und besserte aus, bis letzten Endes die intelligent ausgedachte Anlage abrutschte.
Das Loch, wie es Yon Fredi nennt, erstreckt sich als baumbestandener Graben unter der Hütte gegen den Riosucio hinab. Im Loch entspringt die Quelle. Sie versiegt nie, selbst als es einmal vier Wochen nicht regnete.
Rosalba fällt das Monopol der Quellenausbeutung zu, obwohl auch Doña Sara und die größeren Kinder, vor allem Miguel, aber Miguel selten, Wasser zur Hütte schleppen. Sich aber vorzustellen, das Wassermonopol erniedrige Rosalba zu sklavischer Arbeit, wäre einer unangemessenen Übertreibung gleichzusetzen. Unter der Traufe des Hüttendaches sammelt ein Wasserfaß den Regen und ersetzt leidlich den abgerutschten Kanal. Nur beim außerordentlichen Wasserbedarf weicht Doña Sara auf Quellwasser aus, also bei großer Wäsche, die im Loch gehalten wird, oder unter dem Zwang von mehrtägigen Trockenzeiten.
Das metallene Faß überbrückt die Notzeiten nicht. Die Bauern schleppen keine voluminösen Behälter herein, und die Größe mißt sich an der Tragbarkeit des Stückes.
Don Marco Aurelio: «Noch nie hat ein Bauer einen Wassertank gebaut. Wir schaffen nicht gerne Zement an.»
Als die Bauern die Stahlkabel der Brücke befestigten, beauftragten sie den Maultiertreiber im Urwalddorf, den Zement herein zu transportieren. «Auf dem Hochwaldweg leiden die Tiere», hielt sich der Maultiertreiber draus. Ein erklecklicher Preiszuschlag trieb ihn ins Abenteuer. Am späten Nachmittag kapitulierte er im endlos sumpfigen Durchstieg. Die Maultiere stampften bis zu den Knien, bis zum Bauch in Wasser und Dreck und blieben stehen. Sie streckten die ledrigen Mäuler in die Luft, gähnten, schlugen die dummen Köpfe nach hinten an den schweißnassen und erdverspritzten Körper, kratzten bei zurückgezogenen Lippen mit den Zähnen das Fell und klatschten die nassen und verdreckten Schwänze an den Bauch und in die Gebüsche. Der Maultiertreiber bastete ab, schützte das Zementlager mit den gleichen Plastikdecken, die die aufgebasteten Säcke trocken gehalten hatten, vor der Nässe und trieb die Maulesel den Hochwaldweg zurück.
Die Bauern stiegen zum Zementlager hoch, schütteten die Säcke halb leer, luden sie sich auf die Schultern und trugen sie an den trüben Fluß hinunter.
«Ein Widder pumpt das Wasser von selbst herauf», beteilige ich mich am Wasserproblem. Don Marco Aurelio kennt den Widder, der Wasser hochklopft, der die Pumpenergie aus der Wasserquelle bezieht und sich kostenlos betreibt. Nein. Die teure Anschaffung zahlt sich nicht aus. «Wenn Wasser fehlt, tragen es die Frauen vom Loch herauf.»
Yon Fredi und Miguel: «Knut bläst die Flöte. Er hat Inges Grab nicht zugedeckt.»
Die Geier haben sich angesammelt. Don Marco Aurelio und Nachbarn rüsten sich mit Schaufeln aus und sehen nach Knut. Als sie eintreffen, bläst Knut nicht auf der Flöte. Er ißt rohe Waldbeeren und läßt die Bauern das verpestete Grab zuschaufeln. Inge ist nicht tot. Blumenkinder sterben nicht.
Die Agronomen vom Landwirtschaftsministerium heißen Winston und Romel. Die Provinzstadt sendet sie in die Regenurwaldzone, um erstens die Maiskrankheit und das Sterben der Bananenpflanzungen zu untersuchen, und um zweitens mit den Bauern die Maßnahmen zu überlegen. Riosucio ist die Endstation ihrer Urwaldreise.
Der Mais und die Bananen leiden an ungleichen Krankheiten, die im selben Ökosystem auftreten. Beidemal verursachen Mücken die Erkrankung. Beim sprießenden Mais setzt die Mücke den Wurm, der den Stengel ausfrißt. Der halbhochgewachsene Mais verliert den Halt und fällt um. Die Bananenpflanzungen befällt ein Pilz. Sie nennen ihn Schleim. Ein bakterieller Pilz. Eine Mücke verschleppt ihn von Blüte zu Blüte. Die Pilzbakterien dringen in die Bananenfrucht ein, die äußerlich ein normales Wachstum bis ins Reifestadium vollzieht und leuchtend gelb wird. Das Bananenfleisch aber verfärbt sich schwarz.
In Riosucio versammeln sich die Bauern an Vormittagen. Nachmittags belästigt der Regen. Die Agronomen fänden bei der nächtlichen Totenfeier Gelegenheit, ihre Mission bekanntzugeben, informiert sie Don Marco Aurelio.
Winston sitzt die Kabelbrücke in den Knochen. Er hat nie einen so breiten, reißenden Fluß auf zwei Stahlseilen überquert. Aber hinter Winston und Romel stemmte sich der vieltägige Rückweg wie ein endlos hoher, nicht mehr erklimmbarer Bergurwald, der sie in die Akrobatik mit den Stahlseilen zwang. Denn nur vor ihnen, nicht auf dem entkräftenden Herweg winkte ihrer körperlichen Verfassung ein angemessener Weg an die Straße und in die Provinzstadt.
Der Landarbeiter Paco sucht die Agronomen auf. Er fehlte an den Totenfeiern für Over. Im gelassenen Gesicht Pacos flackern die Augen und messen erst Kenedy. Paco spricht mit den Beamten über Mais und Bananen. Er bemüht sie zum persönlichen Augenschein aus der Hütte hinaus. Der vertropfende Regen erlaube den Gang in ein Maisfeld. Winston fühlt sich müde. Romel geht mit Paco, obwohl er keine neuen Symptome erwartet.
Winston sagt: « mono, du bist nicht Spanier. Das gute Spanisch paßt nicht zu dir. Muy mono. Gringo bist du auch nicht. Und diese Hefte?»
Ich führe ihn in die Riosuciotexte ein und bitte um eine Erkenntlichkeit, um Schreibpapier. Winston entbehrt ein leeres Heft und ein angefangenes, aus dem er die eigenen Notizen herausschneidet.
Winston greift zu einem meiner Hefte. Enttäuscht legt er es weg und fragt, ob es schwierig sei, ohne Hilfsmittel in einer fremden Sprache zu schreiben, man bedürfe der sprachlichen Anregungen und der Nachschlagewerke, die weiterhelfen.
Winston spezialisierte sich in Italien. Dort verwechselte er das italienische Idiom mit seinem spanischen und brachte keinen einwandfreien Text mehr zu Papier. Die Ähnlichkeit der Sprachen verbaute die saubere Unterscheidung.
Winston hat deutsche Schriftsteller gelesen. Am meisten beeindruckte ihn Montaña mágica. Das Buch sei von Thomas Mann. Das Werk ist mir unbekannt. Winstons Stichwort «Sanatorium», und es stehe in Davos, läßt mich zurechtfinden. «Der Zauberberg.» Ich führe Winston auf meinen eigenen Wegen zu Thomas Mann, der ein Jahrzehnt lang außerhalb des deutschen Sprachraums lebte. Während meinen Kinderjahren wohnten wir in Los Angeles, in den Staaten. Bei Ausflügen zeigte mir der Vater in Pacific Palisades: «Schau, Bub, über diesem Pazifischen Ozean ließ sich der berühmteste Schriftsteller unseres Jahrhunderts inspirieren. Wenn du groß bist, wirst du den »Zauberberg« lesen, die Geschichte vom alten, kranken Europa.» Als ich ins Schulalter hineinwuchs, berief die Firma den Vater in die Schweiz, ins alte, kranke Europa, und wir wohnten in der Nähe des Zauberberges, so daß mir der Vater die Landschaft der Handlung zeigte.
Wo ich mein Spanisch aufgelesen habe? Die Sprache der Mutter ist nicht meine Muttersprache. Das Spanisch hörte ich von den Landsleuten meiner Mutter. Wir hatten viel Besuch. Die Ferien meiner Schulzeit verbrachte ich in Südspanien, in Sevilla. Ich liebe die Sprache, obwohl sie hart und sachlich tönt und mit der Eleganz des Französischen und dem Wohlklang des Italienischen nicht zu vergleichen ist.
Die Versammlung der Bauern mit Winston und Romel vergesse ich nie. Früh findet sich Riosucio vor der Hütte Don Marco Aurelios ein. Die Bauern berichten den Agronomen über die heimtückische Maiskrankheit und das schleichende Bananensterben. Nicht alle Anpflanzungen sind erkrankt. Don Absalom behauptet, daß ihn Gott von der Plage verschont habe. Ein Bauer widerspricht. «Don Ausalón, du räumst die geknickten Stengel aus dem Maisfeld, damit wir nichts sehen.»
Don Absalom zieht ein schwarzes Buch aus der Jutentasche: «In der Schrift steht beim Profeten Habakuk geschrieben: ‹Der Feigenbaum wird nicht mehr blühen, und der Weinstock nicht mehr sprießen. Das Feld bleibt öde. Aus den Hürden sind die Schafe weg, und aus den Ställen die Rinder. Aber ich will mich über Jehova freuen und Psalmen singen.› Und Gott sei gepriesen!»
Die Bauern warten, bis er mit dem Vorlesen fertig ist. Sie hören hernach, man dürfe Jehova nicht vorschreiben, was er mit den Anpflanzungen tut. Man muß sich zu ihm bekehren, und Jehova wird alle retten, die wahrhaft an ihn glauben und ihm allein vertrauen, denn der Psalm lehrt: umsonst steht ihr am Morgen früh auf, wenn Jehova den Segen nicht gibt.
Die Bauern neigen nicht zur glatten Lösung Don Absaloms, der resigniert und droht: «Wie die Bananenbäume werdet ihr in den Sünden zugrunde gehen.»
Romel forscht die Bauern nach den vermuteten Gründen aus. Man verschmutzt jetzt die Luft. Sie sind auf den Mond geflogen und haben den Einfluß gestört, denn früher pflanzten sie nach den Mondregeln, aber diese stimmen nicht mehr.
Vielleicht hätten die Bauern auch von Verwünschungen, von den schweigsamen Indios und von Hexenfluch zu erzählen. Ich habe frühere Andeutungen wahrgenommen. Aber vor den doctores, wie sie die Agronomen anreden, tauchen die irrationalen Gründe nicht an die Oberfläche.
Romel setzt zur biologischen Erklärung an. Er gibt zu, daß damit zwar der Verlauf, aber nicht die vorausgehende Ursache erfaßt wird.
Vom trüben Fluß herauf knallen Schüsse.
Die Aufzeichnungen Patrick Meiers erscheinen im folgenden lückenhaft, und ich habe mich als Herausgeber entschlossen, die Texte und die Informationen des früheren Richters im Dorf an der Straße zu einer gesamten Darstellung zu verbinden. Ich bin zum nachfolgenden Verknüpfungstext gelangt.
Kenides stellte fest, so ist zu vermuten, daß der Landarbeiter Paco nicht zur Versammlung erschienen war, und auch das ist zu vermuten, daß er annahm, Paco werde später dazustoßen. Kenides entfernte sich von den Bauern, bevor die Agronomen sie ansprachen. Kenides trug die ruana und bedeckte nicht nur den Oberkörper, sondern verdeckte mit dem Überwurf auch seine Absicht. Er schritt die Steigung gegen den Weg hinauf, der von Riosucio nach draußen führt, und wandte sich bei der Eingabelung gegen den Fluß hinunter. Vor der Stahlseilbrücke versteckte er sich ins Ufergebüsch, wählte eine Astgabel und pflanzte die unter der ruana verborgen mitgebrachte Jagdflinte auf. Paco ließ nicht auf sich warten. Er stieg geübt von drüben in die Stahlseilbrücke ein. Als er sich bis zur Mitte des Flusses durchbalanziert hatte, also bis zur selben Stelle, an der unser Patrick Meier in den Riosucio gestürzt war, feuerte Kenides die Jagdflinte ab. Diese gab einen hustenden, halbherzigen, Kenides würde sagen, einen blutarmen Knall von sich. Paco zog die Pistole und feuerte ins Ufergebüsch. Trotz des schwankenden Stahlseiles jagte Paco den Heckenschützen Kenides in die Flucht, und der Richter wußte von den Zeugen, die es von Kenides gehört hatten, daß die Flinte nach dem ersten erbärmlichen Schuß versagte und der Angreifer sich absetzte.
Paco erfaßte das technische Versagen. Er atmete auf, und die Anspannung wechselte ins Zittern über. Bei den immer konzentrierteren Gleichgewichtsübungen entglitt ihm der Revolver in den Riosucio. Unbewaffnet zog er es vor, sich erst recht der Versammlung der Bauern anzuschließen, statt allein in die Hütte Don Absaloms zurückzukehren, bei dem er arbeitete. Schon als er das Ufer erreichte, trafen die Bauern, voran die schnellen Jugendlichen ein. Niemand erspähte den fliehenden Kenides, der sich an den verbergenden Urwald hielt. Die Herbeigeeilten stöberten das Versteck des Heckenschützen auf, erkannten die Flintenspuren auf der geschundenen Astgabel und tauschten die bewundernden Vorstellungen darüber aus, wie Paco sich auf dem Stahlseil gehalten und verteidigt hatte. Auf dem Weg zur Hütte und vor allem auf dem Versammlungsplatz, also vor der Veranda, schilderte Paco nervös und aufgebracht den Hergang, der auf die Tötung seiner Person angelegt war. Nicht bloß der Schuß bedrohte sein Leben, sondern auch die Brücke, und das verdammte fehlende zweite Führungsstahlseil spielte ihm einen bösen Streich. Er verlor nur die Waffe und nicht das Leben.
Die Waffe? Die Bauern guckten einander mit einvernehmenden Blicken an. Der Landarbeiter Paco war kein richtiger Landarbeiter, er war jemand anders. Er war Waffenträger.
Während der Verwirrung näherte sich Kenides der Hütte von hinten, verständigte sich mit jenem mono alto, wie der Ex-Richter sich ausdrückte, denn der mono alto hielt sich auch während dieses konfusen Augenblickes auf der Veranda auf. Kenides befahl dem mono, Rosalba herbeizurufen.
Hier bleibt noch festzuhalten, daß Patrick Meier nie entdeckte, warum ihn die Bauern und erst recht die Besucher, mit mono anredeten und von ihm als dem mono alto sprachen. Es ist nicht der sowohl in Spanien als auch in Südamerika gebräuchliche Ausdruck für Affe gemeint, wie er es verstanden hat. mono ist die Bezeichnung für nichtschwarzes Haar, und besonders für blond. Ich kann mir kaum eine Gruppe, eine Familie, eine Belegschaft, eine Nachbarschaft vorstellen, wo nicht jemand mit dem sympathischen Übernamen mono und entsprechend beim weiblichen Geschlecht mit mona gerufen wird. Die monos sind die mit der modisch schönen Haarfarbe Bevorzugten, und mono alto geht an die hochgewachsenen Ausländer, die mit offener und versteckter neidischer Bewunderung so angesprochen und benannt werden.
Kenides befahl der angetretenen Rosalba: «Reich mir den cuchillo de sacrificar, das Schlachtmesser!»
Rosalba und Kenides stritten sich um Verweigerung und Befehl, und Rosalba stampfte ein Nein in den elastischen Verandaboden, als sie dem Bruder gehorchte und das geschliffene Eisen herbeibrachte. Wie um die Komplizenschaft abzuwälzen, steckte sie es dem mono zu. Kenides, der durch die Bretterritzen das Geschäft überwachte, befahl: « mono, rápido! schnell!» Auch der mono gehorchte, streckte das Messer durch die Bretterritze, die eher eine Lücke darstellte.
Kenides fiel niemandem auf, als er sich vor der Hütte unter die Bauern mischte. Er stellte sich hinter den erregt erzählenden Paco, ohne die verbergende und zugleich hindernde ruana, und steckte Paco das Messer unter dem linken Schulterblatt zwischen die Rippen.
« Me mató! er hat mich umgebracht!» stieß Paco hervor, der nach der im Fluß versunkenen Schußwaffe greifen wollte und zusammensank.
Winston trieb die aufgeregte Versammlung auseinander, damit der tödlich Verletzte nicht zertreten wurde. Omaira befahl den Bauern, das Messer herauszuziehen und den immer heftiger Blutenden auf eine Decke zu legen, und zwar auf den Rücken, damit er nicht mit dem Gesicht im Boden erstickte.
Kenides schrie die Bauern an. Einen solchen Spion und Verräter bringt man um. Er schickte Omaira weg. Der Tagedieb soll verbluten. Er wies auch die widersprechenden Agronomen zurück, und Don Marco Aurelio schaltete sich ein: « Un cristiano, ein Mensch verblutet nicht wie ein irrationales Geschöpf. Du läßt Omaira freie Hand!»
Omaira verschloß mit einem gereichten Hemd die Wunde, indem sie den Schwerverletzten in die Seitenlage anhob und den Hemdstoff auf die Wunde drückte. Der Schwerverletzte schrie nach Gott, nach der Mutter und vom Tod. Durch den blutgetränkten Hemdstoff vergoß sich unaufhaltsam das Blut, auch aus Mund und Nase, und die Schreie wechselten mit stickigem Husten. Omaira gab die Arbeit auf und ließ das Blut sich frei ergießen. Der Richter gestand ihr und den Bauern später zu, daß es nicht in der Absicht geschah, einen vermeidbaren Tod einzuleiten. Omaira übernahm die Mutterrolle und tröstete Paco. Ohne Worte. Omaira blickte ihm in die Augen, faßte zärtlich die Hand und wischte das Blut aus dem Gesicht. Dann betete sie mit ihm. Paco wußte, warum er starb. Er wollte aber nicht sterben.
Als er beim Husten erschlaffte, entglitt es Rosalba: « Se murió! er ist tot!» Die Großmutter und Doña Sara traten mit vier Totenkerzen an den leblosen Körper ihres früheren Landarbeiters heran.
Kenides verlangte, daß der Feind in den Fluß geworfen werde. Die elterlichen Frauen widerstanden in gütiger Entschiedenheit, und Omaira forderte, daß in Riosucio jeder cristiano ein Begräbnis bekomme.
«Ihr verkehrt den erledigten Feind in einen aufgebahrten Helden!»
Der Streit um den Totenkult griff wie das Feuer, mit dem die Bauern einen Berghang zur Maissaat vorbereiten, um sich. Kenides stand mit dem Anspruch, wie der Tote wegzuschaffen war, allein da.
Die Großmutter und Doña Sara befahlen, zwei kurze Bretter herbeizubringen. Sie legten eines an die Kopfseite und eines zu den Füßen des Getöteten hin. Rigoberto, der seiner Omaira unermüdlich zur Seite stand, reichte Doña Isabel einen silbern aussehenden Feueranzünder. Sie richtete die Kerzendochte, versah sie mit dem Flämmchen, überließ zwei Kerzen ihrer Schwiegertochter, für das Fußende, betropfte das Brett am Kopfende mit Wachs und hielt die Totenlichter fest, bis sie im erkalteten Wachs sicherstanden.
Der Sarg! Kenides verlangte: «Den erledigten Feind begrabt ihr ohne Sarg!» Aber es brauchte einen Sarg, und Rigoberto half Marco Aurelio beim Zimmern.
Den Ermordeten bahrten sie in der Hütte auf, und zwar, wie es im voraus zu vermuten war, auf der Veranda. Damit betreten wir den Erlebnisbereich Patrick Meiers, und dessen Aufzeichnungen führen aus: «Mit Mädchenfantasie und Kindergeschwätz hat er sich sein Riosucio zusammengekratzt», verurteilt Kenedy, der während der Verrichtungen um den Toten auf die leere Veranda steigt. Seine Hände zittern, und er stottert. Stunden später opponiert er zum letztenmal, als sie den Sarg hereinstemmen. «Nicht hier, wo wir uns wegen Over versammeln. Wegschaffen! an den Fluß hinunter! oder auf den cementerio! wohin ihr nur wollt!»
«Wir begraben keinen cadáver ohne Totenwache», legt Doña Isabel fest.
«Verschließt den Sarg! Begafft diesen Feind nicht wie ein neues Pferd!»
«Kenides hat recht», stimmt Rosalba zu.
Doña Isabel erteilt dem abwartenden Don Marco Aurelio mit einem Blick die Anweisung, Kenedy nachzukommen.
Auf der Fahrt mit dem Journalisten Jaime über die Grenze hatten wir uns über Literatur unterhalten. Jaime sagte, daß in der nationalen Literatur jedes Werk ausführlich einen cadáver beschreibt. Nun schließt Don Marco Aurelio den Sarg des Landarbeiters Paco und versteckt mir das tropische Todesmotiv.
Ich verziehe mich aus dem trauerlichen Treiben, das es der Form nach ist, wiederhole den am Vortag gelungenen Abstieg von der Veranda und ziele zu einem Sitzplatz im Gras. Wie schwer tut sich ein empfindlicher Fuß auf dem unebenen Hüttenvorplatz im Bergurwald. Es hat eigentlich nicht geregnet. Es ist am späten Vormittag beim dünnen halbstündigen Versuch geblieben. Ich genieße die brennende Nachmittagssonne. Die Rotwildsonne dauert nicht an. Eine Stunde vor dem Einnachten verbirgt sie sich hinter dem Bergurwald. Es wird nicht kühl. Ich bessere die Kenntnisse über Riosucio aus, lasse mir von den Bauern Einzelheiten bestätigen und Neues beibringen. Als es dunkel wird, wölbt sich die Milchstraße im schwarzen Nachthimmel. Breit dehnt sich das Sternbild des Orion im Zenit, genau über uns. Der unbekannte südliche Himmel wirkt sternenarm.
Rosalba bringt eine ruana, um mich vor der Abendfeuchtigkeit zu schützen.
Die Nacht entbehrt der tragischen Trauer, aber der Tote webt durch die Köpfe und bedrückt die Gemüter. Bei Don Marco Aurelio bricht es durch. Er fährt Kenedy an. Er bringe die Familie und Riosucio in Gefahr. Das Gesetz, und damit meint er die Polizei, oder meinetwegen die Regierungstruppen, das Gesetz werde eingreifen und den Fall untersuchen. Sie werden den Bauern nicht glauben und ein gräßliches Durcheinander anrichten. Er, Kenides, habe sie in eine komplizierte Lage gebracht, denn er werde sich wohl in den kommenden Tagen von Riosucio absetzen und nichts weiter für die Bauern tun.
Kenedy fühlt sich an den Anfang seiner Botschaft zurückgeworfen. Sein Vater solle ihm nicht Gewalttätigkeit vorwerfen. Er habe nur zum einzig wirksamen Mittel gegriffen. Die Bauern von Riosucio standen in Gefahr. Ob es denn keine Gewalttätigkeit sei, wenn so ein Idiot als Landarbeiter verkleidet herumstreiche, bei Kindern und kurzsichtigen Bauern Informationen beschaffe, und weitergebe, und zwar böswillig, denn er sei ein Feind der Bauern von Riosucio. Der Vater überlege sich, warum dieser Idiot mit der Familie Don Ausalóns befreundet sei. «Paßt zur Sekte. Die imperialistischen gringos infiltrieren bei den Bauern über die Sekten, damit die Bauern nicht daran denken, Bauern zu sein und sich mit den Massen zu solidarisieren. Niemand tut etwas für die Bauern, und der Staat bedrängt sie sogar.»
Kenedy zieht Publikum an sich. Die Agronomen setzen sich zur Wehr. Der heutige Fall gehorcht der Kriegsführung, das Land sei von bewaffneten Gruppen durchsetzt, und immer mehr kriegsähnliche Zustände nisten sich ein. Aber das Landwirtschaftsministerium sei jene Präsenz des Staates, die sich um die Bauern kümmere und sie berate.
Kenedy fragt die Agronomen, ob das Ministerium die Bauern in Riosucio begleite, wenn sie auf die Empfehlungen hereinfallen und die Maispflanzungen und Bananenkulturen verbrennen, wenn sie gehorchen und die Abhänge brachlegen.
Aber die Erholung von der Krankheit hängt nicht von der Einsicht der Bauern ab. Das Landwirtschaftsministerium bietet den Bauern resistentes Saatgut an und empfiehlt bei der Bauernbank im Dorf an der Straße einen Kredit.
«Einen günstigen Kredit?»
Die doctores sind nicht von der Bank. Die Bank ist ein Zweig der Regierung, auf den das Landwirtschaftsministerium einen leider geringen Einfluß ausübt. Aber erfahrungsgemäß wird bei Kalamitäten die Kapitalrückzahlung erleichtert und erst nach drei oder gar fünf Jahren gefordert.
Die Bauern brauchen einen Billigkredit. Mit den Maispflanzungen wirtschaften sie nicht einmal den Zins heraus. Die Ernten verkaufen sich nicht auf dem Markt, nur was der cristiano auf dem Buckel hinausträgt.
Kenedy: «Der Staat schlägt aus dem Unglück der Bauern Kapital und bereichert sich.»
Die doctores verweisen den Zwischenruf als klassenkämpferische Ideologie und wenden sich an die Bauern. «Überall hat man die Kreditvorschläge begrüßt. Die teuren Kredite sind nicht nur ein Problem der Bauern, darunter leiden auch die Industrie und der Handel, und selbst jeder einzelne.» Winston nennt die Bausorgen seines Kollegen Romel, der auf Jahre hinaus verschuldet ist, wenn er nicht die erhoffte Beförderung erhält.
Der junge Lehrer zehrt von seiner Volksweisheit: «Alle haben verloren, Trost nur für Toren.»
Ein Bauer holt das Gespräch zurück. Riosucio kennt keine Beförderungen, sondern nur ungedeckte Verluste. Ob die doctores sich nicht ausgiebig für die Bauern verwenden wollten.
«Die Regierung steckt in den Schulden. Dem Landwirtschaftsministerium wurde das Budget gekürzt, und die Bauernbank leidet unter den gleichen drastischen Vorkehrungen.»
Kenedy: «Erst nach der Revolution des Volkes erhalten die Bauern Kredit, weil dann die Bauernbank den Bauern gehört. Die Bauern beuten sich nicht selber aus.»
Auf der Veranda laufen die Totengebete der Frauen ab. Die Männer zögern. Mit ihrer Landarbeiterpacovergangenheit gehen sie beschämt um. Sie haben es ja gewußt, und doch nicht gewußt.
Paco ist tot. Kenedy hat sich durch die Tat der Beweislast entledigt. Einem Toten muß man nichts mehr beweisen. Der Tod ist für sich selbst ein Mahnmal, das anklagt, und der Tod legt fest, was wirklich war.
Die Bauern wenden den Blick von den Folgen ab. Sie schweigen. Das Totengebet setzt sich als die angepaßte Beschäftigung durch, mit den Gefühlen und der Ungewißheit umzugehen, und als der Vater eines Genesis die neuere, die Zweitform des Totengebetes einbringt, ist auch ein Teil der Männer daran beteiligt.
Die nichttrauernde Trauergemeinde trifft es mit ihren Gefühlen um den ermordeten Paco an einem trockenen Tag und in einer klaren, regenlosen Nacht. Das metallene Faß unter der Dachtraufe ist geleert. Rosalba schleppt von jenem Naß, das sich reichlich in den Hochwald und über den Weidhang verregnet hatte, in der dünnen Erdschicht versickert war und als Quelle und unversiegliche Wasserreserve rauscht und sprudelt.
Die Bedürfnisse in der von Doña Sara geführten Küche schieben Rosalba in die Schlüsselposition, nicht nur im Geschäft mit dem Wasser, sondern auch in der Speisenzubereitung. In der Küche schälen und schneiden, kneten und rühren zwar viele Hände, aber Rosalba verleiht den Kochvorbereitungen gezielte Einheit. Die hilfsbereiten Nachbarsfrauen beschäftigen sich weniger mit den Händen, als vielmehr mündlich, und sie erforschen die Verästelungen, die in den vergangenen Tagen und Wochen, ja Monaten das Unglück vorangetrieben haben.
Die Trauerspeisen werden nicht wahllos aufgewartet. Doña Sara schickt Frauen und Rosalba zur Runde der höhergestellten Gäste, die sich um meine Sitzstelle im Gras gebildet hat. Die üppig mit Schweinefleisch, Reis und Kochbananen aufgefüllten Teller erhalten wir mit Worten und Gebärden gereicht, die Appetit wünschen.
Die Frauen ziehen sich zurück. Rosalba verbleibt bei der Männergruppe. Sie hört zu. Der junge Lehrer zieht Rosalba in ein Zwiegespräch und entfernt sich mit ihr, bis die beiden Gestalten im Dämmerschein der Kerze, die vor der Hütte brennt, kaum mehr zu erblicken sind.
«Rosalba?» fragt eine Frau, die die leergegessenen Teller zur Wiederverwendung einsammelt. Rosalbas Gesicht scheint in hellem Grau auf. Sie schaut hinüber, aber der junge Lehrer dreht sie zu sich. Er verbietet die Antwort und das willfährige Davonlaufen.
Über eine Weile entläßt er sie. « Nos vemos», schärft er ein. Und sie sehen sich. Rosalba bewegt sich in vernünftiger Häufigkeit im Freien und verpaßt es nicht, mit dem jungen Lehrer Worte zu wechseln.
Winston fragt Kenedy aus: «Was meinst du zur Behauptung Che Guevaras, daß die Guerilla den Kampf gewinnt?»
Kenedy hat vom argentinischen Revolutionär gehört, der vor fünfundzwanzig Jahren mit Fidel Castro auf der Zuckerinsel Kuba in der Revolution kämpfte, sich an der Regierung beteiligte, aber bald absetzte, und im revolutionsreifen Land Bolivien umkam. Aus den revolutionären Ankündigungen ist nichts geworden.
Kenedys bewaffnete Bauern stehen nicht auf verlorenem Posten. Ein Sieg mit den Waffen ist gewiß schwierig. Aber die Revolution ist keine Frage der Waffen mehr. Die Erneuerung des Staates und der Gesellschaft ist politisch zu betreiben, ist eine Sache der Volksmassen. Die Waffen sind nur noch ein Teil des politischen Gesprächs.
Den Agronomen fehlt das Verständnis für die Waffen, die den Dialog meinen. Kenedy entwirrt die Verwicklung. Das revolutionäre Oberkommando verhandelte monatelang, eigentlich jahrelang, mit den Beauftragten der Regierung und der Friedenskommission des Staatspräsidenten. Die Gespräche blieben stecken. Der Widerstand der Kreise, die auf die Regierung den maßgebenden Einfluß ausüben, erlaubte keinen Fortschritt. Das Oberkommando, das an der politischen Lösung interessiert ist, weil der Krieg zu viele Leiden bringt, verschuf sich mit taktischen Störaktionen Gehör.
Winston gefällt sich im Kreuzfeuer über die Fronten, wie er das Gespräch nennt. «Ihr schreibt soziale Programme auf die Fahnen. Aber ihr seid nicht die bewaffnete Selbstverteidigung der Bauern, wie vor dreißig Jahren. Ihr raubt die Bauernbank aus und treibt bei den Großgrundbesitzern Abgaben ein. Ihr ruiniert und ihr tötet.»
Kreuzfeuer her: Seit dem Waffenstillstand sei keine Bauernbank mehr zum Beitrag an den Kampf gezwungen worden. Die Sache der Bauern koste Geld, viel Geld. Die Bauernbank beute die Bauern aus und habe einen Teil der Revolutionskosten zu tragen. Die Großgrundbesitzer, die die Arbeiter korrekt hielten, kämen ungeschoren weg.
Kreuzfeuer hin: Die hohen Ideale hätten sich auch in der Kriegsführung zu bewähren. Wie es denn mit den Entführungen sei, mit den unmenschlichen Torturen der Entführten, denn niemand stehe eine Entführung ohne Trauma, ohne seelische Verletzungen durch, falls er physisch überlebe, ja, wie stehe es damit?
Feuer her: Kenedys Bewaffnete entführen nicht mehr. Entführung sei eine Industrie geworden, die astronomische Geldsummen einbringe. Nur eine andere Guerillaorganisation betreibe diesen Zweig noch. Mit jenen haben die Kenedys nichts zu tun.
Feuer hin: Die Kenedys verzichten nur auf die kriminellen Gelder, weil die Chefs sich mit den Geldern der Ostmacht finanzieren. Die Russen machen Südamerika den gringos streitig. Der heutige Tag sei doch nichts anderes gewesen als der Westostkonflikt im Bergurwald.
Kenedys comandantes gestatten keine Fremdeinmischung, sondern betreiben eine unabhängige Freiheitsbewegung unter den Bauern.
Ein Dissident gehorchte dem revolutionären Oberkommando nicht. Die Waffenstillstandsverhandlungen seien Verrat am Volk. Er wurde ausgestoßen. Nahe der großen Stadt richtete er bei den Bauern Verwirrung an. Sie erkannten nicht, wer wer war. Der Dissident litt an Machtwahn und blähte seine Truppe mit unbekannten Leuten auf. Spät entdeckte er, daß er dem Stellvertreter nicht gewachsen war. Er ließ ihn erschießen, provozierte unter den Guerilleros Widerspruch und geriet in Panik. Die Bauern entdeckten ein Massengrab. Die Presse stürzte sich auf den Fund, und der Dissident wandte sich an die Öffentlichkeit. Er behauptete, die Armee und die Geheimpolizei hätten Spione eingeschleust, die er im Revolutionsgericht bestrafte. Der Dissident lud Presse und Television ins unwegsame Gebirge ein, hielt einem Verratsdetachement den Schauprozess, produzierte Bekenntnisse und knallte ein Dutzend seiner Leute vor den Augen des Landes ab. Die Massenmedien triumphierten: moralischer Zusammenbruch der Subversiven!
Winston: «Auch ihr vollzieht Kriegsgerichte.»
Selbstverständlich herrscht bei den Kenedys eiserne Disziplin. Wer der Befreiungsarmee beitritt, gehört bis zum Sieg dazu, ohne Zurück. Auf Verrat liegt Todesstrafe, wie bei jeder Armee. Vor dem Urlaub Kenedys desertierte einer, mit den Informationen über Standort und Bestände. Sie spürten ihn auf. Das Kriegsgericht ist demokratisch. Im Kriegsrat zählt der comandante mit einer einzigen Stimme, gleich wie jeder Soldat. Sie überlegten die Gefahr, in die sie der Deserteur gebracht hatte, und gewichteten den Verrat an der Sache des Volkes. Sie beschlossen einstimmig Erschießen. Die Hinrichtung erfolgte am Fluß, und der cadáver wurde ins Wasser geworfen.
«Welch Elend! im Urwald umkommen und verenden», sinniert Winston.
Romel: «Wenn du tot bist, kümmert es dich nicht.»
Winston: «Sterben ist menschliches Geschehen, und dazu gehört auch die eigene Familie.»
Romel: «Was würde dich hindern, hier zu sterben? Den mono hätte es auch beinahe erwischt.»
Winston zögert: «Ich habe nicht alle Musik gehört, die man hören kann.»
Winstons Musik ist europäische Musik, jene, die unter dem Namen kultivierte Musik bekanntgeworden ist. Während des Agronomiestudiums in der Hauptstadt Bogotá belegte Winston Gesangsunterricht. Er trat in einer Nachwuchsveranstaltung mit Liedern von Gustav Mahler auf, der kein Deutscher war, aber zur deutschen Musik zählt. Winston singt leise vor, er deklamiert mehr als er singt: «Nun will die Sonn so hell aufgehn, als sei kein Unglück die Nacht geschehn!» Aus den Kindertotenliedern. Und ein zweites: «Wenn mein Schatz Hochzeit macht, hab ich meinen traurigen Tag!» Dieses Lied errate ich ihm: aus den Liedern eines fahrenden Gesellen.
Winston liebt die Lieder Mahlers. Sie entspringen aus persönlicher Erfahrung und gehen vom unmittelbar Menschlichen aus. Winston spricht nicht Deutsch, hat sich aber für die Lieder eine beachtliche Aussprache angeeignet. Romel kommen die Kunstfragen im Bergurwald deplaziert vor. Aber für Winston ist das Genus der klassischen Musik nicht ortsgebunden und ist nicht Besitz einer bestimmten Kultur, nicht einmal derjenigen Kultur, die das Werk hervorgebracht hat. Über die elektronische Verbreitung ist dieser Kunstbereich Kulturgut der gesamten Menschheit geworden. «Es ist leicht zu beweisen. Die Tonsprache Mozarts tönt in jeder menschlichen Kultur angenehm. Daß es anders verstanden wird, spricht nicht dagegen. Der Hörer nimmt ein Klangwerk immer unwiederholbar einmalig in sich auf. Am schwersten hat es zugegebenermaßen der gesungene Klang, weil er an die Sprache gebunden ist.»
Die Bauern hören solche Musik in der Karwoche über die Radiostationen, wenn auch Lokalsender Bach auflegen. Sie hat mit ihren Klangerfahrungen nichts zu tun und heißt bei ihnen Karfreitagsmusik. Ein Phänomen wird aber nicht erst Kulturgut der Menschheit, wenn es allen bekannt ist, sondern schon dann, wenn es sich mit Botschaft, Form und Inhalt jedem Menschen eröffnet, ungeachtet seiner Herkunft.
Das Sternbild des antiken Jägers Orion hängt tief im Himmel. Orion schreitet nicht durch die Sternennacht. In der tropischen Zone liegt er.
«Jene Tropenvölker, die im strahlenden Sternbild einen Schmetterling sehen, sind besser beraten», sagt Romel. «Der Jäger Orion, der sich anschickt, im Bergurwald unterzugehen, liegt wie ein Toter auf der Bahre. Der kämpferisch gespannte Orionbogen ist zum Arm geworden, der vom Totenlager herunterhängt. Sogar die vier Totenkerzen brennen, der helle Stern Aldebaran im Stier, und Sirius im Großen Hund, und jene zwei anderen, wie heißen sie wohl?»
Und Winston: «Was wird aus dem Universum werden, das in der schwarzen Nacht auf Riosucio herunterfunkelt? Die Astronomen behaupten, man dürfe sich im endlich unendlichen All nicht eine einzige Wiederholung vorstellen. Es hätte seit dem Big Bang, dem behaupteten Urknall des Wasserstoffs, noch nie und nirgends zwei gleiche Mücken gegeben, im ganzen Universum nicht. In der Natur stecke die je einzelne Form. Auf das intelligente Leben angewandt, wäre es Individualität. Stell dir vor, mono, Individualität als universelles Prinzip, und dabei wäre jeder gern ein mono!»
Der Mensch sei ein seltsames Geschöpf. Wir täten uns mit dem individuellen Prinzip schwer. Der heutige Tag sei eine bis zur Übermüdung wiederholte Absage an die Individualität.
Nach Winston gehen wir fälschlicherweise davon aus, daß alle gleich handeln, gleich denken, gleich sein sollten. In der Theorie lassen wir zwar die Individualität gelten, aber wir richten es ein, daß das Gleichheitsprinzip durch Machtausübung unter Dach gebracht wird. Alle unterwerfen sich einer herrschenden Idee, den herrschenden Interessen, einer herrschenden Clique, am besten gleich einer mächtigen Person. Individualität darf nicht sein. Die Folgen sind abstrus. Der Tote in der Hütte diente dem herrschenden System und widerstand jenen, die das System in Frage stellen und darin nicht leben können. Und den Sieger vereinnahmt sein totalitäres militärisches System, das ihm in ungreifbarer Zukunft revolutionäre Freiheit und Leben verspricht, und er nimmt die Freiheit gewalttätig voraus.
In den Kreisen Kenedys herrscht die Ansicht vor, die Bauern frönten einem selbstzerstörerischen Individualismus. Die Zukunft gehöre einer starken, ehernen Gesellschaft, die den Individualismus überwinde. Die Bauern haben sich ein falsches Bild über die führende Klasse angeeignet, die sich individualistisch gibt, aber nie individualistisch entscheidet, wenn die Gruppeninteressen ins Spiel kommen.
Der junge Ehemann Omairas hält unter den wenigen und stets wechselnden Zuhörern aus. Winston schweift in Lebensphilosophien herum, die wie ein nebliger Nieselregen das Publikum vertreiben. Omairas Rigoberto hat in der Geschichte der Bauern mitgemischt. Die Bauern von Riosucio litten unter dem Individualismus, der sie bedrohte. Das Drama zwischen dem einäugigen, halbschwarzen Bauern Serafin und dem Nachbarn Juan de Dios war nicht aus dem Gedächtnis der Bauern zu löschen. Die zwei Familien im oberen Riosucio zerfleischten einander. Niemand kümmerte sich damals um das Drama. Die Nachbarn hielten es mit der Angst, dareinverwickelt zu werden.
Eine Gruppe, oder wie Kenides es sage, ein Kollektiv, hätte nur einen Sinn, wenn jede Person frei dazugehöre. Rigoberto erinnert: «Wir haben es bei einer Zusammenkunft der Bauernführer überlegt. Alle Ordnungen, die in der Gesellschaft der Leute entwickelt worden sind, verbergen den Nachteil, daß gewissen Personen oder Gruppen das Lebensrecht abgesprochen wird. Die Leute unseres Landes, die in der absoluten Armut stecken, haben das Lebensrecht verloren. Sie besitzen kein Geld. Kein Geld! das ist kein Leben. Man sagt, daß der Cristo eine politische Botschaft gebracht hat. Alle Leute sind eine Familie. Cristo sagt, alle gehören dazu.»
Die Bauern haben damals überlegt, daß es nicht so sehr darauf ankommt, wie sich die Menschen organisieren. Vielmehr muß sich jede politische Absicht darum kümmern, daß alle Leute Raum finden und zu atmen haben. Und zu essen. Die Einteilung in Freunde und Feinde wird durch den Cristo als unmenschlich verurteilt. Aber das gilt natürlich nur unter den Schwachen. Die Großen und Starken, die Mächtigen kommen ohne Feinde nicht aus. Sie können den Cristo nicht verstehen.
Kenedy: «Die Revolution wird dem Volk die Freiheit und Leben bringen.»
Winston läßt ihn aber nicht an der Feindfrage vorbeimanövrieren. Heute ist ein Feind des Volkes umgebracht worden. Der Kampf gegen die Feinde ruht nie. Der Gedanke der Familie, den Rigoberto vorgebracht hat, hat viel an sich.
Die Lücken in Patricks Heften erfassen die Abläufe nicht mehr, und ich halte mich im folgenden Herausgebertext an das Gedächtnis des Ex-Richters. Bei Patrick Meier steht noch notiert, daß Rosalba und der junge Lehrer verschwunden sind. « Rapto!» soll Marco Aurelio ausgerufen, und Romel, aber nicht zu Marco Aurelio, sondern erst hintennach und zum mono, bemerkt haben: « Rapto ist gerichtlich einklagbarer Frauenraub und wird mit Gefängnis bestraft. Ein häufiges Vergehen, das auf Betreiben des fraulichen und keineswegs des männlichen Teiles zustande kommt, so daß im Straffall der männliche Beteiligte vielmehr als Opfer denn als Täter anzusehen ist.»
Lassen wir die Frage des Strafbestandes aber beiseite, der den Lehrer allerdings wegen der minderjährigen Rosalba treffen könnte, und gehen wir dem tatsächlichen Geschehen nach.
Der Richter erinnerte sich an die Einzelheiten der nächtlichen Flucht. Anders als man es wahrhaben wollte, verdächtigte der Richter den flüchtigen Lehrer Santiago Rosero des Tötungsdeliktes an Paco. Als zwar die ersten Gerüchte das Dorf an der Straße erreichten, hielt sich der Richter in der Hauptstadt Bogotá auf, wo er Papiere besorgte und seine freie Advokaturtätigkeit in der Provinzstadt vorbereitete.
Als erste Zeugen traten Marco Aurelio und Yon Fredi an, die Patricio aus Riosucio herausbegleiteten. Vater und Sohn gehorchten der Vorladung des Richters, es sollen sich Leute aus Riosucio bei ihm melden, um als Zeugen über den Mord an einem gewissen Paco auszusagen. Marco Aurelio und Yon Fredi hatten eine langsame Reise mit ihrem Gast hinter sich, mit der eingeplanten und vorbereiteten Übernachtung bei einer Wegstelle, die die Bauern als die Höhle bezeichnen, nämlich eine senkrechte Wand am Weg, die von einem gewaltigen Baum überdacht ist und vor dem täglichen Regen leidlich schützt. Obwohl sich der Gast aus Riosucio nicht ausweisen konnte, lud der Richter den undokumentierten mono alto ebenfalls zur Einvernahme vor.
Der Richter wußte unglaublich viel zu berichten. Rosalba schnürte in der dunklen Ecke des Wohnraumes ein Kleiderpaket, schaffte es im Wasserkübel aus der Hütte, hinterlegte es beim blitzverbrannten Baum, der vom müden Kerzenschein nicht erreicht wurde und der in der Dunkelheit stand, und stieg um Wasser ins Loch hinab. Zurück in der Hütte, stellte sie den gefüllten Kübel neben die Kochstelle, wo sie ihn bei bewegtem Wasser auf dem elastischen Tschontaboden wackeln ließ. Sie legte einen Proviant aus Reis, Fleisch und Kartoffeln zur Seite, wusch Bananenblätter, legte sie aus, verteilte den Proviant auf zwei Portionen, wand die nassen Blätter darum, verfestigte die warmen Speisen zu einer Teigmasse und verschnürte die Eßpakete.
Der Lehrer Santiago Rosero schraubte seine Taschenlampe auseinander, entnahm die Batterien, steckte sie in die Hosentasche, suchte in der Hütte ein ausgedientes, weggelegtes Batterienpaar und setzte es ein. Es spendete hellen Schein, der unmittelbar auf ein schwaches Glühen abfiel. Im Freien richtete er sich an einen Bauern, der allein herumstand und in die leere Dunkelheit schaute, führte ihm die unwirksame Beleuchtung vor und bat ihn um zwei gute Batterien, denn ihm, dem Lehrer, ergebe sich eine Erledigung in der Schulhütte.
« Ahora, jetzt?»
«Ja, jetzt!»
«Nimm!»
Der Bauer schraubte seine Taschenlampe auf, schüttelte die Batterien heraus und reichte sie ihm. Ob sie noch taugen?
«Sie sind fast neu.»
Ein weiterer Bauer entsprach ebenfalls der Notlage, und nach einer nochmaligen Erlistung verfügte Santiago Rosero über den schönen Vorrat von vier Paar Taschenlampenbatterien, denn auch die in der Hosentasche verwahrten eigenen gehörten zum nahezu überflüssigen Energievorrat.
Nicht, weil der Schlaf in die Totenwache der Bauern eindrang und sie den Toten nicht mehr begleiteten, nicht, weil sie nicht mehr schwatzten und aßen und nicht mehr Kaffee tranken, nicht, weil das Küchengeschäft auf einen absoluten Ruhepunkt abgesunken war, und nicht deswegen, weil die Gruppen, die im Freien aufgelöst herumstanden oder saßen, während drinnen und draußen die eingehüllten Schläfer wie herumgeworfene Säcke aussahen, nicht also wegen dieser ruhigen Nachtzeit, sondern einfach, weil es beim mageren Kerzenlicht schon wenige Schritte von der Hütte entfernt schwarze Nacht war und zudem das Herumgehen zur tätigen Untätigkeit der Totenwache gehörte, entfernte sich Santiago Rosero unbeachtet, begab sich auf den Weg nach draußen und wartete in der verabredeten geringen Entfernung auf Rosalba.
Rosalba verließ die elterliche Hütte mit dem Wassereimer, den sie auf dem halben Abstieg zum Graben hinwarf. Sie eilte zum blitzverbrannten Baum, riß die Habseligkeiten an sich und durchstieg die Weide zum Weg nach draußen.
« Vámonos!» setzten sie zum Aufstieg an.
Rosalba stolperte.
«Wenn wir das Waldstück erreichen, zünden wir die Taschenlampe an. Beeile dich!»
Rosalba fühlte sich unwohl und brach Galle. Die Übelkeit hatte sie seit Tagen befallen, aber das Brechen setzte gerade jetzt ein, heimlich zuerst, auf der steilen Weide, und unter dem besorgten Blick Santiago Roseros, als der helle Schein der Taschenlampe sie beisammen hielt.
«Die Anstrengung», sagte Rosalba.
Yon Fredi sah einen Lichtschein im Bergurwald und machte Kenides darauf aufmerksam: «Jemand kommt von draußen, es bewegt sich ein Licht.» Kenides sah nichts, und auch Yon Fredi nahm den irren Schein nicht mehr wahr.
«Du hast einen Leuchtkäfer gesehen.»
«Nein, das Licht war nicht grün. Es war Leutelicht.»
Die erlisteten Batterien verbrauchten sich. Beim ersten Halt im Bergurwald wechselte Santiago Rosero die Batterien aus und steckte die erschöpften in die Tasche, damit sie sich erholten und einen späteren Wegabschnitt ausleuchteten.
Die Tropenzone am Erdäquator ist nicht den wechselnden Längen von Tag und Nacht unterworfen. Die Sonne steht das ganze Jahr zwölf Stunden über dem Horizont und benötigt ebensolche zwölf Stunden, um vom Abend zum Morgen zu gelangen. Dennoch schiebt sich der Tagundnachtwechsel eine halbe Stunde um den mittleren Zeitpunkt herum, den man sich an den beiden sechs Uhr, nämlich morgens und abends, vorzustellen hat. Während in den nördlichen Zonen Europas diese Tagesverschiebung von der wechselnden Länge von Tag und Nacht nicht leicht abzuheben und schwierig beobachtbar ist, verspätet oder verfrüht sich die Sonne am Äquatorgürtel viel offensichtlicher. Der Grund ist bekannt, denn die Erde beschreibt eine jährliche elliptische Bahn um das Tagesgestirn und kreist in Sonnennähe schneller, in Sonnenferne langsamer.
Das Tagesgrauen lag in der Fluchtnacht spät nach sechs Uhr, eigentlich in der spätesten Zeit des Jahres. Eine Stunde vorher ermüdete die Taschenlampe, und das Auswechseln der erschöpften Batterien brachte kein Licht. Erschöpfter als die Batterien war Rosalba. Sie suchte eine trockene Stelle, fand einen flachen Stein, setzte sich auf dessen dünn befeuchtete Fläche und heulte. Santiago Rosero ließ Rosalba gewähren, und die Tränen flossen reichlich. Er wandte sich mit seiner Volksweisheit vom Gefühlsausbruch ab und deklamierte: «Hundehinken, Weiberheulen, nicht bedenken.»
Rosalba wurde wütend. «Der Weg bringt mich um, und dich kümmert es nicht.»
Santiago beteuerte, daß nur sie allein ihn kümmerte.
Rosalba nahm es ihm nicht ab. «Du verstehst mich nicht. Du weißt überhaupt nicht, wie das ist.»
Und das war wahr. Er verstand nichts.
Als der Tag hereinbrach und der dunkle Wald ein ungehindertes Vorankommen zuließ, zudem die Durchstiegshöhe erreicht und der Weg flach geworden war, raffte sich Rosalba auf, hielt es aber mit den Weinkrämpfen und Brechanfällen.
Während einer Pause griff Santiago zum Eßpaket, drückte die Schnur weg, öffnete die sorgfältig, mit Liebe umgelegten Bananenblätter und frühstückte gierig. Rosalba hielt nicht mit. Er überredete sie zu einem Mundvoll, was sie weder körperlich noch seelisch zu Kräften brachte.
Der Tag verlief normal. Am Mittag ergossen sich die Wasser auf das dichte Blätterdach des Urwaldes, das sie auffing, aber nach der unnützen Verzögerung unbarmherzig über die Wanderer verschüttete.
Wie vor dem Richter, als es Rosalba in zeitlichem Abstand nicht nur schilderte, sondern auch neu erlebte, drehte Rosalba den Kopf vor jedem neu zu entscheidenden Schritt, rollte die Augen, öffnete den runden Mund und rang die Arme.
Der verströmte Regen, die nassen Kleider, der aufgeweichte Weg, die kurz und lang zu machenden Schritte, die Stimmung Rosalbas und deren Wirkung auf den Unmut Santiagos, dies alles forderte das Vorankommen nicht. Der Abend schlich sich durch die gebadeten Baumriesen herein und erreichte sie bei der Weide, die den Abstieg ins Dorf des Lehrers eröffnete.
«Ich gehe zurück, nach Hause!» schrie Rosalba aus, brach Galle und setzte sich zum niemand weiß wievielten Mal. Er trieb zur Eile, verschwand zornig um die steile Biegung, stieg jedoch das gewonnene Wegstück erneut hoch und sah unwirsch zum Rechten.
«Rosalba!» Er hielt sich zurück und mahnte nur: «Du ißt nicht und gehst nicht, du sitzt herum und läßt die kalte Nässe eindringen. Du wirst krank. Wir eilen ins Dorf hinunter, und bei meinen taitas ruhst du dich aus.»
Rosalba warf das Netz der fraulichen Eroberung aus: «Wir werden ein Kind haben.»
«Das bildest du dir ein.»
Rosalba bildete es sich nicht ein. Omaira hat es mit den Frauen ausführlich besprochen. Wenn die Frau in einem Monat nicht krank wird, ist es ein sicheres Anzeichen.
«Ich war letzten Monat nicht krank.»
«Hat dich Omaira nicht gelehrt, wie du ein Kind vermeidest?»
Rosalba guckte Santiago mit weit geöffneten Augen an: «Du wolltest es doch so haben! Immer wolltest du es so haben!»
Santiago verzog die Lippen, stemmte die Unterkiefer vor, faßte Atem, holte mit der Hand aus und schlug Rosalba auf den Oberarm und in die Brust. Rosalba ließ es geschehen, und er besann sich.
« Vámonos!»
Sie stiegen die dunkle Weide ab. Ohne Laternenlicht. Stumm. Rosalba stolperte nicht, weinte nicht, brach keine Galle und wußte überhaupt nicht, wie es auf dem Abstieg zuging. Sie erinnerte sich, wie sie zum Haus des Lehrers gelangten. Er weckte die taitas.
«Sie ist erschöpft.»
Die Mutter Santiagos leitete Rosalba fürsorglich zu einer Strohmatte am Boden, legte trockene Kleider daneben, reichte ihr ein warmes Zuckergetränk und ließ sie schlafen.
Rosalba erwachte spät. Die Mutter fragte beim Brechreiz Rosalbas verständnisvoll, ob der Zustand mit ihrem varón, ihrem Sohn zu tun habe; jener sei nämlich vor Tagesanbruch außer Haus gegangen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, in Richtung Straße, wie die Leute berichteten.
Rosalba hielt sich noch bei der Familie Santiagos auf, als Patricio von Riosucio nach draußen reiste, im gleichen Haus übernachtete und den rekonvaleszierten Fuß einen Tag lang ausruhte.
Die letzte Eintragung in den Heften des mono alto nennt den Weggang Rosalbas. Er schreibt:
Doña Sara sucht unsere übernächtigte Männergruppe draußen auf. Die Totenwache ist vorbei, und das Morgengrauen erhellt das sorgenvolle Gesicht der Großmutter.
« Señor Patricio, Rosalba ist weg. Der Lehrer muß ihr zugeredet haben. Die jungen Männer werden manchmal sehr zudringlich. Sobald die Kinder heranwachsen, ertragen sie das Leben in Riosucio nicht. Señor Patricio, laufen bei Ihnen die Kinder auch davon?»
Was antworte ich ihr, der ich selber bei fernen Menschen unterwegs bin?
«Wir werden in der Einsamkeit sterben, ganz allein. Wenn das letzte weggelaufen ist, wird uns niemand begraben.» Die Großmutter wendet sich ab und bewegt sich zur Hütte ihres Sohnes, zur Hütte ihrer Familie, die mit den Urgroßkindern noch auf sicheren Füßen steht.
«Der Alten steht das Leben ins Gesicht geschrieben. Sie hat mehr Runzeln als ein ausgezogenes Akkordeon», entläßt Romel die Leidensgestalt.
Ich beendete meine Herausgebernachforschung und verabschiedete mich vom Richter, wenn ich den Advokaten in der kalten Provinzstadt mit jener Funktion benennen darf, die er im Dorf an der Straße ausübte. Er empfahl mir: «Sehen Sie nach Rosalba! Sie verkauft bocadillos, Würfel aus getrockneten, süßen Guajaveäpfeln. Wenn Sie die Straße zum Hauptplatz nehmen, finden Sie Rosalba an der Ecke bei der Verkehrsampel.»
Rosalba saß auf einer Holzkiste und stillte ihren Säugling. Eine hochgekippte Kiste diente als Verkaufstisch. Sie bot bocadillos, billige Bonbons, kleine Schokoladen, Coca-Cola und Kaugummi an.
« A la orden!»
Ich antwortete nicht. In der Erinnerung tauchte die einsame Hütte Marco Aurelios auf, das Maisfeld, die Familien, die Menschen Riosucios. Ich versenkte mich ins Tal des Bergurwaldes, in das Leben der Bauern in der einsamen Schönheit, in der sie sich nicht heimisch fühlen, wo sie auf ein Zusehen hin leben und wo sie hoffen, bis zum unbekannten Später zu überleben. Warum können, warum wollen, warum dürfen die Jungen in Riosucio, in all den Riosucios überhaupt, nicht leben? Warum versagt sich ihnen die Zukunft?
Ich griff nach dem Händchen des Kindes. Die Mutter Rosalba lächelte: «Ein Mädchen.»
Rosalba fragte mich: «Sind Sie padre?»
Ich trage keine klerikalen Erkennungszeichen und bin gewohnt, daß man mich dennoch als Geistlichen erkennt. Ich schob aber die Antwort auf und stellte die Gegenfrage: «Warum?»
Rosalba sagte: «Sie gleichen dem padre, der immer zu uns kommt, dort, wo wir wohnen.»
Ich kannte aus den Heften jenes «Dort, wo wir wohnen». Ich bestätigte meine Identität und stellte jenes Vertrauen her, das die Bevölkerung zum Geistlichen besitzt, und im Gespräch verloren wir uns in den geschützten und goldenen Erinnerungen an Riosucio und beklagten das harte Leben einer Straßenverkäuferin in der kalten Provinzstadt.
«Kennen Sie Patricio, einen gewissen mono alto? Muy mono!»
Ich müßte mit Ja und Nein zugleich antworten. Ich sagte: «Ja. Er ist weggereist. Er will padre werden.»
Rosalba schaute mich mit großgeöffneten Augen an. Sie sagte: «Das ist sehr gut so. Jemand muß schließlich den Bauern, die es nicht leicht haben, zur Seite stehen.»